zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Der Mitternachtskönig

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

Widmung

Für Oliver. Egal, wie weit du weg bist, ich weiß immer, was wir aneinander haben. Danke für alles.

 

Es war einmal vor vielen, vielen Jahren im weit entfernten Sonnenkönigreich. Das Königreich war riesig und viele Menschen lebten dort, und weil es so riesig war, herrschten dort auch zwei Könige.

Der eine König war der Sonnenkönig. Er herrschte über den Tag und bekam seine Energie von all den Menschen, die den ganzen Tag arbeiteten. Deswegen war der Sonnenkönig sehr mächtig.

Der andere König war der Mitternachtskönig. Er herrschte über die Nacht und sein Sternengefolge bewachte die Menschen und ihren Schlaf. Doch da die Menschen nachts schliefen und ausgelaugt waren, bekam der Mitternachtskönig kaum Energie. Er war schwach; nur am Ende der Woche, wenn die Menschen weniger arbeiten mussten und nachts länger aufblieben, konnte er Kraft tanken.

Eines Nachts, als der Mitternachtskönig wieder einmal müde in seinem Bett lag, den Kopf gebettet auf einem weichen, seidenen Kissen, kam ein junger Mann auf einem schwarzen Hengst zum Schloss des Mitternachtskönigs geritten. Ganz in einen dunklen Umhang gehüllt, stieg der Jüngling von seinem Ross und klopfte an das große, schwere Schlosstor.

„Wer ist dort?“, fragte eine Wache und öffnete das Tor einen Spalt. Der Reiter trat einen Schritt vor.

„Mein Name ist Johann“, sagte er mit weicher, aber bestimmter Stimme. „Ich möchte den König sprechen.“

„Der König ist schwach!“, antwortete die Wache. „Er ist nicht zu sprechen!“

„Bitte, lass mich zu ihm.“ Johann schob die Kapuze seines Umhangs zurück und zwei strahlend blaue Augen blitzen die Wache an. Wie verzaubert starrte die Wache Johann an, öffnete das Tor, ohne den Blick von den hellen Augen nehmen zu können, und ließ den Jüngling eintreten. Dieser nickte und führte sein Pferd herein.

„Danke“, bedankte er sich und zog seine Kapuze wieder auf.

Nachdem er sein Pferd angebunden hatte, betrat er das große, prunkvolle Schloss. Die steinernen Wände waren mit edlen Wandteppichen behangen und über den Boden zog sich ein endlos langer Läufer aus rotem Samt. Spärlich beleuchteten einige Fackeln die langen Flure. Johann sah sich um. Wo es hier nur zum König ging? Die meisten Bediensteten schienen zu schlafen, nur hinter einigen Türen hörte man es leise rumoren.

Plötzlich hörte Johann hinter sich Schritte.

„Halt!“, rief jemand, und als Johann sich umdrehte, sah er einen Diener auf sich zustürmen. „Was macht Ihr hier?“

„Mein Name ist Johann“, stellte Johann sich erneut vor und verbeugte sich. „Ich möchte den Mitternachtskönig sehen. Ich habe gehört, er ist sehr schwach. Und ich kann ihm helfen.“

„Der König ist für niemanden zu sprechen“, gab der Diener zurück. „Er muss seine wenige Energie für wichtigere Dinge nutzen!“

„Ich kann dem König Energie geben. Bring mich zu ihm!“ Wieder schob Johann seine Kapuze zurück und schenkte dem Diener einen tiefen Blick. Mit offenem Mund nickte dieser.

„Folgt... mir“, stammelte er, und auch er konnte seine Augen nicht von denen Johanns wenden.

Er führte Johann durch lange Gänge, eine Treppe hinauf zu einer großen, mit goldenen Mustern verzierten Tür.

„Hier liegt der Mitternachtskönig“, verkündete der Diener. Johann verhüllte sich wieder.

„Dankeschön. Und jetzt geh und lass mich allein mit dem König.“

Ohne Widerworte verschwand der Diener und ließ Johann allein. Mit kräftigen Schlägen klopfte Johann an die Tür.

„Herein“, rief es müde von drinnen. Johann trat ein.

„Mein König...“ Tief verneigte er sich, als er den König in seinem Bett erblickte. Der Mitternachtskönig setzte sich auf.

„Was willst du hier? Ich habe keine Energie für eine Audienz!“ In seinen Augen lag ein matter Glanz, fast farblos verloren sie sich in seinem grauen Gesicht. Das schüttere Haar bedeckte kaum mehr seinen Kopf und tiefe Falten zogen sich über seine Stirn.

