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Das Papierflugzeug

Weihnachtschallenge 2008

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Ein Papierflugzeug. Es lag auf einem Glastisch und wirkte wie jeder beliebige, gefaltete Flieger auch. Aus einem weißen DinA4 Bogen gemacht, hier ein Knick, da die Flügel. Die offensichtliche Gewöhnlichkeit hinderte aber Sidney Losson nicht daran, es unbeirrt anzustarren. Er döste mit halboffenen Augen auf der Couch, während andere Jugendliche das perfekte Wetter nutzten um Schwimmen zu gehen. Er lag schon eine ganze Weile so da. Sein Blick wechselte mal von konzentriert bis schläfrig, war jedoch stets auf das Flugzeug gerichtet. Dann weiteten sich seine Augen und das, worauf er gewartet hatte, schien einzutreten. Der Papierflieger erhob sich von der gläsernen Platte. Ganz langsam schwebte es empor, was ein Lächeln bei Sidney auslöste.

"Paps, bist du zu Hause?"

Er rappelte sich auf und verließ das Wohnzimmer. Im Flur stand ein Mann in Uniform und langem Mantel. Ein Koffer stand neben ihm. Er lächelte dem Jungen zu.

Sidney freute sich seinen Vater zu sehen. Sie sahen sich selten, da sein Vater immer unterwegs war. Als Pilot hatte er eben andere Arbeitszeiten wie andere Väter.

Etwas streifte Sidneys Hals. Das Flugzeug war ihm gefolgt und segelte nun in seine Hände. Wie ein Haustier schien es sich an ihn zu schmiegen.


Ein neuer Morgen, ein neuer Schultag. Ich ließ mich auf meinen Stuhl fallen und begann meinen Rucksack zu durchstöbern. Ich wollte meine Mappe mit Füller und den übrigen Dingen gerade auf den Tisch packen, da wurde sie auch schon weggefegt und knallte auf den Boden.

"Kannst du nicht endlich mal mit der Kinderscheiße aufhören?"

"Hab dich nich so", grinste Cedric, der sich neben mir niederließ. Genervt hob ich meine Mappe auf.

"Klasse, der Reißverschluss ist mal wieder aufgeplatzt. Du könntest mir wenigstens helfen die Stifte einzusammeln."

Cedric schien nicht interessiert zu sein. "Wenn du ständig deine Sachen runterfallen lässt. Willst doch nur nen Grund haben um mit dem Kopf unter der Bank zu verschwinden. Sid, echt, was sollen die anderen denken", schnaufte er empört.

"Frech …", brachte ich hervor.

Ich setzte mich wieder, die Mappe behielt ich dabei im Auge. Nach und nach trudelte der Rest unserer Klasse herein.

"Ced, wo ist das Band?"

"Welches meinst du?"

"Stell dich nich blöd. Das grüne Nietenband von deinem Freund."

Cedric legte ein unschuldiges Gesicht auf. "Ist mit dem Mäppchen auch dein Hirn aufn Boden geknallt? Ich besitze kein Band von irgendeinem Freund. Schon gar nicht ein grünes von einem Schwachkopf wie Lars, der seinen Schwanz in irgendeinen dahergelaufenen Typen steckt, wenn er einen so tollen Freund hat wie mich."

Cedric lächelte. Er lächelte sogar freundlich, als wäre wirklich alles in Ordnung. Da soll ihn noch mal jemand Emo nennen.

Meine Mappe fiel ein wiederholtes Mal zu Boden.

Es ist noch nicht ganz zwei Monate her, dass wir in diese Stadt gezogen sind. Man kann sie wahrscheinlich noch nicht mal Großstadt nennen, aber sie besitzt immerhin einen Stadtkern mit Einkaufsstraße, wo man alles kriegt, was man braucht. Außerhalb liegen ein paar Dörfer und dazwischen Wälder, Felder, Heidekraut. Den genauen Grund für den Umzug habe ich immer noch nicht begriffen. Klar, das Haus war etwas anderes als unsere alte Wohnung. Wir hatten sogar einen Garten. Doch für meinen Vater war es auf jeden Fall mehr als nur unpraktisch, da er nun immer zum Flughafen pendeln musste. Er war Pilot. Daher war er leider auch öfter mehrere Tage hintereinander weg, in der Weltgeschichte unterwegs. Ich bekam ihn kaum zu Gesicht. Aber es musste ein aufregendes Leben für ihn sein, andere Länder und Menschen zu sehen. Doch bisher schien er keine Probleme mit der neuen Situation zu haben. Ebenso meine Mutter. Von Zeit zu Zeit wirkte sie aber etwas traurig und zerstreut. Einmal saßen wir zu zweit beim Essen und sie starrte nur vor sich hin, während der Dampf auf ihrem Teller immer mehr abnahm. Als ich fertig gegessen hatte, starrte sie immer noch. Keinen Zentimeter hatte sie sich bewegt. Es war unheimlich. Aber abgesehen von ihren eintretenden apathischen Momenten mutierte sie zur perfekten Hausfrau. Das Haus strahlte immer in größter Ordnung, jeden Morgen waren meine Brotzeitboxen vorbereitet. Neben der Hausarbeit hatte sie angefangen viele Hobbies aufzunehmen. Sie spielte nun Klavier, malte mit Ölfarben oder arbeitete im Garten, wo sie Blumen und Gemüse pflanzte. Während unser Vater also in der Gegend herumflog, machte meine Mutter ihre persönliche Karriere.

Tja, und dann war da noch ich. Ein Jugendlicher von 16 Jahren, der plötzlich aus seinem Freundeskreis und seinem vertrauten Umfeld gerissen wurde. Ich wollte wirklich nicht umziehen. Die alten Freunde verlieren, keine neuen finden. Man kennt das ja als Neuer in einer Gruppe. Zumal ich außerordentlich schüchtern war. Damit wollte ich mich nicht abfinden. Doch letztendlich lag es nicht in meiner Hand zu entscheiden, wo wir wohnten. Jedoch wurde es nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte. Mir wurde nämlich das Glück zuteil einen sehr frechen Nachbarn zu bekommen.

