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Nikis Stories

Weihnachtschallenge 2013

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort der Redaktion

Liebe Leser,

die folgende Geschichte befasst sich unter anderem mit der Thematik Suizid. Dies ist ein sensibles Thema, das Nickstories.de nicht unkommentiert lassen kann und will. Deshalb haben wir uns entschieden diese Geschichten generell mit einem Vorwort zu versehen.

Für uns ist dieses Thema in Stories kein Tabu, aber wir wollen deutlich machen, dass Selbstmord mit Sicherheit kein Weg ist, um ein Problem zu lösen. Jeder, der sich in einer scheinbar aussichtslosen Lage befindet, sollte wissen, dass er Hilfe finden kann.

Wenn du jemanden kennst, der über diesen Schritt nachdenkt oder ihn geäußert hat, solltest du das nicht auf die leichte Schulter nehmen und versuchen mit dieser Person zu reden. Erst dann wird deutlich, wie ernst die Lage wirklich ist.

Wenn du über Selbstmord nachdenkst, bitten wir dich, Kontakt mit einer Hilfseinrichtung aufzunehmen, bevor du etwas tust, das für deine Freunde und deine Familie ein unwiederbringlicher Verlust sein wird.

Informationen und Notrufnummern findest du z.B. unter: www.telefonseelsorge.de

 

Nikis Stories

Dort stand es. Drüben auf der anderen Straßenseite. Völlig teilnahmslos, als würde es mich nicht bemerken. Ein Haus. Nicht besonders auffällig, weder schön noch hässlich. Einfach zweckmäßig schlicht und trotzdem modern. Doch mir stach es genauso auffällig ins Auge wie damals den zwei ausgesetzten Kindern das Pfefferkuchenhaus im Wald. Hänsel und Gretel wurden damals durch Kuchen und Zuckerzeugs angelockt. Das war bei dem Gebäude, das sich vor mir, nur wenige Meter entfernt, aufbaute zwar nicht der Fall, doch das Haus übte auf andere Weise eine unglaubliche Anziehungskraft auf mich aus. Ich sehnte mich danach durch diese Tür zu treten, mit aufrechtem Gang und ehrlichem Lächeln. Wollte das, was mich hinter diesen Mauern erwartete erkunden und ein Teil davon sein. Und zugleich besaß ich etwas, was damals die beiden Leckermäuler nicht davon abhielt ins Haus einzutreten. Angst. Ich hatte eine scheiß Angst. Was mich im Inneren des Gebäudes erwartete, rief eine nicht schwinden wollende Sehnsucht in mir hervor, doch zugleich fürchtete ich mich. Vor dem Unbekannten. Vor all den Erfahrungen und Konsequenzen, die ein Eintreten durch diese eine Tür bedeuten würden. Mich hexengleich auffressen könnten. Einmal den Weg hinein gewagt, könnte diese Entscheidung deutlich nach hinten losgehen und mein Leben ziemlich verkomplizieren. Oder zerstören, was ich für wahrscheinlicher hielt.

Ich blickte in die Fenster, als würde ich mir mit dem Haus ein Blickduell liefern. Nur nicht nachgeben. Entlocke dem Haus seine Geheimnisse. Ich verlor, denn egal wie sehr ich mich anstrengte, aus der Entfernung war es unmöglich bei den spiegelnden Scheiben auszumachen, was sich auf der anderen Seite abspielte.

Ich seuftze laut auf. Sog mit der gesamten Sehnsucht in meinem Bauch tief Luft ein. Doch plötzlich, ein Stoß und im nächsten Moment blieb mir die Luft weg. Im Vorbeigehen hatte mir jemand mit dem Ellbogen eine in den Magen verpasst. Ich krümmte mich ein wenig und fluchte auf.

"Kannst du nicht aufpassen?" Meine Worte galten dem Rempler, der sich eilig umdrehte. Und mit einem mal war mein ganzer Ärger verflogen. Mir blickte ein Junge entgegen, so zuckersüß, da hätte das Knusperhäuschen wie eine vertrocknete Zitrone gewirkt.

"Tut mir echt leid, das war keine Absicht. Ist alles in Ordnung?" und er machte einen Schritt auf mich zu und umfasste mit seiner Hand meinen Unterarm. Die Berührung war warm, entfachte in meinem Körper eine ungeahnte Hitze unter der jeder Lebkuchen der Welt in seinen Teigzustand zerflossen wäre.

"Hab ich dir weh getan?" und seine zuckerwattige Stimme nahm einen besorgten Ton an. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass seit dem Blick in seine Augen meine Atmung ausgesetzt hatte.

"War der Stoß wirklich so doll? Du bekommst keine Luft, oder? Brauchst du nen Krankenwagen?" und der Junge machte Anstalten mir auf den Rücken zu klopfen und meinen Bauch zu streicheln.

"Ok," brachte ich hervor. "Ist schon ok. Es ist nichts passiert. Ich hab mich nur ein wenig erschrocken."

Ich musste wie ein totales Weichei dastehen, das bei nem simplen Schubs schon Atemnot litt. Wie peinlich und das vor diesem Traumprinzen, der mich sicherlich vor dem feurigen Hexenofen gerettet hätte. Nun gut, bei Hänsel und Gretel kam kein Prinz vor, aber ich hätte mich auf jeden Fall von ihm retten lassen. Oder mich mit ihm in den Käfig sperren lassen. Bei dem Gedanken wurde mir warm. Ich blickte auf seine Hand, die noch immer meinen Arm umfasste. Er bemerkte es und ließ los. Dann zwinkerte er mich frech an.

"Eigentlich schade, dass ich nicht stärker an dich gerempelt bin." Ich sah ihn verwirrt an.

"Vielleicht wärst du dann sogar ohnmächtig geworden, dann hätte ich dich Mund-zu-Mund beatmet."

Und wieder diese Wärme. Die Rettung vor dem Ofen hat sich bei Hänsel und Gretel bestimmt anders angefühlt. Mir heizte dieser Junge mit seinem Lächeln und seinen Worten ziemlich ein.

Ohne meine Reaktion abzuwarten, nickte er mir grinsend zum Abschied zu und überquerte die Straße. Wo wollte er hin? Ich hab ihm noch gar nicht Tschüss gesagt. Außerdem wusste ich weder seinen Namen, noch fielen ihm Kieselsteine aus der Tasche, denen ich nur folgen müsste um immer wieder zu ihm zu finden. Ich beobachtete ihn. Kurz blickte er noch mal zu mir zurück. Unsere Blicke trafen aufeinander. Dann verschwand er durch die nächste Tür. Moment, nein, nicht irgendeine Tür. "Die" Tür. Mir war als würde mir zum wiederholten Male die Luft wegbleiben. Der Junge, dessen Gesicht in Zucker gemeiselt zu sein schien, hatte das Haus betreten, das ich schon seit mehreren Tagen immer wieder angesteuert hatte. Nervös fuhr ich mir durch die Haare. Viel dringender als jemals zuvor musste ich in dieses Haus. Wenigstens seinen Namen wollte ich wissen. Ich setzte mich in Bewegung. Ohne nach links oder rechts zu sehen, überquerte ich die Straße. Hätte ich die vielen Menschen auf der Straße registriert, die nun Zeuge werden konnten, welchen Ort ich ansteuerte, hätte mich das sofort von meinem Vorhaben abgehalten. Heil, aber von Hupen begleitet, erreichte ich die andere Straßenseite. Unbedingt wohl fühlte ich mich trotzdem nicht. War ich vorher schon nervös, so schlug mir nun das Herz bis zum Hals. Mein gesamter Körper stand unter Hochspannung. Keine angenehme, entspannende Wärme wie bei der Berühung des Zuckerjungen. Nein, kalter Strom, der meine Muskeln versteifte und jede Bewegung schwerer machte. Meine Herzschläge waren so stark als würde ein Defibrillator sie auslösen und mein Herz mit jeder Kontraktion meinen Hals hinauf schieben. Wer erfindet eigentlich solche Redewendungen? Das Herz bis zum Hals schlagen. Ich stellte mir vor, wie sich mein Herz meine Kehle hinauf schob. Kein romantisches rosa Etwas in Herzform, nein, sondern ein schleimig glänzendes Muskelfaserungetüm, dessen rötliche Oberfläche von dunkelblauen Blutadern überzogen ist. Ich hatte schon immer eine blühende Fantasie. Vor meinem inneren Auge blieb mir das Ding im Hals stecken, löste den Würgereflex aus und ich erbrach einen Klumpen Herz auf die Türschwelle. Mir wurde schlecht bei der Vorstellung. Wahrscheinlich würde es nicht mein Herz sein, aber ich konnte nicht das Risiko eingehen, dass ich diesen Jungen aufsuchte, nur um ihm meine Angt vor die Schuhe zu kotzen. Und bevor ich so recht wusste, wie mir geschah, hatten mich meine Füße weggetragen. Ganz ohne Kieselsteinspur. Dass Hänsel stolz auf mich gewesen wäre, wagte ich aber zu bezweifeln.

Küken

"Wir schreiben das Jahr 1998. Und es ist ein gutes Jahr für Schwule. Titanic läuft seit etwa nem halben Jahr im Kino und es ist noch kein Ende in Sicht. Beim diesjährigen Grand Prix hat die transgeniale Dana International den Sieg errungen und in diesem Jahr eroberte ein Wundermittel den Markt, das das sexuelle Aus mancher Männer in eine Spielverlängerung umwandelt. Ja, es ist tatsächlich ...."

Ein Kissen traf mich am Kopf und unterbrach meinen Beitrag, den ich in mein Diktiergerät sprach.

"Ey, wer war das." Ich schnappte mir das Kissen und blickte angriffslustig durch den Raum. Überall saßen ein paar Leute zu zweit oder in Gruppen beieinander. Das Attentat auf mich schien niemanden zu interessieren.

"AHA!", rief ich laut aus. Ich rannte auf Lasse zu, der alle Mühe hatte sich sein Grinsen zu verkneifen und attackierte ihn mit meiner gepolsterten Waffe. Nimm das, und das und den auch noch. Mehr Treffer waren mir nicht gegönnt. Mein Gegner entriss mir das Kissen und brachte mich mit einem Kissenschlag zu Fall. Völlig hilflos am Boden liegend, konnte ich nicht verhindern, dass Lasse sich auf mich drauf setzte, mit süßer Miene tief in meine Augen sah und mir immer wieder das Kissen ins Gesicht drückte.

"Geh runter von mir", japste ich und versuchte Lasse, der so viel größer war als ich, von mir runterzuschubsen.

Lasse grinste. "Mir gefällts hier eigentlich ganz gut. Du bist ziemlich bequem, kleines Küken. Ganz flauschig." Wieder das Kissen.

"BOK-BOK, meine Rache wird unendlich sein!", gackerte ich hervor und erntete Gelächter aus dem ganzen Raum. Die Anderen schien unsere Rangelei ziemlich zu amüsieren.

"Da wird mir ja ganz bang", lächelte Lasse. Er legte das Kissen zur Seite und presste nun meine beiden Arme auf den Boden. Dabei machte er Anstalten seine Sitzposition in eine waagrechte Lage zu bringen.

"Dann sollte ich diesen Moment vielleicht komplett auskosten, damit sich deine Rache auch lohnt." Sein Gesicht war nun ganz nah an meinem. Ich wusste, dass er nur Spaß machte. Und ich mochte Lasse. Sogar ziemlich gern. Aber das Gefühl seines Körpers auf meinem löste keine Glücksgefühle in mir aus.

"Bitte, Lasse, geh runter." Mein Herz begann zu rasen.

Er blieb davon unbeeindruckt und rieb mit seiner Nase an meiner. Erinnerungen schoben sich vor meine Augen und ließen Lasse verschwimmen.

Mit einem mal lockerte sich Lasses Griff. "Küken, hab ich dir weh getan?" Er rutschte von mir weg und strich eine Träne von meiner Wange. Ich schluchzte übertrieben, grinste ihn dann aber frech an. "Was machst du?" Mit gespielter Empörung sahen meine Kulleraugen zu ihm auf. "Ich hab mich gerade perfekt in meine Rolle begeben. Jetzt hättest du deine Rollenspiel-Fantasien so richtig ausleben können."

Lasses Gesicht erhellte sich, froh dass meine Tränen wohl wirklich nur Show waren.

"Was denn für ein Rollenspiel?"

"Na ja", setzte ich an. "Das Rollenspiel bei dem du dich an mir kleiner Person vergehst und dafür lebenslänglich in den Knast wanderst, wo dich sowohl deine Insassen, als auch die Wärter richtig hart bearbeiten mit ihren dicken ..." Das Kissen flog mir ins Gesicht.

"Übertreib mal nicht, Süßer. So viel älter bin ich nun auch nicht."

"Ich bin fünfzehn. Das bedeutet für dich..." Ich machte eine dramatische Pause um das Wort zu unterstreichen: "Untouchable."

Lasse lachte. "Touchen hab ich gerade ganz gut hinbekommen und außerdem bin ich nur drei Jahre älter als du."

"Du bist erwachsen." Wieder das Kissen.

"Mal ganz abgesehen davon, dass dir einfach mal jeder im Raum widersprechen würde bei dieser Aussage, disqualifiziert das allein wirklich schon jeden mit dir zu schmusen?" Er blickte mich fragend an.

"Natürlich nicht. Nur dich allein, Lasse. Aber wenn ichs mir genau überlege, auch ganz abgesehen von deinem Alter bist du disqualifiziert, einfach weil du Lasse bist."

Dieses Urteil schien zu schmerzen, denn Lasse fasste sich mit verzerrtem Gesicht an die Brust. Er murmelte noch etwas davon, wie er jemals ohne mich in seinem Bett glücklich werden sollte, widmete sich dann aber fröhlich ein paar anderen Leuten. Kurz zwinkerte er mir noch mal zu, dass er meinen Spruch nicht ernst aufgefasst hat. Klar, schließlich war er Lasse. Lasse war klasse. Immer gut gelaunt und zu Albernheiten aufgelegt. Das mochte ich an ihm. Und eigentlich jeder. Seine fröhlich-freche Art gepaart mit seinem Aussehen wirkten schon sehr anziehend auf so manchen.

Frech war ich auch. Nur kam es bei mir nicht so cool rüber, sondern hauptsächlich süß. Es kam nicht von ungefähr, dass ich von allen Küken genannt wurde. Ich war zum einen der Jüngste und auch wenn die Wenigsten viel älter waren als ich, so war ich definitiv der Kleinste. Ich blickte in den Spiegel hinter der Theke. Ach ja, da war ja noch was. Mir blickte das Gesicht eines Zehnjährigen entgegen. Zugegeben, hatte seine Vorteile. Mit dem Küken-Bonus wurde ich zum Beispiel immer wieder von ein paar Jungs auf ein Getränk eingeladen. Das Geld, das ich dabei sparrte, hätte ich zu gerne fürs Kino ausgegeben, aber wisst ihr wie schwierig es ist in einen Film "Ab 12 Jahren" zu kommen mit meinem Gesicht? Gerade, wenn noch ein Jahr zum Personalausweis fehlt um mein Alter nachzuweisen.

"Kissenschlacht mit Lasse", murmelte ich in mein Diktiergerät. "Aus nächster Nähe riecht Lasse irgendwie lecker. Nach Erdbeer oder so." Ich setzte kurz ab, dann fügte ich hinzu: "Flashbacks als er sich auf mich legte." Ich blickte kurz zur Seite, ob das jemand gehört hatte. Aber die anderen schienen alle beschäftigt zu sein. Ich schlenderte zum Tresen und setzte mich auf einen Barhocker. Meine Füße waren so weit vom Boden entfernt, dass ich bequem mit meinen Beinen vor und zurück schaukeln konnte und dabei mit meinen Schuhen gegen die Holzverkleidung des Tresens bollerte. Bumm-Bumm. Bumm-Bumm.

"Ein einfaches 'Ich würde gerne etwas bestellen' würde ausreichen", lächelte der Typ, der gerade Thekendienst hatte. Ich glaube er hieß Pascal. "Was kann ich dir bringen?"

Ich schaukelte weiter im Takt. "Danke, für mich grad nichts", und stützte mein Kinn auf. In dem Moment öffnete sich die Tür hinter mir. Ich sah mich um. Ein Lächeln flog über mein Gesicht.

"Oder doch", widmete ich mich wieder dem Theken-Pascal. "Die größte heiße Schokolade mit Sahne, die du mir machen kannst. Er zahlt." und ich deutete auf Janosch, der eben zur Tür hereingekommen war. Er setzte sich zu mir an den Thresen, machte aber keine Anstalten mich zu begrüßen. Die gewohnte Umarmung und das Wuscheln durch meine blonden Haare blieben aus. Stattdessen ließ er seinen Kopf auf die Theke sinken und grinste blöd in die Leere. Ich betrachtete ihn stirnrunzelnd. Inzwischen stand mein Kakao fertig vor mir. Ich nahm einen tiefen Schluck, ließ die warme Flüssigkeit von einer Wange in die nächste spülen und schluckte dann erst runter. Dann näherte ich mich Janosch mit meinen kakaobeschmierten Lippen und holte ihn in die Wirklichkeit.

Erschrocken schnellte er hoch. "Was war das?"

"Ein Schokokuss", strahlte ich ihn an. Er wischte sich über seine Wange und besah sich seine mit Schokolade beschmierte Handfläche.

"Lecker", kommentierte er. Dann sah er auf und wirkte so, als würde er mich jetzt erst registrieren. "Küken!", und er umarmte mich überschwänglich.

Ich ruderte mit Armen und Beinen in der Luft und hatte echt Angst vom Hocker zu fallen.

"Vorsicht, vorsicht. Ich wurde heute schon mal flach gelegt." Janosch schien meine Wortwahl nicht weiter zu kümmern. Stattdessen hatte er wieder diesen verträumten Blick aufgelegt und seufzte tief. "Ich hab einen Jungen getroffen", murmelte er.

Ich legte ihm meine Hand auf als hätte er Fieber. "Ja, das ist an diesem Ort auch gar nicht so schwer. Immerhin warst du es, der diesen schwulen Jugendtreff ins Leben gerufen hat, remember?"

"Nein, ich meine nicht, dass ich einen Jungen getroffen habe. Sondern dass ich einen Jungen getroffen habe."

Ich unterdrückte mein Lachen. "Ach sooo", sagte ich lang gedehnt. "Sag das doch gleich. Wie dumm von mir. Ich muss mit Verblödung gestraft worden sein. Wahrscheinlich häng ich zu viel mit Lasse rum."

"Hat hier jemand meinen Namen gerufen?" Wenn man den Esel nennt, kommt er gerennt, dachte ich mir.

"Natürlich habt ihr das, meine Fans" und er wuschelte mir durchs Haar. "Na Janosch, großer Tigerbär, wie gehts, wie stehts?" Lasse stützte sich mit einem Arm auf Janoschs Schulter.

"Lasse, halt mal deine Klappe. Janosch wollte gerade von einem Jungen erzählen."

"Was, wirklich?", Janosch geriet in helle Begeisterung.

"Wer wollte von einem Jungen erzählen?", raunte es gelangweilt an mein Ohr. Cosmo hatte sich neben mich gesetzt. Er und Nikita hatten bis eben an einem kleinen Tisch gesessen und gesellten sich nun zu uns.

"Jetzt erzähl, Janosch. Wir sind sogar komplett, sodass du nur einmal erzählen musst." Lasse hatte recht. So wie wir gerade um Janosch herumstanden war unsere Clique, die sich mit der Zeit gebildet hatte, vollständig. Natürlich verstanden wir uns auch mit anderen von den Jungs, die hier so ein und aus gingen gut oder waren mit ihnen befreundet. Aber als Gruppe waren wir fünf schon am vertrautesten miteinander. Ich kuckte durch die Runde. Jeder Einzelne dieser vier Jungs war in relativ kurzer Zeit zu einem meiner besten Freunde geworden. Es ist erst ein paar Monate her, dass ich von diesem Treff hier erfahren hatte. 'Hier" war ein kleines Cafe mit Spieleraum, in dem ein Kicker und ein Billardtisch standen. Janosch hier hatte es sich zu seinem Neujahrsvorsatz gemacht seine Idee, dieses Cafe zu einem Treffpunkt für schwule Jungs zu machen, umzusetzen. In Absprache mit dem Besitzer wurde jeder Freitag in der Woche zum Termin für den schwulen Jugendtreff ausgemacht, zu dem breit eingeladen wurde. Natürlich gab es solche Treffs, sogar im größeren Rahmen, bereits woanders in der Stadt. Bis dahin war man aber von unserem Stadtteil aus bestimmt ne Stunde unterwegs. Mit dem Cafe in der direkten Umgebung war das schon viel entspannter.

Janosch räusperte sich. "Also gut, ich war auf dem Weg zum Knusper." Ja, das Cafe heißt wirklich so. "Und kurz vor der letzten Straße hab ich ihn angerempelt."

Alle sahen ihn erwartungsvoll an. "Und dann?", fragte Nikita.

"Na ja, dann kam ich hierher."

Ich widersprach: "Nein, du kamst nicht her. Du schwebtest gerade zu hinein mit dem 'Wolke Sieben"-Express. Also, sagsagsagsag. Was war noch?"

"Nichts weiter."

Cosmo runzelte die Stirn. "Das heißt wenn du von Treffen sprichst, meinst du damit, dass du einen Jungen versehentlich mit deinem Arm getroffen hast?"

"So in etwa", murmelte Janosch.

"Ich geh eine rauchen" und Cosmo schlurfte zur Tür hinaus.

Nikita kratzte sich am Kopf. "Wie heißt er denn?"

"Ich hab ihn nicht nach seinem Namen gefragt." Janosch verzog die Mundwinkel.

"Aber du hast ihm deine Nummer gegeben?"

Janosch schüttelte den Kopf.

"Wenn du so wenig Interesse hattest, dass du nicht auf die Idee kamst ihm deine Nummer zu geben oder dich mit ihm zu unterhalten, war er dann trotzdem so spannend?"

"Ach doch, natürlich. Aber, ich weiß nicht. Mir war das einfach so peinlich, dass ich diesen total süßen Jungen angerempelt habe. Er muss mich für einen totalen Trottel halten. Und dann hab ich ihn auch noch am Arm berührt und ihm den Bauch gestreichelt. Zum Glück hat er mir nicht direkt eine reingehauen. Bei meinem Glück ist er auf jeden Fall hetero."

"Und wie sieht dein total süßer Junge aus?", fragte Lasse neugierig.