Johann erschrak. So hatte er sich den König nicht vorgestellt. Aber nun war er ja dort, um dem Ganzen ein Ende zu bereiten.

„Ich bin weit gereist, um Euch zu sehen, mein König.“ Johann trat an das große Bett heran. „Mein Name ist Johann und ich kann Euch helfen. Ich hörte, Ihr seid schwach, weil die Menschen in Eurem Königreich nachts schlafen. Nun, schaut her, ich habe Euch etwas mitgebracht.“

Wütend griff der Mitternachtskönig nach seiner Glocke, um seine Wachen herbeizuklingeln, doch Johann entriss ihm die Glocke. Hell strahlten seine blauen Augen den König unter der Kapuze hervor an. Wie versteinert ließ der König Johann gewähren. Der holte eine Schatulle unter seinem Umhang hervor und öffnete sie mit einem kleinen, goldenen Schlüssel, den er um den Hals trug. Ein heller Schein strahlte aus dem kleinen Kästchen, das den ganzen Raum mit gleißendem Licht erfüllte. Johann griff in die Schatulle, holte eine strahlende Kugel heraus und legte sie sich an die Brust. Tief atmete er ein, dann nahm er die Kugel in den Mund, griff den Mitternachtskönig bei den Schultern, zog ihn nah zu sich heran und presste seine Lippen auf die des Königs. Der König zappelte und wehrte sich, doch Johann ließ nicht locker. Er küsste den König und gab das seltsam helle Leuchten der magischen Kugel an ihn weiter.

Der König wusste nicht, wie ihm geschah. In seinem ganzen Körper kribbelte es und er spürte, wie er sich mit frischer Energie auflud. Wie machte Johann das nur?

Als Johann von ihm abließ, sank der König zurück in seine Kissen und rang nach Luft. Johann verschloss die Schatulle wieder und verstaute sie sicher in seinem Umhang.

„Was hast du getan?“, fragte der König aufgeregt und sprang aus seinem Bett auf. „Lange habe ich mich nicht mehr so aufgeladen gefühlt!“

„Mein König, ich bin ein Nachtschlafdieb“, antwortete Johann. Er setzte die Kapuze vollständig ab und blondes Haar kam zum Vorschein. Seine Haut war hell und eben und von seinen Augen ging ein mystischer Glanz aus.

„Ich raube den Menschen ihren Schlaf, damit sie wach bleiben. Diese Energie bündle ich in meiner Schatulle... Und gerade habe ich sie an Euch weitergegeben. Seht Euch im Spiegel an!“

Der König stellte sich vor seinen riesigen Spiegel. Er traute seinen Augen kaum! Sein Haar war dunkler und voller geworden, er hatte eine gesunde, rosige Farbe im Gesicht und seine einst matten, farblosen Augen blitzten in stechendem Grün.

„Johann, wie kann ich dich belohnen?“ Er stürmte zu Johann herüber. „Was kann ich dir dafür geben, dass du mir meine Kraft wiedergegeben hast?“

„Mein König... die Energie wird nicht für immer reichen. Wenn Ihr erlaubt, ich würde gerne in Eure Dienste treten und Euch Nacht für Nacht Energie bringen.“

„Und wie kann ich dich entlohnen?“

„Ich möchte nichts außer Eurer Zuneigung.“ Johann küsste den König auf die Stirn.

Und so geschah es. Nacht für Nacht ritt Johann nun durch das Königreich, um den Menschen ihren Schlaf zu rauben und dem König Energie zu bringen. Schlaflos wanderten die Menschen durch ihre Häuser und wollten keine Ruhe mehr finden. Mitten in der Nacht fingen sie an, ihre Felder zu bestellen, die Ställe auszumisten und das Vieh zu füttern. Der Mitternachtskönig war bald sehr mächtig, mächtiger als der Sonnenkönig, und seinen treuen Johann gewann er sehr lieb. Ins Schloss kehrte wieder Leben ein und das Sternengefolge zeichnete lauter Lichter der Freude auf das dunkle Firmament.

Doch da Johann den Menschen in der Nacht ihren Schlaf nahm, mussten sie am Tage schlafen, und das nahm dem Sonnenkönig seine Energie. Rasch waren die Tage düster und wolkenverhangen und der König saß schwach und grau auf seinem Thron.