Als die Möbelpacker am Tag unseres Umzuges noch dabei waren den Laster zu entladen, saß ich auf einer kleinen Schaukel, die wohl von den Vorbesitzern hier aufgestellt wurde. Ich schaukelte ganz leicht missmutig vor und zurück, während ich meiner Mutter beim Anweisungen geben zusah. Sie wirkte an dem Tag fröhlich und stark, voller neuer Hoffnung. Worauf sie hoffte, wusste ich nicht. Sie winkte, was ich nicht erwiderte. Scheiß Umzug.

"Man, was für Gestalten neuerdings in diese Gegend ziehen", hörte ich neben mir jemanden sagen. Ein Junge, wohl in meinem Alter. Der musste gerade von Gestalten reden. Schwarze Klamotten, Nieten, verstrubbelte Haare und unter den Augen leichte schwarze Linien. Sein linker Mundwinkel wurde von einem Piercing geziert. Und dieser Emo erdreistete sich einfach in unseren Garten zu kommen und sich auf die andere Schaukel zu setzen. Er stellte einen krassen Kontrast zu unserer Umgebung dar. Strahlendes Wetter, kleine Bilderbuchhäuser mit perfekt gepflegten Gärten. Er wirkte wie ein schwarzer Papagei. Und dann wagte er es über mich und meine Familie herzuziehen? Er blickte rüber zum Umzugsgeschehen.

"Versteh mich nich falsch, nichts gegen die Mutter da. Die scheint echt nett zu sein. Aber hast du den Sohn gesehen?"

Der meinte damit doch gerade mich, ja?

"Also ehrlich, der geht ja mal gar nicht. Nichts gegen seine Klamotten. Kann sich ja anziehen, wie er will, auch wenn langweilige, beige Hemden nich so mein Stil sind. Aber was der für ne Fresse zieht. Hier scheint die Sonne, er zieht in so ein edles Viertel, wo er die Ehre bekommt den coolsten Nachbarn ever zu bekommen und dann aber die Mundwinkel bis zum Boden. Und erst der Blick. Ich hab so einen Blick schon mal in Filmen gesehen. Den haben die Leute, die wie bekloppt anderen hinterher rennen, mit nem Messer rumfuchtelnd oder ner Kettensäge in Händen."

Er grinste mich an. "Frech …", brachte ich hervor. Mehr wusste ich nicht zu sagen. Ich glaub ich war mit der Situation überfordert.

"Immerhin hat der Sohn nicht auch noch ne Maske, wie son Psycho-Killer. Hätt ja sonst nich gemerkt, was fürn Cutie ab heute auf der anderen Straßenseite zu betrachten ist. Wir sehen uns" und mit diesen Worten schlenderte er davon. Ungläubig starrte ich ihm hinterher. Sowas erlebte man doch auch nicht alle Tage. So unverschämt und alles und … hatte der mich gerade als süß bezeichnet? Und während ich hier auf der Schaukel gammelte, sah ich, wie der Typ meiner Mutter wohl seine Mithilfe anbot, denn auf einmal fing er an sich eine Kiste zu schnappen und ins Haus zu tragen. Schnell eilte ich zu ihr.

"Was soll das denn jetzt? Was macht der Typ da, Mom?"

"Schatz", lächelte sie. "Cedric hat seine Hilfe angeboten. Das ist doch wirklich nett. Zudem wohnt er gleich im Haus gegenüber und es ist doch nicht schlecht, wenn du hier gleich am ersten Tag einen Freund findest. Vielleicht ja sogar deinen Freund." Der Ton, mit dem sie das letzte Wort aussprach, gefiel mir nicht. Auf jeden Fall konnte ich nun nicht mehr länger herumsitzen, während ein Fremder einen besseren Sohn abgab, als ich. Immer wenn wir aneinander vorbei gingen, versuchte ich ihn zu ignorieren. Doch aus den Augenwinkeln bekam ich mit, wie er mich angrinste oder zuzwinkerte. Einmal ließ er dabei seine Zunge gegen die Innenseite seiner Wange schlagen, worauf ich meine Kiste fallen ließ. Zum Glück war nichts Zerbrechliches drin gewesen. Eine unangenehme Wärme stieg in meinen Kopf und die rührte wohl nicht nur von dem Missgeschick her. Im Laufe des Nachmittags kamen auch noch Cedrics Eltern zum Helfen rüber mit den Worten: "Wir können doch nicht zulassen, dass unser Sprössling einen besseren Nachbarn abgibt als wir."

Durch die zusätzlichen Hände verlief der Umzug viel schneller, sogar der Inhalt von manchen Kisten konnte bereits eingeräumt werden. Ob es mir so angenehm war, dass Cedric mir beim einräumen meiner Sachen half, wusste ich nicht so recht.

"Ohaa, da hat wohl jemand eine Schwäche für Liebeszeugs." Er hielt eine Titanic-DVD in Händen. Frage beantwortet, es war mir nicht angenehm.

"Oder stehst du mehr darauf, wie hunderte von Menschen in den eiskalten Tod stürzen, Psycho-Killer?" Er kam grinsend auf mich zu. Mit hochgezogenen Augenbrauen registrierte ich, wie er seine Arme um mich legte.

"Na? Darf ich mal meine Titanic in dir versenken?"

Vor Verblüffung entfuhr mir ein kleiner Schrei und ich kippte nach hinten um und zog Cedric mit mir. Unglücklicherweise fielen wir auf mein Bett. Er betrachtete mich amüsiert.

"Das fass ich dann mal als ja auf." Sein Grinsen wurde breiter. Scheiße, er musste spüren, wie sich bei mir etwas versteifte. Er stupste mir über die Nase.

"Aber, aber, Herr Losson. Doch nich gleich bei der ersten Begegnung, für wen halten sie mich? Lass ma weiter deine Kisten auspacken." Und mit den Worten ging er von mir runter. Leider, dachte ich.

Wir kamen zügig voran und ich musste sagen mein Zimmer gefiel mir ausgesprochen gut. Es war wirklich groß, sodass alles reinpasste. Mein neues, großes Bett, ein Sofa plus Glastisch und natürlich Regale und Schränke. Hier und da hängte ich meine alten Poster auf, hauptsächlich Panoramen aus weit entfernten Ländern. Außerdem die Postkarten, die mir mein Vater aus jeder Stadt schickte, in der er landete. Mittlerweile konnte ich sie gar nicht mehr zählen.