"Also erst mal Lasse: Finger weg. Und zweitens: Ach, wie ein Traum aus einem Märchen. Er hat wunderschöne, dunkle Augen und braune, mittellange Haare. Bisschen kleiner als ich und sein Gesicht ist ein wenig sonnengebräunt."

"Witzig", hörte ich Cosmos Stimme sagen. "Die Beschreibung passt zu ihm hier."

Nikita

Hätten wir unsere Clique als Film beschreiben müssen, Cosmo hätte von allen die Rolle des Antihelden verpasst bekommen. Er wirkte wie kein klassischer Bösewicht, aber er gab auch nicht gerade der Ritter in schimmernder Rüstung ab. Nein, letzteres auf keinen Fall. Statt einem gestählten Körper konnte er eher eine knochige Gestalt präsentieren, dessen Haut Sonnenlicht nur aus Legenden kannte. Seine schwarzen Haare trug er nicht zu kurz und wild abstehend. Allerdings nicht als wäre er gerade aus dem Bett aufgestanden, sondern er vermochte es seinen Haaren eine zerzauste Eleganz zu verleihen. Keine Strähne schien willkürlich zu liegen, sondern perfekt auf ihn und seine Bewegungen abgestimmt. Besonders faszinierend war sein Kleidungsstil. Er war zwar nicht besonders exerimentierfreudig was seine Farbwahl anging, ein ewiges schwarz in schwarz. Aber er peppte sein Outfit mit kuriosen Accesoires auf. Ein dunkler Rock über einer Jeans, kurze Gürtel mit Glanzoptik, die er sich um sein Bein schnürte. Sein besonderes Markenzeichen waren merkwürdige, meterlange Bänder, die er stets vom linken Handgelenk ausgehend straff um seinen Arm und teilweise über seinen Oberkörper wickelte. Mir schoß dabei immer der Begriff 'Mumie' in den Kopf. So wirkte es. Und es war mir immer schleierhaft, wie dieses Band so perfekt sitzen konnte. Egal wie er sich bewegte, seinen Arm beugte oder streckte, weder verrutschte es, noch hing irgendwo eines der Enden weg. Die Sahnehaube seiner düsteren, aber interessanten Erscheinung stellte ein Merkmal in seinem Gesicht dar. Über seine linke Gesichtshälfte trug er zwei Narben. Als hätte ihm ein Tier übers Gesicht gekratzt, verliefen sie von der Partie über seiner Augenbraue hinab bis weit unterhalb seines Wangenknochens. Vielleicht wären sie mal ausgeblichen. Feststellen kann das jedoch niemand, denn Cosmo hatte sich beide Narben in einem Tätowierladen schwarz ausmalen lassen. Ich wollte gar nicht wissen, wie lang das gedauert haben muss, ganz zu schweigen von den Schmerzen. Er selbst beteuerte immer es hätte ihn nicht mal gekitzelt.

So verwundert es wohl niemanden, dass Cosmo so manches Augenpaar auf der Straße misstrauisch oder entsetzt hinterherblickte. Den Antihelden hätte er aber nicht nur durch seine Erscheinung mimen können. In seinem Wesen vereinte er eine gewisse Portion Gleichgültigkeit mit verletzender Direktheit. Er sprach aus, was er zu sagen hatte, wie er es sagen wollte, scheinbar ohne sich Gedanken über Sensibilität oder Gefühle zu machen. Und während er dabei immer wieder Personen peinlich berührte, völlig vor den Kopf stieß oder bloß stellte, schien er vollkommen unantastbar zu sein. Jegliche Kritik prallte an ihm ab, kein Wort gegen ihn konnte ihn verärgern noch kränken. Wahrscheinlich trug er doch eine Art Rüstung, wenn auch eine nicht ganz so heroische.

Als Cosmo zum ersten Mal im Cafe Knusper auftauchte, wirkte er wie ein typischer Einzelgänger. Einer der weder mit anderen Leuten konnte, noch mit anderen Leuten wollte. Gerade auf die Jüngeren schien er eine unglaubliche Faszination auszuüben, sodass er sich wohl nie einsam in seinem Bett fühlen musste. Was trotz allem völlig nachvollziehbar war, denn wenn man von seinen Narben, an denen sich die Meinungen spalteten, absah, war Cosmo hübsch. Kein Model, einfach nur hübsch. Und ja, auch ich bin mal mit ihm in die Kiste gestiegen.

Wie es kam, dass dieser vermeintliche einsame Wolf zu einem bedeutenden Teil unseres Freundeskreises wurde, hatte viele überrascht. Und ich weiß auch gar nicht mehr, wie es genau dazu kam. Vielleicht hatte es sich einfach über längere Zeit dahin entwickelt. Vielleicht hatte er auch einfach nur irgendwann beschlossen, dass der einsame Wolf ein Rudel brauchte und hatte uns erwählt. Wir Glücklichen. Und nein, kein Sarkasmus. Mit all seinen Ecken, Kanten und den beiden Narben war Cosmo doch jemand mit dem Herz am rechten Fleck. Er war einer der besten Zuhörer bei Problemen und wenn er sich einmal für jemanden entschieden hatte, dann stand er zu einem. Er war nie nachtragend. Nach einem Streit war auch keine Aussprache nötig um sich aussöhnen zu können. Und wenn einer von uns mal Hilfe benötigte, dann war es für ihn selbstverständlich zu helfen. Auch wenn das bedeutete irgendwelchen homohoben Typen, die in der Überzahl waren, eine Lektion zu erteilen. Das hätten sich diese Idioten damals nicht zu träumen gewagt von einer 'Vampir-Schwuchtel', wie sie ihn bezeichnet hatten, eine ordentliche Abreibung zu bekommen.

Typisch für Cosmo war auch, dass er für unangenehme Momente sorgen konnte, was ihn dann aber völlig kalt ließ. So auch jetzt, als er mit diesem Jungen zur Tür eintrat. Und ich hatte mich nicht geirrt. So wie Janosch ihn beschrieben hatte, wusste ich, dass es sich um den Jungen handeln musste, der schon letzte Woche vor dem Cafe herumschlich. Ich musterte den Neuen kurz und blickte dann zu Janosch. Sein Mund stand ein wenig offen und seine Augen etwas geweitet, als hätte er einen Geist gesehen. Wahrscheinlich zermarterte er sich gerade sein Hirn darüber wie viel sein Schwarm von dem Gespräch von eben mitbekommen hatte. Dabei hatte Janosch kaum etwas erzählt. Das war so ein Merkmal von ihm. Er konnte gut reden, war ziemlich intelligent und versprühte Charme und Witz. Aber wenn es um persönliches ging und sei es, dass er nun gerade in einen Jungen reingelaufen war und sich direkt unsterblich verliebt hatte, dann war ihm das ganz total unangenehm. Was ich einfach nicht verstehen konnte, denn schließlich waren wir alle richtig eng befreundet. Janosch hätte uns allen ohne Probleme vorschwärmen können. Na gut, fast allen. Bei Lasse musste er wohl mit dem einen oder anderen Kommentar rechnen. Janoschs Schweigsamkeit konnte eigentlich auch nicht an seinem Ego liegen. Jemand wie er hatte alles Recht der Welt auf ein gesundes Selbstwertgefühl. Und nicht nur, weil er diesen Treff ins Leben gerufen hatte. Janosch war eine Maschine. In der Schule schrieb er nur die besten Noten, er arbeitete nebenbei in nem Laden an der Kasse und zusätzlich griff er allen, die mit irgendwas Hilfe brauchten unter die Arme. Jeder hier, der zum Jugendtreff ins Cafe Knusper ging, konnte sich mit seinen Problemen an ihn wenden. Dabei brachte Janosch allen immer wahnsinnig großes Verständnis und Geduld entgegen, fand immer die richtigen aufmunternden Worte und selbst für die auswegloseste Situation eine Lösung. Kein Wunder, dass sich alle hier beim Teff wohl fühlten. Seine heitere Ausstrahlung, der lockere Umgang mit allen und seine Fürsorge machten ihn zu einer Art unerschütterlichen, großen Bruder. Mit dem Vergleich traf ich vielleicht sogar genau ins Schwarze, denn soweit ich weiß, und ich krieg wirklich viel mit, hatte sich Janosch bisher mit noch niemandem im Treff vergnügt. Dabei gab es so einige, die ein Auge auf ihn geworfen hatten. Er war wie der perfekte Schwiegersohn. Das personifizierte Heiratsmaterial. Sein Lächeln fühlte sich an wie eine Wärmflasche, warm und wohltuend. Und das süße Leuchten in seinen Augen ließ einen alle Sorgen vergessen. Zumindest ging es mir schon immer so. Schon vom ersten Moment an, als ich Janosch kennen gelernt hatte, war ich über beide Ohren verliebt. Ich weiß nicht, ob er das damals gemerkt hatte, aber auch wenn ich versucht habe so viel Zeit mit ihm zu verbringen wie nur möglich, hatte er nie Anstalten gemacht sich mir mehr als nur freundschaftlich zu nähern. Mich überkam dabei, da er meine Gefühle nicht erwiderte, eine so große Verzweiflung, dass ich versucht hatte herauszufinden, wer seinem Typ entsprach, um mir dann alles anzueignen, was nötig war um diesen Kriterien zu entsprechen. Zu meiner Verteidigung, ich war noch etwas jünger.

Und so fragte ich ihn ab und an beiläufig: "Wie wärs mit dem da, der da am Eingang steht?"

Belustigtes Kopfschütteln von Janosch.

"Und wäre der einer, der dir den Kopf verdreht? Oder der da, mit dem dicken Pulli an?"

Janosch streichelte mir über den Rücken: "Ich glaub mein Typ ist einer, der freitags nicht kann."

Dieses Ratespiel hatte ich ihm ziemlich oft aufgebürdet, bis er mir einmal sagte: "Weißt du, ich bin keiner, der mit jemandem zusammen kommt, weil er ihn ganz nett und süß findet und mal sehen will, was sich dabei entwickeln kann. Ich möchte auch nicht immer wieder aufs Neue feststellen, dass es mal wieder nicht mehr reicht. Nein, stattdessen will ich mich einfach richtig verlieben. So sehr verlieben, wie es die wenigsten von uns tun. Sodass mein Verstand total benebelt wird, weil ich mit meinem Kopf in Wolke Sieben stecke und ich nur noch mit verträumten Blick herumlaufe, weil er genau das sein soll. Ein Traum. Ein wahrgewordener Traum, den man niemals zu Ende träumen möchte. Und sollte mal ein böses Erwachen drohen, dann möchte ich meine Augen nur noch fester zukneifen. Denn ich möchte kein Ende mit Schrecken. Möchte keinen Albtraum als letzten Eindruck, der all die vorherigen, traumhaft schönen Momente mit seinem Schatten überzieht und in Dunkelheit hüllt um dann in der harten Wirklichkeit aufzuwachen. Nein, ich möchte alles daran setzen den Traum weiterhin lebendig zu halten und lang genug schlummern um das Happy End zu erleben." Wie gebannt hatte ich damals seinen Worten gelauscht. Janoschs Traumstunde. Vielleicht hatte ich nicht alles genau verstanden, was er sagen wollte, aber eines war mir auf jeden Fall klar. Ich konnte nicht daran arbeiten, dass Janosch sich in mich verliebte. Und ganz ehrlich wollte ich das auch nicht. Ich wollte nicht, dass er, der ein so liebenswerter Mensch ist, dem man alles Glück der Welt wünscht, sich mit weniger zufrieden geben muss als einer Person, die seine Liebe auf den ersten Blick entfachte. Und als mir dieser Gedanke kam, freute ich mich ganz ehrlich auf den Moment, bei dem ich miterleben durfte, wenn Janoschs Traum Wirklichkeit werden sollte. Dieser Moment schien nun durch die Tür geschwebt zu sein in Gestalt dieses Jungen, der mit geröteten Wangen und unsicherem Blick in die Runde sah. 'Träum süß, Janosch', dachte ich.

Cosmo

Da will ich nur eben eine rauchen und schon hab ich meine gute Tat des Tages vollbracht. Diese Knutschkugel sah aber auch zu gequält aus. Ich war sofort im Bilde. Kleiner schwuler Junge mit dem sehnlichen Wunsch andere Typen kennen zu lernen, dabei aber vor lauter Angst die Beine nicht außeinander kriegt. Und so wie der da an der Häuserwand klebte, hab ich einfach mal vermutet, dass es der Kleine ist, der Janosch in diesen Trancezustand gebracht hat. Alter, wie soll dann erst der Sex bei den beiden ablaufen? Na ja, nicht lang rumgefackelt und ich hab ihn mir geschnappt und tadah, hab ich unserem Knuddel-Janosch seinen neuen Kameraden zum Schmusen auf nem Silberteller serviert. Hätte nur noch der Apfel im Mund gefehlt. Na ja, wobei ich dem Neuen ja gern was anderes in den Mund geschoben hätte. Aber hey, Freundschaft ist mir hoch und heilig. Und wenn mein Bester Janosch ihn zuerst gesehen hat, dann lass ich da aber ganz fix meine Finger von.

Muss ihn ja echt erwischt haben. Komischer Kerl, unser Janosch. Wirklich komisch. Noch nie hat er einem von den Boys hier auch nur auf den Arsch gekuckt und nun läuft er in diesen Jungen und ihm fallen sofort Herzchen ausm Kopf. Wobei die Anderen den Süßen hier auch ziemlich interessiert mustern. Lasse sowieso. Lasse ist ja fast genauso umtriebig wie ich, was die Jungs angeht. Unser Sunnyboy. Immer am lachen, immer Quatsch im Kopf. Aber nett, das auf jeden Fall. Einfach zum lieb haben. Na gut, vielleicht manchmal n wenig begriffsstutzig. Will nich sagen doof. Nein, das auf keinen Fall. Ach, is wahrscheinlich sowieso nur seine Masche. Humor, ja, schreibt er ja immer ganz groß. Und das is nich das Einzige, was bei unserm Lasse groß ist. Ich bin ja echt nich oft passiv, aber bei Lasse musste ich einfach ne Ausnahme machen. War schon ganz nice, wie er mich da rangenommen hatte mit seinem Teil. Und danach wollte er noch ganz süß kuscheln. Hätte ich ihm ja nicht zugetraut. Na ja, wobei, doch. Klar, Lasse istn Kuscheltyp. Hab ihn auch machen lassen. Mach meine Leute ja gern glücklich, wenns in meiner Macht steht. Und Lasse ist klasse. Der hats verdient glücklich zu sein. Nur bei seinem nächsten Glück kann ich ihm nicht helfen. Ey, jeder Baum, der noch alle Äste am Stamm hat, sieht, dass Lasse total hinter unserem Nesthäkchen her ist. Da kann er noch so cool und lässig tun. Die Blicke, die er Küken manchmal zuwirft, die kann er nicht abstellen. Kann er einfach nicht. Hab ihn schon ein paar mal dabei erwischt. Hat er nur nie bemerkt. Na gut, bin ich mal ganz ehrlich, dann hat Niki mich erst drauf aufmerksam machen müssen. Hat vor sich hin gegrinst und ich wollte wissen was los is. Vorn paar Wochen war das. Nikita is gut bei sowas. Sieht alles, hört alles. Könnte wahrscheinlich ma ne mega Karriere beim KGB hinlegen. Unser Sensibelchen. Meint er kommt damit klar, mit dem allen. Dass Lasse Gefühle für Küken hat. Fakt is aber auch, dass sich Nikita noch immer von Lasse vögeln lässt. Hat er mir eben erzählt. Als Lasse da grad auf Kükens Bauch rumrutschte, haben Niki und ich kurz drüber gesprochen. Ich glaub Lasse checkt das gar nicht. Armer Niki, hat aber auch echt kein Glück. Nun gut, aber in mich war Niki nich verliebt. Fand mich nur aufregend, wie ja viele. Aber nach ein paar mal ficken und den ersten Gesprächen merken die meisten, dass ich kein Kandidat zum verlieben bin und suchen dann das Weite. Oha, warum denk ich mir grad das musste in den Ohren von anderen total traurig geklungen haben? Und wieso hab ich noch meine Kippe in der Hand? Ah stimmt ja, ich war ja gar nich qualmen. Hab ja nur Lieferservice gespielt. Na ja, später. Die ersten Gehversuche hier von Janosch und Babyface möchte ich nich verpassen. Was Niki wohl grad denkt? Der schaut wie weggebeamt Janosch an. Hoffentlich kommt er etz nich auch noch auf den Trichter was von Janosch zu wollen. Herzschmerz wegen Lasse reicht bereits total. Sieht Nikita eigentlich blasser aus als sonst? Oha, macht er ja mir fast schon Konkurrenz. Bald nimmt sein Teint die Farbe seiner Haare an. Die sind aber auch was besonderes. Nikitas Haare sind schneeweiß. Ohne scheiß. Zusammen mit seinen kristallklaren blauen Augen und diesen weichen Gesichtszügen sieht er aus wie ein Engel. Das oder Lucious Malfoy. Na gut, aber der Name würde hier niemandem was sagen. Son Charakter aus nem Zaubererbuch. Hat von meinen Leuten hier wahrscheinlich niemand gelesen. Aber ich fands nice. Mal sehen, obs da ne Fortsetzung gibt. Weiß man ja immer nich so genau. Wenn die Kasse nicht klingelt, kann sone Schreibfee noch so kreativ sein. Dann wird sie abgesägt. Aber vielleicht hat diese Autorin da ja Glück und die Verkaufszahlen reichen für nen zweiten Band. Wo war ich eigentlich grad? Ach ja, Niki. Frag mich ja, ob Küken nich vielleicht was für ihn wär? Dann könnte er einmal dem ollen Lasse eins auswischen. Nur zum Spaß, nich weil ers verdient hat. Is ja n feiner Kerl der Lasse und niemand zwingt Niki sich von ihm knallen zu lassen. Eigentlich wär das ganz süß. Niki is auch nur ein Jahr älter als Küken und auch nich viel größer. Außerdem sehen beide aus, als wären sie ausm Kindergarten getürmt. Aber ich weiß nich. Bei Küken is das kompliziert. Einmal hab ich ihn mit nach Hause genommen. Gefickt aber nicht. Trotzdem warsn heftiger Abend. Die Anderen wissen nich, dass nichts gelaufen is. Aber die kennen ja mich. Und alle denken deshalb, dass ich Küken ordentlich gerupft hab. Scheint ihn aber nicht weiter zu stören und dann solls mir auch egal sein. Die Hauptsache is Küken gehts gut. Is ja auch schon wieder am Schokolade schlürfen. Vielleicht sollte ich meine Sucht auch befriedigen. Kommt aber wahrscheinlich ein bisschen komisch, wenn ich gerade irgendwen nach Sex frage. Dann also doch eine rauchen. Auf den neusten Stand dieser Soapoper komm ich auch später noch.

Janosch

Ich wusste nicht, ob ich Cosmo um den Hals fallen oder ihn erwürgen sollte. Aber dank ihm stand nun dieser bezaubernde Junge im Raum. Mein Herz begann wie wild zu schlagen, sodass der Boden begann zu vibrieren. Bilder fielen von der Wand und die Gläser im Regal begannen zu klirren.

Na gut, das war nun vielleicht ein wenig übertrieben, das passierte natürlich nicht. Aber mein Herzklopfen war trotzdem ziemlich heftig. Ich fragte mich nur, wie viel er gerade von meinen Schwärmereien mitbekommen hatte. War aber auch so ganz typisch Cosmo, der es schaffte vom einen Moment zum nächsten ne Bombe platzen zu lassen. Und, ja, natürlich. Der feine Herr geht rauchen. Dampft ab, nachdem er hier diesen peinlichen Moment herbeigeführt hat. Stand eigentlich mein Mund gerade ein wenig offen? Schnell schloss ich ihn und sah mich kurz um. Nikita lächelte mich an. Er schien mir sagen zu wollen: 'Schnapp ihn dir, Tigerbär.'

"Hallo Schönheit. Aus welchem Himmel bist du denn gefallen?" Lasse, natürlich.

"Ich bin Lasse und wie heißt du?"

Zögernd nahm der Junge Lasses ausgestreckte Hand entgegen. "Milan."

Milan. Was für ein traumhafter Name. Milan. Vor meinem inneren Auge flog mein verliebtes Seelenselbst, von mächtigen Schwingen getragen, durch luftige Höhen und schrieb den Namen mit Wolken in den Himmel.

"Nun, schön, dass du hier bist, Milan. Wenn du magst, führe ich dich einfach ein bisschen herum und erzähl dir einfach alles, was du wissen musst", und mit diesen Worten schob Lasse Milan vor sich her. Für einen Moment schien Milan ein wenig Hilfe suchend in meine Richtung zu blicken, aber der Eindruck konnte auch täuschen.

Da spürte ich einen Klaps auf meinen Hinterkopf. Ich drehte mich verdutzt um. Küken hielt eine zusammen gerollte Zeitung in Händen.

"Au, was soll das?"

"Was soll das? Was soll DAS? Du überlässt Lasse kampflos das Feld?"

"Nein, ich ... Ich meine was redest du da? Lasse will nur höflich sein und heißt den Jungen hier bei uns willkommen."

Wir sahen in ihre Richtung. "Und hier gibt es übrigens Gratis-Kondome, wenn es uns beide, äh, ich meine dich mal überkommen sollte." In Milans Gesicht stand eine Spur von Panik geschrieben, was Lasse nicht bemerkte. Ungeniert griff er in das Bonbonglas mit Kondom-Packs und, ich glaubte es nicht, schob es Milan in seine hintere Hosentasche.

"Ja sicher", schmatzte Küken, der sich mittlerweile die dritte Schokolade schmecken ließ. "Und dazu bekommt er einen Begrüßungs-Fick obendrauf. Wie überaus höflich unser Lasse doch ist." Mit diesen Worten sprang Küken vom Barhocker.

"Ähm, bezahlst du später?", fragte Pascal eilig.

"Ne, schreibs auf Janoschs Bierdeckel."

Ich sah den kleinen Frechdachs empört an. "Ich habe keinen Bierdeckel."

"Jetzt schon", Küken zwinkerte mir zu. "Sieh es als Bezahlung an."

Bevor ich nachfragen konnte, 'Bezahlung wofür' war Küken in Richtung Toiletten verschwunden. Was mir Küken aber eigentlich sagen wollte, traf wahrscheinlich zu. Ich war ein Idiot. Zumindest in solchen Situationen. Dafür, dass ich sonst immer der erwachsen wirkende Gruppengründer war, den manche hier anhimmelten, war ich unglaublich überfordert wenn es um Gefühlsdinge ging.

