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Wymbell

Weihnachtschallenge 2009

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„Autsch!“ Mühselig rappelte sie sich wieder vom Boden auf. „Scheiß Blitzeis!“ Vor Wut schäumend schmiss sie das Regal mit den Weihnachtskeksen um. Mich immer noch vor Lachen krümmend, half ich der Fee vom Boden auf.

Das heißt, ich ging in die Knie und hob das zierliche Geschöpf zu mir herauf. Immer noch amüsiert, betrachtete ich sie, während sie sich versicherte, dass ihren Flügeln nichts geschehen war.

„Was gibt es da zu grinsen? Ich finde es gar nicht witzig, dass dieses dumme Eis nicht checkt, dass es ausschließlich die Anderen ins Rutschen bringen soll. Nicht mich!“ Sie legte ihre Flügel eng am Rücken an und obwohl sie rein gar nicht zerknittert waren, strich sie diese bedächtig glatt. Ich gab keinen Kommentar zu der ganzen Situation ab. Erstens war sie auch schon ohne einen Spruch von meiner Seite zu ironisch und zweitens wusste ich ganz genau, dass …

„HEY!“ Ha, Wette gewonnen. Ja, ich hatte mich nicht zu früh gefreut, denn wenn etwas um diese kleine Fee herum geschieht, war mir klar, dass ich den darauffolgenden Ärger abbekam. Um die Ecke bog ein Mitarbeiter des Kaufhauses, der Lärm musste ihn angelockt haben. „Hey, hast du diese Sauerei verursacht?“

Was sollte ich sagen? Nein, Mister. Das war meine ständige, Nerven sägende Begleiterin. Das kleine acht Zentimeter große Wesen auf meiner Handfläche, das für sie unsichtbar ist. Oder doch lieber alles gestehen? Ja, Mister. Das war alles meine Schuld. Ich habe dafür gesorgt, dass der komplette Boden des beheizten Kaufhauses mit einer dünnen Eisschicht überzogen wurde und sämtliche Leute gegen Regale und Warentürme stoßen.

Doch da der Gesichtsausdruck des bulligen Mannes mir verriet, dass ihm keine meiner beiden Antworten gefallen würde, entschied ich nicht Worte, sondern Taten sprechen zu lassen. So schnell wie man auf Zehenspitzen über ein Eisfeld kam, rannte ich in Richtung des nächsten Ausgangs.

„Halt, stehen geblieben!“, rief der Angestellte mir hinterher. „Haltet den Jungen. Er ist für das alles verantwortlich.“ Ich lachte laut auf. Das Eis musste auch das Hirn des armen Mannes gefroren haben. Und hartnäckig war er auch, aber ein markantes Geräusch ließ mich wissen, dass die Verfolgungsjagd schon beendet war, noch bevor ich den Ausgang erreichte. Es klang nach „dicker Hintern landet hart auf eisigem Marmorboden“.

Draußen verlangsamte ich meinen Schritt. Eine kleine, weiße Lichtkugel, die mir den kurzen Weg hinterher geschwebt war, flüsterte mir ins Ohr: „Bist du wieder böse, Sam?“ Ich lächelte. „Nein, bin ich nicht. Ich weiß zwar nicht, was dich wieder geritten hat, dass du auf solch eine absurde Idee kamst, aber es war doch insgesamt zu komisch.“

„Ja, nicht wahr? Denk nur an den Mann, der auf einmal in seine beleibtere Frau geschliddert ist und sie so meinte: Oh nein, Harry, doch nicht hier.“

Ich lachte. „Ja, oder die kleinen Zwillinge, die Anlauf nahmen und dann auf dem Bauch durch die Pastagänge brausten.“

„Oder .. oder …“ und so überhäuften wir uns gegenseitig mit Szenen aus diesem Moment. Dabei musste ich innerlich permanent lächeln, denn Wymbell und ich sind schon mal ganz anders miteinander umgegangen. Oh ja, man könnte sagen, wir hatten einen sehr schlechten gemeinsamen Start.


„Schwitzige Hände? Fuck, beruhig dich. Du bist gleich da. Und jetzt bloß nicht den Schwanz einziehen. Konzentrier dich. Es ist nichts dabei. Na gut, erst mal stehen bleiben. Sammeln. Und jetzt hör zu, Sam, wir haben das schon so oft durchgeführt. Eigentlich sollte mittlerweile Routine in die ganze Sache gekommen sein. Es ist wie bei einem Fick. Rein und dann wieder raus. Ganz einfach. Also geh jetzt hin, deinen Text kannst du auch. Es ist eine Sache von einer Minute…

Ok. Ich glaube der Plan, die Selbstgespräche abzuschaffen, ist auch dieses Mal fehlgeschlagen.“

Ich stand nervös an der Straßenecke. An mir rauschten die Menschen vorüber, eingehüllt in ihre warmen Mäntel und Schals. Bei dem Herbst wird das wohl ein harter Winter, dachte ich mir. Es hatte natürlich noch nicht angefangen zu schneien, aber die bunte Herbstlandschaft machte nach und nach einer grauen, leblosen Umgebung Platz.

Inmitten dieser Umgebung ließ ich meine Augen immer wieder zu einem Punkt auf der anderen Straßenseite schweifen. Bloß nicht zu lange starren, dachte ich mir. Sei nicht zu auffällig. Da nahm ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr. Fuck, die Ampeln hatten auf grün umgeschalten. Ich war mir nicht sicher, ob ich schon bereit war, aber meine Beine steuerten einfach drauflos. Oh nein, ich bin geliefert. Mein Schuh berührte bereits den Bordstein. Nur noch wenige Schritte, dann …

„Schönen guten Tag!“, erklang eine Stimme fröhlich.

„Schönen guten!“ Fuck, du hast ein Wort vergessen. Du hast ein Wort vergessen! Komm schon, rette die ganze Sache! „Ähm, ich meine. A - a - also … Tag auch. Guten Tag.“

Innerlich schlug ich mir mit der Hand gegen mein Hirn. Versaut, von Anfang an. Memo an mich: Kurz fassen. Stopp. Stottern vermeiden. Stopp.

„Na, mal wieder zufällig hier?“, fragte mich die Stimme.

„Ähm, ja. Ich wollte … ich hatte … ich dachte mir ich schau hier noch kurz vorbei. Eigentlich muss ich auch gleich wieder los.“

„Ah, verstehe.“ In der Stimme lag ein Lächeln. „Man ist ja auch viel beschäftigt, wenn man 10 Minuten an einer Ampel steht.“

Ich spürte, wie mir schlagartig heiß im Gesicht wurde. Von wegen Herbst. Ich befand mich grad in einer Sauna. Doch bevor ich es schafft,e weiteres Gestammel von mir zu geben, fuhr die Stimme auch schon fort: „Also was darf es denn bei dir sein? Das Stückchen der Woche wäre Kirschtasche. Zwei zum Preis von einer.“

„Na, das klingt doch gut.“

„Wir hätten aber auch richtig leckeren Schokokuchen im Angebot.“

„Spricht auch nichts dagegen.“

Ich blickte von dem angebotenen Gebäck auf und sah direkt in die Augen des Verkäufers. Des unheimlich gutaussehenden Verkäufers.

„Oder doch lieber so wie immer, weil du Kirschen nicht magst und keine schmelzende Schokolade an deinen Fingern haben willst, eine Apfeltasche und ein Marzipanhörnchen?“

Als Antwort lächelte ich ihn nur an. „Schön, wenn dein Bäcker schon weiß, was du möchtest“, flüsterte ich.

„Schön, dass du jeden Mittwoch kommst. Das macht die ganze Sache mit dem merken einfacher. Ach ja, und jeden Montag, Donnerstag und Samstag hab ich vergessen.“

Er zwinkerte mir zu, während meine Wangen wohl eben die Farbe seiner Kirschtaschen annahmen. Hab ich gerade von Sauna gesprochen? Hölle! Das ist treffender.

Der süße Bäckerjunge hatte mir in der Zwischenzeit meine Ware verpackt und bereit gestellt. „Unglaublich. Ihr habt jetzt schon Weihnachtsplätzchen?“

„Ich bitte dich. Das sind keine Weihnachtsplätzchen!“ Ich liebte seine gespielte Empörung.

„Das sind Spätoktober-Vorweihnachtseinstimmungs…!“ Ich liebte seinen Humor.

„Aber du hast recht. Wirklich unglaublich. Es wird eben von Jahr zu Jahr früher. Ich finde das auch nicht schön. Weihnachten wird von der Wirtschaft eben total zweckentfremdet und ausgebeutet.“ Ich liebte seinen kleinen Anflug von Zorn.

„Für viele geht ja der ganze Zauber von Weihnachten verloren. Die Vorfreude, die Gemütlichkeit. Für die ist Weihnachten einfach mal voll fürn Arsch.“

„Ich liebe deinen Arsch.“

„Wie bitte?“

„Fuck, hab ich das gerade laut gesagt? … FUCK, und das auch?“

„Also wenn du sagtest, du möchtest gerne ein paar von den Plätzchen haben, dann ja.“

Oh danke, danke, danke. Hab ich auch schon erwähnt, dass ich diesen Jungen liebte?

Ich räusperte mich. „Aber unterstütze ich damit nicht die Ausbeutung?“

„Das auch, aber in erster Linie unterstützt du meinen Arbeitsplatz.“ Wir grinsten uns an. Und in einem deutlich leiseren Ton sprach er weiter: „Ohne diesen Job hier würde ich wahrscheinlich auf den Strich gehen müssen. Und das wollen wir doch beide nicht. Obwohl ich glaube, dass ich dich als Stammkunden behalten würde, was?“

„Ähhh, ja, eine Packung Plätzchen bitte. Zwei.“ Mit zittrigen Händen kramte ich nach meinem Geldbeutel. Fuck, Sam, du musst dich so schnell wie möglich aus dieser Situation bringen. Auch sein permanentes Strahlen half nicht über mein Unwohlsein weg.

Ich nahm mir meine Tüten und gab ihm das Geld. Dabei berührten sich unsere Finger. Ganz sanft. Nur für ein paar Sekunden. Für zwei kleine, ewig dauernde Sekunden. Ich glaube dieser Moment fühlte sich wie Frieden an.

Er währte nicht lange, peinlich laut und monoton rollte meine Stimme wie Panzer an.

„Also! Schönen guten Tag noch und bis demnächst.“

„Schönen guten!“, kicherte er. „Bis morgen dann. Und hey, Glückwunsch dafür, dass du heute mal nur 10 Minuten an der Ampel gestanden bist.“

Hölle, Hölle, Hölle! Mit feurigen Schmetterlingen im Bauch und einem Kopf, der jeder Ampel Konkurrenz gemacht hätte, überquerte ich die Straße. Ohne langes Warten.

Mit jedem Schritt, den ich mich von der Bäckerei und diesem unheimlich süßen Jungen entfernte, entspannte ich mich mehr und mehr. Ich fing sogar an zu Pfeifen.

„Ich meine, hat doch gut geklappt. Es verlief zumindest besser als das eine Mal, als … ach, gar nicht daran denken. Und an Samstag schon gar nicht. Was zieh ich nur an? Fuck. Bin ich schwul. Na ja, so schwul auch wieder nicht. Ich geh normal. Hoffe ich. Mit meiner Stimme bin ich auch zufrieden, auch wenn sie bei gewissen Bäckereien Aussetzer hat und auch sonst bin ich doch gut gelungen. Mittelgroß, dunkle Haare.“

Ich betrachtete mich in einem vorüber ziehenden Schaufenster. Mein Spiegel-Sam und ich zwinkerten uns zu. „Ja, du bist ein ganz Süßer. Jeder Bäckerjunge würde seine süßen Teilchen links liegen lassen und dich vernaschen.“ Spiegel-Sam runzelte seine Stirn.

„Oder aber abgeschreckt werden durch deine ständigen Selbstgespräche und in einer Metzgerei anfangen.“ Tschau, Spiegel-Sam. Ich ging weiter. Hier gerade aus, da in eine U-Bahn steigen, umsteigen, wieder laufen. Gut, zugegeben, die Bäckerei lag nicht unbedingt auf meinem direkten Nachhauseweg, aber durch meine zügigen Spaziergänge wurde ich wenigstens die Apfeltaschen auf meinen Hüften wieder los.

Apropos, vielleicht sollte ich meinen Proviant langsam mal anbrechen. Morgen gab es ja schon wieder Nachschub. Ich kramte nach einer meiner Taschen und zog die in Folie gepackten Plätzchen hervor. Ich entknotete die Bänder und nahm mir ein Plätzchen.

„In der Weihnachtsbäckerei!“, begann ich zu singen. Ich weiß, mit vollem Mund singt man nicht. Munter sang ich die erste Strophe zu Ende. „In der Weihnachtsbäckerei. In der Weihnachtsbäcke….“

„KEEEKSEEE!!!“

„… REEEEIIII!!!“ Vor Schreck ließ ich meine Tüte fallen. Etwas Kleines, Weißes war aus dem Nichts schnurstracks auf meine Plätzchen zugeschossen. Ich rührte mich nicht. Ich betrachtete nur völlig ruhig einen kleinen, hellen Lichtball, der sich an meinem Gebäck zu schaffen machte. Dabei war ohne Unterlass, leise und schnell, zu hören: Kekse, Kekse, Kekse. Wer weiß, wie lange ich so dastand. Lange genug, denn der Lichtball schwebte nun vom Boden zu mir auf Augenhöhe herauf. Vor mir befand sich eine Gestalt, etwa 10 Zentimeter groß. Ein kleines Wesen. Ein Mädchen, so zart und zerbrechlich wirkend, als wäre sie aus Glas. Ihre feinen, filigranen Flügel ließen sie kleine Bögen in der Luft zeichnen. Ihr Haar war kurz und strahlte ebenso wie ihr restlicher Körper ein angenehmes, weißes Licht aus. Roch es hier nach Vanille?

„Du darfst deinen Mund ruhig zu machen.“

Mit einem KLACK klappte meine Kinnlade nach oben.

„Deine Kekse … oh, oh, Kekse … sie waren sehr lecker. Kann ich noch welche haben?“

„Fuck!“

Und noch mal: „Fuck, fuck, fuck! O.K. Leute, alle mal herhören. Auch du Spiegel-Sam. Ich bin ganz offiziell verrückt geworden.“ Ein Glück, dass niemand außer den umherstehenden Häusern und Bäumen das hören konnte.

Ich wandte mich von dem Wesen ab und lief. Ich wusste zwar nicht genau wohin, aber meine Füße trugen mich auf jeden Fall weg von dieser … dieser Situation.

„Hey, soll das heißen, du magst mir keine mehr geben? Aber das ist völlig in Ordnung. Ich kann sie mir auch einfach selbst nehmen.“

Ich blickte hinter mich. Jetzt direkt zur Seite. Neben mir schwebte weiterhin das kleine Mädchen als weiße Kugel und wirkte nicht so, als hätte ich eine Chance sie abzuschütteln.

„Wahh, hau ab!“, brüllte ich.

„Abhauen? Was soll ich denn abhauen? Ich sehe schon, du bist ein komischer Auftrag.“

Ich riss die Augen auf. „Auftrag? Was für ein Auftrag?“

„Was für einer? Du bist wirklich komisch,“ kicherte sie. Es. Was auch immer. „Na du. Auftrag Sam.“

Ich blieb abrupt stehen. Die schwebende Kugel umkreiste mich, weiterhin leise ‚Kekse, Kekse‘ von sich gebend.

„Und was musst du bei diesem Auftrag machen?“ Ich klang leicht panisch.

„Nun ja, wie das eben bei jedem Auftrag so ist. Sich damit befassen, bis er gelöst ist.“

Jetzt, wo ich nicht mehr ‚Kekse‘ im Ohr hatte, bemerkte ich, dass bei jedem ihrer Worte helle Töne mitklangen. Wie von einem Glockenspiel. Es klang angenehm….moment. „WAS?“

„Was was?“ Kling, kling.

„Na … fuck, beruhig dich, Sam. Kürz das ganze einfach ab. Wenn du etwas Weißem Fragen stellen willst, kannst du das auch noch später ganz gemütlich beim Porno schauen machen.“ Ich holte tief Luft und versuchte für einen Moment so zu sprechen, als gehörte das zu meinem Alltag.

„Na gut, dein Auftrag lautet Sam. Ich bin mir sicher, du hast den falschen Sam.“

„Nein, nein. Hab keine Angst, du bist schon du. Sam, 17 Jahre.“

„Toll. Freut mich, dass wir das geklärt haben. Ich bin Sam. Gratulation, damit hast du mich ja gefunden, identifiziert und damit deinen Auftrag erledigt.“ Ich brachte ein Lächeln zustande und betete inständig, dass sich das Ding nun mit einem ‚Puff‘ verabschieden würde.

Als Antwort bekam ich ein Kichern zu hören, untermalt von lieblichstem Glöckchenläuten.

„Neeeeein“, sprach das Mädchen gedehnt. Das klang nicht gut.

„Nein, nein. Ich wüsste, wenn ich nun schon alles erfüllt hätte.“

„Ähm, ja. Dann auf, ich helf dir so gut wie ich kann bei der Erfüllung und in ein paar Minuten bist du dann wieder verschwunden?“ Bitte?

„Ja, das klingt fair. Da wäre nur eine Sache. Ich weiß nicht, was bei diesem Auftrag genau von mir verlangt wird.“

Meine Augen wurden tellergroß. „Bitte? Du weißt nicht mal, was du genau tun musst?“

„Keine Sorge, wir bekommen das schon heraus, und bis es soweit ist, werden wir uns gegenseitig die beste Gesellschaft leisten“, grinste sie mich an. Dabei flatterte sie aufgeregt auf und ab.

„Das kann doch nicht wahr sein. Bitte, zeig mir die Kamera. In welche Richtung muss ich lächeln? Hey Leute“, rief ich herum. „Wirklich klasse, ganz großes Kino und diese Spezialeffekte sind schon der Hammer. Sound, sogar Duft. Diese Technik heutzutage, wirklich faszinierend!“

Ich suchte verzweifelt nach dem Kamerateam, das lachend aus dem Gebüsch kommen sollte. Sekunden vergingen. Ein Mann mit einem Mikrofon, der mir auf die Schulter klopft? Bitte?

„Hast du was verloren?“, erklang die sanfte Stimme.

Ich seufzte und ließ den Kopf hängen. „Ja, meinen Verstand. Ich rede hier tatsächlich mit einer Fee.“

„Engel. Und meinst du es ist normaler, ständig mit sich selbst zu reden?“

Ich ging gar nicht darauf ein. Zum ersten Mal, seit scheinbar Ewigkeiten, lag ein Anflug von einem Lächeln auf meinem Gesicht.

„Entschuldige, wie war das? Engel?“

Stolz plusterte sich das kleine Wesen auf. „Jawohl ja. Ich bin eine mächtige Kriegerin des Himmels, gekommen um dir in deiner Stunde der Not beizustehen.“

Ich starrte sie an. „Erstens bist du der Grund für meine Stunde der Not und zweitens: Du bist kein Engel“, meinte ich trocken.

„Ja, doch. Doch, doch, doch. Sieh mal, ich hab sogar Flügel.“ Sie drehte sich ein wenig zur Seite und klimperte mit ihren zarten Flügelchen. Sie waren zwar feiner als Schmetterlingsflügel und ähnelten Ahornblättern, doch bisher dachte ich, Engel wären ein wenig größer und trugen Federn. Ach was sag ich. Ich dachte gar nichts. In meinem Universum war kein Platz für Feen und Engel. Ich war ein normaler Typ, der unter der Woche in die Schule ging, oft seinen kleinen Bruder neckte und ab und an Jungenärsche fickte.

Langsam sprach ich, jedes Wort extra betonend: „Du bist kein Engel!“

Der weiße Schein nahm einen Hauch rosa an. Anscheinend hatte ich sie noch nicht überzeugt, dabei sollte klar sein, wenn sogar ich nun einsah, dass sie eine Fee, eine wirkliche, wahrhafte Fee aus Fleisch … aus Licht und Glas war, dann sollte sie das doch erst recht.