"Nicht schlecht. Dein Dad scheint ja viel herum zukommen. Paris, Kapstadt, Manila." Er setzte sich auf mein Bett. Er betrachtete mein Papierflugzeug, das auf dem Nachtkästchen lang. Ich sah ihm unsicher zu und näherte mich langsam. Gerade wollte er es sich nehmen, da schnellte ich vor und packte seine Hand.

"Händchen halten?", fragte er erstaunt.

"Nein, ähm. Ich wollte nur … Also mir wäre es lieber, wenn du das Flugzeug da liegen lässt."

Er schaute mich ernst an. Dann nickte er.

"Versteh das nicht falsch, es ist nur so, dass das der erste Flieger ist, den mir mein Vater gebastelt hat als ich klein war. Ich war so stolz als ich es von ihm gelernt hatte und … das klingt vielleicht total blöde, aber wenn er mal wieder auf Reisen ist, dann ist dieses Flugzeug meine Verbindung zu ihm." Ich lächelte. "Als ich klein war, hab ich mir immer von dem Flugzeug gewünscht, dass es mir meinen Vater holt, damit er mir "gute Nacht" sagen kann." Man konnte auf den Flügeln sogar Worte in krakeliger Kleinkindschrift lesen, wie "Gute Nacht Pabs" oder "gess dir guut?". Kleine Botschaften, von denen ich fest glaubte, dass sie mein Flugzeug zu meinem Vater schicken würde. Jeden Abend warf ich das Flugzeug hinaus in die Dunkelheit. Die Tatsache, dass es an jedem Morgen wieder auf meinem Nachtisch lag, gab mir die Gewissheit, dass meine Botschaften angekommen waren. Hoffentlich dachte Cedric nicht, dass ich mich wie ein kleines Kind verhielt. Ich sah ihm in die Augen. Aber da war kein Spott. Nur ein grünes Glitzern.

"Das versteh ich Sidney, aber auch wenn der Flieger eine besondere Bedeutung für dich hat, kannst du meine Hand doch langsam loslassen."

Was? Oh scheiße, hatte ich vergessen …? Tatsächlich. Beschämt zog ich meine Hand zurück. Und ja, die Hitze ließ auch nicht lange warten, bis sie wieder in meinen Kopf stieg.

"Komm, lass ma runter gehen. Ich krieg langsam Hunger." Danke, wenigstens ritt er nicht lange auf peinlichen Situationen herum.

"Ich glaube nicht, dass wir etwas zum Essen im Haus haben."

"Ja, ihr seid eben erst eingezogen, I remember. Keine Sorge, so wie ich meinen Haufen kenne, spielt der schon wieder Gastgeber in eurem Haus."

Er hatte Recht. Als wir die Treppe herunterstiegen, roch es nach Kuchen. Mittlerweile waren alle Zimmer hergerichtet und die Erwachsenen saßen am Esstisch. Die Möbelpacker schienen bereits gegangen zu sein. Wir setzten uns dazu, wobei Cedric mir mit übertriebenen Gesten einen Stuhl anbot. Die Enrics schienen mehr als nur nette Nachbarn zu sein. Schon als Frau Enric den Umzugslaster gesehen hatte, musste sie angefangen haben einen Kuchen zu backen. Pflaumen-Sahne-Schnitte. Eine Kleinigkeit, wie sie versicherte. Sehr schnell und gar nicht aufwendig. Die Bescheidenheit in allen Ehren, aber der Kuchen war wirklich gut und von Fremden eine solche Geste entgegengebracht zu bekommen, waren wir nicht gewohnt.

So wurden wir vor zwei Monaten herzlich in unserer neuen Nachbarschaft willkommen geheißen. Auch der erste Schritt in meine neue Klasse wurde mir erleichtert. Ich stand vor den vielen Augenpaaren, die mich abcheckten. Das allerdings, wofür ich in diesem Moment nur Augen hatte, war der einzige freie Platz im Raum auf dem ein Namensschild lag. 'Psycho-Killer' prangte darauf, wobei der i-Punkt durch ein Herzchen ersetzt worden war.

Daneben saß Cedric, völlig entspannt.

"Klasse. Das ist Sidney Losson. Gestern hergezogen, also seid nett. Cedrics Sitznachbar scheint verscheucht worden zu sein. Dann setz dich mal gleich dorthin, Sidney."

Ich ging langsam zu meinem neuen Platz. Irgendwer pfiff anzüglich, als ich mich neben Cedric niederließ. Dieser warf einen Stift in dessen Richtung.

"Woher wusstest du, dass ich in deine Klasse komme?", flüsterte ich.

"Connections, mein Lieber. Vielleicht lass ich dich ja heimlich überwachen. Übrigens, du siehst süß aus, wenn du schläfst. Kann natürlich sein, dass das nur aufm Bildschirm so is, wo man nicht richtig erkennt, wie du aufs Kissen sabberst."

Er lachte, als er zufrieden meinen Gesichtsausdruck als geschockt einstufte.