"Hey!" Wieder ein Schlag auf meinen Hinterkopf. Die Zeitung hatte den Besitzer gewechselt. Nikita sah mich böse an.

"Was machst du?", fragte er empört?

"Was mach ich denn?"

"Ja, eben, du machst nichts. War Milan nich bis eben noch dein Märchenprinz? So wird aber nichts aus dem Happily Ever After."

Vielleicht ja doch. Nur war nicht ich für die Rolle des Prinz Charming auserwählt sondern Lasse. "Ich versteh gar nicht, was ihr habt. Erstens, wenn das ganze hier wen aufregen sollte, dann wäre ich das. Und zweitens, Milan ist erst seit gefühlten fünf Sekunden im Cafe Knusper und schon soll ich ihn als mein Territorium markieren? Lasse ist ein freier Mensch und kann flirten mit wem er möchte. Und wir wissen ja noch gar nichts über Milan. Vielleicht bin ich ja gar nicht sein Typ." Nikita holte mit der Zeitung aus.

"Vielleicht ist ja auch Lasse nicht sein Typ." Wieder ein Schlag von Nikita.

"Wenn Milan übrigens die ganze Zeit noch vor dem Haus stand und erst Cosmo ihn nötigen musste mit hineinzukommen, dann ist er mit Sicherheit nicht geoutet und erst mal total überfordert. Da wird er nicht direkt mit der ersten Person, die ihm ein Kondom zugesteckt hat, durchbrennen."

Ein wiederholtes mal setzte Nikita zum Schlag an, überlegte es sich dann aber anders und legte die Zeitung zur Seite. Ich spürte wie Nikita seine Arme um mich legte. Leise flüsterte er mir ins Ohr: "Du bist echt ein Lieber."

Für einen Moment verharrten wir in der Position, wobei Nikita mit seiner Nase über meine Wange streichelte. Und für den Moment vergaß ich meine Nervosität. Machte mir keine Sorgen, wie ich mich Milan annähern konnte und ob die Lassifizierung nicht vielleicht schon so weit fortgeschritten war, dass es keine Chance mehr auf ein Heilmittel gab. Ein Pfeifen durchschnitt die Stille. Mein Blick wanderte zur Seite. Auf der anderen Seite des Raumes zog Küken sämtliche Blicke auf sich. Oberkörperfrei stand er da und hielt ein patschnasses Shirt in seinen Händen.

"Da war ich wohl zu doof zum Händewaschen." Er schenkte mir ein freches Grinsen. Dann wandte er sich an Lasse. "La-hase?" Küken hatte es echt drauf einen weinerlichen Ton anzuschlagen. "Kannsu ...kannsu mir helfen? Du hast doch bestimmt was für mich zum drüberziehen. Weil sonst werd ich ja ganz krank, wenn ich hier so nackig dastehe." Küken schob seine Unterlippe nach vorne. Fast tat mir Lasse schon leid, der sich zwingen musste Kükens Körper nicht allzu auffällig anzustarren. "Klar, Küken. Ich ...ich such eben meinen Rucksack." Zu allem Überfluss streichelte sich Küken nun über seine nackte Haut, verrieb ein paar einzelne Wassertropfen, die auf seinem Körper glitzerten. "Beeil dich, Hase. Damit sich dein Küken wieder ganz flauschig-wohl fühlen kann."

In der Zischenzeit war Nikita aufgesprungen und hatte Milan an die Hand genommen.

"Hey", sagte Niki freundlich. "Ist alles klar bei dir?"

Milan nickte zögernd, entschloss sich dann aber doch für vehementes Kopfschütteln. "Ich bin grad ziemlich überfordert", lächelte er entschuldigend. Süß wie rot er im Gesicht wurde.

"Ich versteh dich", sprach Nikita einfühlsam und bat Milan ihm zu folgen.

"Hier, setz dich. Das ist Janosch." Milan und ich sahen uns in die Augen. Wieder fielen Bilder von der Wand.

"Wenn du mal ein Problem hast, dann ist er genau der richtige Ansprechpartner für dich. Janosch hat das alles hier möglich gemacht." Möglich gemacht? Ich hatte ein Gespräch geführt und einen Einladungsflyer geschrieben. Ich fand Nikita übertrieb. Aber nett.

"Du wirst bestimmt ein Auge darauf haben, dass sich Milan bei uns wohl fühlt, nicht wahr, Tigerbär?"

Wirklich, mit dem hoffnungsvollen Blick und dem Lächeln fehlten bei Nikita nur noch die Engelsflügel um das Bild perfekt abzurunden. Ich hätte ihn gerade am liebsten küssen können. Ein letzter Schulterklopfer und Nikita wanderte zu unserem halbnackten Freund. Er knöpfte sein Hemd, das er über seinem Shirt trug, auf und half Küken hinein. Beim Anblick von Lasses griesgrämigen Gesicht prusteten beide los.

"Jaaa", sprach ich gedehnt. "Dann auch noch mal ein freundliches Hallo von mir und willkommen beim Jugendtreff im Cafe Knusper." Ich entschuldigte mich für Lasses Aufdringlichkeit und erzählte Milan noch mal in Ruhe alles, was er so wissen musste. Dass hier einfach offener Cafe-Betrieb war und sich freitags aber Jungs hier treffen konnten. Grundsätzlich konnte dabei jeder machen, worauf er Lust hatte, manchmal gab es aber ein Freizeitangebot, zu dem sich jeder eingeladen fühlen durfte. Mal war es gemeinsam kochen, einen Film kucken oder eine Runde Werwolf spielen. Wenn man schon mal die Möglichkeit hatte in einer so großen Runde zu spielen, dann war es eine Schande das nicht zu nutzen.

Wir unterhielten uns eine ganze Weile und ich beantwortete freundlich alle seine Fragen. Dabei merkte ich, dass Milan tatsächlich noch sehr vorsichtig war, was sein eigenes Schwulsein anging. Er hatte bisher keine anderen schwulen Freunde, war nicht geoutet und obwohl er trotzdem schon seit längerem mit dem Gedanken gespielt hatte zum Jugendtreff zu kommen, hielten ihn seine, von Vorurteilen geprägten Horrorvorstellungen davon ab.

"Ich mein, du weißt bestimmt, was ich meine. Wenn man jemanden sieht, der offensichtlich schwul ist, dann sind das ja immer die super femininen. Die komisch reden und mit denen man sich kaum auf die Straße traut, weil einen alle anstarren. Aber ich bin ganz froh, dass ihr ganz normal seid."

Ich schenkte ihm einen langen, nachdenklichen Blick. Dann erhob ich mich.

"Spielst du gern Kicker?"

Wir gingen in den Nebenraum, wo ich richtig vermutete, dass die üblichen Verdächtigen dort anzutreffen wären.

"Hey Jungs", ich begrüßte die Beiden am Kicker herzlich. "Milan, darf ich dir Dustin und Kay vorstellen?" Ich sah Milans irritieren Blick, als ihm zwei klischeebeladene gebrochene Handgelenke entgegengestreckt wurden.

"Haai Milan", hauchte Dustin. "Neu hier?"

"Äh, ja", gab Milan unsicher zurück.

Ich konnte verstehen, wenn er sich gerade unwohl fühlte, aber da musste er durch. Es war völlig verständlich, dass Milan, wenn sein gesamtes Wissen über Schwule aus dem Fernsehen und von blöden Sprüchen stammte, nicht besonders heiß darauf war sich mit Jungs, bei denen es keinen Unterschied gemacht hätte, wenn sie mit einem Schild bekleidet wären auf dem in knalligen Buchstaben in Regenbogenfarben gestanden hätte 'I love boys'. Aber das hieß weder, dass es in Ordnung war, noch dass seine Meinung unerveränderbar war.

"Na, was meint ihr, Jungs? Habt ihr Lust auf ein Zwei gegen Zwei?"

"Oh, eine Herausforderung." Dustin fuchtelte gespielt empört mit seiner Hand durch die Luft.

Kay schnippste hingegen vor unseren Augen herum. "Dann lasst uns mal sehen, ob ihr Süßen es auch bringt."

Sie waren ein bisschen schräg, aber ich war von den beiden total begeistert. Dustin war, wenn man die sonstigen Besucher des Cafes betrachtete, ein Koloss. Er trug blau gefärbte Strähnen im Haar, einen kleinen Piercing im rechten Mundwinkel und ausgefranste Ringelhandschuhe, aus denen seine Finger herausschauten. In den meisten Fällen lag man nicht falsch, wenn man Dustin als Dramaqueen bezeichnete. Er konnte manchmal ziemlich aufbrausend sein, je nichtiger der Grund, umso lauter wurde seine Stimme. Aber am Ende hatten sich alle auch immer wieder lieb. Kay war etwas kleiner als Dustin und der wohl hibbeligste Mensch, den ich kannte. Ich unterhielt mich gern mit ihm, musste mich aber immer schon im Vorfeld darauf einstimmen, dass er im selben Gespräch von einem Thema ins nächste rutschte, sodass er zehn Erzählungen begonnen hat ohne irgendwo auf den Punkt zu komen.

Während der Ball über die Platte rollte und Milan und ich verzweifelt versuchten uns gegen die beiden Kickerprofis zu behaupten, entschied ich mich ein Gespräch anzustoßen.

"Und, Dustin, wie geht es dir so?"

Dustin feuerte den Ball gefährlich nah in Richtung unseres Tors. "Wenn du versuchst meine Konzentration durch deine 'Wir wickeln euch in ein Gespräch ein'-Ablenkungstaktik zu schwächen, muss ich dich enttäuschen. Mit verbundenen Augen würde ich zehn von deiner Sorte schaffen, Süßer."

"Sprichst du gerade vom kickern?", grinste ich verschämt. Dustin wieherte laut auf. "Aber natürlich rede ich von nichts anderem als von Bällen, Zustoßen, Einlochen und dem ganzen Pipapo." Treffer. Milan entschuldigte sich. "Ich hab dir gesagt, dass ich hinten schlecht bin."

Ich konnte in Kays Gesicht regelrecht lesen, dass ihm ein böser Spruch auf der Zunge lag. Sowas wie 'Dann sollte vielleicht Janosch dir zeigen, wie gut er von hinten ist' oder so. Aber dankbarerweise schonte er unseren Neuling. Durch ein Lächeln gab Kay zu verstehen, dass er sich gerade genau denken konnte, was mir durch den Kopf ging. Das oder er freute sich über das zweite Tor der beiden.

"Na ja, mir gehts jedenfalls ganz gut. Danke, dass du fragst."

"Wie läuft dein Projekt?"

"Ziemlich gut, ziemlich gut. Danke. Ich habe nun ein zweites Krankenhaus angefragt und die wollen mich. Muss nur sehen, wie ich zeitlich alles abdecken kann. Aber dafür gibt es Lösungen. Ich hab auch überlegt zu expandieren."

Kay stieß Dustin in die Seite. "Du expandierst doch schon seit Jahren."

Künstlich beleidigt reckte Dustin die Nase in die Luft. "Nur kein Neid. Es können eben nicht alle meine Rundungen ....VERDAMMT!" Milan und ich strahlten uns an. Wir hatten tatsächlich ein Tor geschossen. Dustin maulte Kay an, dass er sich gefälligst auf das Spiel konzentrieren sollte, statt sich mit seinem Blick an Dustins Körper zu vergehen.

"Dustin hat vor ein paar Wochen ein Projekt angestoßen", erklärte ich Milan, während der Ball nur als weißer Schemen zu erkennen war. Wenn Dustin nicht mehr zu Null gewinnen konnte, hörte bei ihm der Spaß auf. "Besucht Kinder, die im Krankenhaus liegen und liest ihnen Geschichten vor, um ihre Langeweile zu vertreiben und ihnen ein bisschen Gesellschaft zu leisten."

"Oh, das klingt nach ner tollen Sache."

Dustin winkte ab. Das heißt, er hätte, hätte er eine Hand frei gehabt. "Ach, das ist nichts besonderes. Das könnte jeder. Aber so simpel das ganze ist, es hat einen enormenEffekt. Manche von den Kindern sind echt traurig, wenn sie allein in ihrem Zimmer sitzen. Erwerbstätige Eltern haben ja auch nicht rund um die Uhr Zeit ihre Kleinen zu besuchen. Und dann kommt der gute Dustin vorbei und erzählt ihnen was schönes."

"Du erzählst ja nicht nur", stimmte Kay mit ein. "Du setzt dich richtig in Szene. Dustin schenkt jeder Figur in den Geschichten immer ganz eigene Stimmen und gibt sich voll viel Mühe die Geschichte so lebendig zu erzählen wie es nur geht. Manchmal hat er dann sogar kleine Requisiten oder sowas dabei, die er dann auf dem Nachttisch aufbaut und womit er und die Kiddis dann parallel die Geschichte nachspielen. Du hast dir da schon echt was ganz tolles einfallen lassen."

Dustin strich sich eine nicht vorhandene Träne aus seinen Augen. "Aww, danke meine Fans. Ich bin zutiefst gerührt. Autogramme erhaltet ihr dann Backstage in meiner Umkleide." Mit etwas mehr Ernst in der Stimme führte er dann fort: "Ja, danke, ich weiß ja, dass es schon was besonderes ist. Und die Idee hat auch noch ziemlich Potenzial. Vielleicht mach ich daraus nen Verein und hol mir Mitglieder dazu, die das ganze dann unterstützen. Und ich hab mir überlegt nicht nur Kindern, die auf Station liegen etwas Freude zu bereiten, sondern auch irgendwie an die ranzukommen, die zu Besuch ins Krankenhaus müssen. Zum Glück sind es ja in den meisten Fällen keine Katastrophen, aber neulich ist mir ein Kind begegnet, dessen Vater im Sterben liegt. Dem hätte ich durch eine Geschichte zu gern für ein paar Momente die Angst vertrieben."

"Die beiden sind nett", meinte Milan. Wir hatten das Spiel sang- und klanglos verloren und auf eine Revange verzichtet.

"Sicher? Das sind doch beides mega Tunten."

Milan verzog schuldbewusst das Gesicht. "Janosch, ich bin nicht dumm. Ich weiß, was du mir damit sagen möchtest."

"Was möchte ich denn sagen?"

"Dass auch nicht-normale Schwule nett sein können." Ich holte mit der Zeitung, die ich an diesem Tag schon oft genug zu spüren bekommen hatte aus und knuffte Milan ganz leicht auf den Kopf.

"Was ist denn eigentlich normal? Sieh dich mal um. Egal wie wir sprechen, uns artikulieren oder anziehen, wir stehen alle auf Jungs. Und da bringt es nichts zu denken es gäbe welche von uns, die sind normaler als andere. Jeder ist halt, wie er ist. Trotzdem sind Dustin und Kay nicht schwuler als du und ich. Wenn du Jungs süß findest, wenn du mit nem Jungen schläfst, dann sind das die 100 Prozent und die könntest du jedem von uns auf die Stirn tätowieren."

Eindringlicher wollte ich mit ihm darüber aber in diesem Moment nicht sprechen. Wie gesagt, für ihn war gerade alles neu und ich wollte ihn nicht für seine Vorurteile verurteilen. Die Zeit würde ihm schon beibringen, dass er sich mit Dustin oder Kay genauso auf der Straße zeigen können sollte, wie mit mir.

"Pascal, gibst du uns noch zwei Getränke?" Der nickte uns zu. "Ich lad dich ein", sagte ich an Milan gewandt.

"Soll das dann auch einfach auf deinen Bierdeckel?"

Ich nickte. "Ist es ok, wenn ich den ein anderes mal bezahle? Ich hab jetzt nicht so viel Geld dabei."

"Aber natürlich, Janosch. Bei wem wäre es denn ok, wenn nicht bei dir?" Wenn Pascal wüsste, wie falsch er damit eigentlich lag.

Milan

An diesem ersten Tag wusste ich wirklich nicht wo mir der Kopf stand. Ich war geflasht von der Atmosphäre und der lockeren und aufgeschlossenen Art der Leute. Der oberkörperfreie Teenie mit seinen fünfzehn Jahren, der von allen nur Küken genannt wurde. Und bis heute hatte ich noch von keinem seinen richtigen Namen verraten bekommen. Nikita, dessen gesamte Ausstrahlung so einfühlsam und vertrauenserweckend war, dass man ihm vom ersten Moment an am liebsten alle Geheimnisse der Welt anvertraut hätte. Cosmo war natürlich mega cool, auch wenn ich an diesem Tag nur kurz vor der Tür Kontakt zu ihm hatte. Lasse hätte vielleicht ein bischen gezügelter mit mir flirten können, aber ich fand ihn zumindest nicht unangenehm. Wenn es so gewesen wäre, hätten sich wahrscheinlich auch ein paar Dinge anders entwickelt. Und Janosch, ... Ja, Janosch. Ich hatte schon so oft über ihn nachgedacht und darüber, was alles seit diesem Tag passiert war. In meinem Kopf machte es irgendwie keinen Sinn. Andererseits schien so, wie sich nun alles ergeben hatte, jeder glücklich zu sein. Oder? War ich glücklich? Ich blickte auf meine Hand, die von einer anderen gehalten wurde. Auf der Straße war ich damit noch vorsichtig, aber hier im Cafe Knusper fand ich Händchen halten einfach nur schön.

"Na, bist du in Gedanken?" Ich blickte auf und sah der Perrson, die meine Hand hielt in die Augen. Lasse schenkte mir ein Lächeln. "Was geht dir durch deinen süßen Kopf?"

"Ach, ich hab nur eben an den Tag gedacht, als wir uns zum ersten mal begegnet waren."

"Du meinst als du mit einem Kondom zwischen den Zähnen den Raum betratst und mir deine Liebe gestanden hattest?"

"Ich glaub du wirst alt, ich hab das ganze ein bisschen anders in Erinerung. War da nicht eher was mit dir und einem nackten Minderjährigen?" Bevor wir das Thema jedoch weiter ausbreiten konnten, wurde die Tür aufgestoßen.

"Dich hab ich ja schon ewig nicht mehr gesehen", rief Lasse herüber. "Hey Nikita, setz dich zu uns."

Der Junge mit den weißen Haaren sah zu uns rüber, schien kurz zu überlegen und näherte sich dann doch unserem Tisch. Ich umarmte ihn zur Begrüßung. Sehr innig drückte er meinen Körper an seinen, als würde er mich nicht mehr loslassen wollen.

"Hey Niki, ist alles ok?"

Er ignorierte meine Frage mit einem Lächeln. "Habt ihr Küken gesehen?"

Wir mussten beide verneinen. In einer anderen Zeit hätten wir ihm geraten Küken einfach eine SMS zu schreiben oder ihn zumindest anzurufen. Aber Handys, Internet und Co waren erst im Vormarsch. Der Einzige unserer Clique, der ein Handy besaß, war Cosmo. Weiß der Geier woher er das Geld für diese neuzeitliche Technik hatte.

Wenn ich zurückdenke, wie schwierig es für die meisten zu der Zeit war andere Jungs zu treffen, überkommt mich immer eine unglaubliche Dankbarkeit, dass ich in jungen Jahren die Möglichkeit hatte so tolle Freunde zu finden beim Jugendtreff. Natürlich, wir befanden uns nicht im Mittelalter, aber die 90er Jahre waren eben auch noch nicht so ein Paradies wie heutzutage. Dbna beispielsweise gab es seit nem Jahr, bestand aber nur aus Aufklärungsartikeln und Nachrichten. Die Option durch Profilerstellung und ein Nachrichtensystem andere Jungs zu daten, existierte noch nicht und selbst wenn, wer hatte schon Internet daheim? Wenn sich das überhaupt als Internet bezeichnen ließ, was beim Einloggen die Telefonleitung blockierte und tausend Jahre Ladezeit brauchte, wenn man einmal am Tag seine Emails abrufen wollte.

Für einen kurzen Moment flackerte Enttäuschung in Nikitas Gesicht auf. Dann lachte er kurz. "Na ja, wäre auch nicht so wichtig gewesen. Habt ihr beiden mal noch einen schönen Tag", und Nikita machte Anstalten zu gehen.

"Dir auch, Niki. Sehen wir uns morgen?", lächelte Lasse.

"Morgen?", fragte Nikita verunsichert.

"Na ja, du weißt schon. Morgen. Morgen ist der erste Dezember und wir wollten alle gemeinsam auf den Weihnachtsmarkt gehen. Haben zwar noch nicht alle gefragt, aber ich wüsste nicht, was dagegen spricht, dass wir mal wieder zu sechst was unternehmen. Ist schon ein wenig länger her, dass wir mal komplett waren. Das wird bestimmt toll. Du gehörst übrigens zu denen, die wir in letzter Zeit ziemlich vermisst haben. Man sieht dich kaum noch."

Jetzt wo Lasse es sagte, fiel es mir auch auf. "Ja, das stimmt. Was machst du denn freitags so? Hast du einen Jungen, den du vor uns verheimlichst? Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Bring ihn doch ruhig mit. Lasse leg ich in der Zeit an die Leine." Mein Freund und ich lächelten uns an. Wir merkwürdig das klang. Mein Freund und ich. So ganz hatte ich mich noch nicht daran gewöhnt.

Ich sah Nikita in die Augen. Er hatte immer ein so hoffnungsvolles Strahlen in seinen Augen. Verglichen damit verblassten selbst die Sterne.

"Weihnachtsmarkt klingt toll", jauchzte er und winkte uns zum Abschied. Er griff schon nach der Türklinke, da tat er etwas merkwürdiges. Er ließ seine Hand ganz langsam sinken, kam noch mal zu uns zurück und drückte uns. Erst Lasse, ganz fest und innig und danach mich. Dabei hauchte er jedem von uns einen leichten Kuss auf die Wange. Noch bevor wir uns einen Reim auf sein Verhalten machen konnten, war er zur Tür verschwunden.

"Niki hing wirklich längere Zeit nicht mehr mit uns herum, oder?" Lasse nickte.

"Ja, aber erst seit ein paar Wochen. Vielleicht hat er einfach bischen Stess in der Schule oder so."

Ich überlegte. "Sag mal, meinst du es könnte was damit zu tun haben, dass wir nun zusammen sind?"

"Quatsch, wie kommst du denn darauf?"

"Na ja, Nikita war mal in dich verschossen."

Lasse riss die Augen auf. "Quatsch, wie kommst du denn darauf?"

"Du wiederholst dich. Und außerdem bist du manchmal echt bescheuert. Natürlich war Nikita in dich verliebt. Das konnte so gut wie jeder sehen. Selbst Cosmo ist das nicht entgangen."