„Aber sieh doch mal.“ Sie klang ein wenig verärgert. „Ich leuchte sogar.“ Stolz flog sie ein paar Runden und hinterließ hinter sich einen Lichtschleier.

„Das tun Glühwürmchen auch.“

Sie machte in der Luft halt und ließ Kopf und Schultern hängen. „Na gut, ich bin kein Engel. Ich bin nur eine kleine Fee, aber manchmal träume ich davon mehr zu sein.“ Sie seufzte. „Du weißt wahrscheinlich nicht, wie es ist, jemand anderes sein zu wollen.“

Sie sah bedrückt aus. In dem Moment tat sie mir leid. „Doch, vielleicht weiß ich das.“

Sie blickte zu mir auf.

„Als ich vor ein paar Jahren gemerkt habe, dass ich auf Jungs stehe, da wollte ich auch manchmal einfach nur wie die Anderen sein. Ich hatte Angst davor es meinen Freunden zu sagen und ich fürchtete mich vor der Reaktion meiner Eltern.“

„Und war deine Furcht berechtigt?“

„Nein. Meine Eltern haben das völlig cool aufgenommen. Beziehungsweise sie wussten es eigentlich schon vorher. Mein Dad bat mich nur darum, dass ich die Pornos irgendwo abspeichere, wo er nicht zufällig drüberstolpern konnte. Und bei meinen Freunden war soweit auch alles gut. Ein paar Mädels waren ein bisschen geknickt, aber sie haben es überlebt.“

„Aha. Schön für dich.“

„Ja.“

Wir blickten uns in die Augen. Eine Zeit lang schwiegen wir uns an. Dann setzte ich mich wieder in Bewegung um nach Hause zu gehen. Mir blieb nichts anderes übrig, als sie mir folgen zu lassen. Auf dem restlichen Heimweg versuchte ich, möglichst nicht über diese ganze Sache nachzudenken. Doch als ich dann vor der Haustür stand, fing mein Hirn umso mehr an zu arbeiten. Wie sollte ich meinen Eltern erklären, dass ich nun einen Lichtball als Haustier mit heim brachte? Ich musste aufpassen, dass sie niemand sah.

„Ähm, Fee?“, flüsterte ich.

„Ja, Sam?“ Kling kling.

„Würde es dir was ausmachen dich mal eben in meinem Rucksack zu verstecken?“

Sie sah mich skeptisch an. „In das Ding? Nein, lieber nicht. Bestimmt werde ich darin von Büchern zerquetscht oder du wirfst ihn mitsamt mir in den nächsten Fluss.“

„Red keinen Unsinn. Geh jetzt da rein.“

Sie schnaubte: „Ich weigere mich.“ Wieder färbte sich ihr Schein zart rosa. Ich sah zur Tür, dann wieder zur Fee. Aber hey, ich hatte eine Idee.

„Ach, Fee“, ich kramte in meinem Rucksack nach der zweiten Bäckereitüte. „Siehst du das hier?“

„KEKSEEE!“ Sie flog hinab und riss ein Loch in die Tüte. „He, moment, das sind keine Kekse. Das sind so Plunder…“

Schnell zog ich den Reißverschluss zu, nahm den Rucksack auf meinen Rücken und schloss die Tür auf. Ich konnte die Fee aus dem Inneren meiner Tasche wüten hören.

„Hey, bin wieder daheim.“

„Hi Schatz“, rief meine Mutter aus der Küche. „Essen is gleich fertig.“

„Ok“, rief ich zurück und ging hoch in mein Zimmer. Endlich die Tür hinter mir zugemacht, ließ ich den Rucksack sinken und öffnete vorsichtig den Reißverschluss. Eine knallrote Fee stieg aus ihm empor. „Hast du den Verstand verloren? Bist du völlig belämmert?“

„Hey, beruhige dich. Ich wollte doch nur …“

„Wie kann man nur Plunderteilchen mit Keksen verwechseln? Da war ja nicht mal so ein Zettel drin, wie in der anderen Tüte. Ach je, ich bin mit einem Idioten als Auftrag bestraft.“

Ich seufzte erleichtert auf. Ein Glück, dass sie nicht ernsthaft böse war, weil ich sie eingeschlossen hatte. Ich kannte mich noch nicht so genau mit Feen aus und wusste nicht, zu was sie im Stande war.

„Ähm. Hast du gerade einen Zettel in der Plätzchentüte erwähnt?“

„Ja, da standen so ein paar Zahlen drauf, bestimmt sollten die die Qualität angeben.“

Mir wurde ganz heiß. „Ähm, und hast du diesen Zettel noch?“

„Ne ne. Den hab ich in der Tüte gelassen.“

Die Tüte, die ich auf der Straße liegen gelassen habe. Oh nein, das war bestimmt die Handynummer des süßen Bäckerjungen. Ich bin mir ganz sicher. Oh fuck. Fuck, fuck. Er hat mir seine Handynummer gegeben und ich hab sie weggeworfen. Noch mal fuck. Mir war zum Heulen zumute. Die Fee beäugte mich kurz besorgt, beschloss dann aber, dass mein Zustand nicht allzu ernst sein konnte. Ich beobachtete, wie sie durch mein Zimmer schwebte und langsam wieder ihren normalen Teint annahm. Sie sah sich interessiert um, immerhin gab es in meinem Zimmer auch eine ganze Menge zu sehen. Auf meinem Schreibtisch prangte ein Monster von einem Computer, eine Wand wurde komplett von einem Regal eingenommen, in dem sich allerlei Bücher, DVDs und Konsolenspiele sammelten und in der einen Ecke des Zimmers stand mein Klavier. Hier und da fanden sich noch Relikte verschiedener Sportarten, die ich alle mal durchgemacht hatte. An der Wand hing ein Degen, von der Decke baumelte in einer anderen Ecke ein Sandsack und unter meinem Bett mussten sich ein Skateboard, diverse Bälle und ein paar Tennisschläger befinden. Am einen Ende meines Bettes hatte ich meinen Fernseher auf einer Anrichte stehen, darunter waren eine WII und eine Playstation 3. Man konnte schon sagen, dass ich eine ganze Menge Sachen hatte. Das Zimmer war auch groß genug. Und hey, jetzt konnte ich auch noch behaupten, dass sich in meinem Zimmer etwas befand, was sonst wirklich niemand besaß. Meine persönliche Fee. Ich Glückspilz.

„Ach, Ironie ist schon was feines.“

„Redest du wieder mit dir selbst?“ Corey, mein 15jähriger Bruder stand in der Tür.

„COREY!“ Ich blickte zu ihm, dann zur Fee, die es sich mittlerweile auf meinem Bett bequem gemacht hatte, dann wieder zu ihm.

„Kannst du nicht anklopfen?“, schrie ich ihn an und warf meine Jacke über die leuchtende Stelle auf meiner Decke.

„Man, selbst wenn ich dich beim wichsen gestört hätte, na und? Du bist mein Bruder.“ Ich glaube in dem Punkt war ich nicht so liberal wie mein Geschwisterchen.

„Ich wollt dich fragen, ob du mir später bei meinen Hausaufgaben helfen kannst. Es is wieder diese Mathescheiße. Ich krieg das einfach nich gebacken.“

„Ähh, ja klar, ich …“, mir lief der Schweiß aus, als ich merkte, dass sich just in dem Moment etwas kleines Geflügeltes auf meine Schulter setzte. Fuck. Dieses Mistvieh, das machte es extra. Schnell umfasste ich die Fee mit meiner Hand und versteckte sie hinter meinem Rücken. Aber was brachte das, Corey hatte sie bestimmt schon gesehen.

„Ich … ich… klar.“

Corey rollte mit seinen Augen. „Oh man, sag bloß nich, dass du grad wirklich anfangen wolltest zu wichsen. Ich lass dir ja schon deine Privatsphäre. Aber beeil dich, gleich gibt’s Essen.“

Nachdem Corey die Tür hinter sich geschlossen hatte, stellte ich die Fee zur Rede: „Was soll das? Ich versuche dich zu verstecken und du sabotierst das auch noch? Ein Glück, dass er dich nicht bemerkt hat, auch wenn ich mir nicht erklären kann, wie er dich übersehen konnte.“

„Ach, bist du komisch. Wie sollte er mich denn sehen?“

„Wie? Na ja, mit den zwei Kreisen in seinem Gesicht, die man im Volksmund Augen nennt?“

„Ach Sam, aber nur du kannst mich sehen.“

„Nochmal bitte. Du bist also für alle anderen Menschen unsichtbar?“

Sie tänzelte auf meinem Schreibtisch herum. „Genau so ist es. Nur mein Auftrag ist in der Lage, mich zu sehen. Schon allein deshalb konntest du nicht der falsche Sam sein.“

O.K., das beruhigte mich schon mal. Wenigstens eine Sache, um die ich mir keine Sorgen machen musste.

„So, dann lass uns essen gehen“, strahlte mich die Fee an.

„Uns? Oh nein, du bleibst hier. Wenn du magst, kann ich dir etwas holen, aber du verlässt nicht dieses Zimmer, verstanden? Was isst du denn?“

„Eigentlich brauchen wir Feen keine Nahrung, aber Kekse haben es mir wirklich angetan.“

„Was du nicht sagst.“ Oh nein, jetzt fing schon wieder dieses permanente ‚Kekse, Kekse‘ an.

„Na gut, wenn du eh nichts zum Essen brauchst, dann kannst du ja getrost hier bleiben.“

„Aber nein, ich möchte bei dir sein. Ich muss doch rausfinden, was mein Auftrag ist.“

„Ja, aber dafür ist auch nach dem Essen noch Zeit.“ Ich hatte keine Lust jetzt mit ihr zu diskutieren. Irgendwo musste ich noch eine Prinzenrolle haben. Ich öffnete ein paar Schubladen. Volltreffer.

„KEKSEE!“ Es war irgendwie unheimlich, wie stark sie darauf reagierte. Aber genau damit hatte ich gerechnet. Ich zog die Schublade zu, was mit einem „Hey.“ zur Kenntnis genommen wurde und stellte meinen Stuhl davor, damit sie auch ja nicht ausbrechen konnte.

So eine Fee konnte einen ganz schön stressen. Die ganze Zeit über war ich total angespannt gewesen. Jetzt löste sich etwas in meiner Bauchgegend erstmalig wieder. Ich wusste nicht, wie das weitergehen sollte mit diesem Ding. Aber ich wusste, was ich jetzt erst mal brauchte. Entspannung. Langsam löste ich meinen Gürtel und knöpfte meine Hose auf. Wichsen war schon etwas Tolles. Es machte Spaß, war entspannend und man konnte dabei an versaute Sachen denken.

„AHA!“, drang es an mein Ohr. Erschrocken zog ich meine Hose hoch. Im Türrahmen stand mein Bruder mit einer Kamera. „Du Sau, wolltest also tatsächlich wichsen“, kicherte er.

„Fuck, du Mistvieh. Gib die Kamera her.“

Corey lachte nur. „Vergiss es. Mit dem Bild von deinem Schwanz krieg ich auf dem Pornomarkt bestimmt ein paar Euro.“ Er lief lachend davon. Oh warte nur, dich krieg ich. Ich war wieder komplett angezogen und folgte meinem Bruder hinunter ins Esszimmer.

„Gib sofort her!“

„Sam, benimm dich. Beim Essen wird nicht geschrien“, bemerkte Corey vorwurfsvoll. Er saß am Esstisch, von der Kamera keine Spur.

„Du wirst mir jetzt sofort die Kamera geben, sonst …“

„Ihr werdet jetzt erst mal anfangen zu essen, sonst wird das Essen kalt und wenn ich völlig umsonst in der Küche gestanden habe, dann hat das größere Ausmaße, als das, was nach deinem ‚sonst‘ gekommen wäre. Also, Jungs, guten Appetit.“ Grummelnd gehorchte ich meiner Mutter und setzte mich an den Tisch.

Es hätte eine ganz normale Mahlzeit sein können. Bis…

„Wie kommst du hierher?“, rief ich entgeistert.

„Hä? Ich wohne hier“, antwortete mein Bruder.

„Dich mein ich doch nicht, ich meine … äh …“ Neben meinem Glas stand ein kleines Wesen. Die Fee, die ich eigentlich in einer Schublade eingeschlossen zu haben glaubte.

„Ja, Brüderchen? Wen meinst du? Man, hast du dir deine Zurechnungsfähigkeit ausm Leib gewichst?“

„Corey!“, rief meine Mutter laut aus.

Ich zog es vor zu schweigen und zügiger zu essen, wobei ich der Fee immer wieder böse Blicke zu warf.

„Brauchst gar nicht so zu schauen“, meinte sie schnippisch. „Zumindest nicht solang ich dir noch keinen Grund dafür gegeben habe.“ Und mit diesen Worten stieß sie mein Colaglas um, das sich über die eine Hälfte des Tisches ergoss.

„Man, Trottel, pass doch mal auf.“

„Selber Trottel, ich bin doch gar nicht an mein Glas gekommen.“

„Natürlich, es ist von alleine umgefallen. Oder gab es gerade ein Erdbeben, das Mom und ich nicht mitbekommen haben?“

Ich zwang mich dazu nichts zu erwidern, immerhin wusste ich genau, wer dafür verantwortlich war. Also stand ich auf und holte einen Lappen. Als ich mich wieder an den Tisch setzte, lächelte mich die Fee süffisant an. „Ei ei ei, hat da jemand was verschüttet?“

„Halt bloß die Klappe“, zischte ich.

„Boah, du bist der einzige, der ständig mit sich selbst redet“, meinte Corey.

Ich ignorierte ihn. Dafür sah ich, wie die Fee sich in meinen Teller schwang und anfing in meiner Sauce Hollandaise herumzuplanschen. Na toll, ich glaub der Appetit vergeht mir gerade.

„Komm schon, Sam, schön aufessen“, rief mir die Fee zu. „Ich helfe dir auch dabei.“ Und mit diesen Worten fing sie an mich mit Kartoffeln und Spargel zu bewerfen.

„Darf ich aufstehen? Ich habe keinen Hunger mehr.“

Meine Mutter seufzte, nickte mir dann aber mit dem Kopf zu.

Ich stand auf und wollte noch meinen Teller abräumen, da fiel ich auf einmal vornüber.

„FUCK!“ Anscheinend hat irgendjemand die Schnürsenkel meiner Schuhe zusammen geknotet. Dabei hatten meine Hausschuhe gar keine Schnürsenkel. Zumindest bis vor kurzem. Ich schüttelte den Kopf, löste die Knoten und beseitigte die Sauerei. Dann sah ich zu, dass ich in mein Zimmer kam. Dort erwartete mich eine kleine Lichtkugel schon Freude strahlend.

„Na, schon fertig mit essen? Was gab es denn feines?“

Ich schmiss die Tür hinter mir zu. „Du hinterhältiges Biest, was sollte das?“

„Meinst du wirklich ich hätte die Aktion mit dem Rucksack so schnell vergeben und vergessen? Und das mit der Schublade war auch nicht nett, mein Lieber.“ Kling kling.

Ich schnaubte nur: „Erinnere mich daran, dich das nächste Mal in etwas mit einem Schloss dran zu sperren.“

„Ach, erspar dir die Mühe“, antwortete sie wissend. „Eine Fee ist nicht so schwach, wie sie von außen erscheinen mag. Ach ja, und du solltest aufhören mir zu drohen.“

„Sonst was?“ Ich verschränkte die Arme vor meiner Brust. Die Fee zuckte mit den Schultern. Dann kam sie auf mich zugeflogen und …

„Hey, was soll das? Was machst du da?“ Mein Körper hob vom Boden ab. Völlig schwerelos schwebte ich unter der Decke.

„Autsch.“ Etwas hatte mich nach oben geschubst, wodurch ich mir den Kopf stieß. Verdammt, schon wieder.

„Lass mich auf der Stelle runter“, wetterte ich.

„Zu Befehl“, rief die Fee und ließ mich hart auf dem Boden aufkommen. Sie schwebte zu mir herüber. „Ich will dir nichts böses, Sam. Aber“, sie lächelte „jetzt sind wir quitt.“

Toll. Gerechtigkeit. Immerhin hab ich zumindest das jetzt hinter mir. Ich musste jetzt erst mal ins Badezimmer. Wenn ich vorher schon wichsen nötig hatte, dann jetzt erst recht.

Ich setzte mich auf den Badewannenrand und begann meine Hand auf und ab zu bewegen. Nicht an die Fee denken. Den ganzen Ärger ausblenden. Jetzt gab es nur mich und Klein-Sam. Und Spiegel-Sam, der mich von den Kacheln aus angrinste. Oller Spanner, lächelte ich. Ach, das tat gut. Ich schloss die Augen. Meine Hand fuhr immer weiter meinen Schwanz entlang. Ich war schon kurz davor zu kommen.

„Was machst du da?“

Hä? In Sekundenschnelle öffnete ich die Augen und zog meine Hose hoch. Die Fee musterte mich neugierig.

„Fuck, kennt ihr Feen denn gar keine Privatsphäre? Und wie kommst du hier überhaupt rein? Die Tür ist abgeschlossen.“ Ich folgte ihrem Blick. Das Fenster war gekippt.

„Wenn du wirklich willst, dass zwischen uns alles ein wenig ruhiger verläuft, dann wirst du jetzt auf der Stelle das Badezimmer verlassen. Ich habe hier noch etwas wirklich, wirklich wichtiges zu erledigen.“

Die Fee merkte, dass ich es ernst meinte. Wirklich, wirklich ernst und gehorchte. Toll, besonders viel zum runterholen war nicht mehr übrig. Na komm schon, das kriegen wir gleich wieder hin. Denk an deinen Bäckerjungen. An seinen zarten, schlanken Körper. Seine geröteten Wangen. Seine strahlenden Augen. Ah, na also, geht doch.

Als ich gekommen war, ging es mir ein bisschen besser. Ich glaube die nächste Zeit würde ich wohl noch viel öfter wichsen müssen.


Ich saß mit Wymbell in einem Cafe. Na ja, eher ich saß in einem Cafe und Wymbell hatte es sich unsichtbar auf meinem Tisch bequem gemacht. Ich musste bei diesen Erinnerungen lächeln. Das ganze ist über einen Monat her und so viel hatte sich verändert.

„Na, darf ich dir schon was bringen?“ Ich hatte gar nicht bemerkt, dass sich uns der Kellner genähert hatte. Ich blickte auf. Und sah einen wunderschönen Jungen vor mir.

„Ähm.“ Toller Anfang. Komm schon, über dieses Alter bist du hinaus.

„Also ich hätte gerne eine heiße Schokolade.“

„Mit oder ohne Sahne?“

Mir lag ein versauter Spruch auf der Zunge, doch ich schluckte ihn runter und meinte dann nur: „Ohne Sahne bitte. Aber kann ich vielleicht ein paar extra Kekse bekommen?“

Der süße Junge zwinkerte mir zu: „Du kannst von mir so viel bekommen, wie du nur willst.“

Moment, hat der eben mit mir geflirtet? Vielleicht hätte ich doch den Sahne-Spruch bringen sollen. Ich sah ihm hinterher. Netter Hintern, bemerkte ich lächelnd.

Wymbell betrachtete mich durchdringend. „Er gefällt dir, hm?“, stellte sie fest.

„Na ja, er sieht nicht übel aus und scheint von seiner Ausstrahlung her auch ganz nett zu sein.“

„Er hat ja auch eben verlauten lassen, dass er dich ganz nett findet.“

„Mhm. Schon, schon“, murmelte ich geistesabwesend.

„Na, dann versuch dich an ihn ranzuschmeißen.“

„Ach, Wymbell, ich weiß nicht, ob ich schon will.“

„Natürlich willst du.“

Ich widersprach nicht mehr, denn in dem Moment kam meine heiße Schokolade samt heißem Kellnerjungen.