Über Cedric bekam ich schnell Kontakt zu den anderen aus der Klasse. Er war ziemlich beliebt und schnell wurden aus seinen Freunden meine Freunde. Trotz der anfänglichen Anzüglichkeiten seinerseits blieb es aber auch dabei. Ob ich mehr wollte, wusste ich gar nicht. Klar, ich stand auf ihn. Er hatte weiche Gesichtszüge und kleine, freche Augen. Außerdem war er nicht viel größer als ich, was eigentlich eine Kunst ist, da ich in meiner alten Klasse die Bezeichnung "Fruchtzwerg" erhalten hatte. Sein Charakter imponierte mir. Schon damals fühlte ich mich doch von seiner dreisten und doch liebenswerten Art angezogen. Vielleicht hatte ich mir wirklich etwas erhofft, schließlich klebten wir ständig aneinander. Egal, ob wir mit anderen herumhingen oder einfach zu zweit was unternahmen. Da unsere Eltern ebenso eine Freundschaft verband, kam es ständig zu Essenseinladungen, die natürlich das Übernachten beim anderen anboten. Manchmal sogar mehrmals die Woche. Aber dann kam Ced mit Lars zusammen, einem schwachsinnigen Arsch, der für seine wechselnden Bettgeschichten bekannt war. Was Ced an ihm fand wusste ich nicht. Ich fand ihn widerlich. Zu der Zeit hab ich angefangen mir neue Klamotten zuzulegen. Zwar kein wirklicher Emo-Look, aber auf jeden Fall schwarz in schwarz. Musste durch meine unterbewusste Eifersucht ausgelöst worden sein. Ach, was sag ich unterbewusst. Ich war eifersüchtig. Und es war schrecklich, mir diesen Typen antun zu müssen. Vor allem auf Partys. Da kam es zu Situationen, wo wir zu dritt irgendwo saßen und Lars sich dann zu Ced drehte: "Fickerei?" und schon waren die beiden verschwunden. Mir vorzustellen, was sie gerade machten, war schlimm. Natürlich wusste ich, was sie machten. Das war noch schlimmer. … ok, vielleicht wollte ich doch mehr.

Nach der Schule machten wir uns auf den Heimweg. Eine Busfahrt, die Klaustrophobe umbringen würde, inklusive. Meistens begleitete uns Gwen. Sie wohnte ein paar Straßen weiter und war wirklich in Ordnung. Mit ihr hatte ich auch am meisten zu tun, nach Ced natürlich. Leider wusste sie von meinen Gefühlen und hatte keine Probleme damit direkte Anspielungen abzufeuern.

"So, Ced, mit dem Wichser is also Schluss, ja?", fragte Gwen.

"Weißt du", begann er. "ich kann ja über vieles hinwegsehen. Wenn jemand meint rumlabern zu müssen, wie ich beim Ficken stöhne oder dass wir es mal im Kino gemacht haben, dann denk ich mir, meine Güte."

Ich hätte ihn gern mal stöhnen gehört. Scheiße, Sid, was denkst du da?

"Aber jemanden betrügen, das geht mal gar nicht. Der kann froh sein, dass ich ihm nichts ins Gesicht geschnitten habe. Mieses Schwein. Zweite Chance oder so was gibt's bei mir da auch nicht mehr."

"Reg dich ab, es war ne einfache Frage. Ich wollte nicht deine Lebensgeschichte hören." Sie hüpfte den Weg entlang. "Das heißt jetzt sind beide der Sad-Twins wieder zu haben. Was meinst du, wäre es Inzucht, wenn ihr beiden was miteinander hättet?"

So klar, dass so was kommen musste.

"Nun ja, wir können zumindest keine Kinder zeugen. Von dem her, wie wär's mit uns beiden, Brüderchen?" Ich spürte wie Cedrics Hände meine Taille umfassten und mich zu ihm zogen.

"So billig kriegst mich nicht mal du", lächelte ich und drückte ihn sanft von mir.

Ced lachte. "Was verlangst du denn? Einen Kniefall mit dem dazugehörigen Ring?"

"Wäre eine Möglichkeit. Aber im Moment wäre es mir lieber, wenn du mit mir heute einkaufen gehst. Mein Dad hat ja demnächst Geburtstag und ich muss noch irgendwas besorgen."

"Oh, ein Geschenk für deinen Vater?" Was war denn das? Cedrics Stimme hatte einen ganz anderen Klang angenommen. Dumpf und monoton.

Gwen stieß ihm gelangweilt in die Seite: "Wie ist Sids Vater eigentlich so? Hab ihn bisher noch nie kennen gelernt."

Cedric antwortete mit der gleichen Grabesstimme wie eben: "Sein … Vater? Nett … wie soll er schon großartig sein?" Cedric beschleunigte seinen Schritt. "Sorry, ich glaub ich kann nicht mit. Muss noch einiges erledigen und so."

"Hm, na ja, dann halt im Laufe der nächsten Tage? Nächste Woche vielleicht? Wir könnten auf den Weihnachtsmarkt gehen oder so."

"Weihnachts… ja, aber weißt du. Genau wegen Weihnachten und so hab ich ja viel zu … Ich … Sid, ich weiß nicht. Ich … ich muss jetzt nach Hause."

"Hey Schatz, wie wars in der Schule?", schallte es mir aus der Küche entgegen, noch bevor ich richtig durch die Tür gekommen war. Ich ließ meine Tasche achtlos fallen.

"Ganz ok", rief ich zurück. Ich ging in die Küche und sah zu, wie meine Mutter regelrecht durch die Küche wirbelte. Hier schnell rühren, da eine Schublade aufziehen. Der Tisch war bereits gedeckt. Ich setzte mich und mit Blick auf die zwei Gedecke fragte ich: "Isst Paps nicht mit uns? Er ist doch heute wieder vom Flug zurückgekommen."

Mom hielt kurz in ihrem Treiben inne.

"Dein Vater. Er schläft noch." Nach der Feststellung wandte sie sich wieder ihrem Essen zu und meinte mit fröhlicherem Ton. "Ach, du weißt doch, wie erschöpft er immer von seinen Flügen ist. Er braucht seinen Schlaf."

"Ja, weiß ich ja auch. Aber ich dachte wir könnten mal wieder zusammen essen. Es ist schon länger her, dass wir gemeinsam am Tisch saßen."

Meine Mutter kam zum Tisch und stellte Untersetzer für die heißen Töpfe bereit. Dabei musterte sie mich mit einem durchdringenden Blick.

"Ich meine", fuhr ich fort, "wir kriegen ihn so selten zu Gesicht. Langsam könnte man denken er taucht gar nicht mehr auf. Aber zu seinem Geburtstag hat er sich doch ein paar Tage frei genommen, ja?"

Mom setzte sich zu mir an den Tisch. "Sid, wir sollten jetzt essen bevor es kalt wird."

"Sag, hat er sich für seinen Geburtstag frei genommen?"

Sie starrte auf den Teller vor sich. Auf einmal wirkte sie sehr müde und bleich. Ihr ganzes Gesicht schien unter Spannung zu stehen.