"Also Cosmos Worten würde ich ja schon grundsätzlich erst mal kritisch gegenüber stehen. Der beschwört bei sich zu Hause doch bestimmt auch Geister und kommuniziert mit Toten. Was der sieht, hört oder auch nicht, dafür würde ich meine Hand erst mal nicht ins Feuer legen. Könntest du eigentlich beschwören, dass du schon mal Cosmos Spiegelbild gesehen hast?"

Ich musste mir ein ungewolltes Lachen verkneifen.

"Ich würde mir wegen Nikita keine Sorgen machen. Und bei irgendwelchen Problemen haut er doch bestimmt seine Mafia-Verwandschaft an, die das Problem löst. Oder mit Zement an den Füßen im nächsten See versenkt."

Wahrscheinlich hatte mein Freund recht. Schließlich hatte ja jeder von uns noch sein eigenes Leben. Klar, dass nicht immer alle aufeinander hängen konnten. Momentan war es ja insgesamt ein bisschen schwierig. Ich kannte meine Freunde aus dem Knusper nun etwas über ein halbes Jahr. Die erste Zeit war unglaublich aufregend gewesen. Ich lernte viele echt tolle Leute kennen. Aber am meisten hing ich immer noch mit Janosch und seinen Freunden herum. Ich fühlte mich unendlich wohl, mit jedem Einzelnen der Fünf. Selbst mit Cosmo. Auch wenn es manchmal echt merkwürdige Momente zwischen uns gab. Einmal bot er mir völlig nebenbei an: "Milan, wenn du mal jemanden brauchst, fühl dich frei dich an mich zu wenden. Ich fick dich gern, wenn ich dir damit einen Gefallen tun kann." Wie in einem Film hatte ich natürlich genau in dem Moment gerade einen Schluck trinken wollten und prustete ihn im hohen Bogen in Lasses Gesicht. "Von dir vollgespritzt zu werden, hatte ich mir irgendwie anders vorgestellt", murmelte der nur.

Mit Lasse und Cosmo in der Clique und ihren provokanten, mal witzigen, mal aber auch völlig unangebrachten Kommentaren, waren Niki und Küken ein angenehmer Ausgleich. Mit ihnen war es einfach immer unkompliziert und lustig, ganz ohne sexuelle Spannungen. Wobei ich wahrscheinlich zu keinem der beiden 'Nein' gesagt hätte. Und mit Janosch war sowieso alles pefekt. Wir kamen uns mit jedem Tag immer näher. Es hätte wahrscheinlich nicht besser sein können. Erster Kuss, erstes Mal, Verliebtheit in jeder Zelle meines Körpers. Und dann kam alles irgendwie ein bisschen anders. Aus Janosch und mir wurde kein Paar. Und als wäre er derjenige, der alles zusammen gehalten hatte, wurden die Unternehmungen zu sechst immer seltener. Es gab keinen offenen Streit, doch wir beide wussten, dass es für mich nicht leicht war ihn zu sehen, sodass seine Präsenz distanzierter wurde. Bis er nur noch sporadisch im Knusper erschien. Küken und Niki machten ein wenig ihr eigenes Ding und waren wenn, dann nur im Doppelpack anzutreffen. Niemand wusste, ob die beiden was miteinander hatten, auch wenn sich jeder gewünscht hätte den süßen Moment live mitzuerleben, wo die beiden sich küssen würden. Cosmo war sowieso ein Streuner, der mal überall, mal nirgends war. Wie ein Phantom war er mal wochenlang nicht erreichbar, nur um dann aus dem Nichts wieder aufzutauchen, als wäre er nie weggewesen. Und so blieben nur noch Lasse und ich übrig. Egal in welcher Konstellation wir unterwegs waren oder im Knusper saßen, Lasse und ich waren immer da. Und so war es auch keine Überraschung, dass uns irgendwann mehr verband als eine normale Freundschaft.

Ich schmiegte mein Gesicht an Lasses Schulter und ließ meinen Blick durchs Cafe schweifen. In diesem halben Jahr waren viele Gesichter gekommen und gegangen. Manche kamen relativ regelmäßig, andere ein paar mal und dann nie wieder. Tamo, Cedric, Robin. Namen und Gesichter wuselten durch meinen Kopf. Dass der Kontakt über das Knupser hinaus länger anhielt war selten, machte die Freundschaften, die die Ausnahme der Regel waren dafür nur umso wertvoller.

"Meinst du die anderen kommen morgen?", flüsterte ich Lasse zu.

"Aber klar, wer würde sich denn entgehen lassen mit uns beiden Süßen einen schönen Abend zu verbringen?" Er gab mir einen Kuss auf die Stirn.

"Meinst du Janosch kommt auch?"

Lasse nickte. "Selbstverständlich."

Aneinander gekuschelt beobachteten wir die anderen Jungs im Cafe, während aus den Boxen 'Flugzeuge im Bauch' erklang. Irgendwann erkannte ich durch den Blick aus dem Fenster, dass es angefangen hatte zu schneien. Der erste Schnee. So konnte Morgen gar nicht anders als perfekt werden. Bestimmt würden alle beim Marktbesuch dabei sein. Ich konnte mich gar nicht mehr irren.

Nikita

Er ließ seinen Blick ruhig über die Landschaft, die in zartes Weiß getaucht war, schweifen. Noch war es natürlich zu früh, als dass die schneebedeckten Flächen mehr waren als graue Schatten. Doch bald würden die ersten Sonnentrahlen am Horizont die weiße Pracht wie einen geheimnisvollen Schatz in Licht tauchen. Darauf würde er warten und er wollte den Moment auf keinen Fall verpassen, wenn die Sonne sich empor hob und die wärmenden Strahlen die Kälte vertreiben würden. Völlig gelassen saß Nikita in der Dunkelheit. 'Schade, dass ich Küken gestern nicht mehr gesehen hatte', dachte er sich. Aber vielleicht war das auch gut so. Das vermochte Nikita in dem Moment nicht zu sagen. Leise pfiff er eine Melodie. Obwohl er die Nacht nicht geschlafen hatte, fühlte er sich munter. Munter und gelassen. Zum ersten mal seit langer Zeit überkam ihn eine innere Ruhe. Er schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, konnte er die ersten Strahlen ausmachen. Er lächelte. Als die Sonne immer höher stieg und ihm lachend ins Gesicht schien, rappelte Nikita sich auf und lachte zurück. Empfing sie mit offenen Armen und streckte diese hoch über seinen Kopf. So stand er da als wäre er der König der Welt. Für diesen Moment. Dann stieß er sich ab. Mit ausgebreiteten Armen sprang er barfuß in die Umarmung der kalten Morgenluft. Und wie schon so oft fehlten dem weißhaarigen Jungen mit dem Engelsgesicht nur die Flügel, um das Bild abzurunden. Um 7.25 Uhr am 1.Dezember 1998 prallte Nikita nach einem Sprung vom Dach eines sechszehnstöckigen Hochhauses auf dem Asphalt auf.

Lasse

"Bitte, etwas fester."

Der Wunsch meines Freunde war mir Befehl. Ich streichelte über die weiche Haut seines Rückens, der sich vor mir streckte, während ich mein Becken vor und zurück schob. Ganz sanft zog ich ihn an den Haaren, sodass er den Kopf in den Nacken legte und lustvoll aufstöhnte. Ich liebte es mit Sex in den Tag zu starten. Sanft gab ich Milan einen Kuss auf die Wange, als unsere morgendliche Runde beendet war. Knapp zwei Monate waren wir nun zusammen was meinen persönlichen Rekord um Längen schlug. Es war schön mit Milan. Unkompliziert.

Beim Frühstücken ließen wir uns so richtig Zeit. Ich weiß nicht, warum er heute die Schule schwänzen wollte, aber Milan war alt genug. Und wenn jeder Morgen mit ihm so geil startete wie heute, durfte er meinetwegen die Schule getrost sausen.

"Was hast du heute eigentlich vor?", fragte er mich, während er sein Müsli löffelte.

"Das weißt du doch? Ich werde einen wunderschönen Tag mit meinem Freund und unserer gesamten Chaostruppe auf dem Weihnachtsmarkt verbringen."

"Das meinte ich ja auch nicht. Also ich müsste ja eigentlich in die Schule. Was für Termine stehen bei dir an?"

Keine Ahnung, warum er damit gerade kam. Schon öfter hatte Milan mit seinen Fragen versucht herauszufinden, was ich den ganzen Tag über machte. Ich hielt nichts davon ihn anzulügen. Also tischte ich ihm keine Geschichten davon auf, dass ich irgendeine Form der Ausbildung genoss oder gar arbeiten ging. Die Wahrheit wollte ich ihm aber auch nicht sagen. Sicher, alle Welt würde nun sagen 'Was? Aber wenn nicht deinem Freund, wem denn dann? Vertrauen, Liebe und der ganze Scheiß', aber ich war nicht alle Welt. Und ich zog es vor seinen Fragen immer wieder auszuweichen, denn würde ich auch nur ein Stück darauf eingehen, müsste ich eine Tür öffnen, die ich schon seit geraumer Zeit verschlossen hielt. Und ich hatte nicht den Wunsch irgendwen eintreten zu lassen. Na gut, Nikita hatte mich mal in einem schwachen Moment erwischt. Oder vielleicht einfach seinen durchdringenden Blick aufgesetzt, der einen dazu bringt ihm alles zu sagen, was er wissen mochte. Aber einmal war keinmal ud ich hatte nicht vor diese Ausnahme zu wiederholen. Also machte ich das, was ich am besten konnte. Ich alberte herum. Ich erhob meine Hand und versiegelte damit einen imaginären Reißverschluss an meinem Mund. Dazu noch das passende Schloss, gab es schließlich zu so nem Mundverschluss immer gratis dazu. Also presste ich meine beiden Lippen fest aufeinander und warf den vermeintlichen Schlüssel in Milans Müslischüssel. Sein Blick wanderte stirnrunzelnd auf die milchige Oberfläche.

"Du willst mir also nicht auf meine Frage antworten?", gab er mürrisch zurück. Begeistert klatschte ich in die Hände. An meinem Freund ist wahrhaftig ein Hellseher verloren gegangen. Ich beugte mich den Tisch und bat um einen Kuss. Er drückte mir seine Lippen auf den Mund, ließ aber schnell wieder davon ab, als er merkte, dass seine Zunge keinen Einlass erhielt.

"Was ist denn los?" Empört pustete er eine Strähne aus seinem Gesicht. Ich hingegen klatschte mir die flache Hand vor die Stirn und rollte mit den Augen. Ein schneller Griff in die Müslischüssel, bisschen herumwühlen und: Tadahh, ich hatte den Schlüssel wieder.

Milan sah mich fassungslos an, wie ein Zombie, der sich gleich wutentbrannt auf mich stürzen würde um mich zu fressen.

"Das ist jetzt nicht dein Ernst."

"Was soll ich denn machen? Kannst du ein verriegeltes Schloss allein mit den Kräften deines Mundes öffnen?"

"Ich versteh einfach nicht, warum es so ein Problem ist mir eine vernünftige Antwort auf die Frage zu geben, was du so machst. Du gehst nicht zur Schule, du arbeitest nicht. Gehst du denn keiner Tätigkeit hinterher?"

"Natürlich. Ich bin ein 24/7-Beziehungspartner. Ohne bezahlten Urlaub oder Raucherpausen. Dass ich nicht rauche tut jetzt nichts zur Sache. Freu dich doch über jede kostbare Minute, die ich dir schenke."

Milan seufzte. "Vergiss es einfach."

Hatte ich vorhin unkompliziert gesagt? Das klang gerade gar nicht danach. Vielleicht hätte ich in dem Moment einfach kein weiteres Wort mehr sagen sollen. Vielleicht spielte es aber auch gar keine Rolle mehr. Ich machte jedenfalls noch ein weiteres mal den Mund auf und schon verblasste unser wunderschöner Morgen mit zwei Runden Sex und leckerem Brunch und mutierte zu einem blöden Streit. Grundsatzdiskussionen über den Sinn einer Beziehung, über Kommunikation und Vertrauen. Hätte ich nur diesen verdammten Schlüssel nie aus der Milch gefischt.

Es endete damit, dass er frühzeitig meine Wohnung verließ. Ob er noch mit zum Weihnachtsmarkt käme? Das wüsste er jetzt noch nicht. Auf die Frage wohin er jetzt gehe, bekam ich nur das Zuknallen der Tür zu hören.

Klasse, Lasse. Hast du wieder toll hinbekommen. Ich blickte auf die Uhr. Für Weihnachtsmarkt wars noch zu früh. Und außerdem, hatte doch eh niemand fest zugesagt bisher. Seufzend beschloss ich dennoch mir meine Jacke zu schnappen und loszuziehen. Vielleicht war ja schon jemand im Knusper und wenn nicht, auch gut. Bisschen Gedanken sortieren bei nem Kaffee konnte mir auch ganz gut tun.

"Hey, Pat!", begrüßte ich den Typen, der hinter der Theke stand. "Machst du mir nen Kaffee?"

Ich lümmelte mich in eine Ecke. Tatsächlich noch nichts los. Ich starrte aus dem Fenster. Jemand räusperte sich hinter mir. Das ging aber schnell. Ich wollte Pat gerade danken, konnte aber keine Tasse in seinen Händen entdecken. Fragend erhob ich meinen Kopf. Und als ich ihm in die Augen blickte, geschah etwas, was Leute sonst wahrscheinlich nur unter viel, viel Drogeneinfluss erlebten. Als würde ein Teil meines Bewusstseins meinen Körper verlassen, sah ich die gesamte Szenerie aus einer anderen Perspektive. Als würde ich irgendwo unter der Decke schweben. Zugleich sah ich aber nicht nur mich, der verwirrt zu Pat hoch sah. Ich sah Janosch, der im selben Moment bei sich daheim das Telefon abhob. Sah Cosmo in seiner Wohnung, während im Hintergrund das Radio lief. Küken saß in seinem Klassenzimmer, als sich eine Durchsage des Direktors ankündige. Und ich sah Milan an einer Haustür klingeln mit dem Plan den Freund, der hier wohnte zu überraschen, sobald er von der Schule zurückkehrte. Cosmo hielt einen Moment inne und lauschte. In seinem Mundwinkel steckte eine Zigarette. Ich spürte wie Pat seine Hand auf meine Schulter legte. In Kükens Klassenzimmer war kein einziges Geräusch zu vernehmen außer die nach Worten ringende Stimme des Direktors. Janosch hielt den Hörer in seiner Hand. Noch ganz ruhig und fest. Doch als würde sich der Hörer aus seinem Griff befreien wollen, begann seine Hand zu zittern. Aus der Gegensprechanlage konnte Milan erst nur ein Schluchzen vernehmen. Wie die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm. Dann, als hätte ein Donnergrollen, das unsere Herzen erschütterte den Startschuss gegeben, brach eine Sinflut aus Emotionen über uns alle herein. Ein Tisch krachte auf den Boden des Klassenzimmers, als Küken gequält aufschrie. Er ergriff seinen Stuhl, rannte durchs Zimmer und ließ ihn hart gegen die Tafel prallen. Der Telefonhörer schüttelte Janoschs Hand durch, leitete die Bewegung über den Arm in den gesamten Körper. Während der Hörer auf den Boden fiel und an der gekringelten Telefonschnur durch die Luft baumelte, klappte Janosch, wie eine Marionette, die von ihrem Spielkreuz getrennt wurde, in sich zusammen. Die Stimme der Mutter wurde immer wieder von unterdrückten Heulkrämpfen unterbrochen, doch auch ohne alle Worte zu verstehen, konnte Milan sich den Zusammenhang zusammen reimen. Tränen liefen seine Wangen hinab und er stimmte in die Weinlaute aus der Sprechanlage mit ein. Pats Worte drangen an mein Ohr, doch sie ergaben keinen Sinn. Angestrengt sah ich auf seine Lippen und hoffte inständig die Bewegungen würden nicht mit den Lauten übereinstimmen, wie bei einem schlecht synchronisierten Film. Cosmos Mundwinkel verlor den Halt über die Zigarette. Völlig apathisch beobachtete er wie sich die Glut in seinen Teppich fraß. Und dann senkte sich eine Stille über uns, die fast noch grausamer war als der Zorn der Ungläubigkeit. Im Kreis seiner Mitschüler kniete Küken auf dem Boden und vergrub heulend sein Gesicht in seinen Händen. Milan rannte, so schnell ihn seine Beine trugen. Die Welt um ihn verschwamm, wurde zu unscharfen Farbflecken. Geräusche verschmolzen zu einer dumpfen, monotonen Masse, die schließlich keinen Zugang mehr zu seinem Gehirn hatte. Auf seinem ziellosen Weg stolperte er, verlor sein Gleichgewicht und brach auf offener Straße zusamen. Vor seinem Badezimmerspiegel stützte sich Cosmo auf sein Waschbecken, blickte in diese, mit Ringen so dunkel wie Gebirgsschluchten untermauerten Augen und presste die Zähne aufeinander. Sein Versuch war zwecklos und er erbrach sich keuchend, von tiefer Trauer ergriffen. Janosch hatte die Augen geschlossen. Er saß auf dem Flurboden und spürte eine unglaubliche Müdigkeit über ihn hereinbrechen. Er wollte nur noch schlafen. Schlafen und nicht mehr aufwachen. Meine Augen hingegen waren geweitet. Pats Hand ruhte noch immer auf meiner Schulter. "Wo bleibt nun mein Kaffee?", drang eine gebrochene Stimme aus meiner Kehle.

Der innere Sturm würde noch lange in uns weiter wüten, doch nachdem er sich in diesen ersten, den schrecklichsten Momenten mit aller Gewalt entladen und tiefe Verzweiflung hinterlassen hatte, senkte sich Ruhe herab. Wie ein sanfter Hauch, der uns zwar keinen Trost spenden konnte, aber uns eindringlich zuraunte, was wir alle nicht wahrhaben wollten. Unser Freund Nikita war tot.

Janosch

Ich rührte in meiner Tasse herum. Seit Tagen trank ich nichts anderes als Tee. Einerseits, weil ich so der kalten Jahreszeit den Einzug in meinen Körper verwehrte. Andererseits, weil die flüssige Wärme es schaffte mich zu beruhigen. Und Ruhe war das, was ich am dringendsten benötigte.

Ich blickte in die Runde meiner Freunde. Wir waren alle zu Nikitas Beerdigung erschienen, lösten uns während der ergreifenden Zeremonie in unseren Tränen auf, als wären wir nur noch ein Schatten unseres Selbst. Für Küken schien es besonders schwer zu sein. Er sprach die ganze Zeit über kein Wort, doch seine aufgequollenen Augen, die dunklen Ringe darunter und seine eingefallenen Wangen sprachen Bände. Er hatte wohl die letzten Tage, seit wir die Neuigkeit erhalten hatten, kaum etwas gegessen.

Der Anblick von Niki in seinem Sarg machte seine Verfassung nicht besser. Mitten während der Worte der Pastorin sprang er von seinem Platz und rannte auf den Körper in der Kiste zu. Er umschlag ihn mit seinen Armen und war kaum mehr von ihm zu trennen. Die Szene rührte sämtliche anderen Trauergäste zutiefst. Cosmo und Lasse mussten mit vereinten Kräften Küken von unserem toten Freund lösen.

Der Rest der Beerdigung zog an mir vorbei ohne, dass ich den Moment genau realisieren konnte. Ich glaube es ging uns allen so, dass wir noch nicht fassen konnten, dass unser kleiner Engel auf einmal nicht mehr bei uns sein konnte. Erst als der Sarg langsam in die tiefe Dunkelheit heruntergelassen wurde, traf mich die Szenerie mit einem Schlag wieder und in meinem Kopf wiederholte ich immer und immer wieder: 'Er ist nicht mehr bei uns.'

Wir zogen es vor bei der anschließenden Trauerfeier nicht anwesend zu sein. Natürlich sprachen wir Nikis Eltern unser Beileid aus, aber da sie wussten, wie nah wir ihrem Sohn standen, hatten sie vollstes Verständnis, wenn wir lieber für uns sein wollten. Ins Knusper wollte niemand von uns, zu leicht hätten unsere Erinnerungen den lachenden und süßen Nikita uns vor Augen geholt. Stattdessen gingen wir zu Küken nach Hause. Einerseits, weil niemand Küken alleine nach Hause gehen lassen wollte, andererseits, weil wir bei einem von uns daheim ungestört miteinander kuscheln und uns noch mal gegenseitig trösten konnten.

"Ich vermiss ihn so", wimmerte Küken. Milan streichelte ihm über den Kopf.

Es war ein schöner Moment gemeinsam beieinander zu liegen und uns gegenseitig zu streicheln. Andererseits war es ziemlich ungewohnt Milan wieder so nah zu sein. Seit dem Tag, an dem ich ein ziemlicher Dummkopf war, war die Vertrautheit zwischen uns verschwunden. Was logisch war, aber auch unendlich schade und ich bedauerte jeden Tag, dass es sich zwischen uns beiden so entwickelt hatte.

Ruhe hatte sich über uns gesenkt, als wir in Kükens Zimmer miteinander kuschelten. Und während es langsam immer dunkler wurde und nur ganz selten ein Schluchzen von Küken zu vernehmen war, wusste ich nicht, was den anderen durch den Kopf ging. Aber ich fragte mich verzweifelt, was in Niki vorgegangen sein muss, dass er diesen Schritt getan hatte. Er war immer ein fröhlicher Junge gewesen und ein guter Freund. In unserem kleinen Kreis gab es immer wieder Streitereien, gerade zwischen Lasse und Cosmo und auch Küken konnte ein ziemlicher Dickkopf sein. Aber Niki war immer wie eine strahlend weiße Fahne, die uns heiter zuwinkte. Ihm konnte keiner böse sein. Was konnte ihm einen solchen Kummer bereiten, dass er so aus unserem Leben trat? Es machte keinen Sinn. Es machte verdammt noch mal keinen Sinn. Ich vergrub mein Gesicht in Cosmos Pullover, während irgendein Arm mich fest umfaste. Hatten wir ihn vernachlässigt? Hatte ich ihn vernachlässigt? Es stimmte schon, unsere Gruppe war mal inniger. Es gab eine Zeit, da saßen wir, quasi wie gerade in diesem Moment, nur aufeinander. Aber dann kam die Sache mit mir und Milan, dann kamen Milan und Lasse zur Sache und irgendwo drifteten wir wohl ein bisschen auseinander. Nicht so, dass Freundschaften zerbrochen wären. Lasse war nach wie vor mein Freund und ich hoffte Milan ebenso. Aber es hatte sich trotzdem etwas zwischen uns geschoben, wodurch die Treffen zu sechst immer seltener wurden. War Nikita dabei irgendwie zu kurz gekommen? Ich hatte das eigentlich nicht so im Gefühl. Ich meine, es war ja auch noch gar nicht lange her, da hatten wir gemeinsam mit ihm seinen Geburtstag gefeiert. An den Abend konnte ich mich noch ziemlich gut erinnern. Ach was sag ich, dieser Abend würde wohl niemals in Vergessenheit geraten. Dafür war ein Moment viel zu intensiv. Und zu schön. Es war Anfang Oktober, die Zeit in der es stark danach aussah, dass Milan und ich ganz bald offiziell zusammen kommen würden. Niemand hätte da geahnt, dass es nicht der Anfang, sondern das Ende von Milan und mir sein sollte.