„So, bitte schön. Einmal heiße Schokolade ohne Sahne und ein kleiner Teller mit Keksen.“

„Oh, danke schön. Das wäre aber doch nicht nötig gewesen.“

„Ach, doch. Du wartest ja bestimmt noch auf jemanden, da soll es ja für beide reichen.“

Ich räusperte mich. „Ehrlich gesagt hat mein Freund vor kurzem mit mir Schluss gemacht und ich versuche hier meinen Liebeskummer zu ertränken.“

„Oh, das tut mir leid.“ Ganz ehrlich, ich glaubte nicht, dass ihm das leid tat.

„Na ja, so ist es eben. Kann ich bei dir gleich zahlen?“

„Ja, natürlich.“ Ich gab ihm das Geld für meine heiße Schokolade mit 10 Prozent Tipp wie sich das gehörte und schenkte ihm noch mal ein intensives Lächeln.

„Dann dir mal noch einen schönen Tag, ich hoff dir geht es bald besser. Vielleicht sieht man sich ja mal wieder.“

„Ja, vielleicht.“ Er entfernte sich langsam von mir. Wie ich ihm nachsah, beobachtete ich, wie er ein wenig verdutzt etwas in seiner Hand betrachtete. Dann blickte er zu mir zurück und lächelte. Ich lächelte willig zurück.

„Wymbell, gibt es da etwas, was ich wissen müsste?“

„Kekse, Kekse. Ähm, warum fragst du?“, fragte sie unschuldig.

„Der Junge, der uns gerade bedient hat, hat also nicht auf einmal wie durch Zauberhand einen Zettel in seiner Hand vorgefunden, von dem ich mir denken könnte, dass da meine Handynummer drauf steht?“

„Es liegt im Bereich des Möglichen.“ Kling kling.

Ich lächelte. Na ja, was sollte es schon schaden. Und es war ja lieb von ihr gemeint, wenn sie mich ein wenig anschubste. Ich rührte in meiner Tasse. Heiße Schokolade ohne Sahne. Ganz so wie Tamo sie gern hatte. Ich seufzte. Tamo.


„Also eigentlich dachte ich ja, ich würde von dir gestern sofort einen Anruf erhalten.“ Es klang vorwurfsvoll, aber das Lächeln in seinem Gesicht verriet mir, dass er es nicht ernst meinte. Mein Bäckerjunge lächelte mich an.

„Jetzt bin ich aber mal auf deine Ausrede gespannt.“

„Ähm, …. ich … also …?“

„Also?“, meinte er fordernd.

„Na gut, w – wenn du auf eine bestehst.“ Fuck, stell das Stammeln ab.

„Mir ist gestern quasi eine kleine Fee zugelaufen, die total geil auf Kekse ist und die hat mir die Tüte entrissen. Sie schwebt jetzt auch um uns herum und sagt mir, dass ich einen guten Geschmack habe, weil du wirklich süß bist.“

Für einen kurzen Moment sah er mich ernst an. „Eine Fee“, stellte er fest.

„Eine Fee.“ Ich wurde wieder feurig rot.

„Und diese Fee findet mich süß?“ Er schien zu überlegen. Dann kritzelte er etwas auf einen Zettel. „Hier, gib dieser Fee meine Handynummer. Wenn sie mich süß findet, vielleicht würde sie sich ja auf ein Date mit mir freuen.“

„Hey, und was ist mit mir? Ich würde mich auch auf ein Date freuen. Außerdem finde ich dich noch viel süßer als sie dich und auch schon viel länger.“

Er lachte. „Nanu, du stotterst ja gar nicht mehr.“

Ich schaute ihn flehend an, während er den Zettel mit den kostbaren Zahlen in Händen hielt.

„Na gut, unter einer Bedingung.“

„Und die wäre?“

„Du verrätst mir endlich mal deinen Namen.“

„Sam“, rief ich wie aus der Pistole geschossen hinaus. Etwas leiser und ruhiger fügte ich dann noch mal hinzu: „Ich heiße Sam.“

„Freut mich, Sam. Ich bin Tamo.“ Tamo. Ein schöner Name. Wahrscheinlich der schönste Name der Welt.

„Tamo. Gut, dann werde ich dich bald anrufen.“

„Ich würde mich sehr darüber freuen. Magst du noch deinen Alltags-Proviant haben?“

Ich winkte ab: „Nein, ich glaube nicht. Ich muss ja für unser Date sparen, damit ich dich ausführen kann.“

Tamos Wangen erröteten. „Warte, dann geb ich dir zumindest ein paar Plätzchen mit. Aufs Haus versteht sich. Für deine keksgeile Fee. Warte mal kurz.“ Er wollte nach den Plätzchen greifen, doch seine Hand griff ins Leere. „Merkwürdig, ich dachte die wären heute noch nicht ausverkauft gewesen. Entschuldige bitte, aber ich kann dir doch keine mitgeben.“

„Du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen. Dafür hab ich etwas viel besseres bekommen.“ Wir lächelten uns noch einmal an, dann verabschiedete ich mich.

Den ganzen Weg nach Hause pfiff und sang ich und die Fee, die es nur zu schön fand, dass ich so gut gelaunt war, sang mit, wozu ihre Glöckchentöne immer mitklangen.

Daheim angekommen, stellte ich sie dann aber doch mal zur Rede.

„Ist das dein Ernst, du hast in der kurzen Zeit sämtliche Plätzchen weggegessen?“

„Nein nein, mir ist erstaunlicherweise das gleiche passiert wie dir. Mir ist quasi eine Fee zugelaufen, die total geil auf Kekse ist und die hat die alle weggeputzt. Ganz sicher.“ Sie nickte heftig mit dem Kopf als müsste sie nur stark genug nicken, damit ich es glaubte.

„Aber die Kekse gehörten dir nicht. Du kannst sie nicht einfach essen.“

„Wenn ich nur die Kekse essen würde, die mir gehören, dann könnte ich ja nie welche essen.“ Ihre Stimme klang bei dieser Feststellung sehr traurig und eine kleine Träne lief ihre Wange hinab. Jetzt tat sie mir richtig leid.

„Hey, sei nicht traurig. Ich schenke dir einfach ab und an Kekse, dann sind das deine ganz eigenen.“

„Ganz ehrlich?“

„Ganz ehrlich.“

Sofort legte sie wieder ihr Strahlegesicht auf. „Ach, wäre das schön. Ganz viele Kekse, alle meine eigenen. Zimtsterne, Oreos, Spekulatius, Cantuccini, Nizzagebäck …“

Ich ließ sie mit ihrem kleinen Tagtraum alleine und setzte mich an meinen Schreibtisch. Vor mir lag Tamos Handynummer. Ich holte mein Handy hervor.

„Pepparkakor, Spitzbuben, Breskvice“ Na ja, immerhin war das nicht so nervig, wie das ständige ‚Kekse, Kekse, Kekse‘.

Ich legte mein Handy auf den Tisch. Irgendwie wurde ich nervös. Komm schon, es ist nur ein Anruf. Ein kurzes Telefonat mit dem schönsten Jungen der Welt, um mit ihm ein Date auszumachen. Kein Grund nervös zu sein. Und der Vorteil ist, er kann nicht sehen, wie rot du wirst. Langsam wählte ich die Nummer.

„Ja bitte?“

„Ähm.“

„Hi Sam.“ Er grinste. Natürlich grinste er.

„Ja, richtig geraten. Hallo Tamo.“

Stille. Keiner von uns sagte ein Wort. Dann meldete sich am anderen Ende wieder seine Stimme: „Es kann sein, dass ich mich irre, aber hast du nicht mich angerufen?“

„Ach ja, doch. Natürlich. Fuck, Sam, wie kann man nur so minderbemittelt sein? Tamo wäre mit einem Kindergartenkind besser bedient. Konzentrier dich jetzt.“

Verwundert hörte ich Tamo laut lachen.

„Dir ist schon bewusst, dass du das gerade alles laut gesagt hast, ja?“

„Fuck!“

„Und das auch. Aber um dich zu beruhigen, du bist mir lieber als ein Kindergartenkind. Immerhin will ich mich ja auch mit jemandem treffen, bei dem ich auch ein sexuelles Interesse habe.“

Fuck, warum macht dieser Junge das mit mir? Jetzt ist mir direkt das Handy aus der Hand gefallen. „Ähm, bist du noch dran?“

„Klar, auch wenn du mich weggeworfen hast. Mal wieder. Lass mich raten, du bist grad knall rot.“ Das hatte ich gar nicht bemerkt, aber jetzt wo er es sagte. Ich war eine wandelnde Tomate. Ich war dafür das, Gespräch so schnell wie möglich zu beenden. Wir verabredeten uns für nächsten Samstag und legten dann schnell auf.


Ich war nervös. Natürlich war ich nervös. Ich sah zum x-ten Mal auf die Uhr, dabei wusste ich, dass ich eine Viertelstunde zu früh da war. Zum Glück konnte ich die Fee davon überzeugen, dass sie mich alleine gehen ließ. Meine Argumente waren unschlagbar. Kekse, Kekse und noch mehr Kekse. Ich glaub, in meinem Zimmer konnte man durch Kekse schwimmen. Ich betrachtete mich in einer Autoscheibe. Meine Frisur saß perfekt, die Fee hatte mit ein wenig Zaubern dafür gesorgt und mich außerdem in unglaublich schicke Klamotten gesteckt, die besser waren, als alles, was in meinem Kleiderschrank zu finden war. Und bei einem begehbaren Schrank sollte das schon was heißen.

Ein Räuspern ließ mich aufschrecken. Neben mir stand eine Person, die Tamo ziemlich ähnelte, aber um Welten schöner war. Es war das erste Mal, dass ich ihn nicht mit Bäckerklamotten sah. Seine Haare hatte er leicht mit Gel aufgestylt. Ich strahlte ihn an.

„Tamo. Schön, dass du gekommen bist.“ Ich musterte ihn noch mal von oben bis unten. Ich wollte ihn mir am liebsten in mein Hirn einbrennen. „Wow. Du siehst unglaublich gut aus.“

„Danke schön“, murmelte er verschämt. „Das gleiche Kompliment kann ich dir nur zurückgeben.“ Ich hielt ihm meinen Arm entgegen in den er sich sanft einhakte.

„So so, ich bin also die Dame für diesen Abend.“

„Natürlich, schließlich soll die Dame ja auch nicht für den Abend aufkommen.“

„Danke übrigens, dass du mich einlädst.“

„Es ist mir ein Vergnügen.“ Hey, ich hatte diesen Gentlemankram doch ganz gut drauf, oder?

„Zu schade, dass ich deine Schönheit nicht den ganzen Abend bewundern kann.“

Tamo schaute irritiert. „Wieso? Musst du schon früher wieder los? Ich dachte ich bin der einzige Bäckerjunge, den du heute triffst.“

Ich strich ihm über seine Wange. „Das ist auch so. Aber wir gehen heute in ein ganz besonderes Restaurant. Bitte hier entlang.“

Wir betraten ein Gebäude, das von außen ziemlich unscheinbar wirkte, ich aber wusste, dass es eines DER Restaurants der Stadt war.

Tamo sah sich um. „Das sieht aus, wie eine Rezeption eines Hotels. Ich will gar nich wissen, was du mit mir vorhast, Sam.“

„Ach, nicht das, was du denkst.“

„Aha, du willst mich also nicht gerne ficken? Jetzt bin ich beleidigt.“

Ich schüttelte nur grinsend den Kopf.

„So, die Herren, Sie sind zu zweit?“

„Ja“, antwortete ich dem Mann am Empfang.

„Sie kennen sich aus?“

„Ja, und meiner Begleitung werde ich alles erklären.“

„Gut, dann haben Sie hier schon mal die Karten und dürfen noch mal Platz nehmen.“

Wir setzten uns in zwei Ledersessel. Tamo wirkte ziemlich verunsichert. Die Formulierung der Speisekarte brachte da keine Abhilfe.

„Hey, mach dir keine Sorgen. Ich erkläre dir alles.“ Ich nahm seine Hand.

„Also das ist ein Dunkelrestaurant. Wir werden jetzt gleich in einen Raum geführt, in dem kein einziger Lichtstrahl erlaubt ist. Dafür müssen wir auch unsere Handys ausschalten und eventuelle Uhren in die Hosentasche stecken.“

Tamo hörte mir aufmerksam zu.

„Es gibt vier Menüs, zwischen denen du wählen kannst. Huhn, Rind, Fisch oder vegetarisch. Jedes Menü besteht aus vier Gängen. Da du aber nicht siehst, was du isst, sollst du auch vorher gar nicht genau wissen, was du bestellst, deshalb sind die Beschreibungen etwas umschreibend und poetisch formuliert worden. Alles klar soweit?“

„Ich denke schon. Und man kann im Restaurant wirklich nichts sehen?“

„Nicht die Hand vor Augen.“

„Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen.“

„Konnte ich damals auch nicht. Aber es ist echt ein Erlebnis.“ Ich legte meine Hand auf seinen Rücken und streichelte ihn.

„Hui, dafür, dass man nicht weiß, was man bekommt und weder Essen noch Dekoration oder Einrichtung sieht, sind die Preise ganz schön gesalzen. Ich finde wir haben bei der Rollenverteilung Dame/Herr eine gute Wahl getroffen.“ Ich lachte leise.

Als wir beide gewählt hatten, mussten wir noch einen kurzen Moment warten. Dann kam aber schon bald einer der Kellner aus dem Speisesaal um uns und eine Reihe anderer Leute, die ebenfalls warteten, zu begrüßen. Ich weiß noch, wie erstaunt ich war, als ich das erste Mal einen Kellner dieses Restaurants vor mir hatte. Ich fing Tamos Blick auf. Sollte er sich gefragt haben, wie die Kellner in einem Restaurant, in dem sie nichts sahen, bedienen, so hatte er jetzt die Antwort. Das gesamte Serviceteam des Restaurants bestand aus Blinden.

„Guten Abend, meine Herrschaften“, begann unser Kellner, mit seinen trüben Augen in die Ferne blickend. „Ich heiße Sie herzlichst bei uns willkommen und möchte Ihnen kurz ein wenig zum heutigen Abend erklären.“

Ja, das mit den Handys und Uhren hatte ich Tamo schon erzählt. Um uns herum fingen Leute an, ihre Handys herauszukramen und gehorsam auszuschalten.

„Wären Sie dann alle soweit? Ja? Schön. Dann möchte ich Sie bitten, sich alle in einer Reihe aufzustellen und Ihre Hände auf die Schultern Ihres Vordermannes oder Ihrer Vorderfrau zu legen.“ Tamo drehte sich ungläubig nach mir um. Ich nickte ihm nur wohlwollend zu.

„So, wenn wir alle soweit sind, dann können wir unsere Polonaise ja starten“, und so setzte sich die Schlange in Bewegung. Was Tamo wohl als erstes bemerken musste, war, dass wir im Zickzack gingen, wodurch das Licht aus der Empfangshalle immer schwächer wurde bis es schließlich völlig verschwunden war. Das zweite war, so sehr sich die Helligkeit verringerte, so stieg der Geräuschpegel an. Und auch wenn man nichts sehen konnte, vermittelten einem die Geräusche nun in einem gut gefüllten Restaurant zu sein.

„Wahnsinn“, konnte ich Tamo vor mir hören. Ich drückte sanft seine Schultern und freute mich, dass es ihm zu gefallen schien. Unser Kellner nahm jeden der Gäste aus seiner Schlange einzeln an der Hand und führte ihn zu seinem Platz. Auch Tamo und ich wurden an unseren Platz geführt, wo wir auf unserem Tisch ein Tischset aus Stoff vorfanden.

„Man, das ist ja total praktisch.“ Ich ging davon aus, dass Tamo gerade den Tisch abtastete. „Dieses Tischset rahmt quasi den Bereich ein, wo sich alles fürs Essen befindet.“

„Na ja, so viel befindet sich noch nicht darauf. Oder erspürst du mehr als Besteck?“

„Hm, nein, aber hier, ist das eine Vase?“ Tamo kicherte. „Blick fürs Detail.“ Wir kicherten beide. Nach einiger Zeit wurde unsere Getränkebestellung aufgenommen.

„Man, Sam, ich find dieses Konzept wirklich genial. Dass all diese Menschen, die sonst eigentlich von der Gesellschaft isoliert sind, hier einen normalen Beruf ausüben können, das ist klasse.“

Ich stimmte ihm zu. „Ja, für Blinde macht es nicht mehr Mühe sich an diesem Ort zu recht zu finden als woanders. Hast du auch schon gemerkt, wie sie immer schnipsend an uns vorbeigehen? Dadurch vermeiden sie zusammen zu stoßen, weil sie hören, wo die Kollegen entlang gehen.“

„Genial“, konnte Tamo nur wiederholen. Seine gesamte Stimmlage war so euphorisch, das verlieh mir eine richtige Gänsehaut.

„Woher weiß man, dass hier niemand irgendeinen Unsinn treibt? Wenn man von keinem gesehen wird, was würde einen daran hindern, sich einfach auszuziehen?“

„Tja, das weiß man eben nicht. Vielleicht sind wir gerade die einzigen angezogenen Gäste hier.“

„Man, was das einem alles für Möglichkeiten eröffnet“, murmelte Tamo. Merkwürdig, es klang so, als würde sich seine Stimme entfernen. Plötzlich spürte ich eine Hand auf meinem Oberschenkel. Sie fuhr langsam über meine Hose und glitt weiter in Richtung Reißverschluss. War das gerade Tamos ernst? Hatte er vor jetzt … was auch immer zu tun? Ich spürte wie die Hand über meinen Schritt fuhr. Fuck, ich bekam eine Mörderlatte. Die Hand entfernte sich.

„Entschuldige.“ Tamos Stimme klang wieder wie von eben. „Ich dachte mir wäre Besteck heruntergefallen.“

„Ja sicher.“ Ich nahm einen Schluck von meiner Cola.

„Aber das einzige Längliche unterm Tisch war zu kurz um mein Messer zu sein.“

Ich musste prusten, schaffte es aber noch so halbwegs mir die Hand vor den Mund zu halten.

„Wie bitte?“, rief ich. Tamo lachte kurz auf.

„Hey, du hast mir ins Gesicht gespritzt!“

„Geschieht dir ganz recht, so frech wie du bist. Und wenn du nicht artig bist, war das nicht das letzte Mal. Dann zeig ich dir, dass hier etwas ganz und gar nicht zu kurz ist.“

Seine Hand langte zu mir herüber und streichelte meinen Handrücken.

„Na schön, das merk ich mir. Wehe, das war eine leere Versprechung.“

Nach und nach wurden die Gänge serviert und Tamo und ich amüsierten uns den ganzen Abend über köstlich. Auch wenn ich ihm nicht in die Augen sehen konnte, sein Lächeln nicht genießen durfte, das Wissen, dass er mit mir hier am Tisch saß, erfüllte mich mit einer überwältigenden Zufriedenheit, wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte. Ich denke dieses Restaurant bringt einem einige Vorteile beim Kennen lernen, denn das einzige was man tun kann, ist tatsächlich sich zu unterhalten. Hier gab es kein ‚in der Gegend umherschweifen‘ oder den Anderen ‚begaffen‘. In der kurzen Zeit, die wir gemeinsam beim Essen verbrachten, lernten wir sehr viel voneinander kennen. Und ich erfuhr, dass es auch ihm genauso ergangen war, wie mir. Ich bin ihm vom ersten Tag an, den ich bei ihm eingekauft habe, aufgefallen und er hatte inständig gehofft mich wiedersehen zu können.

„Und so oft wie ich bisher da war, hast du noch nicht genug von mir?“

„Jetzt wo du es erwähnst, manchmal kam mir die Idee ich könnte einfach einen Pappaufsteller von mir in Lebensgröße aufstellen. So viel wie du immer geredet hast, hätte der für eine Konversation völlig ausgereicht. Au. Hast du mir gerade gegen das Schienbein getreten?“

Obwohl wir uns noch nicht lange kannten, gingen wir miteinander um, als wären wir schon Jahre befreundet. Kein Scherz wurde zu ernst aufgenommen, es kam zu keinem peinlichen Schweigen, wo niemand wusste was man sagen sollte. Ach, Tamo ist so toll.