„So kann es nicht weitergehen“, beschloss er und rief sein Gefolge zusammen. „Ein Gleichgewicht muss hergestellt werden. Ich erkläre dem Mitternachtskönig den Krieg!“

Sofort ließ er ein Schreiben verfassen, welches ein Bote zum Schloss des Mitternachtskönigs bringen sollte.

„Johann!“, rief der König seinen Liebsten zu sich. „Johann, komm zu mir! Der Sonnenkönig erklärt uns den Krieg!“

Aufgebracht eilte Johann herbei. „Was fordert er?“, wollte er wissen und sah dem König über die Schulter.

„Die Menschen sollen am Tage arbeiten und in der Nacht schlafen“, erklärte der Mitternachtskönig. „Aber dann verliere ich meine Macht! Das ist ungerecht!“

„Und wenn ich den Menschen am Tage ihren Schlaf raube und auch den Sonnenkönig mit Energie versorge?“, schlug Johann vor, doch der König schüttelte energisch den Kopf.

„Du gehörst mir! Ich verbiete dir, in die Dienste eines Anderen zu treten!“

„Ohne mich würden die Menschen wieder in der Nacht schlafen und am Tage arbeiten. Wenn ich bei dir bleibe, werden die Menschen weiterhin am Tage schlafen und in der Nacht arbeiten. Egal, was ich tue, es wird immer Ungerechtigkeit zwischen dir und dem Sonnenkönig herrschen und es wird sich niemals ein Kompromiss finden.“ Traurig setzte Johann sich aufs Bett des Mitternachtskönigs und senkte den Kopf. „Wenn nur ein paar Menschen freiwillig nachts wach blieben, so dass du gerade genug Energie abbekämst, um in der Nacht herrschen und für Ordnung sorgen zu können, das wäre eine gute Lösung. Aber die Menschen haben keinen Grund, in der Nacht wach zu bleiben. Es ist dunkel und sie sind müde.“

Für einen Moment schloss der Mitternachtskönig die Augen, murmelte gedankenversunken vor sich hin. Eine Träne rann über seine Wange, hastig wischte er sie beiseite.

„Liebster Johann... Bitte geh noch einmal los und bringe mir so viel Nachtschlaf, wie du kriegen kannst. Ich habe die Lösung für unser Problem gefunden.“

„Aber…“, wollte Johann einlenken, doch der Mitternachtskönig unterbrach ihn.

„Kein Aber. Geh!“ Und Johann folgte dem Befehl.

Er ritt hinaus ins Königreich, streifte durch die Straßen, stieg in Häuser und raubte den Menschen ihren Schlaf, bis seine Schatulle zum Bersten gefüllt war. So schnell er konnte brachte er sie zum Mitternachtskönig.

Nach einem nicht enden wollenden Kuss nahm der vor Kraft und Energie nur so strotzende König seinen Liebsten fest in die Arme.

„Liebster Johann...“ Er strich Johanns blondes Haar zurück und sah ihm in die strahlenden Augen. „Ich werde dich in einen Stern verwandeln. Als hellster Stern am Himmel wirst du die Nächte erhellen und die Nacht in deine Schönheit tauchen. Die Menschen werden wach bleiben, um dich zu sehen. Und wenn sie sich satt gesehen haben, werden sie zu Bett gehen und von dir träumen, sich darauf freuen, dich in der nächsten Nacht wieder sehen zu können. So wird das Gleichgewicht zwischen Tag und Nacht hergestellt.“

Mit Tränen in den Augen gab der König seinem Liebsten einen letzten Kuss, bevor er ihm die Hände auf die Schultern legte und ihn, mit aller Energie, die er aufbringen konnte, zu einem Stern machte. Grell blitzte es, dann leuchtete am tiefschwarzen Nachthimmel zwischen den hellen Punkten des Sternengefolges ein einziger, strahlender Stern auf, der so hell schien wie Johanns Augen und den gleichen Zauber verbreitete.

Seitdem sitzen die Menschen allabendlich noch eine Weile vor ihren Häusern und betrachten Johann, den hellsten Stern am Nachthimmel, und erfreuen sich vor dem zu Bett gehen an seinem Anblick.

Auch der König sieht Nacht für Nacht hinauf zu seinem Liebsten, trägt ihn immer in seinen Gedanken und in seinem Herzen. Und Johann wacht über ihn wie ein Schutzengel.

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann lieben sie sich noch heute.

Lesemodus deaktivieren (?)