"Ich komm mir so lächerlich vor." Milan griff miesmutig an seinem Kostüm herum. Ich lächelte ihm ermunternd zu.

"Du trägst doch schon den Namen eines Vogels, da solltest du dich doch so ganz wohl fühlen."

"Vögel tragen keine Strumpfhosen. Und ich trage auch keine Strumpfhosen."

Ich streichelte meinem 'Freund-Freund' über seinen Hintern. "Fühlt sich anders an." Ich wich seiner Hand aus.

"Haha, meinst du wirklich du hättest eine Chance gegen mich? Ich bin Batman." und stolz plusterte ich mich auf, präsentierte das gelbe Emblem auf meiner kostümierten Brust und warf mein Cape theatralisch um meine Schulter.

"Batman istn alter Sack. Robin dagegen ist ein junger Hüpfer."

"Pass nur auf, dass ich dich nich gleich zum hüpfen bringe", lächelte ich und schmiegte mich von hinten an den Körper meines Freund... ähh, 'Fast-Freundes'. Ach, irgendwie nervte diese Vorsilbe.

Für einen Moment streichelte Milan mit seiner Hand über meine Wange, während mein Mund sich in seinen Hals festbiss. Dann flüsterte er neckisch: "Du weißt, dass Robin wie ein Sohn für Batman ist, ja?"

"Inzest hält mich nicht ab", brummte ich und leckte weiter über die weiche Haut meines kostümierten Rotkehlchens.

Milan hustete gekünstelt. "Ähm, Dad, aber du weißt, dass Robin erst sechzehn Jahre alt ist?"

"Willst du mir Pädophilie anhängen? Ich bin nicht viel älter als der echte Robin", und ich rieb mein Becken an Milan.

"Wie stehts mit Nekrophilie? Ich könnte auch den zweiten Robin darstellen und der is nämlich gestorben."

Ich hielt inne. "Was? Die haben nen süßen Teenie-Superhelden sterben lassen?"

Ich drehte Milan zu mir. "Aber ich werde nicht zulassen, dass meinem Milan das gleiche grausame Schicksal zuteil wird, wie Robin. Ich werde dich beschützen mit meinem Leben."

In dem Moment öffnete sich die Tür.

"HALT!", schrie ich, und hab dabei wohl selbst den größten Schreck bekommen. Ich nahm eine Kampfposition ein, die den Lächerlichkeitsfaktor, den mein Batman-Kostüm allein schon mit sich brachte, um einiges vergrößerte und blickte nun mit erhobenen Fäusten in das Gesicht eines Engels. Eines wahrhaftigen Engels. Er trug schneeweiße Schwingen und ein goldenes Gewand, das mit edlen Mustern bestickt war.

"Vorsicht, großer, schwarzer Mann. Ich habe eine Harfe, geladen und entsichert und ich weiß sie zu benutzen", und der Engel schien mit seinem Instrument auf mich zu zielen. Ich ließ meine Arme sinken. "Glaubst du echt du hättest eine Chance gegen mich? Du hast ja nen Vogel."

"Nein, den Vogel hast du", säuselte Milan neben mir, schlang seine Arme um mich und gab mir einen Kuss. "Deinen ganz persönlichen kleinen Vogel. Also starr ja nicht noch mal auf fremde Flügel." Milan zwinkerte mir zu.

Wir trotteten Nikita hinterher. Er erklärte uns, dass irgendwas mit der Klingel nicht funktionierte und er deswegen all die Etagen runterrennen musste, um seinen Gästen zu öffnen. Günstigerweise war auch der Fahrstuhl außer Betrieb.

"Na, Bats, kannst du nicht einfach nen Batarang werfen und uns mit nem Seil in den zweiundfünfzigsten Stock katapultieren?"

"Na ganz so weit oben wohn ich nun auch nicht", maulte Nikita. "Machst du etwa schon schlapp, Vögelchen?"

"Ja, trag mich", flehte Milan. Niki kicherte und stieg weiter die endloslangen Stufen hoch. Dabei bemerkte ich, dass Niki einen ziemlich heißen Hintern hatte. Vielleicht lag es aber auch nur am Kostüm.

"Heißer Gang", grinste ich.

Nikita drehte mir seinen Kopf zu. "Ja, hab ich toll hinbekommen, dass meine Flügel Glitzer abgeben, nich wahr?" Sein Gesicht strahlte vor Freude und er wackelte ein wenig mit seinem Hintern hin und her. Da bemerkte ich jetzt erst, dass tatsächlich ganz leicht silbriges Glitzer seine Schwingen herunterrieselte. Milan und ich lächelten uns an. Unser Freund war schon ein süßer Kerl. Wie passend, dass er seinen Geburtstag zu einer Halloweenparty gemacht hatte unter dem Motto "Süßes und nichts Saures". Dass Lasse noch Tage später, nachdem er seine Einladung bekommen hatte, rumscherzte mit "Und was ist mit Salziges?" war so vorhersehbar.

In der Wohnung angekommen, bemerkten wir, dass wir nicht die ersten waren. Küken sprang uns freudig entgegen und machte durch sein Kostüm seinem Spitznamen alle Ehre.

"Na, wer bin ich? Werbinichwerbinich, WER BIN ICH?", rief er aufgeregt und auf der Stelle zappelnd.

Milan musterte das hopsende Etwas. "Wer auch immer du bist, die Party ist nicht groß genug für zwei Vögel. Es kann nur einen Hahn im Korb geben."

Küken kicherte. Natürlich wussten wir alle, wen er darstellte. Er trug ein schwarzes Federkleid, das ziemlich eng an seinem Körper anlag und auf seinem Kopf trug er eine überdimensionale, plüschige Eierschale.

"Wird Calimero nun dein neuer Spitzname?", grinste ich.

"Neeein", sprach der kleine Piepmatz gedehnt. "Ich mag weiter euer Küken sein. Nur heute Nacht bin ich das Küken aus Palermo!" und er begann begeistert den Introsong der Kinderserie zu singen.

"Cosmo, wo ist dein Kstüm?" Natürlich wirkte es jeden Tag so als würde Cosmo Halloween feiern. Aber gerade deshalb hätte ich mir heute etwas ganz besonderes von ihm erwartet.

Ich wartete auf eine Antwort, doch Cosmo winkte nur lässig ab und damit schien er meine Frage hinfort gefegt zu haben, chancenlos sie jemals beantworten zu können.

"Imhotep", raunte es da auf einmal in den Raum. "Imhotep!"

Langsam wankte eine Gestalt ins Zimmer herein. Sie hatte ihre Arme von sich gestreckt und kam nun auf mich zu, bereit mich zu erwürgen.

"Lasse, wie klasse. Die Schminke in deinem Gesicht sieht ziemlich krass nach Vewesung aus. Ich will gar nicht wissen, wie viel Bettlaken du für dein Outfit zerreißen musstest."

Der blonde Engel kam herbei geschwebt und zupfte an den Stoffstreifen: "Trägst du eigentlich was drunter?"

Lasse ließ seinen Kopf ruckartig zur Seite schnellen. "Da drunter verbirgt sich mehr als dein himmlischer Hintern vertragen kann."

'Halleluhja', dachte ich mir im Stillen. Als wüsste nicht das halbe Knusper über Lasses Riesenapparat Bescheid.

"Was warn das eigentlich gerade für ein Begriff, den du da gestöhnt hast? Der Name deines letzten Lovers?", rief Cosmo herüber.

"Nein, du Grufti-Langweiler. Das is der Name von so nem ägyptischen Hohepriester. Und zu dem gibts nächstes Jahr nen Mumienfilm. Hab schon ein paar Infos vorab dazu gelesen und ich glaub der wird richtig gut. Ich geh da auf jeden Fall rein. Ist wer dabei?"

"Also ich super gerne", trällerte Nikita.

"Mit dir verabrede ich mich doch zu gern für Aktivitäten im Dunkeln." Lasse drückte Niki einen Kuss auf die Wange und hinterließ einen Hauch grauer Schminke. Nikita lief ein wenig rot an. Wahrscheinlich war es ihm ein bisschen peinlich, dass Lasse so offen damit umging, dass sie Sex hatten.

Cosmo hatte sich von der Couch erhoben. "Ich geh mal raus auf den Balkon."

"Oh nein, nein nein."

"Komm schon, Süßer. Nur eine Zigarette."

Nikita schüttelte bestimmt den Kopf. "Nein, du hattest mir versprochen, dass ich mir was zum Geburtstag wünschen darf."

"Ich hab dabei an Sex gedacht oder sowas. Nicht, dass ich aufhören soll zu rauchen."

"Aber ich mein es nur gut. Rauchen ist scheiße und du schadest dir und außerdem stinken deine Klamotten dann immer danach und überhaupt." Ein wenig wehleidig sah Nikita in Cosmos uneinsichtiges Gesicht. Mit einem Seufzen ergänzte er dann: "Kannst du wenigstens heute Abend mal darauf verzichten?"

Cosmo schien kurz zu überlegen, griff dann aber zu seinem Mantel. "Ich rauch draußen vor der Haustür." Er nahm noch einen kurzen Schluck aus seinem Glas, verzog dabei merkwürdig das Gesicht und verließ die Wohnung. Dabei hustete er lautstark und griff sich dabei an den Hals. Für mich war es nicht begreiflich, dass er nicht einen Abend seinen Nikotinverzehr im Zaum halten konnte. Nein, er nahm sogar den Marathon im Treppenhaus auf sich. Für einen Moment war Nikita ziemlich geknickt. Um die Situation aufzulockern, stimmte Küken lauthals an: "Calimero, mit Sombrero, Küken aus Palermo, wenn du da bist, sind wir sehr froh!" Er sang das Lied so laut und so lange, bis wir gezwungen waren ihn zu kitzeln, damit er aufhörte.

"Wer macht nun eigentlich Cosmo auf?"

"Vielleicht hat er die Tür unten ja nicht einrasten lassen. Warten wir einfach ab bis er klingelt."

"Kann ich dir etwas helfen, Niki?", fragte ich höflich. Und tatsächlich konnte ich ihm noch ein wenig in der Küche zur Hand gehen. Ich warf meinem Sidekick, der mit der Mumie auf der Couch saß, einen Luftkuss zu, dann folgte ich Niki. Während wir noch die letzten Vorbereitungen für das Essen trafen, fragte ich: "Sag mal, hat es einen besonderen Grund, warum du möchtest, dass Cosmo aufhört zu rauchen?"

Niki antwortete trocken: "Meine Großeltern sind an Lungenkrebs gestorben. Alle vier." Ich sah betreten zu Boden. Nikita knuffte mir jedoch in die Seite. "Nein, Quark. Meine Großeltern leben noch. Aber was brauch ich denn für einen besonderen Grund? Wir lernen in der Schule was der Scheiß alles mit deinem Körper anstellt, wie schädlich es für die Umwelt ist und so weiter. Und Cosmo ist einer meiner besten Freunde. Da ist es doch selbstverständlich, dass ich möchte, dass ihm nicht geschadet wird. Auch wenn er selbst es ist, der sich diesen Schaden zufügt."

Ich blickte Nikita an und gab ihm einen Kuss auf den Kopf. Es war wirklich nicht nur das Kostüm, das ihn zu einem Engel machte.

"Und, was ist da nun mit dir und Milan?", und Nikita grinste mich breit an.

"Na ja", lächelte ich. "Sieht schon ganz gut aus. Fühlt sich auch gut an. Es ist zwar noch nicht offiziell, aber...."

Nikita unterbrach mich. "Und warum nicht?"

"Warum? Na ja, ich möchte halt noch ein wenig abwarten."

Nikita legte den Kof schief. "Aber es ist nun schon bald Monate her, dass du dich in Milan verliebt hast. Damals, als er zum ersten mal ins Knusper kam, hat es dich doch direkt erwischt. Das konnten wir alle sehen. Warum willst du noch warten?"

Der Grund, den ich immer wieder mit größter Kraft aus meinem Kopf verbannte, flutete mein Hirn. Mit einem mal verpuffte meine Selbstsicherheit.

"Tigerbär", Niki legte das Messer zur Seite. "Ich mag der niedliche Schüchterne unserer Truppe sein, aber ich seh doch, wenn dich was beschäftigt. Magst du drüber reden?"

Von wollen konnte gar keine Rede sein. Ich wollte nicht über das reden, was mich jeden Tag beschäftigte. Ich wünschte es wäre am besten einfach alles anders. So, dass es diese Sache gar nicht gebe. Dann müsste ich sie nicht verschweigen und alles wäre gut. Nein, ich wollte ganz bestimmt nicht darüber reden.

Ich spürte wie ein Arm um mich gelegt wurde. Nikita sah mich eindringlich an.

"Janosch. Was ist los?"

Und mit einem mal löste sich etwas in mir. All die Sorge, die sich in mir aufgestaut hatte, lockerte ihre Umklammerung, formte Worte und sprudelte aus meinem Mund.

"Ich habe Probleme, Niki. Und es gibt da eine Sache, die ich Milan bisher nicht erzählt habe und ich weiß nicht, wie ich es ihm jemals erzählen könnte. Ich habe Angst, was es mit ihm machen würde. Wie es alles zwischen uns verändern könnte."

Nikita streichelte mir über den Rücken. Aufmerksam hörte er mir zu.

"Wir haben Geldprobleme. Meine Eltern wurden beide entlassen, vor ein paar Jahren und seit kurzem schaffen wir es kaum uns über Wasser zu halten. Ich habe fünf jüngere Geschwister. Die meisten sind zu jung um zu verstehen, warum nicht immer genug zum Essen da ist. Die Kleinen beklagen sich, dass sie immer die Klamotten von mir tragen müssen. Dass sie nicht das coole Spielzeug, das sie sich wünschen, bekommen können, sondern sich nur manchmal was beim Flohmarkt aussuchen dürfen. Mir macht das nicht so viel aus, aber das nützt nichts, wenn auch nicht das Geld da ist für Dinge, die ich wirklich brauche. Schulsachen und so weiter." Nikitas Streicheln wurde abgelöst durch eine innige Umarmung. Ich genoss die Kuscheleinheit in dem Moment sehr und fuhr fort.

"Ich jobbe schon neben der Schule. Aber das reicht nicht. Ich darf nicht so viel verdienen, wegen irgendwelchen steuerlichen Scheißregelungen. Aber vor allem hab ich auch keine Zeit. Ich mach nächstes Jahr mein Abi, ich kann nicht eine achtköpfige Familie finanzieren. Zumindest nicht mit gängigen Möglichkeiten."

Ich glaube Nikita wusste, was ich ihm gleich gestehen würde. Durch meine Eingangsrede war es schon sehr absehbar. Oder er hatte keine Ahnung und ließ sich einfach keine Reaktion anmerken. Keinen Schock, kein Ekel. Er war zwar klein und niedlich, aber als Freund war er einer der Größten.

"Ich bin ein Stricher", schluchzte ich. "Es hat ganz harmlos angefangen, dass ich auf dem Nachhauseweg war und irgendein Typ mich kurz ansprach, ob er mir einen blasen dürfte. Für ne dreistellige Summe. Und da kann mir noch so oft jemand was von Würde oder so erzählen, wenn du weißt, dass nur wenige Meter weiter deine Geschwister wieder mit knurrendem Magen ins Bett gehen, dann ... also ... Das hat doch auch nichts mit Würde zu tun. Also bin ich mit ihm hinter den nächsten Baum, hab mir vorab das Geld geben lassen und er hat ihn mir gelutscht." Ich wischte mir eine Träne aus dem Gesicht.

"Und ich fühlte mich dabei so eklig. Der Typ war alt. Vielleicht nicht uralt, aber bestimmt hätte ich ihn nicht heiraten wollen. Und ich hab mir gesagt, einmal und nie wieder. Aber, Niki, es war so viel Geld. Das war mehr Geld, als ich in einem ganzen Monat verdiente. Also hab ich mich ein bisschen umgehört. Und ich hab gelernt, wo die Orte und wo die Leute waren um solche Geschäfte abzuschließen. Anfangs blieb es noch beim Blasen. Aber war ja auch klar, je mehr ich mitmachen würde, umso mehr würden die Beträge steigen. Und weißt du, es fühlte sich unglaublich gut an mir ein paar Sachen leisten zu können. Und meinen Geschwistern hier und da ein bisschen was zustecken zu können. Ich wollte der große Bruder sein, der für sie sorgt und auf sie aufpasst. Und nun bin ich einfach nur son Typ, der sich für Geld ficken lässt." Die Tränen liefen mir die Wangen hinab.

"Nimmst du Drogen?"

"Was?", ich blickte Niki verwirrt an.

"Na ja, nimmst du Drogen?"

"Nein, nehm ich nicht. Wieso sollte ich?"

Nikita zuckte mit den Schultern. "Ich wollte nur sicher gehen. Und damit du das auch kannst, sage ich dir nun in aller Deutlichkeit: Du bist nicht erbärmlich, ok? Und ganz bestimmt bist du nicht nur irgendein Typ." Nikita rieb mit seiner Nase über meine Batman-Maske.

"Tigerbär, du bist einer der großartigsten Menschen, die ich kenne. Mit einer solchen Stärke und Ausstrahlung. Du hast von all meinen Freunden die besten Noten. Du hast den Treff im Knusper aufgebaut und dazu bist du bestimmt der beste große Bruder, den sich deine Geschwister nur wünschen können. Du solltest dich nicht dafür verdammen, dass du versuchst das Leben von deinen Brüdern und deiner Schwester zu bessern. Und Sex ist nichts schlimmes. Auch nicht Sex für Geld. Das einzig Schlimme ist, wenn du dich dabei nicht wohl fühlst und das tust du scheinbar nicht."

Ich starrte nur stumm auf die Arbeitsplatte. Ich konnte meine Gedanken gerade kaum sortieren. Aber was ich mitbekommen hatte, war, dass mein Freund Nikita mich gerade nicht wegen meines Geheimnisses abstoßend und verachtenswert fand.

"Wenn ich genug Geld hätte, würde ich euch finanzieren", sagte Niki und lächelte mich dabei an, als wäre er gerade vom Himmel gefallen.

"Aber das kann ich leider nicht. Was ich aber kann, ist dir zu sagen, dass du dich nicht schlecht fühlen sollst. Dann bist du eben ein Stricher. Na und? Das macht dich nicht zu einem schlechteren Menschen. Ich hab dich schließlich immer noch genauso lieb, wie fünf Minuten zuvor. Wenn nicht sogar noch mehr, weil du mir eine so wichtige Sache anvertraut hast. Und ich bin mir sicher niemand, der da gerade im anderen Zimmer sitzt oder draußen vor der Tür raucht, würde anders denken als ich. Ganz besoders nicht ein gewisser Jemand. Ist das der Grund, dass du bisher noch nicht fest mit ihm zusammen bist?"

Ich nickte.

"Dann, wenn ein richtiger Moment gekommen ist, solltest du einfach mit ihm darüber sprechen. Und so viel wie du Milan bedeutest, wird er dafür Verständnis haben. Und dann seht ihr einfach, wie ihr damit umgeht." Nikita machte eine kurze Pause. "Würdest du damit aufhören? Beziehungsweise könntest du, rein finanziell gesehen?"

Ich nickte. Ich hatte in den letzten Wochen ziemlich viel 'gearbeitet' und mir einiges angespart.

"Ja, ich möchte damit aufhören. Ich habe nun auch schon seit letzter Woche nicht mehr ... also ..., ja, hab ich nicht mehr."

Weiße Haare kuschelten sich an meine Brust. "Du bist toll, Janosch. Red dir bloß nichts anderes ein und mach dich nicht schlechter als du bist." Nach einer ewig dauernden Umarmung ließ mich Nikita los. Wir sahen uns in die Augen. "Danke", murmelte ich erleichtert.

"Dafür bin ich da. Aber gib mir noch mal Bescheid, bevor du dich endgültig zur Ruhe setzt", und er kramte in einer Schublade. Er hielt mir eine handvoll Markstücke entgegen. "Was meinst du, was krieg ich dafür?"

Ich grinste. "Ich bin heiße Ware, Süßer. Damit kommst du nicht weit. Oder besser, damit 'kommst' du bei mir überhaupt nicht."

In diesem Moment spürte ich eine unglaubliche Dankbarkeit in meiner Magengegend, genau an der Stelle, wo sonst alles flau wurde, wenn ich wieder mit irgendeinem Typen von der Straße zu Gange war. Nikita hatte mir unglaublich viel Mut gemacht. Und ja, ich würde bald mit Milan reden.

"CALIMERO IST DER HELD, DER IHM UND MIR GEFÄ-HÄLT!", plärrte es aus dem Nachbarzimmer. Küken hatte wieder seinen neuen Lieblingssong aufgelegt.

"Soviel Freude schenkst du heute, allen die viel Spaß verstehn, ihr werdet sehe...AHHHH!"

Der letzte Teil gehörte allerdings nicht zu dem Lied. Alamiert durch den Schrei rannten Niki und ich aus der Küche und sahen Küken am Boden liegen. Über ihm ragte ein Monster auf, das ihn am Kragen gepackt hatte und heftig atmete.

Für einen Moment waren wir alle wie erstarrt. Dann fing Niki an zu jubeln. "Du siehst umwerfend aus!" und rannte auf das Ungetüm zu. Und langsam konnte ich auch erkennen, wer sich da in Schale geworfen hatte.

"Du riechst ja nicht mal nach Rauch", rief Niki begeistert.

"Meinste für sowas bleibt Zeit bei so nem Kleiderwechsel?"