„Und, wie findest du deine Hauptspeise? Also ich finde, Rindfleisch ist einfach die beste Wahl, die man hier treffen kann. Und diese Rosmarinkartoffeln, lecker. Und was hab ich hier? Ich würde sagen, das ist … hm, das könnten geschmorte Karotten sein. Schon lustig, wie man sich ohne seine Augen nicht so sicher sein kann, was? Ähm, Tamo? Tamo, hörst du mir überhaupt zu?“ Ich versuchte zu lauschen. Um mich herum war weiterhin die Geräuschkulisse der restlichen Gäste, aber Essgeräusche oder Geschirrgeklirre von meinem Gegenüber blieb aus. „Fuck, wo ist der Junge jetzt schon wieder hin? Tamo?“, ich duckte mich unter den Tisch. „Hey“, flüsterte ich. „Tamo, bist du da unten?“ Keine Antwort. Ich tauchte wieder auf.

„Fuck, fuck. Was mach ich jetzt?“ Ein Lachkrampf unterbrach meine Überlegungen.

„Blödmann, das findest du lustig?“

„Hey, man ist nicht alle Tage in so einer Lokalität. Das muss ich nun mal ausnutzen. Wo sonst könnte ich so eine Aktion bringen?“ Ich fiel in sein Lachen ein.

Die weiteren Gänge verliefen ohne weitere Zwischenfälle und schon bald wurden wir von unserem Kellner dazu aufgefordert, wieder gemeinsam den Speisesaal zu verlassen. Tamo und ich blinzelten ziemlich, als wir wieder in die Welt des Lichts zurückgeführt wurden. Zum Glück waren die Lampen nicht allzu hell.

„Na, mein süßer Bäckerjunge, hat es dir gefallen?“ Ich legte meinen Arm um ihn.

„Ja, sehr. Auch wenn es schade ist, dass sie einen schon so früh wieder zurückbringen.“

„Was meinst du mit ‚schon so früh‘?“

„Na ja, wirklich lange waren wir ja jetzt nicht da drin gesessen.“

Ich lachte auf. „Ich geh mal bezahlen, Tamo und du kannst ja mal schauen, wie viel Uhr es jetzt ist.“

Als wir dann gemeinsam das Restaurant verließen, wollte Tamo immer noch nicht wahrhaben, dass wir drei Stunden in dem Restaurant verbracht haben.

„Das kann nicht sein. Wir sind doch quasi vor einer Stunde erst reingeführt worden.“

„Schon krass, oder? Ich finde das auch beeindruckend, dass einen das Zeitgefühl so im Stich lässt. Es ist aber auch wirklich immer wieder so.“

Tamo seufzte glücklich. Wir gingen Hand in Hand die Straße entlang, dabei lächelte er verträumt vor sich hin. In der U-Bahn ließen wir uns allerdings los. Um diese Uhrzeit war mir das nicht besonders geheuer. Und ich gehörte nicht zu denen, die ‚geoutet‘ mit ‚lebensmüde‘ verwechselten. Ich begleitete Tamo noch bis nach Hause. Vor der Haustür sahen wir uns tief in die Augen. Es war völlig still, die Sterne blinkten am Himmel, in den Fenstern der umstehenden Häuser brannte kein einziges Licht mehr. Wir standen uns gegenüber und sagten kein Wort. Fuck, das ist doch jetzt ein richtiger Kussmoment. So wie in einem Film, wo sich das Pärchen langsam näher kommt und sich dann ganz, ganz vorsichtig die Lippen berühren … und dann gehen sie hoch zum einen und vögeln sich die Seele aus dem Leib. Ja, genau, Sam. An dir ist wirklich ein Romantiker verloren gegangen.

Ein Streuwagen fuhr an uns vorbei. Ich runzelte die Stirn. Ein Streuwagen Anfang November um diese Uhrzeit? Tamo schien sich auch zu wundern und begann zu kichern.

„Sag mal, kam dir das nicht gerade auch so vor wie diese typische Szene aus Filmen, wo sich ein Pärchen das erste Mal küsst?“

„Ja, so was Ähnliches hab ich auch gerade gedacht.“

„Tja, ich würde sagen, wir haben unseren Moment verpasst. Dieser Streuwagen war wie das berühmte Grillenzirpen oder eine Wüstenhexe, die vorbei gerollt kommt, wenn das, was eigentlich kommen sollte, nicht eintritt.“

Ich lächelte. „Das heißt es gibt jetzt keinen Kuss?“ Ich rückte näher an ihn heran.

„Tut mir leid, aber in solch einer Situation sind uns die Hände wohl gebunden. Der Streuwagen ist der Meinung, dass wir den Moment verpasst haben.“

„Blödes Teil. Dass dieses Teil hier auftauchte, entzieht sich doch jeglicher Logik.“

Tamo nahm meine Hände. „Hey, wir hatten einen schönen Abend. Ich hatte einen schönen Abend und den verdanke ich dir. Keine Sorge, du bekommst deinen Kuss schon noch.“ Er umarmte mich. Ich drückte ihn ganz fest an meinen Körper. Dann hauchte er mir einen Kuss auf meine Wange und betrat das Haus. Ich machte mich leichten Schrittes auf den Heimweg und so leicht und frei wie ich mich fühlte, hätte ich mit Flügeln bestimmt genauso abheben können, wie die kleine Fee.


„Ah, Tamo, da ist ja deine Samy.“

Ich bemerkte, wie Tamo seiner Kollegin einen Klaps auf die Schulter gab.

„Hey Samy, Tamo redet die ganze Zeit nur von dir.“

„Naziha!“ Tamo wurde rot im Gesicht.

Doch die Bäckerfrau ließ sich nicht stören und erzählte munter weiter mit einem Lachen im Gesicht: „Ja, sagt er du bist beste Freund, dies gibt. Und ach, hast du schöne Haare. Und ach, hast du schöne Augen. Sieht er nicht gut aus. Kann ich mir das schon ganze Woche anhören.“

Ich lächelte. „Tatsächlich? Was sagt er denn sonst noch so?“

Doch Tamo ließ seine Kollegin gar nicht zu Wort kommen: „Ich finde, wir haben jetzt genug gehört.“ Naziha grinste. Sie war etwa Anfang 40, hatte aber eine sehr junge und lustige Ausstrahlung. „Ja, gehst du jetzt umziehen, machst du Feierabend.“

Tamo gehorchte und verschwand im hinteren Teil der Bäckerei.

„Ach, Samy, kann ich dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass ihr euch habt endlich mal getroffen. Schon seit Wochen er schwärmt immer nur von dir. Und er sich hat immer gefreut, wenn du bist gekommen. Und heute schon die ganze Tag: Ich geh besuchen Samy, ach was freu ich mich auf Samy. Ist er nich …“

„NAZIHA!“

Ohne sich von ihr zu verabschieden, griff Tamo nach meiner Hand und ging mit mir davon. Ich hörte Naziha uns nur noch hinterher rufen: „Habt eine schöne Tag, ihr beide.“

„Süß“, bemerkte ich.

„Meinst du mich?“

„Nein, deine Kollegin. Mit diesem osteuropäischen Akzent klingt das total sympathisch.“

„Ich glaub ich muss mir seit ein paar Minuten noch mal überlegen, ob ich noch so große Sympathien hege.“

Doch sein gespielter Ärger verrauchte auf dem Weg zu mir nach Hause. Als wir dann aber wirklich angekommen waren, schien ich etwas ganz anderes in seinem Gesicht lesen zu können.

„Alles in Ordnung bei dir?“

„Seh ich so aus?“

„Ehrlich gesagt, nein.“

Tamo rollte mit den Augen. „Sowas aber auch. Konnte ich ahnen, dass du im Buckingham Palace wohnst? Jetzt weiß ich auch, woher du das ganze Geld für deine täglichen Gebäckstücke hattest.“

Ich lachte. „Jetzt übertreib mal nicht. O.K. unser Haus ist groß und sieht auch echt schön aus, aber es ist jetzt nichts Besonderes.“

„Nichts Besonderes?“, wiederholte Tamo ungläubig. „Habt ihr einen Garten?“

„Ja, und einen Wintergarten.“

„Habt ihr Gästezimmer?“

„Drei Stück.“

„Wie siehts mit einem Pool aus?“

„Befindet sich auf der anderen Seite des Hauses, ist aber ein Indoor-Pool. Dort haben wir auch eine Sauna.“

„Du hast recht, du hast völlig recht. Es ist nichts Besonderes.“ Die Ironie war deutlich zu hören. Wir traten ein und ich gab ihm erst mal eine kleine Hausführung.

„Sam, hast du bei deinen ganzen Antworten eben immer wahr geantwortet?“

„Ähm, ja warum?“

„Ach du scheiße. Es IST der Buckingham Palace!“

„Hey“, ich nahm ihn in den Arm. „Es ist alles gut, ja? Es ist ein Haus, nicht mehr und nicht weniger. Schenk dem ganzen nicht zu viel Beachtung.“

„Ich versuchs.“ Ich hielt es für besser ihm erst mal nicht das ganze Haus zu zeigen. Wenn er wüsste, was sich noch auf der Kellerebene für Räume befanden, würde er sich völlig unwohl fühlen und das war das letzte, was ich wollte.

„Machen deine Eltern eigentlich noch etwas anderes als Geld verdienen?“

„Was sollten sie denn noch anderes machen? Sie verdienen das Geld, Corey und ich geben es aus. Das nennt man Arbeitsteilung.“ Ich nahm seine Hand. „Das war ein Scherz und jetzt lass uns aufhören über Geld zu reden, ja?“ Ich führte ihn hoch in mein Zimmer.

„Du hast ein Faible für Pflanzen?“ Er betrachtete den Efeu, der meine Gardinenstange entlang wuchs und die vielen kleinen Bäumchen, die überall in meinem Zimmer dekorativ verteilt waren.

„Ja, Bonsaibäume haben es mir echt angetan. Mein Vater hat mir mal gezeigt, wie man die selbst machen und aufziehen kann. Seitdem ist das so ein kleines Hobby von mir. Das hier ist mein ganzer Stolz.“ Ich holte einen der kleinen Bäume. „Ein Kirschbonsai. Wenn der blüht, ist er das Schönste im ganzen Haus.“ Tamo lächelte.

„Apropos dein Vater, wo ist denn deine Familie? Krieg ich die heute noch zu Gesicht?“

„Natürlich, aber meine Eltern sind gerade beide arbeiten, die kommen erst in ein paar Stunden, aber ich hab dich eh zum Abendessen eingeplant. Und Corey ist wahrscheinlich bei einem seiner Freunde.“

„Das heiß,t wir haben dieses ganze große Haus für uns?“

„Ja, also wenn es etwas Bestimmtes gibt, was du machen willst, dann gib einfach Bescheid.“

Tamo grinste hinterhältig, dann kam er langsam auf mich zu. „Oh, ich erinnere mich da noch an ein Versprechen, was damit zusammen hing, dass ich vollgespritzt werde.“

Gut, dass ich den Bonsai wieder weggestellt hatte. Ich hätte ihn bei dem Satz fallen lassen und dann hätte ich keinen Gedanken für Sex übrig gehabt.

„Ähm, und wie genau soll das Einlösen dieses Versprechens aussehen?“

„So wie ich das aus unseren Gesprächen der letzten Tage in Erinnerung habe, hast du mehr Erfahrung darin als ich.“ Ja, genau das machte mir gerade ein wenig Sorgen. Tamo war noch Jungfrau und ich wusste nicht, wie weit ich jetzt bei ihm gehen sollte oder durfte. Vielleicht wusste er es selbst nicht. Wobei ich zugeben muss, dass er für einen Unwissenden meinen Gürtel ziemlich schnell lösen konnte. Ich entledigte mich meiner Hose und ließ mich mit Tamo auf meinem Bett nieder. Wir verbrachten viel Zeit damit, uns zu küssen und zu streicheln. Dann ließ Tamo von meinem Mund ab und wanderte in tiefere Regionen.

„Fuck, und dieser Junge soll bisher noch keine Erfahrung mit anderen Schwänzen gemacht haben?“

„Das hast du eben laut gesagt.“

„Mit vollem Mund spricht man nicht.“ Tamo kicherte. Ich versuchte, mich ein wenig herumzudrehen. Nachdem Tamo erkannt hatte, worauf ich hinaus wollte, lagen wir in der 69-Stellung da. Es war so intensiv mit ihm. Während ich ihn verwöhnte, begann ich über seinen Hintern zu streicheln. Fuck, ich war so geil. Sollte ich es einfach mal wagen? Ich löste uns voneinander und richtete mich auf. Tamo sah mich unsicher an, als ich mich an seinem Hintern rieb. Doch in der Bewegung hielt ich inne.

„Tamo, du musst mir sagen, wenn du das noch nicht willst.“

„Wieso sagst du das?“

„Na ja, deine Lust scheint ein bisschen erschlafft zu sein.“ Tamo wurde feuerrot im Gesicht.

„Es … es tut mir leid.“

„Hey, entschuldige dich nicht für so etwas, ja? Wenn du noch nicht kannst oder willst, ist das völlig in Ordnung. Ich will nicht, dass du denkst, ich würde irgendwelche Erwartungen an dich richten, kapiert? Außerdem hab ich vor einer Woche erst deinen Namen erfahren. So gesehen sind wir unserer Zeit ziemlich voraus und können jetzt auch mal eine kurze Rast einlegen.“

„Und du bist dir wirklich sicher, dass …“

„Absolut. Und jetzt hör auf so ein besorgtes Gesicht zu machen, wie soll ich dich sonst vollspritzen?“ Na also, wenn ich von Tamo ein Lachen erntete, war wieder alles in Ordnung.

Als wir schon lange mit den Intimitäten fertig waren, trudelte so nach und nach der Rest der Familie ein. Corey fand Tamo auf Anhieb sympathisch. Und gemeinsam hatten sie einen riesen Spaß daran, mich zu verarschen. Auch auf meine Eltern machte Tamo einen guten Eindruck. Sie fragten ihn interessiert nach seinen Interessen und seinen Eltern und auch wenn Tamo noch eingeschüchtert war von den vielen Einflüssen des Hauses, so war davon beim Abendessen nichts mehr zu spüren und er erzählte offen und sorglos von seinem Leben und was seine Eltern beruflich machten. Der Abend ging viel zu schnell vorüber. Wenigstens konnten wir sowohl bei meinen als auch bei Tamos Eltern noch eine Stunde dazu gewinnen, weil mein Dad sich bereit erklärt hatte, ihn nach Hause zu fahren.

Er stieg schon ins Auto ein, da fiel mir noch etwas ein.

„Sag mal, was ist eigentlich mit meinem Kuss? Dem Streuwagenkuss?“

„Hat dir das heute nicht gereicht?“

„Das war was anderes. Das hatte nichts mit Romantik oder so zu tun. Das war einfach nur animalische …“

„Ich glaube ich habe die Autoschlüssel vergessen“, rief mein Dad laut vom Fahrersitz und stieg noch mal aus. Tamo und ich grinsten uns an. Ich glaube für keine Eltern ist es leicht, wenn sie sich darüber im Klaren sein müssen, dass ihre Kinder auch ein Sexleben haben.

Mein Gesicht war nun direkt vor Tamos. Ich spürte seinen warmen Atem auf meiner Haut. Unsere Lippen streiften sich und verschmolzen in einem innigen Kuss. Seine Zunge tastete nach meiner und so verharrten wir für ein paar Minuten. Nur sehr schwer konnte ich mich wieder von ihm lösen. Doch unser Timing war perfekt, denn als ich wieder aufrecht neben dem Auto stand, kam Dad wieder zu uns. Mit einem Blick nach vorn bemerkte ich: „Dad, der Autoschlüssel steckt doch.“

„Tatsächlich? Sowas aber auch.“

„Machs gut, Tamo, bis bald.“

„Ja, bis hoffentlich sehr bald. Gute Nacht, Sam. Schlaf gut.“

Ich winkte dem Auto hinterher bis es um die Ecke gebogen war, dann kehrte ich zurück ins Haus. Corey tanzte vor mir in seinen Schlafshorts herum. „Du solltest bei dir unbedingt mal lüften. Der Sexgeruch ist bis in mein Zimmer geströmt.“

„Woher willst du denn wissen, wie das riecht?“ Corey entgegnete darauf nichts und wanderte in sein Zimmer. Dabei war es anscheinend noch unbedingt nötig durchs Haus zu brüllen:

„Sam and Tamo sitting in a tree, K-I-S-S-I-N-G!“

Ich wollte mich auch auf den Weg in mein Zimmer machen, da fing mich meine Mutter an der Treppe ab.

„Na, wie fandst du Tamo?“

„Oh, Tamo ist ein wundervoller Junge. Höflich, sehr humorvoll, was ja auch Corey erkannt hatte. Und er ist wirklich ein Süßer. Ich wollte dich fragen, ist das zwischen euch etwas Ernstes?“

Hm, so genau konnte ich das gar nicht beantworten. Klar, rumgemacht hatte ich schon mit mehreren Jungs. Mit manchen bin ich auch weiter gegangen. Aber das konnte man alles nicht mit Tamo vergleichen. Er war total anders. Alles mit ihm war total anders. Es war schöner. Sinnvoller. Aber ob wir deshalb schon zusammen waren? Kam man nach einer Woche wirklich schon zusammen? Wenn ich mir das durch den Kopf gehen ließ, kam es mir doch ein wenig früh und schnell vor.

„Wenn du dir im Moment selbst nicht sicher bist, wo ihr steht, dann brauchst du jetzt auch gar nichts sagen. Aber dein Vater und ich wollten dich nur wissen lassen, dass wir ihn schon ins Herz geschlossen haben.“

„Danke, Mom“, ich umarmte sie fest. Dann gab ich ihr einen kleinen Kuss auf die Wange und machte mich auf in mein Zimmer. Ich kuschelte mich ganz fest in meine Decke. Pah, von wegen Sexgeruch. Mein Bett duftete nach Tamo. Ich schloss die Augen.

„SAM AND TAMO SITTING IN A TREE!!!“

“Verdammt Corey!“, brüllte ich. Mein Bruder rannte nur mit schallendem Lachen aus der Tür in sein Zimmer. Na warte, Brüderchen. Ich rannte hinterher, stieß seine Tür auf und veranstaltete mit ihm eine Kissenschlacht, wie sie schon seit längerem nicht mehr bei uns stattgefunden hatte. Als wir uns ausgetobt hatten, lagen wir beide auf Coreys Bett und schauten an die Decke. Corey hatte eine echt coole Decke, sie war über und über mit Sternen übersäht, die er mit Leuchtfarbe selbst hingepinselt hatte. Alle waren nach originalen Sternbildern angeordnet.

„Hey, mein Schwuchtel-Bruder. Tamo ist echt voll in Ordnung.“

„Danke, Kleiner. Mit deinem Einverständnis kann ich nun gut einschlafen.“

„Ey, aber nich in meinem Bett. Hörst du? Du hast dein eigenes. Sonst trampel ich auf deinem Bauch rum.“

„Dafür bist du zu müde.“

„Ich machs echt. Gleich.“ Und schon waren wir beide eingeschlafen.


Ein Monat war vergangen. Die Adventszeit stand vor der Tür und zwischen Tamo und mir war alles prächtig. Wir hatten in den letzten Wochen viel unternommen. Wir sind auf dem Volksfest Autoscooter gefahren, waren ungefähr hundertmal in irgendwelchen Cafes und Tamo war mindestens zweihundertmal bei mir zu Besuch. Doch ob wir nun zusammen waren oder nicht, das haben wir bisher nicht offen ausgesprochen. Und ich stellte mir die Frage, ob das überhaupt nötig war. War man erst zusammen, wenn man es beschlossen hat oder konnte man fühlen, ab wann man zusammen war? Na ja, letzten Endes war es mir egal, solange ich regelmäßig mit Tamo kuscheln konnte.