"Sid", ihre Unterlippe zitterte. "Schatz … dein Vater …", dann brach sie ab. Ihre Züge entspannten sich und mit einem Lächeln fuhr sie fort: "Natürlich hat sich dein Vater frei genommen. Du wirst sehen, wir werden einen schönen Tag mit ihm haben."

Ohne noch einmal aufzusehen schaufelte sie uns beiden Braten und Kartoffeln auf den Teller und fing eilig an zu essen. Ich sah sie nur ungläubig an. Will sie mich für blöd verkaufen? Wenn man das Gesprochene wegließ, hat ihr gesamter Körper jetzt geschrieen, es ist etwas nicht in Ordnung. Und anscheinend musste es mit Paps zu tun haben. Ich stocherte in meinem Essen herum.

"Ja, du hast bestimmt Recht. Ein wunderschöner Tag."

Verdammte Hausaufgaben. Auf Mathe konnte ich mich gerade überhaupt nicht konzentrieren. Cedrics Reaktion spukte noch durch meinen Kopf. Aber wieso machte ich mir Gedanken. Vielleicht war das ja alles ein Missverständnis und ihm war in dem Moment nur eingefallen, was er noch wichtiges zu erledigen hat und dass er schnell nach Hause muss. …. ja, genau. Ich schüttelte meinen Kopf. Ich glaubte es ja selbst nicht. Und dann war da noch ein anderer Gedanke. Cedric war wieder zu haben. Ob mich diese Tatsache überhaupt beschäftigen sollte, wusste ich nicht. Klar, wir haben öfter mal bisschen geknutscht. Rumgemacht und was man eben mit einem guten Freund alles anstellen kann. Dass es aber nicht mehr war, zumindest nicht für ihn, zog mich dann und wann etwas runter. Irgendwann hatte ich mich aber damit abgefunden. Daher war das Rummachen gut, wie es war. Schließlich konnte er gut küssen. Fuck, daran, was er sonst noch mit seiner Zunge anstellen konnte, wollte ich gar nicht denken. … zu spät. Ich glaub mit Mathe wird's vorerst nichts mehr. Ich klappte das Buch zu und räumte mein Schulzeug zur Seite. Hallo Computer. Hallo Pornofilme.

Vorsichtshalber schloss ich die Tür ab, man konnte ja nie wissen. Gab genug 'Beim wichsen erwischt'-Videos im Internet zu sehen. Klar, die meisten waren fake, aber dennoch. Also sah ich mir in aller Ruhe ein paar Jungs an. Wie sie an sich rumfingerten und langsam auszogen. Ätzend, wenn das so gekünstelt für die Kamera gemacht wird. Meine Hand glitt in meine Hose und ich begann an mir selbst rumzufingern. Ich öffnete den Knopf. In meinem Zimmer war nur das Geräusch von meiner wichsenden Hand zu hören. Der Film lief natürlich stumm ab. Gegen Lautstärke nützte auch eine abgeschlossene Tür nichts. War eh egal. Scheiß Film. Und dafür wollen die auch noch Geld. Ich ließ mich in mein Bett fallen und dachte an Cedric. Cedric und seine grünen Augen. Cedric und sein schlanker Körper. Cedric in Shorts. Cedric ohne Shorts. Ich lächelte. Viel besser als der Streifen. Aber gerade als ich in Fahrt war, klingelte mein Handy. Das Display zeigte 'Cedric Enric" an. Wasn Timing.

"Ja?"

"Lass mich raten. Du denkst gerade an mich und meinen tollen Körper und kamst nicht umhin dir einen runterzuholen."

Ich stockte. "Bitte … ähm, wie .. was?"

Am anderen Ende war Gelächter zu hören. "Bleib locker, Sid. Das war nur ein Spruch. Sag an, was machst grad?"

"Ähm, also, ich bin gerade dabei, also was ich mache willst du wissen?" Ich glaub ich hatte grad nen Black-Out. Komm schon, lass dir irgendwas einfallen. So schwer kann das nicht sein. Es gibt tausende von Dingen, die du gerade tun könntest.

"Telefonieren", brachte ich heraus. Cedric war still. Dann räusperte er sich. Seine Stimme klang belustigt.

"Das heißt also ich habe mit meinem blöden Spruch voll ins Schwarze getroffen."

"Es liegt im Bereich des Möglichen", murmelte ich.

Cedric lachte auf. "Wie geil. Und? Bin ich ne gute Wichs-Fantasie? Haste schon abgespritzt?"

"Fuck, Ced."

"Wasn? Zu verklemmt um über so was zu reden? Vor allem mit einem Jungen, der dich selbst schon mal zum…"

"Aaaaalso, was willst du?", unterbrach ich ihn. Man, ist es in meinem Zimmer soeben heiß geworden.

"Aaaaalso erst mal will ich, dass du das zu Ende führst, was du begonnen hast."

"Bitte was?", schrie ich völlig perplex.

"Hm, du hast schon verstanden", meinte Cedric kauend. Der hatte die Ruhe weg. Stopfte sich wahrscheinlich wieder mit Naschkram voll und setzte mich dieser Peinlichkeit aus.

"Wir sind übrigens grad am Essen. Hab den Lautsprecher an, meine Eltern wollten auch mal wissen, wie es ist dich am Apparat zu haben."

Ich erstarrte. Leider Komm schon, das war ein Scherz. Oder nicht? Bitte, es war nur ein Scherz. Bei all den Dingen, die Cedric laberte, wer sollte sich da noch auskennen.

"Das war ein Scherz, ja?"

"Ja, war es. Bleib ruhig, ich hock bei mir drin und stopf mich mit Naschkram voll." Wusste ichs doch.

"Das andere war aber kein Scherz, Süßer. Also, hol dir jetzt einen runter, auf dass ich dir den Anlass dieses meines Anrufes vortragen mag. Ich warte."

Ich rührte mich nicht. Gerade war sowieso nichts mehr bei mir vorhanden, was runtergeholt hätte werden können.

"Ich warte immer noch. Aber wahrscheinlich brauchst du mittlerweile Starthilfe, hm? Is bestimmt auch nich leicht geil zu bleiben, während ich da von Naschkram erzähle. Aber du kannst rüberkommen und mir als Naschkram dienen. Dann würde ich mit meiner Zunge ganz langsam über deine Brust fahren und runter zu …"

"Halt, was soll das werden?"