Körperwechsel wäre da wohl passender. Der feine Anzug, den Cosmo vorher trug, wirkte im Vergleich zu dem, was er sonst so anhatte, tatsächlich nicht wie ein Kostüm. Aber nun war klar, was er zuvor dargestellt hatte. Denn sein Anzug war nun an einigen Stellen in Fetzen gerissen und verdreckt. Dazu trug Cosmo nun einen Buckel, der fast in den Kopf überging. Dieser war stellenweise kahl, dafür waren die verbliebenen Haare nicht mehr gepflegt und dunkel, sondern hingen in wilden, dunkelbraunen Strähnen weg. Ich weiß bis heute nicht, wie er es geschafft hatte, aber sein linkes Auge wirkte viel größer im Vergleich zum anderen und drohte ihm aus dem Gesicht zu fallen. Die Pupille war stecknadelkopfgroß und gab seinem Blick etwas psychpathisches. Ungepflegte, lange Barthaare zierten stellenweise sein Gesicht und aus seinem Mund ragten monströse Zähne. Cosmo hatte sich in einen perfekten Mr. Hyde verwandelt.

"Deswegen auch dein übertriebenes Gehuste. Aber hättest du uns bei der Verwandlung nicht einfach zusehen lassen können?", jammerte Küken. "Das hätte ich zu gerne gesehen, wie dieser Buckel auf einmal aus deinem Rücken schießt und sich dein Gesicht verschiebt."

Wäre ich nicht gewohnt, dass Cosmo einen sehr speziellen Kleidungsstil hat, ich wäre mir, als ich unsere Kostüme verglich, underdressed vorgekommen. Damit lag ich allerdings ganz schön falsch, wie sich später noch zeigte.

Die Feier verlief den Rest des Abends ziemlich entspannt. Essen war gut, Musik war gut, Lasse stellenweise peinlich und aufgedreht. Alles also ganz normal. Auch ganz normal war, dass Niki jegliche Hilfe beim Aufräumen ablehnte, womit Lasse und Cosmo überhaupt keine Probleme hatten, wir anderen aber so nicht akzeptieren wollten. Und während die beiden sich verabschiedeten, schaffte unser Engel es nicht uns so zu drohen, dass wir Angst vor Konsequenzen gehabt hätten. Also gab er es auf und ließ uns ein bisschen mithelfen beim sauber machen. Zur laufenden Musik, dem besten der 90er, wippte Milan am Spülbecken und kreiste mit der Bürste über Teller, Töpfe und Besteck. Ich trocknete dabei brav ab. Küken, der mittlerweile seinen Eierschalenhut abgelegt hatte, schnappte sich zwar auch ein Geschirrtuch, fand aber viel mehr Spaß daran es zu zwirbeln und es dem nun flügellosen Niki auf den Hintern zu hauen. Niki brauchte dafür kein Tuch und während die beiden anfingen sich zu kabbeln, brachte das Milan selbst auf dumme Gedanken und er spritzte mir mit einem Glas Wasser entgegen.

"Na warte", rief ich, hielt Milans Arme mit einer Hand fest und ließ seelenruhig ein Glas Wasser nach dem nächsten über seinen Kopf laufen. Verzweifelt versuchte er sich zu befreien, bäumte sich dann schließlich auf und stieß sich von der Spüle ab. Wir fielen in die beiden Kleinen. Blitzschnell rappelte Milan sich auf, griff nach dem nächsten Schwamm und warf ihn in meine Richtung. Er landete laut klatschend in Kükens Gesicht. Alles lachte. Und spätestens jetzt gab es kein Halten mehr und zu viert veranstalteten wir eine Wasserschlacht, bei deren Ausmaß wir froh sein konnten, dass Nikis Eltern erst übermorgen nach Hause kommen würden. Je länger die Schlacht tobte, umso ruhiger wurden wir. Pitschnass lagen wir alle auf dem Boden und grinsten uns an.

"Du solltest ganz schnell was anderes anziehen, Niki, damit du nicht krank wirst. Du hattest sowieso den ganzen Abend über die dünnsten Klamotten an", meinte Milan und machte tatsächlich Anstalten Nikis Oberteil auszuziehen.

"Und was ist mit euch?"

"Wir haben nichts zum wechseln da."

"Wir könnten die Sachen ja einfach trocknen lassen und uns ganz warm und kuschelig zusammen zudecken." Hatte ich das gerade gesagt? Es schien so, aber scheinbar war auch niemand gegen den Vorschlag und so halfen wir uns gegenseitig aus den nassen Sachen. Ich half Küken aus seiner feuchten Jeans, deren Beine an seinem Körper festgewachsen schienen. Niki hatte sich inzwischen an Milan zu schaffen gemacht. Und während wir uns der nassen Klamotten entledigten, fiel niemandem ein bei der Unterwäsche halt zu machen.

"Wollen wir in mein Zimmer gehen?" Niki nahm Kükens Hand und führte ihn mit sich. Milan und ich folgten, ohne anzumerken, dass unsere Kleidung zerknüllt auf dem Boden so bestimmt nicht gut trocknen würde.

Wir kuschelten uns aneinander. Ich spürte kalte Hände an meinem Körper, die aber, je intensiver sie über meine Haut streichelten, immer wärmer wurden. Niki fing an mir über den Hals zu lecken. Ganz sanft, ganz zärtlich. Ich wollte Milans Blick auffangen, um zu erkennen, was er davon hielt, doch der knutschte bereits mit Küken herum. Es war ein unglaublich schönes Erlebnis. Niemand von uns vieren hatte bis zu diesem Zeitpunkt miteinander Sex gehabt, außer Milan und ich. Und das war innerhalb unserer Clique schon etwas ungewöhnlich. Vielleicht machte das aber auch den besonderen Reiz, der das ganze so perfekt machte. Nur für einen kurzen Moment, als ich in Küken eindrang, konnte ich etwas ganz Seltsames in seinen Augen lesen. Der Eindruck war aber im nächsten Moment verschwunden, als er mich freudig anlächelte und lustvoll stöhnte. Cosmo und Lasse, sollten sie jemals davon erfahren, würden sich wohl nie wieder vorm Aufräumen drücken, dachte ich belustigt.

Als wir alle vier zur Ruhe kamen, und eine ähnliche Sauerei wie in der Küche veranstaltet hatten, gaben wir uns allen gegenseitig einen zärtlichen Kuss und waren, vor Erschöpfung und Zufriedenheit, eingeschlafen.

Ich lächelte, als ich mir die Bilder wieder in den Kopf rief. Doch dann stellte sich Wehmut ein. Die Erinnerung endete nicht beim Einschlafen. Am nächsten Morgen, als wir wirklich fertig waren mit aufräumen, verließen Milan und ich Hand in Hand das Haus. Vielleicht war es noch die Euphorie dieser besonderen sexuellen Erfahrung, doch völlig spontan, oder eher impulsiv, hatte ich den Gedanken gefasst mit Milan zu reden. Wir schlenderten den Weg entlang.

"Milan, weißt du eigentlich, dass ich dich unheimlich lieb habe? Noch unheimlicher als Imhotep und Mr. Hyde zusammen?"

Ein Strahlen genügte mir als Antwort.

"Und deswegen wollte ich dir etwas sagen." Wir blieben stehen. Mein Herz klopfte. Ich blickte in seine Augen, sah die freudige Erwartung. Ich streichelte mit meinen Finger über seine Hand und räusperte mich kurz.

"Wir kennen uns nun schon relativ lang und hatten bisher eine echt schöne Zeit", ich lächelte ihn an. Und das ganze schien in einem 'Wer strahlt am meisten'-Contest auszuarten. Bis ich für einen kurzen Moment eine Bewegung hinter Milan ausmachen konnte. Ich ließ meinen Blick kurz dorthin wandern und sah eine Gestalt. Ein Mann, der zwei Kindern und einer Frau den Weg entlang spazierte. Die Kinder hielten beide eine Eiswaffel in der Hand und schleckten um die Wette. Nicht gerade die richtige Jahreszeit für ein Eis, dachte ich mir und in mir gefror etwas. Doch nicht wegen der Eiswaffeln. Nein, wegen des Mannes. Ich kannte diesen Mann. Es war der selbe Mann, der mich damals auf meinem Weg nach Hause angesprochen hatte. Der mir so verboten viel Geld geboten hatte und der für mich eine Tür aufstieß, die mich gierig in sich aufgesogen hatte. Mein Lächeln fror ein. Erstarb. Meine ganze Kraft schien aus meinem Körper zu fließen und ich ließ Milans Hand los.

"Ich wollte dir was sagen", murmelte ich. Mein Blick schien etwas auf dem Boden zu suchen. Warum fiel es mir gerade nur so schwer ihm in die Augen zu sehen? Die Familie ging an uns vorbei. Flau, ganz flau fühlte sich mein Bauch an. Das Gefühl, das mir Niki erst wenige Stunden zuvor geschenkt hatte, war vergessen.

"Ich muss dir etwas sagen." Ich holte tief Luft. "Wir können uns nicht mehr sehen."

"Jungs? Seid ihr eingeschlafen?"

Cosmos Stimme knarrte durch die Dunkelheit. Ich konnte schemenhaft Küken ausmachen, der sich die Augen rieb. Er griff zu seinem Diktiergerät: "Ich bin wach."

Ich räusperte mich. "Darf ich euch etwas fragen?"

"Was gibt es denn?", fragte Lasse gähnend.

"Vermisst ihr Nikita?"

Küken fing wieder an zu schluchzen. "Jede Minute."

"Ich vermisse ihn auch", seufzte Cosmo.

"Wir alle", meinte Milan. "Wieso fragst du so etwas Blödes?"

"Weil ich glaube, dass Nikita uns vermisst hat. In den letzten Wochen haben wir uns kaum mehr gesehen und ...."

"Moment", rief Lasse aufgebracht. "Willst du damit sagen wir sind schuld?"

Ich wollte nicht, dass das ganze sich in diese Richtung entwickelte und ich wollte keinen Streit. Ich umklammerte Lasse, gab ihm einen Kuss auf die Wange, was ich noch nie getan hatte und versuchte so ruhig wie möglich zu sprechen. "Nein, das sage ich nicht. Ich wollte gar nichts in der Art sagen. Aber was ich sagen möchte, ist, dass wir uns ein wenig verloren haben. Ach, was heißt ein wenig. Wir haben einen von uns verloren. Und das hätte nicht passieren dürfen." Ich fing an zu weinen. "Das hätte einfach nicht passieren dürfen. Er war unser Engel und wir hätten auf ihn aufpassen müssen. Ich weiß nicht, was in Nikis Kopf vorging, aber wäre ich mehr bei ihm und bei euch gewesen, vielleicht hätte ich es gewusst. Vielleicht. Und ..." Ich schluckte. Küken kuschelte sich an meinen Rücken. "Und ich möchte nie wieder nicht wissen, was euch durch den Kopf geht. Wir sind die besten Freunde. Ihr seid meine besten Freunde. Und das habe ich in letzter Zeit nicht gezeigt. Aber ich möchte es. Und ich möchte, dass Nikita weiß, was für ein guter Freund er für uns war."

Niemand sagte ein Wort. Doch es war egal, was meine Worte in ihnen auslöste. Wichtig war, was ich jetzt zu sagen hatte.

"Ich möchte mir etwas wünschen. Ich wünsche mir, dass wir gemeinsam Weihnachten feiern. Ich hab gerade an Niki gedacht und wie gern er feierte. Und ich wollte euch fragen, ob wir den Heilig Abend gemeinsam verbringen und uns dabei an Niki erinnern. Uns gegenseitig von Erlebnissen erzählen, sodass unsere Erinnerungen an ihn so lebendig werden, als wäre er noch immer bei uns und würde unseren Geschichten lauschen."

Ich musste immer wieder Pausen einlegen, damit meine Worte vor lauter Schluchzen zu verstehen waren. Niemand sprach ein Wort.

Cosmo

Bescheuerter Janosch. Total bescheuerter Tigerbär. Meint wir könnten uns einfach Storys erzählen und dann is die Welt wieder in Ordnung. Nichts is in Ordnung. Gar nichts. Niki is tot. Und ich bin schuld.

Ich sah mich in meinem Zimmer um. Wahrscheinlich hatte Niki mit mir am meisten Zeit verbracht. Abgesehen vielleicht von Küken, aber auch nur in letzter Zeit. Sonst war Niki immer bei mir. Mit Lasse hat er gefickt. Aber zum reden und kuscheln war er bei mir. Ich war für ihn da und ich kannte ihn. Und ich kannte seine Gedanken. Ich wusste, dass er sich immer bedeutungslos vorkam. Immer kleiner, immer unwichtiger. Hatte aufgesehen zum großen Tigerbär, zum schönen Milan. Er himmelte mich an. Mysteriös oder so sollte ich sein. Scheißdreck. Gar nichts bin ich. Ich bin nichts und ich mach nichts. Ich habs nicht verdient angehimmelt zu werden.

Ich öffnete das Fenster, stieg aufs Brett und ließ meine Beine herunterhängen. Wohn zwar nich so weit oben wie Niki, aber scheiße, geht das tief runter. Wie konnte er das nur tun? Wieso? Gänsehaut überzog mich beim Gedanken, wie Nikis feiner Körper auf harten Asphalt aufkam. Wie sein Gesicht eingedrückt und sein Schädel gespalten wurde. Seine Arme und Beine, alle gebrochen. Alles gebrochen. Haben ihn wieder gut hinbekommen. Beim Leichenbestatter. Haben ihn zusammen gebastelt, als wäre er nur kaputt. Ein Kumpel, der selbst ne Ausbildung zum Leichenbestatter gemacht hatte, hat mal erzählt aus Eierkartons lassen sich gute Kinne basteln. Die kleben dir wirklich deinen Körper wieder zusammen, bepinseln dein Gesicht, sodass deine Hautfarbe wieder lebendig aussieht. Aus ewig vielen Stockwerken war Niki gefallen. Bei der Beerdigung sah er aus, als würde er nur schlafen. Das tun sie alle. Is ihr gottverdammter Job, von den Leichentypen, alle so hinzukriegen, als wären sie an ner verfluchten Spindel krepiert. Es tat so weh Küken zu sehen, wie er auf Nikis Überreste zugestürzt war. Der Gedanke von seinen Lippen auf dieser toten Haut, die über irgendetwas gespannt war, was alles sein konnte, selbst Eierkarton, aber keine Knochen und kein Fleisch unseres Freundes, zerriss irgendwas in mir. Zerreißen. Am liebsten wollte ich einfach etwas zerreißen, irgendwas zerstören. Hab ich aber nich. Ne, hab ich nich. Küken hat. Küken ist in der Schule ausgerastet. Sie haben ihm Beruhigungsmittel geben müssen. Ich bin die Ruhe selbst. Fühlt sich komisch an. Wenn Niki das wüsste. Scheiße Niki, ich bin ruhig, dabei sollte ich zittern und wimmern und mir meine Finger zerbeißen. Hab seit Tagen nich mehr geraucht. Seit Tagen. Seit Niki gestorben ist. Wie könnte ich mir jetzt noch ne Zigarette anzünden? Er hatte es mir damals gesagt. Hatte es mir sogar öfter gesagt. Dass er mich lieb hätte und dass er deshalb nich mag, dass ich rauche. Weil er sich Sorgen macht. Gesundheit und sowas. Ich habs ignoriert. Da rein, da raus. Habs nicht ernst genommen. Alle Welt sagt dir ständig, lass das Rauchen sein. Und alle Welt antwortet, ich rauch weil ichs geil finde. Weils mir schmeckt. Scheiße. Schmecken, am Arsch. Hätte ich einfach aufgehört, als mein Freund mich darum gebeten hatte, hätte das was verändert? Hätte das Niki gezeigt, dass er etwas bewirken kann? Dass er durch seine Worte Menschen verändern konnte? Vielleicht würde er noch leben. Vielleicht hätte er sich nicht mehr so klein gefühlt. Niki. Du warst nicht klein. Warst du ganz und gar nicht. Du warst wundervoll.

Scheiß Tigerbär mit seinem scheiß Vorschlag uns Storys von Niki zu erzählen. Niki läuft mir Tag und Nacht vor Augen rum, in meinen Träumen und überall. Soll er mich da auch noch wie ein Weihnachtsgeist an Heilig Abend verfolgen?

Tut so weh. Es tut so weh. Runter vom Fensterbrett. Wie blöd kann ich sein? Mein Freund fällt in den Abgrund und ich setz mich hier in schwindelnden Höhen aufs Fensterbrett. Scheiße. Ich geh ins Bad. Wenigstens hat das Kotzen aufgehört. Ich seh in den Spiegel. Siehst aus wie Geisterbahn. Scheiße. Wieso geht dir gerade das durch den Kopf? Scheiße. Geisterbahn. Ich überlege mit meiner Faust den Spiegel zu zerschlagen. Ich überlegs mir anders.

"Und, bist du schon aufgeregt?"

"Was meinste?"

Niki hüpfte vergnügt neben mir her. "Naja, wir besuchen doch gleich deine Familie?"

Ich machte große Augen. Das heißt so groß, wie ich konnte. "Bist du noch ganz knusper?"

"Haha", lachte Niki überlegen. "Brauchst dich gar nicht zu verstellen. Ich bin hinter dein Familiengeheimnis gekommne."

Mir wurde heiß, dann kalt. Was meinte der kleine Strahlemann damit. Hatte er wirklich?

"Du bist ein Addamms." Ok, Entwarnung. Der Kleine sponn nur mal wieder herum.

Ich fischte in Ruhe ne Kippe aus meiner Tasche. "Addamms, aso. Witzig. Originell. Du meinst, weil ich dunkel angezogen bin."

"Nein, nicht deswegen." Niki ging ein paar Schritte vor mir her. "Weil du loyal bist. Wie die Addamms-Family, die halten auch alle zusammen. Bei denen is Blut dicker als Wasser und es gibt nichts, was sie trennen könnte."

Nikis Worte waren nett. Sah mich der Kleine wirklich so?

"Lass mich raten, der Film wo Onkel Vester auf diese Heiratsschwindlerin scharf is, lief gestern im Fernshen."

Niki warf mir ein Grinsen zu. "Natürlich hab ich das gesagt, weil du dunkel angezogen bist, warum sonst?"

Lügner. Süßer Lügner.

"Hattest du mir nicht eigentlich versprochen du würdest aufhören mit Rauchen?"

"In welchem Leben soll das denn gewesen sein?"

"In dem, in dem jemand wie du noch verbrannt worden wäre." Er streckte mir die Zunge raus. Konnte sein, dass ich mich täuschte, aber ich glaube mit niemand anderem ging er so frech um wie mit mir.

"Ich hab an deinem Geburtstag nicht geraucht, das reicht ja wohl erst mal für die nächsten Jahre."

Niki schien für nen kurzen Moment geknickt zu sein, dann hopste er aber wieder herum. "Danke übrigens, dass du nicht auch noch abgesagt hast."

"Keine Ursache." Lust hatte ich eigentlich wirklich gar nicht. Lichter, Lärm, Leute. Aber was tut man nich alles für einen seiner besten Freunde. Gerade wenns so ne Knutschkugel wie Niki is. Keine Ahnung, was mit den anderen war. Als Niki das vorgeschlagen hatte, waren noch alle dabei. Das heißt alle, außer Janosch. Der tauchte nur noch sporadisch auf.

"Da, wir sind fast angekommen!", rief Niki lauthals, als wärsn Kampfschrei. "Kirmeeees!"

"Was is mit Kürbis?"

"Nicht Kürbis. Kirmes. Volksfest. Oder wie sie da irgendwo im tiefsten Bayern sagen: Dult." Niki lachte.

"Ulkiges Wort."

"Nicht wahr?", strahlte er mich an. Ach ja, Strahlemann. War ganz ausm Häuschen, dass ich mit ihm nun hier war. Konnte nich gesund sein, so viel Freude nur weil ich mit ihm was unternahm. 'Ach Niki', seufzte ich in Gedanken.

"Was machen wir als erstes?"

"Wie wärs mit wieder gehen?", erwiderte ich mit nem Schimmer Hoffnung in der Stimme.

Diese Option schien unser Engelchen auszuschließen und nahm mich bei der ... WAS? Er nahm mich bei der Hand. Na hallo, der traute sich ja was.

"Niki, is alles ok bei dir?"

"Wieso, sollte etwas nicht stimmen?"

"Schon gut", und ich schleifte, wie ein Hund an der Leine, hinter ihm her. Nach einer Weile gab ich laut. "Niki, wir laufen etz schon zum zweiten mal herum. Was willstn etz machen? Sag an?"

"Hm, ich weiß nicht."

Ich sah ihn skeptisch an. "Wie du weißt nicht? Scheinst doch voll der Fan zu sein. Sag an, was willst du fahren."

"Ich kann nichts fahren."

"Wieso das denn?"

"Ich hab kein Taschengeld mehr über", und er schaute ein wenig traurig drein. "Aber das ist überhaupt nicht schlimm, weil ich find schon cool die ganzen Lichter zu sehen und so. Und dass du da bist."

Hätte ich ein Herz gehabt, hätte es gerade kurz geklopft. Ich musterte Niki, der mit seinem Leuchten in den Augen den Lichtern der Fahrgeschäfte Konkurrenz machte.

"Niki, komm her. Wir fahren das jetzt."

"Du willst mich einladen? Das kann ich nich annehmen."

"Natürlich kannst du. Sonst bin ich beleidigt."

Niki lachte. "Du und beleidigt? Dich lässt doch alles eiskalt." Das gerade nicht. Nicht, wenn Niki es sagte. "Pass auf, kleiner Mann. Du hast gerade selbst gesagt, dass ich ein Addamms bin. Und weißt du, was Addamms noch sind außer düster und mordlustig?"

Bevor er antworten konnte, schnitt ich ihm schon das Wort ab: "Genau, reich. Also mach nun ausgiebig von der dritten Eigenschaft Gebrauch, sonst folgt ganz schnell die zweite. Sieh es als All-you-can-Kirmes"

Niki kannte mich. Wusste, dass ich gerade mehr Worte verbraucht habe, als ich manchmal an einem Tag sagte. Und dass ich nicht mit mir diskutieren ließ. Meine Erziehung. Strenge Hand, ach ja.

"Und du zahlst alles?"

Ich nickte. Oder besser, ich ließ genervt meinen Kopf nach unten sacken.

"Und du fährst auch bei allem mit?"

Hier war ich nicht schnell genug meinen Kopf zu schütteln, denn Niki brach bereits aus in einem fröhlichen: "Juchuh!"