Auch mit der Fee war alles im Reinen. Ehrlich gesagt, hatten wir kaum etwas miteinander zu tun. Wir unterhielten uns sehr selten, ich versorgte sie mit ihren Keksen und manchmal, wenn sie schon schlief, beobachtete ich das kleine, glühende Geschöpf und war dann doch beruhigt, sie noch bei mir zu wissen. Auch ansonsten verhielt sie sich unauffällig. Bisher war sie immer, wenn Tamo zu Besuch war, spurlos verschwunden und ich hatte keine Ahnung, wo sie sich dann aufhielt.

Auch jetzt war sie nicht auffindbar. Ich saß in meinem Zimmer, doch mir stieg weder Vanilleduft in die Nase, noch hörte ich Glöckchenläuten. Halt, war sie das? Ach nein, das war die Haustür. Ich war allein im Haus, also musste ich wohl die Tür aufmachen.

„Hi, ist Corey schon zu Hause?“

„Du bist Lars, oder? Nein, Corey ist noch nicht da, aber wenn er weiß, dass du ihn besuchen wolltest, wird er wohl bald wieder kommen. Komm hoch, kannst mir solange Gesellschaft leisten.“ Ich schloss die Tür hinter ihm und wir gingen in mein Zimmer. Er setzte sich auf mein Bett und sah sich um.

„Ein schönes Zimmer hast du.“

„Danke schön. Möchtest du was trinken?“

„Nein danke. Vielen dank.“

Ich setzte mich neben ihn. Ich glaube, Lars war ein Jahr jünger als ich und er sah ganz knuffig aus. Er hatte so blonde Haare, dass sie eher schon weiß waren. Seine blauen Augen passten sehr gut dazu. Aber irgendwie schien Lars unruhig zu sein.

„Ist alles in Ordnung?“

„Ja, ähm. Schon. Ich wollte nur …“

„Was denn?“, fragte ich.

„Du bist schwul, oder?“

„Wenn du damit ein Problem hast, kannst du auch einfach in Coreys Zimmer warten.“

Lars wirkte erschrocken: „Nein, nein, das ist es nicht. Corey hat mir nur davon erzählt.“

Ich zuckte mit den Schultern. „Ja, bin ich.“

„Ja. … ähm, und wie ist das so?“

Ich schaute ihn an. „Was meinst du, wie was ist?“ Kam mir das nur so vor, oder rückte er gerade näher an mich heran?

„Na ja, ich meine wie das so ist mit einem Jungen.“

„Wieso fragst du?“

Lars wirkte nun richtig nervös. „Na ja, du kennst das doch mit der Pubertät und so und ich glaub, ich würde das gerne mal mit einem Jungen ausprobieren.“ Er rückte noch ein wenig näher. Sein Gesicht befand sich jetzt direkt vor meinem. Ich spürte wie mein Herz heftiger schlug. „Ah, und warum erzählst du mir das?“ Er war wirklich ein süßer Typ. Wieso hatte mein Bruder so gutaussehende Freunde? Die hab ich viel nötiger.

„Du bist doch single, oder?“

Sam, bist du single? Fuck, ich wusste nicht, was ich machen sollte. Lars dafür umso mehr. Anscheinend war ihm die Pause zwischen Frage und Antwort zu lange und er ließ seine Zunge in meinen widerstandslosen Mund wuseln. Wir knutschten wild rum und hatten uns in Rekordzeit ausgezogen. Dafür, dass er erst mal ausprobieren musste, ob er was mit Schwänzen anfangen konnte, konnte er aber gut blasen. Fuck, wieso können die das alle schon immer so gut? Lars war verdammt gut und ich verdammt geil. O.K., wenn der Junge etwas ausprobieren wollte, dann sollte er auch das ganze Programm haben. Ich drehte ihn auf den Bauch, rollte mir ein Kondom aus meinem Nachtkästchen auf und bestrich seinen Hintern mit Gleitgel.

„Ich bin ganz vorsichtig, ja?“ Lars nickte, doch wirklich beruhigt schien er nicht zu sein. Natürlich nicht, vor dem ersten Mal hatte jeder ein wenig Angst. Ich massierte und küsste ihn, damit er sich so gut entspannen konnte, wie nur möglich. Dann drang ich langsam in ihn ein. Lars stöhnte auf. Mein Schwanz glitt rein und raus. Ihm schien es zu gefallen. Na dann wollte ich mal ein bisschen zulegen. Ich schloss die Augen und bewegte mich kontinuierlich weiter in Lars. Wenn ich die Augen aufmachte, dann sah ich sein zur Seite geneigtes Gesicht, seinen halb geöffneten Mund. Sehr sexy. Ich schloss die Augen. Lars’ heftiges Stöhnen drang an mein Ohr. Doch da war für einen kurzen Moment ein leises Geräusch, das nicht von Lars kommen konnte. Ich öffnete die Augen. Was ich sah, war mein Bruder, der im Türrahmen stand. Er sah mir in die Augen. Sein Blick enthielt eine Mischung aus Wut, Traurigkeit und Enttäuschung. Aber er schien auch zu sagen: „Was hast du nur angerichtet?“ Eine Sekunde später wusste ich, was mit diesem Blick gemeint war, denn Tamo tauchte neben Corey auf. Über seine Wangen rollten Tränen. Sein Blick war leer. Corey schloss die Tür hinter den beiden.


„Hm, meine heiße Schokolade ist mittlerweile kalt“, stellte ich fest.

„Soll ich sie für dich noch mal aufwärmen?“, fragte Wymbell.

„Bitte, das wäre sehr lieb von dir.“

„Mach ich doch gern. Hast du an Tamtam gedacht?“

Ich konnte nicht antworten.


Ich saß mit verheultem Gesicht in meinem Zimmer, meine Decke an mich gepresst. Corey und Tamo hatten sich auf dem Weg zu unserem Haus getroffen. Anscheinend wollte Tamo mich mit einem Weihnachtskalender überraschen. Wie ich sehen konnte, hatte er ihn, als er das Haus verließ, in Stücke gerissen. Ich wollte ihm hinterherlaufen, doch Corey hatte mir den Weg versperrt. Dann trat er mir zwischen die Beine und lief Tamo selbst hinterher. Lars hatte erkannt, dass es besser war, nach Hause zu gehen. Mittlerweile waren auch Mom und Dad zu Hause angekommen und hatten von Corey die Erklärung dafür bekommen, warum vor ihrer Haustür mit Schokolade dekoriert wurde. Mein Vater kam nur kurz zu mir ins Zimmer, legte die Hand auf meine Schulter und seufzte. Dann verschwand er wieder. Es schien, dass ich so viel geheult hatte, dass gar keine Tränen mehr kommen wollten. Ich wischte mir mit meinen Händen im Gesicht herum und griff noch mal nach meinem Handy. Dann ließ ich es wieder sinken. Die letzten 23 Versuche hatte Tamo nicht reagiert, er würde auch jetzt nicht antworten.

„Hey, Arschloch. Hör auf hier im Selbstmitleid zu versinken.“ Corey. Natürlich.

„Klar, tritt noch auf mich drauf.“

„Mal ganz langsam, Bruder. Tu jetzt nicht so, als wärst du das Opfer.“

„Ich hab gerade meinen Freund verloren.“

Corey schrie mich an: „Bis eben wusstest du doch gar nicht, dass du einen Freund hattest.“ Das hat gesessen. Die Tränendrüsen meldeten sich wieder. Corey setzte sich neben mich. Sein Blick war total ernst, das hätte ich diesem sonst so albernen Jungen nicht zugetraut.

„Ich habe dich an dem Abend gehört. Ein paar Tage, nachdem Tamo das erste Mal hier war und ich auf der Lauer lag, um noch einmal in dein Zimmer zu stürmen. Du hast mit dir selbst gesprochen und versucht, die Frage für dich zu beantworten, ob ihr nun schon zusammen seid. Du hattest die Antwort schon. Du hast sie nur übersehen.“ Ich blickte ihn verständnislos an.

„Herrgott, ich meine, dass man nicht erst mit jemandem zusammen ist, wenn man es ausspricht. Du bindest einen Menschen nicht dadurch an dich, indem du bestimmte Worte sagst. Du sagst nicht erst: ich liebe dich, und erwartest dann, dass die Gefühle entstehen.“

Ich konnte ihm zwar kaum folgen, aber es machte Sinn, was mein kleiner Bruder sprach.

„Du hast es doch gefühlt. Du wusstest, dass Tamo jemand Besonderes war. Jemand Besonderes für dich war. Warum hast du nicht einfach auf dein Gefühl vertraut und danach gehandelt? Dein Kopf kann irren, dein Herz aber nicht.“

Ich schniefte. „Sollte es nicht eigentlich umgekehrt sein? Sollte ich nicht dir solche Ratschläge geben?“

Corey seufzte: „Ja, solltest du und glaub mir, das ist für mich auch kein Vergnügen. Ich würde dir am liebsten noch mal in die Eier treten. Tamo hätte so gut zu unserer Familie gepasst und du magst alles kaputt, du egozentrisches Arschloch.“ Ich ließ die Schultern hängen.

„Wie oft warst du eigentlich bei ihm zu Besuch?“ Was sollte die Frage denn jetzt?

„Genau, kein einziges Mal. Wie heißt Tamo mit Nachnamen?“ Das müsste ich doch wissen. Bitte, so was müsste ich doch eigentlich wissen.

„Bravo, Sam. Ganz großes Kino“, Corey erhob sich vom Bett. „Du wusstest bisher auch gar nicht, dass ich eine Freundin habe, nicht wahr?“ Ich schaute zu ihm auf.

„Corey, das … das freut mich zu hören. Wie lange seid ihr denn schon zusammen?“

„Drei Monate. So viel zu ‚ich weiß nicht wie Sex riecht‘.“ Er zog die Tür hinter sich zu.

Autsch. Ich wusste gar nicht, was für ein Arschloch ich war. Bisher dachte ich, ich bin ein ganz netter und umgänglicher Mensch. Ich war freundlich und höflich und man konnte gut mit mir reden. Aber etwas fehlte. Wieso wusste ich nicht wie Tamos Nachname lautete? Hatte ich nie danach gefragt? Sowas bekommt man doch mit. Und wenn nicht, dann fragt man danach. Und dass mein Bruder, mein eigener Bruder, bereits seit drei Monaten vergeben ist, wie war es möglich, dass ich das nicht mitbekommen hatte?

Ich wusste die Antwort natürlich. Ich hatte ihn nie gefragt. Ich hatte ihn überhaupt gar nichts gefragt. Weder wie es ihm in der Schule ging, noch was er sonst so trieb. Wahrscheinlich war er immer, wenn er außer Haus war, seine Freundin besuchen gegangen. Ach, ich Idiot.

Kling, kling.

Was war das? Den Geräuschen nach war es natürlich die Fee, die am singen war, aber sie klang sehr dumpf. Ich durchsuchte das Zimmer mit meinem Blick, dann ging ich an die Schublade, wo ich immer meine Prinzenrolle aufbewahrte.

„Ey, du Grosa. Oles gud?“ Wie konnte das sein? Sie klang als wäre sie betrunken.

„Sag mal, woher hast du den Alkohol?“

„Is gein Aluhol. Is Keks. Hehe. Keks. Keks.“ Dabei knusperte sie einen weiteren Prinzenrollenkeks.

„Du kanst dich damit besaufen? Oder wohl eher befressen?“

„Is des einssigge, was ich noch machen gan. Ansonsdn taug ich ja zu niks. Zu niks.“

„Warum sagst du das?“, ich nahm die Fee behutsam mit einer Hand und ging zu meinem Bett hinüber. Da platzierte ich das Geschöpf auf einem Kissen und musterte sie sorgenvoll.

„Du hörst jetzt erst mal auf mit den Keksen und sagst mir, was los ist.“

„Was soll schon los sein? Aufdrag Säm wurde nich erfühlt. Ramtatatam is weg. Ich bin eine lausige Fee. Ich werde wohl bessa Schololadenhase.“ Sie reckte ihre kleine Faust in die Luft.

„Schokoladenhase?“

„Jenau, Keks. Schololadenhase. Da mussu nur Hühner anmalen und einen Schlidden lenken.“

„Aber du wusstest doch noch gar nicht, was du bei deinem Auftrag machen musstest.“

Sie schaute ein wenig bedröppelt durch die Gegend, schien sich aber langsam wieder zu fangen. Die Wirkung der Überdosis Kekse schien nicht von langer Dauer zu sein.

„Als wir beide in der Bäckerei waren und ich gesehen habe, wie du Tamtam da angestrahlt hast, da dachte ich mir, das ist bestimmt mein Auftrag. Die beiden Jungs zusammen zu bringen. Aber weil du selbst daran gearbeitet hast, dachte ich, ist es am besten, wenn ich nicht im Weg rumstehe oder störe.“

„Verstehe. Wo warst du denn die meiste Zeit über?“

„Im Hausgarten. Da ist es schön.“

„Ja, stimmt. Unser Wintergarten ist wirklich schön. Aber bist du dir denn sicher, dass das dein Auftrag war? Was passiert denn, wenn eine Fee bei einem Auftrag versagt?“

Die Fee blieb ganz still, dann sprach sie langsam: „So etwas kam bisher noch nie vor.“

Ich schwieg. So saßen wir ein wenig beisammen, bis sie die Stille unterbrach.

„Sei du auch nicht mehr so traurig. Morgen kannst du das erste Kalendertürchen aufmachen. Das ist doch immer schön.“

Ich schnaubte. „Eigentlich mach ich mir nichts daraus.“

Die Fee drehte ihren Kopf zu mir. „Woraus?“

„Na ja, Kalendertürchen aufmachen. Adventskranz und so. Ich mag Weihnachten eigentlich nicht.“

Die Fee schien wieder völlig klar und da zu sein. „Was? Aber wie kann das sein. Weihnachten nicht mögen. Weihnachten ist schön!“

Ich gähnte. „Ne, für mich ist das nichts. Geschenke sind ja gut und schön, aber du siehst ja selbst, was sich so alles in meinem Zimmer befindet. Es ist halt nichts Besonderes dabei. Ich könnte mir alles auch einfach so kaufen.“

Was war denn jetzt los? Die Fee wurde auf einmal ganz hibbelig. „Uih. Uih uih uih. Kekse, Kekse. Nichts besonderes. Weihnachten ist nicht nur Geschenke. Weihnachten ist Duft und Licht und Freude. Weihnachten ist Weihnachtsbriefe schreiben, die am nächsten Tag verschwunden sind oder Strümpfe, die am nächsten Morgen mit Nüssen und Mandarinen gefüllt sind. Weihnachten ist Spannung vor der Bescherung und Zeit, die man den Menschen widmet, die man liebt und anderen Menschen widmet, die von niemandem geliebt werden. Weihnachten ist …“ Ich weiß nicht, wie lang ihr Vortrag noch ging. Irgendwann war ich eingeschlafen. In der Nacht schreckte ich aber noch einmal hoch, die Fee lag eingerollt neben meinem Kopfkissen.

„Hey, Fee. Ich muss dich was fragen. Wie heißt du eigentlich?“

Sie gab ein kleines Gähnen von sich, dann murmelte sie: „Wymbell.“

„Wymbell. Ein schöner Name. Wymbell. Gute Nacht, kleine Wymbell.“


„Nanu, hast du meine heiße Schokolade ausgetrunken?“

„Was soll ich sagen? Ich hab sie mittlerweile das zweite Mal aufgewärmt“, sagte Wymbell vorwurfsvoll.

„Aber jetzt hab ich noch gar keine getrunken. Kannst du meine Tasse bitte noch mal füllen?“

„Und du meinst, das geht so einfach?“

„Natürlich, du nimmst einfach etwas von deinem Feenstaub“, ich hustete. „Ähm, ich meine von deinem Engelsglanz und schwupp, steigt aus meiner Tasse wieder schokoladiger Dampf empor.“


Ich hatte mir das, was mir mein Bruder gesagt hatte, zu Herzen genommen. Und wenn man bedachte, dass die Fee vor fast zwei Monaten in mein Leben eingeschlagen war, ich aber erst vor ein paar Tagen nach ihrem Namen fragte, dann ließ das kein allzu gutes Licht auf mich fallen. Daher achtete ich nun darauf, dass ich mehr Interesse an ihr zeigte. Dadurch erfuhr ich zum Beispiel, wie eine Fee zauberte, nämlich mit ihrem Feenstaub, mit dem sie eigentlich alles machen konnte, wonach ihr der Sinn stand. Wie ich mir noch gemerkt habe, wäre Wymbell gern ein Engel, daher hab ich es mir zur Angewohnheit gemacht, ihr zuliebe nicht ‚Feenstaub‘ sondern ‚Engelsglanz‘ zu sagen.

Wymbell achtete übrigens ebenfalls darauf, mir mehr Aufmerksamkeit entgegen zu bringen, aber ihr Grund war nicht einfach nur Interesse an meiner Person, sondern ihr neuer Verdacht, was ihr Auftrag sein könnte. Es wäre doch ein Unding, dass jemand Weihnachten nicht mögen konnte, so dachte sie und versuchte deshalb alles, um mir Weihnachten schmackhaft zu machen. Und sie fuhr ganz schön große Geschütze auf, das musste ich ihr lassen. Seit dem 1. Dezember war die komplette Stadt in zauberhaftes weiß getaucht. Dabei gab der Schnee jede Menge Rätsel auf. Weder konnten Wetterspezialisten erklären, wann er gefallen sein soll, noch warum er nicht schmolz und so schön weiß blieb, statt braun und matschig zu werden. Doch in einem waren sich alle Einwohner einig, mich eingeschlossen: Unsere in eine Winterlandschaft getauchte Stadt war traumhaft schön.

Eine weitere Idee, die Wymbell hatte, war mir einen Kalender zu schenken, der nun an einer Wand in meinem Zimmer hing. Und tatsächlich brachte das Türchen öffnen unglaublich viel Spaß und Spannung. Wobei Spannung auch manchmal gleichbedeutend mit ‚möglichem Ärger‘ war. Aus dem ersten Türchen, das ich öffnete, sprangen Funken und Lichtbögen, die sich dann in einem Rentier aus Licht in Lebensgröße materialisierten.

„Ähm, und löst es sich jetzt in ein paar Minuten in Luft auf?“

„Nein, warum solle es? Ich denke es wird jetzt erst mal etwas zu fressen suchen.“ Lärm aus der Küche untermauerte diese Behauptung. Das Rentier war in sekundenschnelle aus meinem Zimmer hinaus in die Küche galoppiert und hatte den Aufbewahrungsort meiner Mutter für Karotten gefunden. Zum Glück konnte ich die Küche sauber machen und das Rentier in den Garten scheuchen, bevor meine Familie davon etwas mitbekommen konnte.

Das zweite Kalendertürchen war ebenso imposant. Wieder trat Licht aus, doch dieses Mal wurde es nicht zu einer Form, sondern überdeckte die Wände, ja, sämtliche Räume unseres Hauses mit einem Lichtschleier. Im ersten Moment wusste ich nicht, was das nun sollte, bis ich bemerkte: „Lebkuchen? Unser ganzes Haus wurde in Lebkuchen verwandelt?“

„Jaaaaaa, Kekse, Kekse, Kekse!“ Das musste für Wymbell das Paradies sein. Sie nagte und knabberte und knusperte. Ich hingegen brachte nichts runter. Ich versuchte, meine kleine Fee in ihrem Keks-Wahn zur Besinnung zu bringen. „Wymbell, du isst unser Haus. Bitte, verwandel es wieder zurück.“ Es dauerte ein paar kurze Augenblicke, doch dann verstand Wymbell worum ich sie bat und machte den Zauber rückgängig. Eine Träne konnte sie sich trotzdem nicht verkneifen. „Sam, war das nicht das Schönste, was du jemals in deinem Leben gesehen hast?“


„So, ich habe endlich meine Schokolade getrunken. Lass uns aufbrechen, Wymbell.“ Ich zog meinen Mantel an und verließ das Cafe, nicht ohne mich aber noch einmal nach dem Kellner umzudrehen, der mir hinterher lächelte.