"Ich versuche nur dir aufzuhelfen. Du musst einfach nur zuhören und genießen. Vielleicht versuchst du auch bei den Stellen, die dich besonders aufheizen zu stöhnen, dann merk ich mir das für das nächste Mal, wenn du bei mir übernachtest."

Dieses kleine Biest. Ich seufzte, strich mir zwischen den Beinen herum und lauschte den Worten meiner persönlichen Sexhotline.

"Na, war ich gut?", fragte die Stimme hoffnungsvoll als ich gerade das eingesaute Taschentuch in den Müll schmiss.

"Ganz toll. Ich war einem multiplen Orgasmus nahe." Wieso klang ich überhaupt ironisch. Er würde es sowieso wieder ignorieren.

"Echt? Man, und das nur beim Klang meiner Stimme." Was hab ich gesagt.

"Was meinste was los ist, wenn wir mal wieder … also is ja auch schon wieder länger her."

Nun ja, so lang war das gar nicht. Halt die zwei Wochen, die Cedric mit Lars zusammen gewesen war. Hatte ichs eigentlich vermisst?

"Anyway, also warum ich angerufen habe: Gwen hat sich eben bei mir gemeldet. Hat Freitagabend sturmfrei und lässt ne Party steigen. Wollt nur sagen, dass du dann bei mir übernachten kannst."

Ich lachte. Diese Dreistigkeit. "Ach, und wer sagt, dass ich hingehe und dann auch noch bei dir übernachten will?"

"Also wenn ne Party steigt, zu der jeder kommt, darf du doch nicht fehlen. Eine Ansammlung von Menschen bei Musik und alkoholischen Getränken wird erst durch deine Anwesenheit zu einem Fest. Und als Argument zu letzterem … ich bin eine deiner dreckigen Wichs-Fantasien. Reicht das?"

"Überzeugt. Wars das dann?"

"Hm, weiß nicht. Wo es dir doch grad so gefallen hat, wollt ich nur anmerken, dass ich auch nichts gegen ein paar schmutzige Worte aus deinem Mund hätte, damit ich…."

"Bis morgen, Ced." Ich legte grinsend auf.

Bei Cedric übernachten. Worauf das hinauslief wusste ich. Nun ja, dagegen hatte ich ja auch nichts. Aber wenn es mehr wäre. Wenn Cedric und ich … ja, ein schöner Traum.

Meine Türklinke, die sich auf einmal selbstständig machte, riss mich aus meinen Träumereien.

"Schatz, warum ist deine Tür abgesperrt?", rief meine Mutter.

"Weil ich hier einen nackten Mann auf meinem Bett liegen habe."

"Dann zieh dir was an und komm runter. Bin grad am Plätzchen backen und ich brauch deine Hilfe beim Schüssel ausschlecken."

"Wer stört zu so später Stunde?"

"Guten Abend, hier ist Cedric Enric. Ich hätte gerne mit Herrn von und zu viel beschäftigt Losson gesprochen."

"Herr Losson ist nicht zu sprechen. Der erlitt einen Nervenzusammenbruch und ist leider von uns gegangen."

"Nein, wie konnte das denn passieren?"

"Seine Mutter lockte ihn unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in die Küche. Doch anstatt Teig, Sahne oder Schokokuvertüre abschlecken zu dürfen, durfte er den Abwasch machen."

Cedric lachte.

"Der Arme. Nach der Enttäuschung sehnt er sich bestimmt umso mehr an etwas schlecken zu dürfen."

"Vorsicht, Mister. Ein zweites Mal würde ich eine solche Enttäuschung wahrlich nicht überleben. Also überleg dir genau, was du jetzt für Sprüche loslässt?" Ein amüsiertes Lächeln spielte um meine Mundwinkel.

"Danke für die Warnung. Ich werde es im Hinterkopf behalten. Liegst du schon im Bett?"

"Ja, is ja auch schon spät. Und selbst?"

Ein kurzes Rauschen drang an den Hörer. Dem Geräusch nach hatte sich Cedric gerade mehr in seine Decke eingekuschelt.

"Ja, ich auch. Wollte nur noch mal deine Stimme hören."

"Oha, legt Herr Enric jetzt schon die Romantik-Platte auf?"

"Psst, nicht so laut. Wenn das jemand erfährt, ist mein Ruf im Arsch." Wir lachten beide.

"Also, dann hast du meine Stimme ja jetzt gehört."

"Ja, habe ich wohl." Cedric seufzte. "Dann schlaf mal schön, Sid. Und solltest du einen feuchten Traum von jemand anderem als von mir haben, dann werde ich das erfahren." Aufgelegt. Ich legte das Handy zur Seite und lächelte in mich hinein. Er wollte meine Stimme hören. Ced brauchte sich keine Sorgen machen. Diese Nacht würde ich bestimmt von niemand anderem träumen.

Um die gleiche Uhrzeit stand ich am nächsten Abend vor dem Haus der Enrics. Frau Enric öffnete die Tür. Mit einem Strahlen im Gesicht begrüßte sie mich.

"Guten Abend, Sidney. Komm herein."

Ich machte gerade Anstalten mir die Schuhe auszuziehen, doch Frau Enric versicherte, dass es in Ordnung wäre sie anzulassen. Außerdem würden Cedric und ich doch sowieso gleich weg sein. Ob ich Hunger hätte. Nein, aber ob ich vielleicht gern eine Kleinigkeit naschen möchte. Ich überlegte. Bei Enrics konnte eine Kleinigkeit auch eine ganze Torte sein. Ich nickte dennoch und sollte Recht behalten. Sie drückte mir eine riesige Schüssel mit Schokoladenpudding in meine Hände. Mit einem Zwinkern verschwand sie im Wohnzimmer, während ich die Treppe hinab stieg. Der gesamte untere Bereich war von Cedric bewohnt. Hier befand sich nicht nur sein Zimmer, er hatte auch noch sein eigenes Badezimmer und einen kleinen Raum mit Kochmöglichkeit. Obwohl er aber selten nach oben musste, verbrachte er dennoch eine Menge Zeit mit seiner Familie. Klar, bei den Eltern. Beneidenswert.