Und so begann das Grauen. Autoscooter, Lose ziehen. Schokobanane. Hab ihm auch meine angeboten, hat aber nur gelacht. Noch mehr Autoscooter. Riesenrad. Achtung Sarkasmus: So mega romantisch. Sarkasmus aus. Ich fands hauptsächlich kalt. Aber irgendwie machte es mir nichts aus. Denn als ich hoch oben in der Gondel saß mit meinem kleinen Freund, der sich am Ausblick über die Stadt ergötzte, wurde mir warm ums Herz. Das heißt, hätte ich eines gehabt.

"So, mach mit."

"Was?"

Wir standen vor so nem Pferderennen. Kugeln in Löcher rollen und so.

"Ja, das macht voll Spaß. Komm, wenn du mehr Punkte holst, als ich, darfst du mich ficken."

Weiß nich, wie viel Leute das mitbekommen hatten, aber ich wurde hellhörig. Ließ ich mir natürlich nicht anmerken. "Ich kanns ja mal versuchen."

Und so versuchte ich. Im Bälle rollen und Luftballons mit Darts kaputt stechen. Versuchte Dosen zu werfen und mit nem Hammer auf Köpfe von kleinen Tieren einzuschlagen. Glaub ich hatte bei allen Spielen insgesamt nich so viel Punkte wie Niki bei einem. War wohl nichts mit Liebe.

"Und das soll Spaß machen?", fragte ich nach einer Weile. Wir waren in einem Irgendwas angekommen, mit Zerrspiegeln und Glaslabyrinth. Ich konnte draußen die bunte Masse sehen, die gaffte, wie wir versuchten den Weg nach draußen zu finden.

"Scheiße, Niki, ich hol mir hier nur blaue Flecke."

Niki sah zu mir rüber. Er war ohne Probleme durch den Irrgarten gelaufen, während ich mir Mal um Mal das Gesicht an unsichtbaren Scheiben zerdrückte. Ich schloss genervt die Augen. Was mach ich hier eigentlich? Und überhaupt, mit mir hatte Niki doch gerade sowieso keinen Spaß. Ich machte alles mies und zog ihn nur runter. Vielleicht sollten wir das Experiment einfach für gescheitert erklären und mich wieder in meine Gruft sperren. Da spürrte ich etwas und öffnete die Augen. Niki hatte mich wieder bei der Hand genommen. Ernsthaft?

"Hey, sei nicht traurig. Ich helf dir", und mit der Eleganz einer Katze führte Niki mich aus meinem gläsernen Gefängnis.

"Du kannst meine Hand wieder loslassen."

Das schien Niki überhört zu haben. Auf protestieren hatte ich keine Lust. Also lief ich gehorsam mit ihm mit. Dabei ertappte ich mich kurz bei einem Lächeln, als Niki sehnsüchtig die mit Helium gefüllten Tier-Ballons ansah.

Wir setzten unsere Tour fort mit Zuckerwatte und Popcorn. Und dann waren wir schließlich angekommen.

"Willkommen zu Hause", murmelte ich, um witzig zu sein. Vor uns ragte die Geisterbahn auf. Es stellte ein riesiges Haus dar, mit Augen und einem Mund. Davor ragte ein Baum auf, ebenfalls mit Gesicht. Niki sah mich fragend an. Aber als hätte er sich abhalten lassen.

Wir holten uns die Tickets und gingen hinein.

"Wirklich Geisterbahn is das ja nich, wenn man sich in keine Gondel setzt."

"Na ja, also ich find selbst rumlaufen müssen sogar noch gruseliger", flüsterte Niki.

Wir betraten den ersten Raum.

"Nett", kommentierte ich trocken. Der Raum war leer, nur ein Bett befand sich darin. Völlig blutüberströmt. "Is scheinbar niemand zu Hause. Gehen wir weiter."

In dem Moment schloss sich die Tür hinter uns und eine Gestalt kroch auf uns zu. Sie ging auf allen vieren, mit dem Bauch nach oben. Ihr Kopf starrte uns mit pupillenlosen Augen an. "Fick mich!", schrie die Kreatur. "Fick mich!" Erschrocken bemerkte ich, dass es sich nicht um eine Spielbudenfigur handelte, sondern um eine echte Frau. Na klasse, echte Schauspieler, die einen erschrecken wollten.

"Danke, kein Bedarf", lachte Niki und griff mir dafür in den Schritt. Ich nahm Nikis Hand und wir gingen weiter. Ich blendete den überaschten Blick und das darauf folgende Grinsen aus.

"Hast du den Film gesehen?"

Keine Ahnung, was er gerade wollte. "Was fürn Film meinste?"

"Hast du das nich gecheckt? Die Frau da gerade, die stellt edas Mädchen aus 'Der Exorzist' dar. Weißt schon, mit der Szene, wo der Priester vollgekotzt wird und so."

"Klar hab ich die erkannt. Mega Horrorexperte, der ich bin."

Da erklang ein Lachen. Eine kleine, wuselige Gestalt mit roten Haaren rannte durch den nächsten Raum. In der Hand ein riesiges Messer. "He he he, Chucky will spielen", kam von der Gestalt und sie rannte wie irre auf uns zu. Der Typ ging mir bestimmt nur bis zur Hüfte, aber ich hatte echt ein Problem mit so nem Puppen-Horror. Gab es was gruseligeres als Puppen, die lebendig wurden? Ich umklammerte Nikis Hand etwas stärker und zog ihn mit mir mit. Ich wollte raus.

Bing bing bing bing. Eine Glocke ertönte. Bing bing bing. Kann das nich aufhören? Wir habens ja gehört. Der nächste Raum war hergerichtet wie ein Essenssaal. Eine festlich hergerichtete Tafel stand in der Mitte des Raumes. An der Wand befand sich ein Käfig. Darin stand ein Mann. Er stand mit den Rücken zu uns. "Hört ihr das?", knarrte er. "Die Glocke. Sie gibt das Zeichen." Ich bemerkte nervös wie sich die Tür des Käfigs öffnete. Ruckartig drehte sich die Person um. Ein Hannibal Lecter grinste mich durch seinen Maulkorb an. "Essenszeit."

Scheiße nein. Ich will zurück. Ich machte ein paar Schritte nach hinten. "Hey, Großer, alles ok?" Nein, es war nicht alles ok. Ich hasste Grusel. Und ich hasste Horror. Ich schloss die Augen. "Ich will da nicht vorbei. Ich will da nicht durch."

Ich glaub Niki merkte, dass das ernst war.

"Cosmo, ganz ruhig. Ich bin ja bei dir. Ok? Dir passiert nichts. Hier, du hältst meine Hand und wir werden gemeinsam hier durchkommen."

Ich war nicht überzeugt. Und meine Beine ebenfalls nicht. Beruhigend streichelte mir Niki über die Wange. "Wenn du magst, kannst du die Augen schließen und ich führe uns einfach durch? Ja? Wie in dem Glaslabyrinth." Ich sah Niki an. Wollte er mich verarschen?

Aber nein, völlig ernst und aufrichtig blickte er mir in die Augen. Mit einem Seufzen nickte ich.

"Ok", und Niki strich mit seiner Hand über meine Augen. Ich senkte meine Lider, spürte einen Kuss auf meiner Wange und ließ mich von Niki führen. Für einen Moment blinzelte ich kurz und konnte den Kannibalen-Psycho nur wenige Schritte von mir entfernt sehen. Er hatte seinen Käfig verlassen.

Ich wollte nicht verspeist werden. Bitte, Niki, mach ein bisschen schneller. Er musste meinen Wunsch erhört haben, denn wir rannten zur nächsten Tür. Dabei senkte ich meinen Kopf und blinzelte immer wieder durch meine zusammen gekniffenen Augen durch, um nicht zu stürzen. Aus den Augenwinkeln nahm ich dabei mehr wahr als ich wollte. Ein Gremlin-Raum. Bescheuerter Film, den hab sogar ich gesehen. Nächste Tür. Freundliche Begrüßung durch Freddy mit seiner Klaue. Sag mir nicht die haben hier jeden Horrorstreifen, den es gibt, in dieses Haus eingebaut. "Ich will hier raus." Scheiße, das hatte ich gerade laut gesagt. Hatte Niki das gehört? Egal. Erst in Sicherheit bringen. Nach, für meinen Geschmack, zu viel Horrorfiguren später erreichten wir endlich wieder Tageslicht.

"Du kannst meine Hand nun loslassen", meinte Niki ruhig. Ohne Spott.

Mein Blick wanderte nach unten. Tatsächlich, ich hatte die ganze Zeit über seine Hand fest umklammert. "Sorry", murmelte ich und ließ los. Erst jetzt bemerkte ich wie feucht meine Hände waren. Wenn das die Runde machte, konnte ich mich von meinem Ruf verabschieden.

"Möchtest du, dass wir nach Hause gehen?"

"Du meinst wieder da rein?"

Mein süßer Beschützer lächelte. "Nein, ich meinte wirklich nach Hause." Nichts lieber als das.

Niki fragte nie nach, warum ich so eine Panik bekam. Er erzählte nie jemandem davon und er machte sich auch nie darüber lustig. Kein einziges mal. Manchmal hatte ich überlegt ihm vielleicht einen kleinen Ausschnitt der Wahrheit zu erzählen. Dass meine Kindheit ein einziger Horror war und ich liebend gerne getauscht hätte um Teil der Addamms-Family zu sein. Und ich wusste, wenn es einen Menschen gibt, dem ich gerne davon erzählen wollte, dann war es Niki. Doch es war klüger ihm nicht von meiner Familie zu erzählen, was für einer Tätigkeit sie nachging und was ich mit viel zu jungen, eigenen Augen mitansehen musste. Ich hatte es geschafft ohne allzu schlimme Konsequenzen meiner Familie zu entkommen. Als klar war, dass ich die "Familiengeschäfte" nicht weiterführen würde, wurde ich in eine Art Exil geschickt. Ich bekam so viel Geld zur Verfügung, wie ich wollte. Im Gegenzug dazu plauderte ich nicht. Im Gegenzug dazu wurde ich nicht umgelegt.

Vielleicht war Tigerbärs Idee doch nicht so dumm. Wahrscheinlich würde ich die Version dieser Geschichte ein bisschen bearbeiten, aber gemeinsam in Erinnerungen schwelgen... Ich war dabei.

Lasse

Es weihnachtete sehr. Nun endlich. Seit Nikis Tod waren ein paar Wochen vergangen und auch wenn die Trauer immer noch allgegenwärtig war, so saß sie doch nicht mehr so tief. Ich wanderte durch den Schnee. Auf der Suche nach einer Antwort. Sollte ich zum Treffen kommen oder nicht?

Ich fühlte mich nicht wohl dabei. Mich plagten die ganze Zeit über Schuldgefühle. Niki soll ziemlich lange in mich verliebt gewesen sein. Und ich Strohkopf hatte keinen Schimmer davon. Niki war natürlich viel zu gescheit, als dass er sich wegen nem Vollidioten wie mir umgebracht hätte. Ich bin keinen Liebeskummer wert. Aber, wer weiß, was in einem verliebten Kopf vorgeht?

Meine Hände hatte ich tief in meinen Taschen vergraben. Ob Milan schon im Knusper war? Und ob er bleiben würde, wenn ich auftauche? Wieso musste immer alles so kompliziert sein?

"Du stehst auf Küken, nich wahr?", zwinkerte Niki mir zu. Dummer Niki, hättest du mir damals doch irgendein Zeichen gegeben, dann hätte ich mich vielleicht nicht wie ein grober Klotz verhalten. Aber so.

"Auf jeden Fall würd ich ihn echt gern mal ficken."

Niki legte seinen Kopf schief. "Lieber als mich?"

"Das kann man nicht vergleichen. Dich hab ich ja schon gefickt. Sogar mehrmals. Aber bei Küken durfte ich halt bisher noch nie ran. Das hat dann schon seinen besonderen Reiz."

Wohl eher Brechreiz. Das wars, was mir in den Sinn kam, als ich mir meine Worte in Erinnerung rief.

"Aber mal ganz abgesehen vom Ficken", fuhr Niki unbeeindruckt fort. "Hast du Gefühle für ihn?"

"Na."

"Na? Ist das deine Form von Jein?"

"Na. Äh, ich meine. Nein. Also, weißt du. Ach, Niki. Ich bin nicht gut in Gefühlsdingen. Ich hab meinen Spaß und fühl mich gut damit und alles andere überlass ich den anderen."

Rückblickend weiß ich nicht, ob sein Blick bestürzt oder mitleidig war. Auf jeden Fall eindringlich. Und er fragte: "Und warum?"

Ich wollte eigentlich gar nicht drüber reden. Ich mochte es nicht über meine Gefühle zu sprechen. Aber Niki hatte diese Art. Bei Niki fühlte sich jeder wohl und wenn er einem signalisierte, dass man ihm was erzählen sollte, dann tat man das.

"Ich will mich einfach nicht von irgendwem emotional abhängig machen."

Das hätte ich mal befolgen sollen. Dann hätte ich mir auch nicht Milan geangelt. Bestimmt wäre zwischen ihm und unserem Tigerbär noch mal alles gut gegangen, die Gruppe wäre intakt geblieben und wir hätten Nikita nicht verloren.

"Das klingt so als wäre Verlieben nur schlecht."

"Nein. .. Ja... Ich weiß nicht. Kann sein."

"Warst du denn schon mal verliebt?" Nikita lächelte mich an. Ach, diese Augen. Wir machten nicht umsonst Witze, dass er beim Geheimdienst anfangen sollte. Er könnte sämtliche Lügendetektoren ersetzen und den Einsatz von einem Wahrheitsserum überflüssig machen.

"Nein, war ich noch nicht", antwortete ich wahrheitsgemäß.

"Fandst du denn noch nie jemanden toll?"

"Im Gegenteil. Würde ich nich so viele Jungs toll finden, hätte ich wahrscheinlich noch nich so viel Typen im Bett gehabt. Es ist..."

"Ja?", hakte Nikita nach.

"Ach, es ist was anderes. Du musst mir versprechen, dass du es niemandem erzählst."

Er brauchte es nicht extra aussprechen, sein Blick reichte aus um mir Sicherheit zu geben. Also erzählte ich. Erzählte etwas, was niemand im Knusper wusste und auch niemand in der Schule. Einfach gar niemand. Ich erzählte Niki, dass ich mit viel zu jungen Jahren meine Eltern verloren hatte. Ich ersparte ihm die Details. Ich ersparte ihm auch Geschichten von Kinderheimen und Adoptiveltern. Aber ich erzählte Niki von der Trauer, die mein junges Herz verspürte. Und ich wusste ich wollte mich nie wieder so fühlen. Jemals. Und da die Welt für Kinder noch ziemlich einfach aufgebaut war, kam Klein-Lasse auch ziemlich schnell auf die Lösung. Nie wieder jemanden lieben.

Niki sah mich mit großen Augen an, dann kuschelte er sich an mich. "Wieso hast du noch nie jemandem was erzählt?"

Ich seufzte. "Ich will nicht mit traurigen Augen angesehen werden. Die traurige kleine Waise, die nur mit Humor seinen Verlust kompensieren kann. Der Versager, der seitdem nichts auf die Reihe bringt und dessen einziger Lebensinhalt es ist die Waisenrente auf den Kopf zu hauen."

Niki kraulte meinen Nacken. "Was redest du denn da? Du bist doch kein Versager. Sieh dich doch an. Du bist ein lebensfroher, cooler Typ, der sich vor Jungs in seinem Bett kaum retten kann. Es tut mir leid, dass du deine Eltern verloren hast. Aber andere hätten das viel schlechter weggesteckt. Die wären alle zu nem deprimierten Cosmo verkommen. Du hingegen hast dir dein Lachen und deinen Witz erhalten. Das ist beeindruckend, dass du so einen scheren Schicksalsschlag auf diese Weise verarbeiten konntest."

Ich sah Niki ausdruckslos an. Doch in meinem Inneren sprang mein Herz gerade vor Freude herum wie ein junges Fohlen. Seine Worten taten mir unendlich gut.

"Und im Übrigen glaube ich nicht, dass es eine Art "Gefühle aus"-Knopf gibt. Wenn du noch nie verliebt warst, dann liegt das daran, dass dir bisher einfach noch keine Person begegnet ist, die du so toll finden konntest. Aber .... dann frag ich mich, was mit Milan ist? Meinst du nicht er hat es verdient mit jemandem zusammen zu sein, der für ihn Gefühle hat, die über Freundschaft hinaus gehen?"

Ich blickte auf. Obwohl ich eigentlich ziellos durch die Gegend gestiefelt war, hatten mich meine Füße vors Knusper gebracht. Und verdammt, natürlich war das der einzige Ort, an dem ich heute Abend zu sein hatte. Ich war es Niki schuldig, dass ich mich heute mit unseren Freunden traf um an ihn zu denken. Auch wenn Milan da war, mit dem nun Schluss war.

Milan

Er war tatsächlich gekommen. Es wäre auch eine Schande gekommen, wenn nicht. Ändern würde das aber dennoch nichts. Lasse und ich hatten über Janoschs Vorschlag gesprochen. Gemeinsam Weihnachten zu verbringen, Niki zu Liebe. Und aus einem mir unerklärlichem Grund wollte Lasse das nicht. Erst dachte ich es läge wirklich an irgendwelchen Schuldgefühlen, die er hatte, weil er im Nachhinein nicht sensibel genug war. Doch irgendwie gab ein Wort das nächste. Irgendwann ging es schon gar nicht mehr um Niki. Oder um Janosch. Oder um mich. Es ging um Lasse. Und ohne es böse zu meinen, ohne mich verletzen zu wollen, rutschte Lasse heraus, dass er keine Gefühle für mich hatte. Als ich von ihm eine Erklärung verlangte, stotterte er nur herum. Keine Ahnung, was in seinem Kopf vorging. Und auch wenns total absurd war, aber ich glaubte ihm, dass er mich nicht verletzten wollte. Glaubte ihm, dass es ihm leid tat, und auch, dass er trotzdem mit mir zusammen sein wollte. Aber ich wollte das nicht. Die Zeit mit ihm hatte seine schönen Momente, aber noch viel mehr hatte sie Momente, von denen ich hoffte, dass sie mit der Zeit besonderer würden. Dass wir nur in den Startlöchern unserer Beziehung steckten, weswegen alles noch nicht so ganz harmonisch, noch nicht so rosarot war und sich das alles noch entwickeln würde.

Aber wie könnte es, wenn jemand dir sagt, dass er nichts weiter außer freundschaftlichen Gefühlen für dich empfindet. Ich seufzte, nickte Lasse aber freundlich zu, als er an mir vorbeiging.

Ich hasste ihn nicht, aber trotzdem wollte ich erst mal Ruhe vor ihm haben.

Ich beobachtete Küken, der sehr fein gekleidet auf dem Boden im Schneidersitz saß. Cosmo stand an einer Wand gelehnt mit verschränkten Armen. Janosch saß an einem Tisch und kontrollierte noch mal, ob er an alles gedacht hatte. Wir hatten uns entschieden zweimal zu feiern. Den Heilig Abend wollten wir für uns sechs. Nein, halt. Fünf. Wir waren nur noch zu fünft. Morgen würden wir dafür noch mal mit allen Knusper-Besuchern, die mochten und schließlich ja auch mit Niki befreundet waren, feiern und uns an Niki erinnern. Als Dustin gehört hatte, dass Janosch, inspiriert durch dessen Arbeit im Krankenhaus, auf die Idee mit den Geschichten kam, hatte Dustin es als seine persönliche Aufgabe gesehen allen noch mal persönlich in den Arsch zu treten, dass sie sich auch ja Gedanken machten zu ihrer Geschichte.

Ich hatte es versucht. Aber leider kannte ich Niki weder so lang wie die anderen, noch hatte ich eine ganz besondere Geschichte mit ihm. Ich hatte ihn sehr lieb gewonnen, aber wir hatten nie einfach mal zu zweit was unternommen. Der Gedanke an diese verpasste Chance bildete einen unangenehmen Kloß in meinem Hals.

"Danke, dass ihr gekommen seid", begrüßte uns Janosch.

"Die Leute vom Knusper haben sich bereit erklärt uns das Cafe zur Verfügung zu stellen für unsere kleine Feier. Ich hoffe wir haben einen schönen Abend. Und ich wünsch uns frohe Weihnachten."

Ohje, das klang eben ziemlich steif. Aber klar, ich glaube niemand von uns konnte gerade richtig locker sein. Das Essen lief relativ schweigsam ab, nur ab und an unterbrochen von höflichen Komplimenten.

Und dann war es soweit. Wir machten es uns alle auf ein paar Kissen gemütlich und warteten auf die ersten Geschichten. Küken hatte seinen Kopf auf Janoschs Schoß gelegt. "Wer fängt an?", fragte er. "Wie wärs mit dir, Milan?"

"Ich?"

"Ja, willst du uns nicht etwas zu Niki sagen?"

"Doch, natürlich ich..." Willst du uns nicht etwas sagen? Eine Erinnerung flammte auf. Der wissende Blick meiner Eltern. Es war zwar kein gemeinsamer Moment mit Niki, aber auf jeden Fall eine kurze Erzählung wert.

"Nun gut, also", ich räusperte mich. "Ihr wisst ja noch, als ich damals das erste mal ins Knusper kam, war ich noch nicht geoutet. Und ich war mega nervös und alles war neu und ich hatte noch keine Ahnung, wie das so sein würde in so ner schwulen Jugendgruppe." Die anderen hörten mir aufmerksam zu. Ich glaubte bei Küken ein Lächeln zu entdecken.

"Und ich hatte auch vorgehabt die Besuche im Knusper lange vor meinen Eltern zu verheimlichen. Aber schon am ersten Tag", ich blickte kurz zur Seite, direkt in Janoschs Augen. "Am ersten Tag begegnete ich einer Person, die mich verzauberte. Ein ganz besonderer Junge."

Küken hob den Kopf. "Niki?"

"Nein", ich wurde rot. "Ich spreche gerade von Janosch." Eine peinliche Stille stellte sich ein.

"Janosch und ich waren uns sehr schnell sehr vertraut. Und je mehr Zeit ich mit ihm verbracht hatte, umso mehr war ich in ihn verliebt. Aber trotz allem, trotz meiner Gefühle für Janosch konnte ich mich nicht durchringen meinen Eltern zu erzählen, dass ich schwul bin."

"Du weißt doch, dass Janosch mindestens genauso sehr verliebt ist in dich, wie du in ihn." Nikis Stimme erklang in meinem Kopf. Ich erzählte weiter.

"Ich glaube ja."