„So, Wymbell, wohin jetzt?“ Da sie mir Weihnachten schmackhaft machen wollte, war sie die meiste Zeit meine Fremdenführerin.

„Hier entlang. In das Kaufhaus da hinten. Da waren wir noch nicht.“

„Na ja, was soll da auch anders sein. Letzten Endes sind doch alle Kaufhäuser gleich.“

Wir schauten durch die verschiedenen Etagen, in denen überall Weihnachtsmusik gespielt wurde. Wymbell sang natürlich überall lauthals mit. Im dritten Stock angelangt, sahen wir dann doch etwas Interessantes. Ich musste grinsen. Auf einer Tribüne war eine Winterlandschaft mit Tannen und überdimensionalen Zuckerstangen aufgebaut. Hier und da konnte man kleine Männer erkennen, die anscheinend Elfen darstellen sollten und in der Mitte ruhte auf einem kolossalen Schlitten ein Weihnachtsmann. Es war alles ganz genau wie im Fernsehen. Eine Schlange von Kindern hatte sich gebildet, manche ein wenig ängstlich, aber die meisten mit einem hoffnungsvollen Glänzen in den Augen, dass sie doch möglichst bald auf den Schoß des Weihnachtsmannes sitzen dürfen, um ihre Wünsche zu äußern.

Im Moment saß ein kleiner Blondschopf mit Brille bei dem Dicken. Die Stimme des Jungen klang bis zu uns rüber und ich hörte ihn sagen: „Un i mog an Playstation 3. Un i mog a Mountainbike. Un i mog an Urlaub mit meine Eltern noch Amerika. Un i bräuchat a mol a richtge Lederhosen, weil mia mei oide scho z kloa is. Un i mog a Pferdl, a gonz a echtes. Un i mog …“ Die Liste des kleinen Jungen schien noch endlos weiter zu gehen und ich musste lachen, als ich die angestrengt nach oben gezogenen Augenbrauen des Nikolauses sah.

„Sam? Was ist denn ein Unimog? Der Junge da scheint davon viele verschiedene haben zu wollen, aber so genau hab ich den auch nicht verstanden. Hey, warum lachst du? Was ist denn daran so komisch? Hey, geh doch nicht einfach weg. Sam!“


„Aram Sam Sam, Aram Sam Sam“, sang Wymbell aus vollstem Hals. Sie musste dieses Lied irgendwo auf der Straße aufgeschnappt haben. Jetzt trällerte sie es den lieben langen Tag. Bevorzugt den ersten Vers. Ich glaub, es dauert nicht mehr lange bis ich mir eine Fliegenklatsche besorgen müsste. Aber so konnte ich nur auf meinem Bett liegen und mir die Ohren mit meinem Kissen verstopfen.

„Arawi, Arawi, gulli gulli gulli gulli, aram Sam Sam.“

“Ah, Wymbell, das ist Folter. Kannst du nicht aufhören mit diesem Lied?“

Wymbell blickte mich kurz ernst an. Drei, zwei, eins.

„Aram Sam Sam. Aram Sam..“ Ich schreie gleich. Ich schreie gleich richtig.

„Ach, Sam, sing doch einfach mit mir mit. Singen macht Spaß.“

Jede Zelle meines Körpers weigerte sich. Wirklich jede Zelle. Doch irgendwo dachte ich mir dann: Was solls. Und so saß ich da und sang mit Wymbell „Aramsamsam“. Ich war dann sogar noch so gutmütig um Wymbell zu zeigen, dass es dazu noch Handbewegungen gab, die wir als Kinder im Kindergarten gelernt hatten. Meine kleine Fee war glückselig. Wir waren gerade wieder dabei das Lied zum 19. Mal anzustimmen, da öffnete sich meine Tür. Corey.

„Ich hab hier ein paar Herren in weißen Turnschuhen. Sie sollen hier irgendwas abholen. Weißt du vielleicht mehr darüber?“

„Ach, Corey, dieses Lied haben wir doch auch im Kindergarten gesungen.“

„Ja, Sam, du sagst es. Wir haben es im Kindergarten gesungen.“ Damit drehte er sich um. „Hey, Brüderchen, besuchst du wieder Lisa?“ Corey hielt inne.

„Oha, hat sich da jemand schlau gemacht, wie meine Freundin heißt?“ Ich konnte ein Lächeln in seiner Stimme erkennen. Ohne weitere Worte zu wechseln, stieg er die Treppe hinab.

„Viel Spaß“, rief ich ihm hinterher. „Und bleibt anständig.“

„Vergiss es“, rief mein Bruder zurück und lachte.

„Wymbell, wir sollten auch aufbrechen. Ich treff mich doch gleich mit Martin in der Stadt.“

„Dieser Kellnerjunge, nicht wahr?“

Martin hatte vor ein paar Tagen angerufen und ganz lieb danach gefragt, ob ich mit ihm einen Kaffee trinken würde. Es dürfte natürlich auch eine heiße Schokolade ohne Sahne sein. Als ich mit Wymbell am Treffpunkt ankam, war Martin bereits da. Er strahlte mich an.

„Hey, Sam, freut mich dich zu sehen.“

„Hi Martin. Wollen wir rein ins Warme?“

Wir betraten das Cafe und suchten uns einen kuschligen Platz. Der Kellner kam und nahm unsere Bestellung auf.

„Ganz nett hier, oder?“, fragte Martin.

„Ja, doch, mir gefällt es. Ich mag solche Cafes lieber als diese ganzen Cafe-Ketten, die überall aus dem Boden schieße, und doch alle gleich sind.“

„Geht mir genauso.“

„Ja.“

Stille. Oh man, ich hasste solche Momente, wo ein Gespräch zu so einem toten Punkt kam. Na komm schon, Sam, lass dir was einfallen.

„Wie alt bist du?“ Klasse, ich bin ja so originell, man sollte mir einen Orden verleihen.

„Ich bin 18, und du?“

„Ein Jahr jünger. Also sei brav zu mir, sonst lass ich dich nach unserem Fick ins Gefängnis wandern.“ Ich lachte. Martin lachte mit, allerdings ein wenig unsicher. O.K., dass das offensichtlich ein Scherz war, hatte er nicht so ganz geblickt. So wirklich warm miteinander, wurden wir noch nicht. Das merkten wir beide. Ich rührte in meiner heißen Schokolade.

„Tanzt zu gern?“ Danke, ein neues Thema.

„Ja, sehr sogar, wobei es halt auch auf die Musikrichtung ankommt. Ich habs gern, wenn ich dazu singen kann, aber dann geh ich richtig ab.“

„Geht mir genauso. Und lieber dann in gemischte Clubs oder schwule Veranstaltungen?“

„Also an sich wäre es mir egal, aber ich bevorzuge dann doch eher schwule Locations. Ich mein, in Hetero-Dissen, da hampeln die meisten Jungs nur von einem Bein aufs andere, die wenigsten können richtig tanzen und wenn ich da tanze, und ich beweg mich nun mal auch ein wenig aufreizender, dann ernte ich ständig dumme Blicke oder Gelächter. In schwulen Clubs hingegen spottet keiner. Im Gegenteil, da gefällt das den Leuten ja, da kann ich mich frei bewegen, ohne dass ich mich unwohl fühlen muss.“

Martin nickte. „Ich weiß, was du meinst. Auf der anderen Seite kann einem das schwule Publikum ziemlich aufn Sack gehen.“

„Wem sagst du das?“ Wir lächelten uns an.

Der weitere Verlauf unserer Unterhaltungen verlief flüssiger und entspannter. Martin war nett, weshalb ich dann auch, als er fragte, ob wir nächstes Wochenende gemeinsam tanzen gehen wollen, nichts dagegen einzuwenden hatte.


Heute durfte ich das zwölfte Türchen öffnen. Junge, wie die Zeit verging. Dieses Mal war es wirklich etwas, wovon ich länger etwas hatte und es auch gern bei mir im Zimmer stehen ließ. Ein eineinhalb Meter großer Schokobrunnen. Der würde sich auf Partys unglaublich gut machen. Und ich war ehrlich schon gespannt, was der morgige Tag in seinem Kalendertürchen enthalten würde. Natürlich konnte man Wymbells Super-Zauberkalender nicht mit gängigen Schokokalendern vergleichen, aber der Grund, warum ich Gefallen an ihm gefunden hatte, waren nicht mal hauptsächlich die Inhalte, sondern einfach das Wissen, dass man für jeden Tag etwas hatte, worauf man sich freuen konnte. Da lohnte sich plötzlich das Aufwachen und man ging mit einem ganz anderen Gefühl in den Tag hinein.

„Ähm, Wymbell, was machst du da?“

„Ich packe das Keyboard, das gestern in deinem Kalender war, in deinen Rucksack.“

„Ich sehe, was du da machst. Mich wundert ja schon nicht mal mehr, dass du dieses riesige Gerät in meine Tasche packen kannst. Ich wollte eigentlich wissen, warum du das machst.“

„Dann frag das doch einfach. Ganz einfach, Sam.“

„Also?“

„Na ja, du wirst heute auf der Straße singen.“

Ich lachte ungläubig auf. „Wie bitte? Ich als Straßenmusiker? Das wüsste ich aber.“

„Schön, wenn du das auch schon weißt. Dann können wir ja los.“

„Vergiss es, ich stell mich doch nicht …“

Wymbell hatte eine handvoll Feenstaub hervorgeholt und pustete kräftig hinein.

„…auf die Straße.“ Zu spät. Ich stand mitten in der Fußgängerzone, die überfüllt war mit gehetzt aussehenden Menschen. Um mich herum waren ein paar Boxen aufgebaut, jedoch befand sich nichts in der Nähe, woher sie ihren Strom beziehen könnten. Vor dem Keyboard lag eine Kiste mit allerlei anderen Kleininstrumenten. Triangel, Becken, Rasseln, Klangstäbe. Und was sollte das alles?

„Wymbell, kannst du mir bitte erklären, was das soll?“

„Ach, Sam, du hast so recht. Wie blöd von mir. Natürlich ist das alles sinnlos ohne ein Mikrofon. So, hier hätten wir eins. Zufrieden? Dann leg mal los.“

„Ich glaub das einfach nicht.“ Vorsichtig stellte ich mich an das Keyboard und drückte eine C-Taste hinunter. Diese ließ allerdings nicht nur die Note erklingen, sondern im Nu wuchs auf einmal auch eine kleine Tanne auf einer meiner Boxen empor.

„Wymbell!“

Mir war das nicht geheuer. Na ja, Wymbell würde schon dafür sorgen, dass nichts schief ging. Ich schloss die Augen und spielte meine Finger mit ein paar Tonleitern ein. Als ich meine Augen wieder öffnete hatte sich hinter mir ein kleiner Wald aus vier bis fünf Tannen gebildet. Hey, vergesst Greenpeace, ich würde den Regenwald mit nur einem Lied wieder aufforsten. „Oh, Mami, kuck mal. Schööön!“ Eine Kinderstimme drang an mein Ohr. Und schon gleich sah ich ein Mädchen von etwa vier Jahren, das sich an die Kiste kniete und herumkramte. „Lisa, lass das sein. Das gehört dem Mann.“

Ich winkte ab. „Nein nein, das ist schon in Ordnung. Dafür ist es da. Lisa, magst du Weihnachtslieder?“

Das Mädchen schaute mich mit offenem Mund an und nickte.

„Das ist doch schön. Na komm, dann lass uns doch gemeinsam ein bisschen musizieren. Such dir etwas aus und schon geht es los.“

Das Mädchen klatschte fröhlich in die Hände, hatte eine Rassel aus der Kiste genommen und fing sofort an sie kräftig zu schütteln.

„Du kannst es ja gar nicht abwarten“, lachte ich. Ich stimmte ‚Jingle Bells‘ an und begann zu singen. Lisas Augen leuchteten. Sie schien sehr stolz darauf zu sein, mit mir mitmachen zu dürfen. Nach und nach blieben die Menschen stehen und lauschten. Kinder rannten herbei und kaum, dass sie das Mädchen mit der Rassel gesehen hatten, traten sie auch schüchtern hervor und blickten mich mit großen Augen an. Allen nickte ich gönnerhaft zu. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass ich die Lieder nicht traditionell spielte, sondern alle mit einem gewissen Rhythmus und Schwung versah. Die Wirkung schlug nicht fehl, die Kinder tanzen und hüpften begeistert auf ihrer kleinen Bühne. Aber auch die Erwachsenen am Rand wippten und applaudierten ihren Kindern. Ich lächelte. Dieser Moment brachte mir eine bisher nicht bekannte Art der Befriedigung. Ich war einfach nur fröhlich und sorglos. Lag es am Kinderlachen? An den weihnachtlichen Klängen? Oder an den Rehen, die nun zwischen meinen Tannen hervorkamen? Ich suchte nach gar keiner Antwort darauf, ebenso ließ ich die Frage stehen, warum die Kiste mit den Instrumenten sich nicht leerte. Im Gegenteil, immer wenn sich ein neues Kind näherte, schien sich genau das passende Instrument in der Kiste zu befinden, sodass sich zu meinem kleinen Orchester auch ein paar Trompeten, Gitarren und Trommeln getummelt hatten. Ich hatte nicht im Gefühl, wie lange ich für die Leute schon spielte und sang, doch Wymbell flüsterte mir ins Ohr, dass es nun Zeit fürs Finale war. Was das genau bedeuten sollte, wusste ich nicht, aber ich wählte als Abschlusslied den Titel „Santa Claus is coming to town“. Und dann kam Wymbells Finale zum Einsatz. Die Menschen mochten sich noch so sehr wundern, Fakt war, dass auf einmal jeder in meinem Publikum eine Wunderkerze in Händen hielt und nach und nach halfen sich alle gegenseitig beim Entzünden. Ein Traum. Die Szenerie, auf die ich blickte, war ein einziger Traum. Wunderschön.

„So, meine lieben Kinder, danke, dass ihr mich alle so toll unterstützt habt. Ohne euch hätte ich mich niemals getraut, mich hier hin zustellen. Das ist euer Applaus. Die Instrumente dürft ihr übrigens alle behalten. Ich wünsch euch allen fröhliche Weihnachten.“

Die Menge jubelte. Die Kinder hüpften vergnügt zu ihren Eltern zurück und zeigten voll stolz ihre neue Errungenschaft. Für manche von den Kleinen war es allerdings schwer, sich von den Rehen zu trennen. Ich stand noch ein wenig da, bis die Menge wieder im Strom des Weihnachtsflusses hinfort gespült war. Doch ich spürte eine Veränderung. Die Menschen wirkten nicht so abgehetzt wie zuvor, sondern spazierten alle gemächlich die Straße entlang.

„Wymbell?“, flüsterte ich. „Wymbell, wo bist du?“

„Kekse, Kekse, Kekse.“

„Oh man, wo hast du die schon wieder her?“

Sie schaute völlig unschuldig drein. „Die hab ich ganz brav bezahlt.“

„Ach wirklich. Und von welchem Geld bitte schön?“

„Dem da“, sie deutete in die Instrumentenkiste. Sie war bis zum Rand mit Münzen und vereinzelten Scheinen gefüllt.


Noch Tage nach diesem Erlebnis, meinem eigenen Weihnachtskonzert, lächelte ich verträumt vor mich hin. Ein wunderbares Gefühl, das sich seitdem in meiner Magenregion breit gemacht hatte, schien mich komplett auszufüllen und wurde auch mit jedem Kalendertürchen, das ich öffnete, aufgefrischt. Nur heute …

„Wymbell, es passiert gar nichts.“

„Was meinst du?“

„Na ja, das Türchen. Es war leer. Kein Schokobrunnen, keine Lichttiere. Nicht mal ein Zonk-Geräusch.“

Singend flatterte Wymbell auf mich zu und ließ sich auf meiner Schulter nieder. „Oh, ich bin mir sicher, dass du spätestens beim Frühstück etwas vorfinden wirst.“

Beim Frühstück. Wie ein geölter Blitz rannte ich runter. Mir war egal, dass ich noch in Boxershorts war. Ich wollte wissen, was die Überraschung des heutigen Tages war. Meine Familie saß schon gesammelt am Esstisch. Mein Vater las die Wochenendausgabe.

„Morgen, Superstar.“

Ich ignorierte meinen Bruder. „Ist euch irgendwas aufgefallen? Irgendetwas Merkwürdiges?“

„Hm“, brummte mein Vater. „Das kann man so sagen“. Er legte die Zeitung nieder und deutete auf ein Foto. Da stand ich hinter einem Keyboard umgeben von einem Tannenwäldchen, einem Kinderorchester und Rehen. Konnte ich das Erklären? Nein, konnte ich nicht. Wollte ich auch gerade nicht. Ich musste versuchen es mit Humor runterzuspielen.

„Tut mir leid, Samstags geb ich keine Interviews.“

Meine Mutter beäugte mich mit einem Lächeln. „Das heißt du willst uns keine Erklärung dazu abgeben?“

„Da liegst du richtig, Mom.“

„Schön, und wie stehst du dazu?“ Sie machte eine Handbewegung in den Raum. Ich blickte hinter mich.

„Fuck.“ In unserem Wohnzimmer stand ein riesiger Weihnachtsbaum. Er ging bis zur Decke, was bedeutete, dass er über drei Meter hoch sein musste. Das war allerdings nicht alles. Die Fensterrahmen waren mit Lamettagirlanden und Tannenzweigen geschmückt, überall waren Kerzen aufgestellt. Ich wanderte durchs Haus. Im Wintergarten waren an jedem Baum Kugeln, Sterne und Strohanhänger angebracht. Wo man nur hinblickte, gab es etwas zu sehen.

„Da hat es aber jemand ziemlich gut mit der diesjährigen Deko gemeint. Hast du dieses Jahr mehr Weihnachtsgeld bekommen, Dad.“ Hoffentlich konnte ich damit von mir ablenken.

„Sam, kannst du auch nur ein Wort zu dem ganzen sagen, damit wir die kleinen Aliens oder den Mann im roten Mantel und der Zipfelmütze aus unseren Berechnungen ausschließen können?“

„Hm, keine Ahnung. Vielleicht waren es Einbrecher.“

„Einbrecher, die nichts stehlen, sondern nur Dinge da lassen?“

„Vielleicht sind es Weihnachtseinbrecher.“

„Sam, hast du dir den Kamin angeschaut?“

Ich drehte mich um. Ein Feuerchen prasselte munter darin. „Was soll mit dem Kamin sein?“, fragte ich. „Er ist angeschürt.“

„Da WAR vorher gar kein Kamin, mein Sohn.“ Mein Vater war laut geworden. Das musste er gemerkt haben, denn er räusperte sich und fuhr dann etwas ruhiger fort.

„Sam, du verstehst doch, dass wir besorgt sind, wenn fremde Menschen in unserem Haus ohne unsere Kenntnis Einlass erhalten.“

Natürlich verstand ich das, doch ich hatte keinen blassen Schimmer, wie ich mich hier rausreden konnte, ohne in die nächste Klapse gesteckt zu werden.

„Dad, in Amerika freuen sich die Menschen jedes Jahr darauf, dass ein gewisser Fremder sich selbst den Einlass in ihr Heim gewährt. Seine Bedingung ist allerdings, dass man ihm nicht auflauert. Und in Köln waren die Menschen glücklich, bis die Heinzelmännchen eines Nachts entdeckt wurden und sich beleidigt auf Nimmerwiedersehen verabschiedet hatten. Nimm das doch einfach so hin, bevor der großzügige Geist sich beleidigt fühlt.“

„Rita, ich krieg Kopfschmerzen mit diesem Jungen.“

Ha, er war für diesen Moment unaufmerksam. Meine Chance schnell in mein Zimmer zu flüchten. „Halt, junger Mann. Wir sind noch nicht fertig.“

Ich schloss die Tür hinter mir. „Man, Wymbell, warum hat der Kalender meine Mutter nicht gleich in den Weihnachtsmann verwandelt und Corey in einen Elf. Das wäre ein wenig unauffälliger gewesen als die flächendeckende Deko in unserem Haus.“

„Gefällt sie dir?“

„Ich finde sie total geil!“, brachte ich begeistert heraus. Wymbell klatschte in die Hände.