Die Tür zu seinem Zimmer war offen.

"Achtung, ich habe hier heiße Ware. Also keine bösen Überraschungen oder dergleichen, wenn ich gleich durch die Tür komme." Langsam trat ich ins Zimmer. Doch Cedric war nicht da. Stattdessen hockte ein fremder Junge an seinem Schreibtisch. Ich stellte die Schüssel am nächstbesten Platz ab.

"Was ist denn mit dir passiert?"

Ced erhob sich von seinem Sessel. "Gefall ich dir denn nicht?"

"Doch, klar aber du siehst so anders aus." Ich musterte ihn. Da stand nicht der Emo, den ich kannte. Cedric hatte sich den Piercing aus der Unterlippe genommen, wobei das noch die kleinste Veränderung war. Er musste beim Friseur gewesen sein, denn seine Haare waren kürzer und mit Gel zu einer strubbeligen Frisur gestylt.

"Fuck, Ced. Bist du in einen Farbtopf gefallen? Grüne Jeans, weißes Shirt und diese rote Kette hier."

Ich betrachtete ihn noch mal von oben bis unten. Am Arm trug er dennoch ein kleines Nietenband und seine Augen waren schwarz untermalt.

"Nun ja, Kollege. Du hast dich aber auch extra für die Party fein gemacht. Statt deinem Schornsteinfeger-Outfit entdecke ich da auch etwas Farbe. Und jetzt genug von Klamottenkram. Lass ma den Pudding essen. Verrückt, meine Mutter. Hat sie noch schnell gemacht, als sie hörte, dass du mich abholen kommst. Hat extra dir zu Liebe dein Lieblingsobst reingeschnippelt."

Als wir bei Gwen ankamen, war die Party schon im vollen Gange. Ich fragte mich, wann die Polizei kam um die Musik runterzudrehen.

"Hey, Sad-Twins!" Sie fiel uns beiden um den Hals. Eigentlich hasste ich diesen Spitznamen. "Holla, was ist mit euch beiden passiert? Aber sieht gut aus. Bei euch beiden. Willkommen in der normalen Welt voll Fröhlichkeit und Farbe. Kommt rein."

Wir ließen uns ein wenig treiben. Hier und da konnte ich ein paar bekannte Gesichter aus der Schule ausmachen. Gwen wusste wirklich wie man feierte. Sie musste hunderte von Leuten eingeladen haben. Statt der normalen Lampen hatte sie überall Lichterschläuche an den Wänden angebracht, die für ein gedimmtes und angenehmes Licht sorgten. Fuck, wo war Cedric hin? Muss ihn verloren haben in dem Gewimmel.

"Hey, Losson!" Ne, oder? Das konnte jetzt nicht wahr sein. Aber ich hatte die Stimme richtig erkannt. Lars wankte auf mich zu.

"Na, ganz allein hier?"

"Leider nicht allein genug." Seine Reaktion war ein stumpfsinniges "Lol". Also bitte, was will man mit solchen Menschen anfangen, die meinen sie müssten ihr Schmunzeln oder Grinsen verbal in dieses Unwort packen? Ich versuchte zu gehen, doch leider kam der Gedanke zu spät, denn Lars hatte seinen Arm um mich gelegt.

"Hat dir schon mal jemand gesagt, wie gut du aussiehst?"

"Sicher, im Gegensatz zu dir." Ich musste hier weg. Sein Atem war einfach mal gasförmiger Alkohol.

"Nicht frech werden, Losson. Du hast da übrigens was an der Wange." Ich stieß ihn weg. Seine Wichsgriffel in meinem Gesicht. No way.

"Lars, ich glaube deine Gesellschaft ist unerwünscht." Cedric tauchte neben mir auf und drückte mir einen Becher in die Hand. Ich spürte seine Hand an meiner Seite.

"Und wer bist du?", fragte Lars angriffslustig.

Cedric schaute ihn erst verblüfft an. Dann brach er in Gelächter aus.

"Wer ich bin, ist egal, Kleiner. Aber du bist der schlimmste Fehler, den man machen kann. Und jetzt, verpiss dich!" Ced klang ziemlich gereizt, mit der Stimme hätte er Leute erstechen können. Der Gedanke schien auch Lars zu kommen, vorausgesetzt Lars war zu Gedanken fähig. Jedenfalls trollte er sich.

"Dich kann man echt nicht allein lassen. Schon lässt du dich vom erstbesten Schwanz anmachen." Cedric zwinkerte mir zu, dann leckte er mir über meine Wange.

"Wofür war das?"

"Für nichts. Du hattest da nur noch ein wenig Pudding. Ah, unbedingt merken. Weihnachtsgeschenk für Sid: Lätzchen."

Ich knuffte ihm in die Seite. "Verzeih wenn ich nicht in Euphorie verfalle. Legst dann wenigstens noch nen Schnuller drauf?"

"Vergiss es. Wenn du an etwas nuckeln willst, dann hab ich da genau das richtige für dich." Die nächste Zeit standen wir hauptsächlich herum, wippten ein bisschen zur Musik und kippten einen Becher nach dem anderen. Irgendwann schlug Ced ein Spiel vor. Durch den Geschmack des Kusses erraten, was der andere gerade getrunken hatte. Natürlich sagte ich nicht nein. Und mit jedem Becher wurde die Stimmung lustiger.

"Apfelwein", murmelte ich.

"Falsch, Sid. Versuchs noch einmal."

"Hä? Das is doch ganz klar …." ich verstummte und begann zu grinsen. "Vielleicht hab ich mich ja wirklich geirrt." Es war schön wieder mit Cedric zu Knutschen. Scheiß auf Apfelwein. Ich nahm einen Schluck aus meinem Becher und ließ Cedrics Zunge in meinem Mund wuseln.

"Hm, das ist gar nicht so leicht", nuschelte er, während er an meinen Lippen hing. "Süß und leicht würzig. Mit einer Prise 'einfach geil'. Ich tippe auf Sidney."