"Wie willst du das dann machen, wenn ihr zusammen seid? Erzählst du deinen Eltern davon?"

"Hm, ich weiß nicht. Ich glaube nicht." Niki sah mich mit vorgeschobener Unterlippe an.

"Du hast Angst, oder?"

Ich nickte. Niki streichelte mir über meinen Rücken. "Hey, es ist völlig ok Angst zu haben. Das hatten wir alle mal. Selbst Großmaul Lasse da drüben. Selbst ich."

"Ja? Wie war das denn bei dir?"

Niki brauchte gar nicht zu überlegen. "Ich wusste, wenn ich meinen Eltern davon erzählte, war ich tot."

Ich runzelte die Stirn. "Was?"

"Na komm, hast du dir darüber noch keine Gedanken gemacht? Ich heiße nicht Niklas oder Nico. Ich heiße Nikita. Meine Eltern stammen nicht gerade aus einem Land, das Schwule mit offenen Armen und einem Küsschen links und rechts begrüßt."

Darüber hatte ich mir tatsächlich noch keine Gedanken gemacht.

"Und ehrlich, ich war schon öfter mit meiner Familie in Russland, um Verwandte zu besuchen und so. Und als schwuler Junge dort drüben, glaub mir, das ist echt kein Geschenk. Ich würde auswandern. Einfach nur weg wollen."

Ich unterbrach Niki nicht, damit er weitererzählen konnte.

"Ich hab schon sehr früh gemerkt, dass ich auf Jungs stehe. Ich hatte mit neun Jahren zum ersten mal was mit nem Jungen."

"Was? Erzähl, bitte."

Niki lachte aber nur und schüttelte verschwörerisch den Kopf. "Jedenfalls, als ich damals über so Sachen nachdachte wie Liebe und so, da hab ich mir überlegt, wenn ich mal einen Freund habe, einen so wundervollen, tollen Menschen, dass ich mich in ihn verliebe und immer behalten mag, dann sollte er auch kein Geheimnis sein. Vor niemandem. Auch nicht vor meinen Eltern. Weil er es verdient hat, dass ich ihn präsentiere wie das schönste Geschenk, das man kriegen kann. Aber damit mein Freund kein Geheimnis sein muss, darf ich selbst auch kein Geheimnis sein. Das war ganz logisch in meinem kleinen Kinderkopf. Nur die Sache mit dem Mut hatte ich noch nicht so ganz raus. Das hat ein wenig gedauert, gerade weil ich auch in meiner Verwandtschaft immer wieder mal ziemlich blöde Sprüche gegenübe Schwulen mitbekommen hatte. Das hat mich nicht unbedingt dazu eingeladen mich zu outen." Ich stimmte ihm nickend zu.

"Ja, und als mir Nikita das erzählt hatte, war ich ziemlich beeindruckt, dass er als so junger Mensch schon so klar wusste, dass er zu seinem Freund stehen möchte, wenn er mal einen hat. Und das hat mir imponiert. Daher hab ich mich, dank Nikita, viel leichter getan mich bei meinen Eltern zu outen.

Ich konnte sehen, wie die anderen lächelten.

"Wer möchte als nächstes?" Ich lächelte Lasse an und hoffte er erkannte, dass ich ihm zeigen wollte, dass ich mich aufrichtig freute, dass er gekommen war. "Du, Lasse?"

Er wirkte nervös, räusperte sich dann aber. "Klar, ich kann gern weitermachen. Also ihr wisst ja, dass Niki ein ganz lustiger Junge war. Und er hat öfter mal bei mir übernachtet, weil ..." Oh bitte sag jetzt nicht, weil ihr gevögelt habt. Ich rollte innerlich schon mit den Augen. Wie konnte ein Mensch so ein Trampel sein. Als hätte Lasse meine Gedanken empfangen, stockte er und hustete: "weil er manchmal von Knusper nicht mehr bis ganz nach Hause laufen wollte. Und an einem Morgen, ich lag noch schlafend im Bett, hörte ich auf einmal was klackern. So langsam wurde ich wacher und blinzelte den Schlaf weg. Und bevor ich aber mich strecken und mal kurz gähnen konnte, sprang plötzlich mit einem Satz Niki auf mein Bett, trampelte auf meiner Matratze herum und schrie: "ERDBEBEN! ERDBEBEN!"

Alles lachte. Zufrieden, dass diese kurze Geschichte bei allen gut angekommen war, lehnte sich Lasse wieder zurück. Cosmo nahm sich als nächstes an die Reihe und erzählte uns davon, als er mit Niki mal in einer Geisterbahn war. Niki soll wohl schrecklich viel Angst gehabt haben, aber er hatte ja Cosmo, der ihn beschützte und ihn sicher an allen Schrecken vorbei gesteuert hatte. Als Cosmo dazu kam zu erzählen, wie er dann in der Dunkelheit Niki zur Seite genommen, an die Wand gepresst und ihm die Hose heruntergerissen hatte, unterbrach Janosch ihn dankbarerweise und erzählte seine Geschichte. Janoschs Erzählung machte mich ziemlich nervös. Es war sehr schnell klar um welchen Tag es sich handelte in seiner Geschichte. Und ich wusste nicht, was er von dem, was an diesem Abend so alles geschah, auslassen würde und auch Küken lauschte übertrieben aufmerksam, um im entscheidenden Moment Janosch den Mund zuzuhalten. Aber unsere Befürchtungen waren unbegründet. Über unseren sexuellen Ausschweifungen verlor er kein Wort. An einer Stelle schien Janosch allerdings zu stocken. Wir sahen ihn erwartungsvoll an. Dann erzählte er uns etwas, was er an diesem Abend bisher nur Niki erzählt hatte. Und er ließ nichts aus. Kein Wort. Als Janosch seine Geschichte beendet hatte, hatte ich Gänsehaut. Cosmo hatte sich erhoben und ging vor die Tür. Da viel mir auf, dass er den ganzen Abend noch kein einziges mal geraucht hatte. Lasse blickte angestrengt auf den Boden. Janosch sah ziemlich nervös aus, als würde er am liebsten im Boden versinken. Er tat mir leid. Und da war nicht nur Mitleid, das ich in diesem Moment empfang. Etwas regte sich in mir, was ich versucht hatte aus Traurigkeit zu versiegeln.

"Au", rief Janosch kurz auf, als ich mich neben ihn setzte und mit meinem Ellbogen in seine Seite stieß.

"Das ist für damals an der Ampel." Wir lächelten uns vorsichtig an. Dann griff ich nach seiner Hand, ließ meine Finger zwischen seine gleiten und schmiegte mich an Janoschs Brust. Die nächste Geschichte konnte kommen.

Küken

Ich hatte lange überlegt, ob ich meine Geschichte erzählen sollte. Doch ich hatte mich dagegen entschieden. Genau wie Janosch hatte auch ich meinem kleinen Niki ein Geheimnis anvertraut, von dem sonst niemand wusste. Und er hatte mich in den Arm genommen und geküsst. Es war das erste mal, dass ich Zärtlichkeit zugelassen hatte. Cosmo hatte damals versucht mit mir Sex zu haben und ich hatte auch Lust. Aber als er sich über mich beugte, kamen die Erinnerungen und ich bekam einen hysterischen Anfall. Er hatte mich damals beruhigen können und ich musste ihm nie erklären, was passiert war. Doch bei Niki war es anders. Da war mein Kopf, mein ganzer Körper so voller "Niki", dass böse Erinnerungen gar keinen Platz hatten, um den Moment zu zerstören. Und das war schön. Fast jeden Tag haben wir uns seitdem heimlich gesehen, ohne, dass die anderen davon wussten. Oder zumindest nicht alle.

Niki ging sehr behutsam mit mir um und sehr rücksichtsvoll. Er verstand, dass ich seit dieses schrecklichen Moments nur noch mit meinem Diktiergerät in der Hand bewaffnet unterwegs war, um es im Notfall einzuschalten und alles aufzunehmen, was um mich herum geschah. Denn schlimmer als das, was mit mir geschehen war, war, dass niemand mir glaubte und das sollte nie wieder geschehen. Ich war unglaublich dankbar, dass ich mich bei Niki so wohl und sicher fühlen konnte.

"Küken, du weißt, dass es mir nichts ausmacht, dass wir keinen richtigen Sex haben, ja?"

Ich kuschelte mich an ihn. Es tat gut das zu hören.

"Aber ich möchte dich wissen lassen, wenn du für dich üben magst, dann ... also dann können wir das tun."

"Wie meinst du das", fragte ich den Weißschopf.

Er streichelte mir über meinen Kopf. "Bitte versteh das jetzt nicht falsch. Mir gehts bei nicht um mich. Sondern nur um dich. Du hast erzählt, immer wenn du mit jemandem sexuell zur Sache gehen wolltest, kamen die Erinnerungen an damals und dass du dann nur noch Panik hattest. Und mein süßes Küken, ich kann das total verstehen." Er gab mir einen Kuss auf die Wange. Und noch einen. "Aber wenn du dagegen ankämpfen magst, dann könnten wir versuchen diese schlechten Erinnerungen durch neue zu ersetzen. Und wir könnten ganz ganz langsam damit anfangen, ausprobieren, wie weit wir gehen können und wenn du merkst, es geht nicht, dann brechen wir das sofort ab und ich bekuschel dich bis du dich wieder beruhigen konntest."

Ich war unheimlich gerührt von seinem Vorschlag. Zugegeben, er klang ungewöhnlich, aber er zeigte, dass er sich Gedanken gemacht hatte und dass es ihm wichtig war mir irgendwie dabei helfen zu können, dass mich nicht ständig, wenn ich Sex mit jemandem haben wollte meine Vergangenheit mich einholte. Also übten wir. Die ersten male gingen noch ziemlich schief und Niki bot mir oft genug an, dass wir es auch einfach lassen konnten. Aber ich wollte nicht. Immerhin war Niki die eine Person, bei der meine Atmung nicht verrückt spielte, wenn sie mich nur länger als ein paar Minuten umarmte. Ich wollte Sex mit Niki und ich wollte diesen Sex auch genießen. Und so oft wie wir es versuchten, war es schließlich auch nur eine Frage der Zeit, bis wir wirklich miteinander schliefen, ohne, dass die Erinnerungen auflebten.

Milan hatte gerade seine Geschichte erzählt und dabei gesagt, dass Niki nie wollte, dass sein Freund ein Geheimnis sein muss. Aber genau das waren wir, ich war sein Geheimnis und er meines. Hat er sich deswegen umgebracht? Weil ich nicht zu ihm stand? Er hätte wissen müssen, dass das nichts mit ihm zu tun hatte, sondern nur mit mir. Dass ich Zeit brauchte. Und vor allem, dass ich ihn brauchte.

"Küken, du weinst ja." Die Anderen sahen mich besorgt an. Ich hatte seit dem ersten Dezember schon so viel geweint. Ein normaler Mensch wäre vertrocknet. Aber für Niki kamen immer und immer wieder neue Tränen hervor. In den Augen der anderen konnte ich sehen, dass sie, auch wenn ich es nicht erzählen mochte, sich ihren Teil dachten und Niki jemand ganz besonderes für mich war.

"Du musst nichts erzählen, wenn du nicht möchtest", flüsterte Cosmo. Ich schniefte. Aber ich wollte. Ich wollte erzählen. Weil Niki meine erste große Liebe war. Und genau genommen sogar meine Zweite. Also schluckte ich tapfer und begann zu erzählen.

"Na, Küken, magst du mit Mama tanzen?" Nein, meine Eltern nannten mich nicht Küken, aber meint ihr wirklich für meine Geschichte würde ich meinen richtigen Namen verwenden?

Meine Mutter nahm mich an die Hand und betrat die Tanzfläche mit ihrem achtjährigen Sohn. Eine betriebliche Weihnachtsfeier, zu der die Angestellten auch ihre Kinder und andere Verwandte mitbringen durften. Die meisten hatten sich wohl für 'andere Verwandte' entschieden, denn andere Kinder waren kaum zu sehen. Meine Mutter wirbelte mich herum, nach mich dann und wann mal auf den Arm und wir tanzten mit einem Arm von uns gestreckt durch die Reihen.

"Oh, sie mal, Schatz. Weißt du was das da oben ist?"

Ich blickte mit meinen kleinen Kulleraugen nach oben. "Nein?"

"Das ist ein Mistelzweig. Und weißt du, was man unter einem Mistelzweig macht?"

Neugierig schüttelte ich den Kopf. Daraufhin gab mir meine Mutter einen dicken Kuss auf die Wange.

"Bähhh", rief ich laut und streckte die Zunge raus. Aber meine Mutter lachte nur. "Na, so eklig?"

"Ja, sehr eklig. Sowas machen nur Erwachsene."

"Das heißt wenn du erwachsen bist, machst du das auch?"

"Vielleicht. Aber dann ist das auch immer noch eklig."

Dafür bekam ich einen festen Drücker und wurde wieder auf den Erdboden entlassen.

Meine Mutter widmete sich anderen Leuten zum tanzen und küssen. Ich hingegen hatte etwas viel spannenderes entdeckt. Ein anderes Kind. Meine Mutter hatte für den Moment als Aussichtsturm gute Dienste geleistet. Ich flitzte zwischen den Beinen der Erwachsenen hindurch, dachte aber zu spät daran abzubremsen und rannte direkt in den Jungen, den ich aus der Höhe entdeckt hatte. Ich prallte an ihm ab und haute mir den Kopf am Boden an. Der Schmerz betätigte einen geheimen Knopf, der unmittelbar ein lautes Heulen auslösen sollte. Doch bevor ich Gelegenheit hatte bekannt zu geben, dass ich von Lebensgefahr bedroht war, hatte sich der Junge neben mich gekniet und sah nach meinem Kopf.

"Oh, du Armer. Tut das weh?"

Er streichelte mir sanft über den Kopf. Ja, es tat unglaublich weh, aber irgendwie wollte ich vor diesem Jungen tapfer sein. Er sah mich mit seinen leichtend blauen Augen an. Dann pustete er mir über den Kopf. "Besser?", lächelte er freundlich.

Ich nickte tapfer.

"Komm mit, ich zeig dir was, womit der Schmerz ganz schnell vergeht", und er nahm mich bei der Hand. Als ich die Wärme spürte, die von ihm ausging, bekam ich Herzklopfen. Ein ganz ganz komisches Gefühl, wie ich es noch nie gespürt hatte, machte sich in meinem Bauch breit. Irgendwie wie beim Schaukeln, wenn die Luft durch den Bauch zischte.

"Da, alles für dich." Stolz hielt der Junge mir eine Schale mit Schokopudding entgegen.

"Danke", freute ich mich. "Aber meine Mama sagt, ich soll immer alles teilen. Also musst du auch was essen." Diesen Vorschlag fand der andere Junge gut und wir suchten uns eine Ecke um in aller Ruhe vom Pudding zu naschen. Praktischerweise hatten wir nur einen Löffel. Anstatt den Löffel aber immer hin und her zu geben, hielt er mir den mit Schoki beschmierten Löffel vor den Mund. "Du magst mich füttern? Das macht man doch nur mit Babys."

"Dann bist du jetzt mein Baby. So nennt mein Papa meine Mama auch immer."

"Aber ich bin gar keine Mama, dann kannst du mich auch nicht Baby nennen", maulte ich.

"Wer sagt das denn? Magst du denn nicht mein Baby sein?"

Darauf wusste ich keine so rechte Antwort. War ja auch eine komische Frage. Aber von ihm gefüttert werden, das wollte ich irgendwie schon. Sehr behutsam ging er dabei um und strich mit dem Löffel auch immer wieder Puddingreste von meinem Kinn. Nach kürzester Zeit hatten wir die Schüssel geleert. Zufrieden lehnten wir uns zurück und lagen gesättigt auf dem Boden.

"Oh, siehst du das da oben?", fragte ich ihn und deutete an die Decke.

Er nickte.

"Weißt du was das ist?", fragte ich.

"Was denn?"

"Das ist ein Mistelzweig. Und weißt du was man unter einem Mistelzweig macht?"

"Was denn?", fragte der Junge neugierig.

Ich rollte mich zu ihm und sah ihm in die Augen. Dann drückte ich ihm meine Lippen auf den Mund. Mein Herz klopfte wie wild. Ich wusste nicht, wie es ihm gefiel, aber ich fand es wunderschön. So lagen wir da, mindestens eine Minute lang. Ohne auch nur die kleinste Bewegung zu machen. Dann zog ich langsam meinen Kopf zurück. Der Junge lächelte mich süß an.

"Und weißt du was?"

"Was denn?", fragte ich.

"Wir liegen immer noch unter dem Mistelzweig", und er gab mir meinen zweiten Kuss. Dieses mal bewegten wir sogar ein wenig unsere Köpfe dabei.

"Und dann?"

Ich zuckte mit den Schultern. "Wir sind irgendwann dabei eingeschlafen. Das Küssen hat wohl niemand mitbekommen und als ich wieder aufwachte, lag ich daheim in meinem Bett ohne die Möglichkeit ihn noch nach seinem Namen zu fragen."

"Und das war Nikita?", fragte Lasse ungläubig.

Ich lächelte verträumt. "Ja, das war Nikita. Wir haben es aber selbst erst vor ein paar Monaten gecheckt."

Weitere Nachfragen traute sich wohl niemand zu stellen und dafür war ich dankbar. Sie wussten, dass ich alles, was ich erzählen wollte, auch erzälen würde. Wenn ich befand, dass es der richtige Moment war.

"Weitere Geschichten?", fragte ich in die Runde. Und nachdem erst noch mal sämtliche 'Ohhs' und 'Awww' und 'Wie süß' verklungen waren, erzählten wir uns noch den ganzen Abend von gemeinsamen Momenten mit unserem Freund Nikita.

Wir sollten nie ganz sicher wissen, warum Niki diesen Entschluss gefasst hatte und gesprungen war. Wir konnten nur Vermutungen anstellen. Ich wusste, dass Niki bei all seiner Freundlichkeit, Freude und Hilfsbereitschaft zu depressiven Stimmungsschwankungen neigte. Momente, in denen, trotz seiner Freunde, seinen ihn liebenden Eltern, und trotz mir an seiner Seite er sich sehr einsam fühlte. Einsam und minderwertig. Vielleicht hätten wir uns alle mehr kümmern sollen. Vielleicht wäre es aber auch nie genug gewesen und wir hätten seinen Tod niemals verhindern können. Aber wir konnten dafür sorgen, dass sich niemand mehr von uns einsam fühlen musste. Dass niemand mit seinen Geheimnissen oder seiner Vergangenheit allein war. An diesem Abend hatte sich Janosch uns geöffnet und hätte er das nicht getan, wäre niemals ein anonymer Spender aktiv geworden, der seiner Familie unter die Arme griff. Jahre später erst sollten wir erfahren, dass es sich dabei um Cosmo handelte. Im Laufe der Jahre erzählten auch andere aus unserer Gruppe ihre tiefsten Geheimnisse. Mich eingeschlossen. Die Treffen im Knusper wurden, je älter wir wurden, immer seltener und irgendwann konnte dieser Ort uns nicht mehr zusammen halten. Aber die geteilten Geschichten und das Vertrauen konnte es. Bis heute.

Alle

"So, können mich alle hören?"

"Laut und deutlich"

"Lasse schreibt er hört noch nichts."

"Einstecken ist das Zauberwort. Vielleicht hat er das aber mittlerweile verlernt."

Gelächter ertönte.

"So, geschafft. Hört ihr mich?"

"Na endlich."

"Gut, dann sind wir ja nun komplett."

Fünf gute Freunde grinsten sich an. Jeder von ihnen saß vor einem Computer und hatte seine Webcam laufen. Sie waren ein wenig älter geworden seit sie zum ersten mal ein Weihnachten gemeinsam verbracht hatten. Ihre Freundschaft war aber immer noch innig und stark, als wären sie noch Kinder.

"Jungs, ihr seid alt geworden."

"Hört euch den an. Als wärst du noch unser junges Küken geblieben."

"Hey, Milan! Janosch! Wer passt denn auf eure Kleinen auf, wenn ihr gerade beide vorm PC sitzt. Sicher, dass die sich nicht schon heimlich auf die Geschenke gestürtzt haben und im Wohnzimmer gerade Papierfetzen fliegen?"

"Keine Sorge, unsere Kinder sind braver, als du es jemals gewesen bist, Lasse."

"Genug der Höflichkeiten, wer fängt an?"

"Lass mal Cosmo anfangen. Und wehe du fantasierst wieder Unwahrheiten dazu. Von deiner alten Geisterbahngeschichte haben wir mittlerweile bereits drei verschiedene Versionen gehört und wahrscheinlich entspricht keine davon der Wahrheit."

"Ich könnte euch eine Geschichte meiner Mafia-Familie erzählen."

"DÖÖT, Lüge. Nächste Geschichte."

"Hat eigentlich von euch noch jemand eines der Europacks? Ihr wisst schon, damals, Weihnachten 1998, hat jeder von uns doch von Cosmo so einen Beutel mit den ersten Euromünzen geschenkt bekommen."

"Stimmt, daran hab ich schon gar nicht mehr gedacht. Wie viel war da drin? 20 Euro?"

"Ich glaub so um den Dreh, genau. Schon unglaublich, dass 1998 das letzte Jahr mit der Mark war. Ich kann mich kaum mehr an Mark und Pfennige erinnern."

"Jungs, nun lasst Cosmo aber gleich mal erzählen. Aber bevor wir nun anfangen, wollte ich euch sagen, dass ich unheimlich stolz darauf bin, dass wir es nun schon seit so vielen Jahren schaffen immer an Heilig Abend, mal mehr mal weniger persönlich, zusammen zu kommen, um gemeinsam die neusten Geschichten auszutauschen und alte Geschichten wieder in Erinnerung zu rufen. Und so ist selbst nach all der Zeit Nikita immer noch bei uns."

Für einen Moment kehrte Ruhe ein und jeder dachte an den ersten Abend vor so vielen Jahren, an dem sie sich gemeinsam für einen alten Freund getroffen hatten.

"Ja. Danke für fünfzehn Jahre Nikis Stories, auch wenn ich natürlich um keinen Tag gealtert bin."

"Das liegt daran, dass du schon damals ein Vampir warst, Cosmo. Und nun fang endlich an zu erzählen."

"Schon gut, ich weiß doch, wie heiß ihr auf meine Geschichten sind. Dann lehnt euch mal zurück, lauscht meiner Grabesstimme und genießt die Geschichte. Fröhliche Weihnachten, meine Freunde."

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