„Und, hast du schon weitere Pläne für heute? Aber vergiss nicht, heute Abend bin ich mit Martin verabredet.“

Wymbell drehte ein paar Kreise. Kling kling. „Dann lass uns am besten gleich aufbrechen.“

„Mit dem Engelsglanz-Express?“

Wymbell strahlte. „Ja, oh ja, ja. Engelsglanz.“ Sie plusterte sich stolz auf. „Na dann, mein lieber Sam, mach dich bereit.“

„Halt warte, Wymbell, ich bin doch noch nicht …“

Und wieder zu spät. Bitte lass es nicht die Fußgängerzone sein. Aber nein, ich fand mich auf einem kleinen Vorhof wieder. Es war menschenleer.

„Wymbell! Ich bin doch noch gar nicht umgezogen. Nur in Boxershorts bekleidet zu sein ist ein wenig unvorteilhaft.“

„Ihr Menschen mit eurer Kleidung. Ich verstehe nicht, warum ihr so ne große Sache daraus macht. Ich trage nie etwas an meinem Körper. Außerdem scheinen nackte Körper anderen Menschen doch zu gefallen. Du schaust dir zumindest immer diese Filme an, wo die Jungs nie Klamotten tragen.“

„Wymbell! Hose! Jacke! Sofort!“

Endlich vollständig eingekleidet, sah ich mich noch mal genauer um und erkannte das Gebäude. Es war eine Suppenstation, wo die Armen hingehen konnten und eine warme Mahlzeit erhielten. „Na, dann lass uns doch mal die Armen speisen.“

Euphorisch betrat ich das Gebäude, doch meine Euphorie erlosch, als ich die Schlange am Suppentopf und die vielen alten und bedürftigen Leute vor mir sah. Es war kein schönes Bild, was sich einem da bot. Im Vergleich zur restlichen Stadt, die in Licht und Glühwein und Fröhlichkeit versank, war das hier ein ziemlicher Kontrast.

„Ach, Wymbell, ich wünschte wir könnten diesen armen Leuten mehr geben als nur eine Mahlzeit.“

„Aber Sam, dafür sind wir doch hier.“ Sie lächelte mich an. „Frag du erst mal nach, ob du beim Suppe ausschenken, helfen kannst, ich kümmere mich um den Rest“, und schon war sie wieder zum Eingang hinausgeflogen. Ich wandte mich an einen der Mitarbeiter. Er war groß, hatte eine gemütliche Statur und einen dunklen, gepflegten Vollbart.

„Hey Sportsfreund, natürlich. Hier ist jede helfende Hand willkommen. Ich bin übrigens Charly. Hast du eine Suppen-Ausschank-Lizenz dabei?“

Ich zögerte kurz. Dann löste der Mann meine Starre durch ein Lachen. „Kleiner Scherz, für diesen Job ist niemand unterqualifiziert, deshalb könnten auch ruhig mehr Menschen mal auf die Idee kommen, das zu übernehmen. Und hey, ohne ein bisschen Spaß ist Arbeit sowieso nicht das Wahre. Also, immer schön lächeln, damit du mit unserer Suppe nicht nur etwas Wärme in ihre Mägen bringst, sondern auch etwas Wärme in ihre Herzen.“

Ich presste die Lippen aufeinander. Ich werds versuchen, dachte ich mir. Und so begrüßte ich jeden, der bei mir anstand, mit einem fröhlichen „Schönen guten Tag“, wünschte einen guten Appetit und verabschiedete sie mit „Fröhliche Weihnachten“. Doch je öfter ich das sagte, umso lächerlicher kam ich mir vor. Was brachte es diesen Menschen schon, wenn ich sie freundlich begrüßte. Sie würden weiterhin auf der Straße leben und Mülleimer nach Pfandflaschen absuchen müssen.

„Charly, mein Topf ist fast leer. Ich bräuchte ein wenig Nachschub“, rief ich in die Küche hinter. Nebenbei, wenn Charly mich kurz mal ablöste, fand ich ein wenig Zeit mit ihm zu plaudern und fand heraus, dass er dieses Projekt ganz alleine gestartet hatte. Er hatte einen beachtlichen Teil seines Privatvermögens in das Gebäude gesteckt und gemeinsam mit seiner Frau arbeitete er das ganze Jahr über daran, Spenden zu sammeln um an Weihnachten die Armenspeisung finanzieren zu können. Ich fand das wirklich beeindruckend und fühlte mich richtig schlecht, wenn ich an unseren Pool zu Hause dachte, den wir nicht mal so regelmäßig nutzten. Die nächste Person kam an die Reihe, eine ältere Frau.

„Schönen guten“, rief ich ihr zu, da schoss eine Erinnerung durch meinen Kopf. Oh nein. „Ich ähm .. wünsche Ihnen … also“, bitte fang nicht an zu weinen. „Lassen Sie es sich schmecken.“ Die Frau sah mir dankend in die Augen. Sie wollte schon weitergehen, da hielt sie noch mal inne und sprach mich an: „Verzeihung junger Mann, ich stand schon ein wenig länger in der Schlange und habe sie beobachtet. Sie machen das ganz toll, ihre Fröhlichkeit tut uns allen hier ziemlich gut. Vielleicht denken sie sich, es mag so was wie ein Tropfen auf dem heißen Stein sein. Doch wir sehen das anders. Es kommt nicht oft vor, dass Menschen gut zu uns sind, deshalb ist jede freundliche Geste und jedes an uns gewandte fröhliche Wort wie ein kleines Weihnachtsfest. Machen sie weiter so.“

Na gut, eine Träne hatte sich nun doch den Weg in die Freiheit gebahnt. Mit frischem Elan und einem ehrlichem Lächeln empfing ich die nächste Person. Es war ein kleiner Junge, wahrscheinlich neun Jahre alt, der mir mit erwartungsvollen Augen und dreckigen Händen seine Schüssel entgegen streckte.

„Charly, ich brauch neue Suppe.“ Statt einer Antwort kam Charly persönlich heraus und mit ihm zwei Köche. Die anderen drei Mitarbeiter, deren Töpfe ebenfalls geleert waren, blickten ihn fragend an.

„Leute, ihr habt echt gute Arbeit geleistet, aber ich befürchte, uns ist die Suppe ausgegangen.

Oh nein, das durfte nicht sein. Ich sah dem Jungen vor mir in die Augen. Diese traurigen, dunklen Augen, die das Gesagte mitbekommen hatten und sich nun mit Tränen füllten. Er ließ den Kopf hängen und drehte mir den Rücken zu. Auch den anderen Menschen stand die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben und so mancher hatte mit den Tränen zu kämpfen. Es tat verdammt weh. Ich wollte dem Jungen hinterherlaufen. Am liebsten hätte ich ihn mit nach Hause genommen und für eine Stunde mit unserem Kühlschrank und der Nummer für den Pizzalieferservice allein gelassen. Die ersten Menschen verließen das Gebäude. Doch sofort wurde die Tür wieder aufgestoßen und ein junger Mann, etwa Mitte 20, rief in den Raum: „Ey, Leute, gebt euch das mal, da draußen!“ Er war völlig außer sich und seine Aufregung ging auf die anderen über, die herausfinden wollten, was es außerhalb zu sehen gab. Charly und sein Team wirkten ratlos, aber auch sie folgten der Menge. Wer noch eine Suppe bekommen hatte, nahm seine Schüssel mit. Ich selbst eilte nach vorne, nahm den kleinen Jungen, bevor er wusste, wie ihm geschah, auf meinen Arm und trat mit ihm ins Freie. Zumindest hatte ich das erwartet. Stattdessen traten wir in einen Raum, der vorher noch nicht dagewesen war. „Diese kleine Wymbell“, lächelte ich. Der gesamte Innenhof war ausgefüllt von einem riesigen Pavillon. Zumindest solange man bei dieser Größe noch von einem Pavillon reden konnte und nicht von einem Zirkuszelt. Der Pavillon war mit Zweigen, roten und weißen Lichterketten und Kugeln geschmückt. Um einen riesigen Weihnachtsbaum, der sich in der Mitte des Pavillons befand, war ein kleines Sternerestaurant entstanden. Ehrfürchtig setzten sich die Menschen an die langen Tafeln und begutachteten das Silberbesteck, die Kerzenleuchter und die sorgfältig gefalteten Servietten.

„Ein Wunder“, murmelte Charly. „Das ist ein Wunder.“

Ja, so kam es wohl jedem vor. Alle Menschen fanden Platz an den Tischen und warteten gespannt, was sich nun weiter ereignen würde. Da kamen ein paar Männer auf Charly zu. Einer, der ihm in der Erscheinung sehr ähnelte, sprach ihn an:

„Verzeihung, sind sie Herr Moos?“

„Das will ich meinen.“

„Dürften wir sie bitten ihre Räumlichkeiten als unsere Küche zu benutzen?“

Charlys Gesicht strahlte: „Aber natürlich. Aber selbstverständlich doch. Treten sie ein. Aber wir haben leider nur einen Herd, da werden sie ein wenig Zeit brauchen und Zutaten müssten sie …“

„Machen sie sich keine Gedanken, Herr Moos. Wir haben mobile Küchenelemente, Kochutensilien und unsere Zutaten alle mitgebracht. Auf geht’s, Männer. Küche einrichten ist angesagt!“ Und so erschien am einen Ende des Pavillons geradezu eine Armee aus Köchen. Sie marschierten im Gleichschritt, nur mit ihren riesigen Löffeln und Kellen und Pfannenwendern bewaffnet in das Gebäude, hinterher fuhren Köche mit Herdstellen und Öfen auf Rädern und Kisten, Kisten und noch mehr Kisten, in denen sich wohl nur Lebensmittel befanden. Als die Kolonne Köche endlich ein Ende gefunden hatte, betraten Kellner die Szenerie. Sie huschten von Platz zu Platz und gaben jedem eine mehrseitige Speisekarte. Ein Flüstern und Tuscheln ging durch die Reihen. Als jeder mit einer Karte bedient war, sprach der Oberkellner: „Meine sehr verehrten Gäste, ich freue mich, Sie hier begrüßen zu dürfen. Wir freuen uns, heute für Sie zu kochen und Sie bedienen zu können. Bestellen Sie so viel Sie möchten und wie Sie möchten. Für jeden Wunsch stehen wir Ihnen zur Verfügung.“

Die Leute klatschten. Hauptsächlich weinten sie, und nachdem der Applaus abgeebbt war, machten sie sich über die Karte her. Da zog mich etwas an meinem Pulli. Der kleine Junge von eben blickte zu mir auf und hielt mir die Karte hin.

„Was ist denn, mein Guter. Soll ich es dir vorlesen?“ Er nickte heftig. „Na komm, ich hol mir einen Stuhl, dann kannst du dich auf meinen Schoß setzen und ich les dir mal alles vor und du kannst dir die besten Sachen heraussuchen, ja? Klingt das gut?“

Und ich begann ihm all die Speisen vorzulesen, die in der Karte standen. Von vielen hatte er bestimmt noch nie etwas gehört. Ich blätterte weiter, vorbei an Nudelgerichten und Nachspeisen. Auf der letzten Seite angelangt, riss mir der Junge dann aber die Karte aus der Hand und hielt sie sich erstaunt vor Augen.

„Oh“, machte er. Dann deutete er mit seinem Finger auf ein paar Worte. Sahmet Malik.

„Ist das dein Name? Bist du Sahmet?“ Er nickte eifrig.

„Lass mich mal sehen, was hier steht: „Lieber Sahmet, von ganzem Herzen dir eine wunderschöne Weihnachtszeit.“ Der restliche Text waren weitere Gerichte, doch ich konnte mir denken, dass es sich um ausschließlich Lieblingsgerichte des Jungen handelte.

Sahmet sah mich an und brachte zum ersten Mal ein Lächeln zustande. „Warst du, ja?“, fragte er mit starkem Akzent. Ich nickte. „Evet“, sagte ich. Soviel Türkisch konnte jeder in einer Stadt lernen, in der an jeder zweiten Ecke eine Dönerbude stand.

Sahmet fiel mir um den Hals. Dann kramte er in seiner Hosentasche herum. Er zog eine Rassel hervor. „Warst du, ja?“

Ich strahlte übers ganze Gesicht. „Evet, evet.“

Mittlerweile waren alle Bestellungen aufgenommen worden, Getränke waren an die Tische gebracht und die Kellner brachten sich in Position um die ersten Speisen für die Leute herauszutragen. Es wurde geklatscht, es wurde gelobt und nach der ersten Speise war die anfängliche Anspannung der Unsicherheit einer gemütlichen Atmosphäre gewichen.

Ich stellte mich an die Wand und betrachtete das Treiben. Schon morgen würde diese Menschen wieder ihr Alltag auf den Straßen einholen. In diesem Moment jedoch spielte das keine Rolle. Sie lebten im Jetzt und konnten daher den jetzigen Moment in vollen Zügen genießen. Eine kleine Lichtkugel schwebte zu mir herab.

„Hab ich das gut gemacht, Sam?“

„Besser als gut, Wymbell. Auch die Idee mit dieser persönlichen Seite, einfach fantastisch. Aber woher hast du die Köche und Kellner? Die hast du doch sicher nicht gezaubert?“

„Hab ich auch nicht. Durch ein paar Anrufe im Arbeitsamt, in sämtlichen Restaurants der Stadt und bei Hausfrauen e.V. hab ich ziemlich schnell alle verfügbaren Leute bekommen, die kochen und bedienen können. Die wurden alle für diese Uhrzeit hierher bestellt und fanden dann den Lastwagen auf der Straße vor, in dem sich die gesamte Ware und Kleidung samt Umkleidekabinen befanden.“

„Und wie bezahlst du die alle?“

„Von dem Geld aus deiner Instrumentenkiste.“

„Ich bezweifle sehr, dass das Geld ausreicht für all diese Menschen.“

Wymbell schüttelte wissend den Kopf: „Ach, Sam. Diese Kiste war größer als sie von außen erscheinen mochte, wenn du wüsstest, wie viel Geld dir die Leute hineingeworfen haben. Ich hab es schon für alle Leute, die gerade arbeiten aufgeteilt und in beschriftete Umschläge gepackt.“

„Ach Wymbell. Wollen wir nicht Weltverbesserer zu unserem Hauptberuf machen? In einer Woche hätten wir einen neuen Garten Eden.“

„Ich befürchte das geht nicht, Sam. Mein Feenstaub ist nur effektiv, wenn er zur Erfüllung meines Auftrages beiträgt. Bis auf ein paar kleine Zaubereien, wie dich gegen die Decke knallen zu lassen oder deinen Hausschuhen Schnürsenkel zu verleihen, ist da aber nichts größeres drin.“


„Hey Martin, ich hoffe ich hab dich nicht zu lange warten lassen.“

„Nein, ich warte noch nicht allzu lange. Du siehst gut aus“, begrüßte er mich.

„Danke, du aber auch.“

„Sag mal, hast du heute schon Zeitung gelesen?“

„Ne, wieso?“

„Weiß nicht, es scheint irgendwas mit der Stadt zu tun haben. Irgendwas Magisches. Erst diese Sache mit dem Schnee, der seit Wochen liegt, dann das spontane Kinderkonzert in der Fußgängerzone. Jetzt hieß es in der Abendausgabe, dass ein spendabler Gönner „Charlys Suppenküche“ für einen Tag zu einem Gourmetrestaurant verwandelt hatte. Die armen Leute haben da anscheinend so gut gespeist, wie manche ihr ganzes Leben noch nicht. Und in der Tageszeitung war ein Bericht, in dem es heißt, dass viele verschiedenste Leute, die nichts miteinander zu tun haben, die letzten Tage über eine Herde Rentiere im Stadtpark gesichtet haben.“ Stadtpark war eine gute Bezeichnung, schmunzelte ich. Dieser Park war fast schon ein ganzer Wald.

„Und was ist daran so magisch?“

„Diese Rentiere sollen aus reinem Licht bestanden haben.“

„Ach ja, Weihnachtszeit ist Glühweinzeit, nicht wahr? Wollen wir reingehen, ich will endlich tanzen.“

Ich zog Martin hinter mir her. Im Club gaben wir unsere Jacken ab. Martin trug ein hautenges, weißes Shirt, eine Kette war an seiner dunklen Jeans festgemacht. Er sah wirklich gut aus.

Noch war es zu früh, die Tanzfläche war leer und wirklich viele Besucher waren auch noch nicht da, also schmissen Martin und ich uns mit etwas zum Trinken auf ein Sofa und gammelten ein wenig herum. Die Stunden vergingen und der Club füllte sich zunehmend. Martin und ich fachsimpelten darüber, woher diese Rentiere wohl kamen, sollte es sie geben. Er gab Genmanipulation als Möglichkeit an. Bestimmt hätten Forscher lumineszierende Stoffe in das Erbgut von Rentieren eingeschleust. Je mehr wir tranken, umso wirrer und kurioser wurden unsere Theorien.

„Martin, am besten du hältst jetzt die Klappe, sonst muss ich dir wohl was einschleusen.“ Ich grinste ihn frech an.

„Aber denk doch mal nach. Rentiere mit porösem Fell. Und wenn du ne Taschenlampe in ihren Hintern schiebst, dann fangen sie auch an zu leuchten.“

Ich streichelte seinen Oberschenkel. „Hm, dir würde ich auch gerne etwas in den Hintern schieben.“ Ich näherte mich ihm und im nächsten Moment knutschten wir wie wild miteinander rum. Dabei rieb ich ihm ständig die Stelle zwischen seinen Beinen. Das letzte Mal, dass ich gewichst hatte, musste ewig her sein. Bestimmt zwei Tage.

Martin hauchte mir ins Ohr. „Sam, willst du mich ficken?“

„Hier und jetzt?“, hauchte ich zurück.

Er kicherte. „Später, lass uns erst mal tanzen, aber vielleicht danach?“

Ich nickte, leckte noch mal in seinem Mund herum und stand dann auf, um mit ihm die Tanzfläche einzunehmen. Martin konnte wirklich gut tanzen. Mir gefiel es, wie sich sein Körper total beschwingt zu den Liedern bewegte. Mal tanzten wir nebeneinander, mal eng umschlungen und befummelten uns gegenseitig. Bei manchen Liedern alberten wir auch ein wenig herum und lachten uns dann über die übertriebenen Bewegungen des anderen kaputt.

„Sam, ich bin gleich wieder da, ja? Ich hol mir noch mal was zum Trinken. Willst du auch was?“

„Nein, danke. Is schon ok.“

„Ok, bis gleich“, und Martin verschwand in der Menge. Ich gab mich weiter der Musik hin, ließ dabei immer wieder mal meinen Blick über die tanzende Masse schweifen, vielleicht war ja jemand darunter, der Martin und mir gleichermaßen gefiel? Nein, solche unzüchtigen Gedanken an Weihnachten. Ich lachte.

Das Lachen erstarb in meinem Hals. In der Menge hatte ich jemanden erblickt. Um mich herum schien sich alles zu verlangsamen, zu verstummen, schwarz zu werden. Nur diese eine Person stach heraus, als würde ein letzter Scheinwerfer sie im Dunkel beleuchten. Tamo bewegte sich wie ein Gott. Jeder Blick, jedes Lächeln stimmte. Jede Stellung seiner Arme schien perfekt, sodass er an niemanden anstieß. War er allein hier? Oder hatte er mittlerweile einen neuen Freund? Ein unglaublicher Schmerz durchfuhr mein Inneres. Ich musste es wissen, ich musste einfach. Ich drängte mich durch die Menge bis ich bei ihm angekommen war. Im ersten Moment bemerkte er mich nicht, doch als ich ihn an die Schulter fasste, blickte er auf. Er musste erschrocken sein. Seine Wangen waren gerötet, wahrscheinlich vom Tanzen. Ich versuchte in seinen Augen zu lesen. Freute er sich mich zu sehen? Wollte er mir am liebsten den Kopf abhauen? Sollte ich ihn einfach wieder in Ruhe lassen? Doch da war nichts. Keine Wut, kein Schmerz. Nur die Frage: Was willst du?

Mein Blick stellte eine Gegenfrage: Bist du allein?

Ja, und du?

Ja.

Lügner.

Darf ich trotzdem mit dir tanzen?

Tamo zuckte mit den Schultern. Deine Entscheidung, schien er damit sagen zu wollen.

Also blieb ich bei ihm. Doch im Gegensatz zu eben bewegte ich mich nicht ausgelassen oder wild. Ich war total steif und vorsichtig, als wäre Tamo ein Schatz, den es zu behüten galt. Eine dünne Eisschicht, auf der ich lief, die zerbrechen würde, wenn ich nur einmal zu fest auftrat.

Tamo blieb von meiner Anwesenheit unbeeindruckt. Er glich seine Tanzgeschwindigkeit zwar der meinen an, tanzte aber so gesehen weiterhin für sich allein. Die meiste Zeit hielt er die Augen geschlossen. Die Lieder rauschten an uns vorbei. Wo Martin war, wusste ich nicht. Und es war mir auch egal. Klar tat es mir ein bisschen leid und ich würde ihm in einer SMS alles erklären, doch gerade sah ich eine Möglichkeit wieder eine kleine Verbindung zu diesem Jungen, zu diesem einzigartigen Jungen, der mich dazu brachte fast hundert Euro monatlich in einer Bäckerei auszugeben, herzustellen. Und so gering meine Hoffnung auch erschien, ja auch wenn sie nur ein Sandkorn war, so fest hielt ich doch an ihr fest.

Ich näherte mich Tamo ein wenig. Ließ meine Hände auf seinem Rücken ruhen. Ganz kurz nur, um mich zu vergewissern, dass es in Ordnung ist.

Keine Reaktion.

Ich behielt meine Hände auf seinem Rücken, streichelte ihn. Er bewegte seinen Kopf weiter, knickte mit den Knien im Rhythmus ein. Ich konnte nicht anders, ich schloss meine Arme vollständig um ihn und drückte ihn an mich. Er ließ es zu. Seine Tanzbewegungen kamen zum Stillstand. Dafür trat ein Zittern ein, das seinen ganzen Körper erfasst. Ganz leicht, kaum bemerkbar. Ich spürte es trotzdem. Dieses Zittern war wie ein Eisberg, der unter der Meeresoberfläche größer und breiter wurde, as die erkennbare Spitze es vermuten lässt. Unter Tamos Oberfläche, in seinem Inneren war das Zittern ein gewaltiges Erdbeben, das sämtliche Mauern und Wälle zum Einsturz brachte. Auch er umfasste mich nun. Streichelte mir ganz leicht über den Nacken. Dann erstarrte seine Bewegung jedoch. Er ließ mich los und entzog sich mir. Ich konnte sehen, dass sein Gesicht mit Tränen benetzt war. Ein letzter kurzer Blick, dann verschwand er in der Menge der Tanzenden und ließ mich zurück.


Ich war an dem Abend sehr verwirrt nach Hause gegangen. Voller Fragen. Was sollte ich tun? Durfte ich etwas tun? Wir hätten uns gestern Abend bereits versöhnen können. Und doch war er gegangen. Geflüchtet vor mir, der ihm das Herz gebrochen hatte. Verheult war ich eingeschlafen. Meine gestrige Stimmung wurde aber durch das Öffnen des 18. Kalendertürchens völlig ausgemerzt.

„Oh Wymbell. Wymbell, Wymbell. Ich hab eine Idee. Ich hab eine grandiose Idee. Siehst du das? Siehst du was ich heute bekommen habe?“

„Ja, was denn, was denn?“

„Mein Kirschbonsai trägt Früchte“, ich hielt ihr den Topf stolz entgegen. „Ein Lichtstrahl kam aus dem Türchen geschossen und hat ihn erfasst und jetzt sieh dir das an.“ Ich pflückte alle Kirschen ab, wartete ein paar Momente und innerhalb von Sekunden konnte ich meiner Pflanze zusehen, wie ihre Blüten verschiedene Phasen durchliefen, bis sie wieder zu prächtigen Kirschen herangereift waren.

„Und was willst du mit diesen Kirschen machen?“

„Na ja, weißt du. Als ich das erste Mal vor Tamos Bäckerei stand, da hat er mir zu Beginn erst eine Kirschtasche angeboten, weil das seine Lieblingsfrucht ist und dann ein Stück Schokokuchen, weil er Schokolade liebt.“

„Ja, und weiter?“

Oh, ich freute mich. Ich wusste nicht, ob es was brachte. Und selbst wenn, dann war es auf keinen Fall genug, doch es war ein Anfang und es war einen Versuch wert.

Eine verwirrte Wymbell beobachtete mich interessiert bei meinen Vorbereitungen.


„Schönen guten Tag. Was kann ich für Sie tun?“

Autsch. Er siezte mich. Das klang nicht schön. Sofort schrumpfte mein Selbstvertrauen wieder. Ich sah ihn sehnsüchtig an. Da stand er, mein Lieblingsbäcker mit seinen wunderschönen Augen und dem süßen Mund.

„Ähm, eigentlich gar nichts. Ich wollte dir nur etwas geben.“

Tamo betrachtete mich skeptisch, wie ich eine kleine Dose aus meinem Rucksack hervorholte. Ich drückte sie ihm schnell in die Hand, dann machte ich mich wieder auf den Heimweg.

„Wymbell“, flüsterte ich leise.

„Also er schaut dir auf jeden Fall hinterher. Jetzt seufzt er. Er öffnet die Dose. Ja, er lächelt. Ganz leicht lächelt er.“

Er lächelt. Das war doch schon mal ein gutes Zeichen.


„Du schon wieder?“

„Was für eine Begrüßung.“

„Passt sie dir denn nicht?“, fragte Tamo ein bisschen patzig.

„Ich meinte das gar nicht negativ. Ich freue mich. Das ist das erste Mal innerhalb der letzten drei Tage, dass du mich wieder duzt.“

„Sam, wie lange willst du das fortführen und täglich bei mir vorbeischneien?“

Ich antwortete ihm leise: „Solange bis ich ein Zeichen bekomme, dass es nicht mehr nötig ist. So oder so.“ Ich ging.


Wieder ging ich zur Bäckerei, wie jedes Mal mit richtig großem Herzklopfen. Traurig stellte ich fest, dass Tamo mich zwar anschaute, aber nichts sagte.

„Hallo“, sprach ich leise und hielt ihm die Dose hin. Er sah auf sie herab, nahm sie entgegen und murmelte dann: „Schönen guten.“

Hab ich das gerade wirklich gehört? Ich lächelte kurz. Tamo lächelte zurück, doch sein Blick sagte: Bisher hast du erst den Fuß in der Tür.

Ja, das wusste ich. Doch schon allein darüber war ich überglücklich.

„Danke“, sprach ich. Dann wandte ich mich wieder ab. In meinem Herzen stieg gerade eine Party. Ich bog um die Ecke und pfiff ein Liedchen vor mir hin, wie in der guten alten Zeit, als ich immer auf diesem Weg eine Tüte mit Apfeltasche und ein Marzipanhörnchen hatte. Ich war so mit singen und fröhlich sein und erinnern beschäftigt, dass ich nicht merkte, wie ich in die falsche Straße einbog. Selbst als Wymbells Gesang verstummte und sie merkte, dass wir schon eine geraume Zeit eine fremde, besorgniserregende Straße entlang liefen, bemerkte ich das nicht. Das erste, was ich wieder wirklich wahrnahm, war ein heftiger Schlag in meinen Rücken. Ich keuchte und fiel vornüber zu Boden.

Wymbell klingelte schrill auf.

Drei Gestalten hatten sich über mich gebeugt. Jugendliche, wohl nur ein paar Jahre älter als ich. Der eine mit der Eisenstange musste der gewesen sein, der mir eins in den Rücken mitgegeben hatte.

Ich fühlte, wie sie in meinen Hosentaschen rumlangten. Bitte, nehmt, was ihr wollt, aber lasst mich in Ruhe. Ich hatte unglaubliche Angst. Ich bekam einen Tritt in die Seite. Weil ihnen nicht gefiel, was sie fanden oder weil sie Lust dazu hatten, wusste ich nicht. Ein weiterer Tritt in die Magengrube. Gelächter. Sie schienen nun auf den Geschmack gekommen zu sein und traten nun gemeinsam auf mich ein. Ich schrie und krümmte mich vor Schmerzen.

Dann, von einem Moment zum anderen ebbte der Schmerz ab. Keine Tritte mehr. Nur ein weißes Licht, das gleißend meine Augen blendete.

War das Sterben? War das das weiße Licht am Ende des Tunnels, von dem die Leute sprachen? Ich sah keinen Tunnel. Ich sah nur Licht, das immer heller wurde. Ich wollte nicht sterben. Nicht jetzt, wo ich doch fast meinen Tamo wiederbekommen hätte. Das Licht nahm wieder ein wenig ab und ich versuchte meine Augen Zentimeter für Zentimeter zu öffnen. Mittlerweile hatte ich Gesellschaft am Boden bekommen. Die drei Schläger, die eben noch auf mich eingetreten hatten, lagen wild verstreut in der Gasse. Ich blickte auf. Eine Hand wurde mir gereicht. Ich wollte sie ergreifen, doch als mich die Schmerzen durchfuhren, wusste ich, dass ich nicht einfach so aufstehen konnte.

Die Gestalt, der die Hand gehörte, beugte sich zu mir herunter. Sie strich mir über den Kopf.

„Wymbell?“ Die Gestalt nickte. Doch das war nicht die kleine Fee, die ich kannte. Diese Frau trug glattes Haar bis zu den Schultern und ein langes weißes Gewand.

„Federn“, flüsterte ich. „Auf deinem Rücken. Schwingen. Oh Wymbell. Du bist ein Engel.“

„Nein“, hauchte Wymbell sanft. Ihre Stimme war tiefer geworden und statt Glockenspiel und Glöckchenläuten erklang ein gewaltiges Gongen. „Ich bin eine Fee.“

„Aber nein, nein, nein. Sieh doch. Du hast Flügel. Und du leuchtest.“

„Das tun Glühwürmchen doch auch“, flüsterte sie.

„Sterbe ich jetzt?“ Der darauffolgende Gong schmerzte in meinen Ohren.

„Sam, rede doch nicht so einen Unsinn. Wenn deine Fee in der Stunde deiner Not zu dir eilt, sollst du sterben? Du brauchst nur Ruhe und Erholung und ich werde dafür sorgen, dass deine Wunden schnell heilen. Glücklicherweise ist nichts gebrochen, doch trotzdem kann ich solche Verletzungen auch durch Feenstaub nicht einfach wegzaubern.“

Wymbell streckte ihre Hand aus und ließ einen Regen aus Feenstaub auf mich nieder. Eine angenehme Wärme erfüllte meinen Körper. Ich entspannte mich, mir würde nichts passieren, solange Wymbell ihr Auge auf mich hatte. Und mit dem Gedanken im Kopf schlief ich ein.


Ich lag im Koma. Wymbell sagte, bevor sie jemanden hätte rufen müssen, wäre eine ältere Frau vorbei gekommen. Es war die gleiche alte Frau, die mir in Charlys Suppenküche so nett zugesprochen hatte. Meine Eltern und Corey fielen aus allen Wolken, als sie den Anruf vom Krankenhaus bekamen. Die Ärzte konnten meinen Eltern leider keinen Aufschluss darüber geben, wann ich aufwachen würde, denn laut ihren Instrumenten und Messungen hätte ich im Wachzustand sein müssen. Diese Information erntete viele Tränen. Daher beschloss meine Familie mich in drei Schichten zu besuchen, damit auf jeden Fall jemand da war, wenn ich aufwachte. Mom blieb die Nächte über, Dad die erste Hälfte des Tages und Corey kam am Nachmittag. Er hatte gelesen, dass Komapatienten alles aus ihrer Umgebung mitbekommen, deshalb soll er mir wohl ins Ohr geflüstert haben, dass er Pornobilder von mir schießen wird und sie in der Schule aufhängt. Als ich darauf nicht aufwachte und ihm an die Gurgel ging, unterließ er den Versuch und fing an zu weinen. Die letzte Information hatte ich allerdings nicht von ihm, sondern von Wymbell. Ich bekam noch viele weitere Besucher. Die alte Dame hatte bei Charly von meinem Überfall erzählt und alle Leute, die beim Sterneessen, wie es auch in der Zeitung betitelt wurde, dabei gewesen waren, hatten sich bei mir versammelt. Auch Sahmet wäre da gewesen, erzählte Wymbell. Mein Zimmer musste dann schließlich aus den Nähten geplatzt sein, als die Presse erfuhr, dass der vermeintliche Verantwortliche für das Sterneessen im Krankenhaus lag und identisch zu sein schien mit dem Jungen, der das Konzert in der Fußgängerzone gegeben hatte. Kinder und Eltern waren in mein Zimmer gekommen und hatten für mich gesungen und musiziert in der Hoffnung mich aufwecken zu können. Leider vergeblich. Schließlich schoben die Ärzte und Krankenschwestern einen Riegel vor die Besucherzahlen und ließen nur noch meine Familie zu mir, da ich, auch wenn ich nicht ansprechbar war, Ruhe brauchte.

Eine einzige Ausnahme wurde gemacht. Jemand, der von meinem Bruder verständigt wurde, kam an meinem zweiten Abend im Krankenhaus zu mir ins Zimmer, betrachtete mich. Streichelte mir über meinen Kopf. Dann beugte er sich zu mir herunter und gab mir einen weichen Kuss auf meine Lippen.


„Weißt du eigentlich, wie sehr ich mich erschrocken habe?“

Ich lag in meinem eigenen Bett, links neben mir saß Wymbell, nur für mich sichtbar, und knabberte so unauffällig es ging an einem Keks. Auf der rechten Seite meines Bettes lag mein Freund, der sich schon wieder über mich beschwerte.

„Ja, also ehrlich, ich hätte fast glauben können, das war ein abgekartetes Spiel. Ich höre, du liegst im Koma, komm dich besuchen und kaum küss ich dich, schlägst du die Augen auf. Das is total gruselig.“

„Ach, was beim ollen Dornröschen geklappt hat, übersteigt vielleicht doch unsere moderne Medizin“, grinste ich.

Wir ließen unsere Finger miteinander spielen.

„Schatz“, flüsterte ich Tamo zu. „Es tut mir so leid, was ich dir angetan habe. Ich hätte es niemals tun dürfen. Und ich werde etwas derartiges auch nie wieder tun.“

Tamo antwortete nicht. Er streichelte meinen Handrücken. „Ich habe dir schon lange verziehen. Aber das heißt trotzdem noch nicht, dass wieder alles so ist wie vorher. Das Loch, für das du verantwortlich bist, muss erst wieder gestopft werden.“

„Ich weiß“, sagte ich traurig. „Ich werde auch mein bestes geben, um es wieder heile zu machen.“

„Du meinst, sobald ich dich erst mal wieder heile gemacht habe, was?“

„Ähm, ja, wenn es dir nichts ausmacht. Außer du möchtest dein erstes Mal als Quickie erleben, dann können wir das mit dem Loch stopfen auch jetzt schnell hinter uns bringen.

Tamo knallte mir ein Kissen ins Gesicht. Ich schrie auf:

„Au! Schmerz, du Blödmann!“

„Tja, Liebling, Dummheit tut nun mal weh.“

Ahh, ich freute mich, Tamo wieder bei mir zu haben. Sprüche dieser Art hatte ich vermisst.

„Tamo, kannst du mir mal eben meine Krücken geben?“

Ich versuchte mich aufrecht hinzustellen und krückte zu meiner Wand mit den Kalendertürchen. Wymbell flog neben mir her.

„Sam“, flüsterte sie mir zu. „In wenigen Stunden ist der 24. Dezember. Wenn ich dir einen Tipp geben darf, dann öffne doch die verbliebenen Türchen alle auf einmal.“

Ich blickte zu Tamo. Dann zu Wymbell. „Schatz, magst du mir helfen, die letzten Türchen aufzumachen?“

„Aber gern. Was ist das überhaupt für ein interessanter Kalender? Der scheint ja irgendwie nur aus Plastik oder Glas und Glühbirnen gemacht zu sein.“

Wir öffneten schnell die letzten Türchen. Für einen Moment war alles still. Dann läutete es an der Tür.

„Das ist bestimmt für uns“, sagte ich zu Tamo und wir machten uns auf den Weg zur Haustür. Ich brauchte dafür ein bisschen länger. Mein Vater hatte bereits geöffnet und wir konnten von der Treppe aus durch die Tür bis hinaus auf die Straße sehen. Dort stand eine Kutsche. Eine weiße, silbrig schimmernde Kutsche mit zwei Schimmeln vorne rangespannt. Über ihren Rücken lagen Wärmedecken. An der Tür stand jemand, der aussah wie ein männlicher Wymbell-Engel. Er trug einen langen, weiten, weißen Mantel.

„Die Herren, ihre Kutsche ist bereits vorgefahren.“ Mein Vater sah nur verwirrt drein, schüttelte dann aber den Kopf. Am besten er nahm diese ganzen wundersamen Dinge einfach hin. Tamo und ich gingen langsam zur Kutsche. Ich zwinkerte der zweiten Person, die auf dem Kutschbock saß, zu. Mein richtiger Wymbell-Engel zwinkerte zurück.

Als wir eingestiegen waren, blickten wir uns tief in die Augen. In der Ferne konnte ich Kirchturmglocken schlagen hören. Es war Mitternacht.

„Fröhliche Weihnachten, Sam!“, wisperte Tamo.

„Fröhliche Weihnachten, Tamo!“, wisperte ich zurück.

Die Kutsche setzte sich in Bewegung. Wir genossen die Aussicht, die Winterlandschaft, die an unseren Köpfen vorbeizog. Wir sprachen die ganze Zeit über kein Wort. Wir hielten uns an den Händen, schmiegten uns eng aneinander und genossen einfach nur den Moment, den wir gemeinsam hatten. Auch als die Pferde ihre Wärmedecken verloren und darunter Flügel zum Vorschein kamen, hatte keiner von uns das Bedürfnis irgendein Wort darüber zu verlieren. Und so flogen wir in den Heiligabendhimmel hinein.


Während das junge Glück sich in der Kutsche bekuschelte, grinste auf dem Kutschbock der eine Engel Wymbell zu.

„Wie ich sehe, hast du deinen Auftrag zufriedenstellend ausgeführt. Gute Arbeit, Wymbell.“

„Danke, Zymbell. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie anstrengend dieser Junge am Anfang war. Aber ich hab ihn wirklich lieb gewonnen. Aber ich hätte meinen nie erfüllen können, wenn du nicht auch an deinem so gut gearbeitet hättest.“

„Das mag wohl stimmen. Wir sind wohl die einzigen beiden Feen der Weltgeschichte, deren Aufträge unmittelbar miteinander verknüpft waren. Auch ich habe Tamo sehr lieb gewonnen und dass die beiden nun wirklich zusammen sind, freut mich ungemein.“

„Ich habe ja zwischendurch an meinem Auftrag gezweifelt. Ich dachte kurz, vielleicht bestehe meine Aufgabe darin, zu erreichen, dass Sam den Sinn von Weihnachten erfasst. Oder dass er das, was er hatte, mehr zu schätzen lernte oder irgendetwas Moralisches in der Art. Meinst du, wir sollten die beiden wirklich nur zusammen bringen?

Zymbell blickte ihr in die Augen: „Wymbell, ganz ehrlich, das ist mir so was von egal. Sieh uns an. Wir sind endlich Engel!“ und mit zwei jubelnden Engeln auf und einem Pärchen in der Kutsche vollzog diese weiter ihren weihnächtlichen Flug.

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