Wir vergaßen unser Spiel und suchten uns einen Sessel. Cedric fummelte wie wild an mir herum. Ich setzte mich auf seinen Schoß. Aus den Augenwinkeln konnte ich erkennen, dass ein paar Leute uns belustigt beobachteten. Dass manche Leute von zwei knutschenden Jungs zum Gaffen animiert werden, erstaunt mich immer wieder. Sollte allerdings jemand gleich ein Video drehen oder so, würde ich ihm sein Handy in den Hals stecken. Oh fuck, Sid, was sind denn das für Gedanken? Bestimmt der Alkohol. Ich krallte meine Finger in Ceds Hals.

"Ced, ich bin grad total geil. Meinst du wir können … woanders hin?"

Er nickte lächelnd. Wir verschwanden im nächsten Badezimmer, wo ich ihm sein Shirt regelrecht vom Leib riss. Ich fuhr über seinen Körper. Mit Händen. Zunge. Er strich mir über den Kopf. Ich kratzte über seine Haut, seine Arme entlang und fing an ihm leicht in die Brust zu beißen. Da spürte ich, wie er sanft aber bestimmt meinen Kopf nach unten drückte. Also machte ich mich an seiner Hose zu schaffen. Auch wenn wir schon öfter mal zusammen gewichst hatten, war es das erste mal, dass ich Cedric einen blasen würde. Anfangs leckte ich einfach nur ein bisschen herum, dann nahm ich seinen Schwanz schließlich komplett in den Mund. Eigentlich sollte es mir Spaß machen. Es sollte geil sein. Aber irgendwas stimmte nicht. Mein Speichelfluss nahm auf einmal rasant zu. Oh fuck. So schnell ich konnte rappelte ich mich auf und schaffte es gerade noch den Toilettendeckel hoch zu klappen.

Cedric strich mir sanft über meinen Rücken, während ich mir die Seele aus dem Leib kotzte. Tränen stiegen mir in die Augen. War das eigentlich ein Reflex, den das Kotzen mit sich brachte? Cedric flüsterte mir ein paar beruhigende Worte zu, streichelte mich dabei immer weiter.

"Weißt du Sid. Ich glaub, das ist das schönste Kompliment, das ich jemals von einem Jungen bezüglich meiner Schwanzgröße bekommen habe."

Ich sah kurz zu ihm auf. "Klappe. Das sagt eher, dass die Kombination Wodka-Schokopudding …" weiter kam ich nicht. Ich ergoss mich weiter in die Toilette.

Viel zu früh verließen wir beide die Party. Ich fühlte mich elend, weil ich Cedric den Abend vermiest hatte. Nachdem ich mich ungefähr tausendmal entschuldigt hatte und wir beide umgezogen waren, fielen wir total erledigt in sein Bett.

"Und du bist mir wirklich nicht böse?", murmelte ich.

Cedric seufzte. "Nein, du kleiner Doofmann. Und wenn du nicht sofort die Klappe hältst, schlaf ich bei Lars."

Ich schwieg. Lars. Unglaublich, dass er Cedric nicht erkannt hatte. Seinen Exfreund. Klar, sein Äußeres war an diesem Abend etwas verändert, aber doch nicht so krass, als dass man ihn nicht wieder erkennen könnte. Und mit diesem Kerl war Cedric zusammen gewesen. Ich kuschelte mich an seinen Körper. Ob Cedric und … ja, natürlich hatten die beiden Sex gehabt. Das stand außer Frage. Ich strich Cedric leicht über den Bauch.

"Cedric, würdest du Sex mit mir wollen?" Ah, wieso hatte ich das ausgesprochen? Scheiß Alkohol.

"Solltest du nicht die Klappe halten?"

"Tschuldige, ich dachte nur … weil du doch mit Lars … und ich doch viel toller als er bin und so."

"Oh man bist du süß. Wenn ich nicht wüsste, dass der Alkohol aus dir spricht …" Er drückte mich fest an sich. Ich schloss meine Augen. Doch bevor ich eingeschlafen war, hörte ich Cedrics Stimme leise sagen: "Ja, du bist viel toller. Toller als jeder."

Am nächsten Morgen war die Erinnerung an diesen Satz allerdings weg. Nach einem reichlichen Frühstück, ich war schließlich bei Enrics, machte ich mich auf den Heimweg. Soll heißen ich überquerte die Straße.

"Guten Morgen, Schatz." Die Stimme meiner Mutter klang an diesem Morgen so unerträglich laut. Ich brauchte mein Bett.

"Gut ist dieser Morgen bestimmt nicht. Ich bin auch gleich wieder weg. Ist Paps da?"

"Nein, Schatz, er ist … ist irgendwo. Ich weiß es grad nicht genau."

"Aha", entgegnete ich. Zu einem wortreicheren Gespräch war ich gerade nicht in der Lage.

Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen hatte, aber als ich die Augen aufschlug, begann es schon wieder zu dämmern. Ich trat aus meinem Zimmer. Die Stimme meiner Mutter drang an mein Ohr. Vermutlich war sie am Telefon. Schrecklich, dass ich beim Klang ihrer Stimme automatisch ausschloss, dass sie sich mit meinem Vater unterhielt. Aber so selten wie er da war. Und wenn er da war, schien er neuerdings kaum Zeit für uns zu haben. Ich fragte mich, was er an seinen freien Tagen machte.

"Ja. Ach, ich weiß einfach nicht weiter. Manchmal wünschte ich … ach, keine Ahnung. Ich bin verzweifelt."

Was sprach meine Mutter da? Also normalerweise lauschte ich ja nicht. Aber ich musste wissen, um was es da gerade ging.

"Natürlich, natürlich. Aber es ist einfach … ja. … Aber wenn ich ihm sage, was mit seinem Vater ist … ja, ich weiß. Ich hatte gehofft der Umzug würde etwas verändern, aber anscheinend … Danke, Enzo."

Ok, es ging also um meinen Vater. Hatten meine Eltern Eheprobleme? Wundern würde es mich nicht. Vielleicht war das der Grund, warum er ständig außer Haus war. Aber was hätte der Umzug denn verändern sollen? Verstehe ich nicht. Und wer war Enzo?

Es klingelte an der Tür. Ich hörte Moms Stimme sagen: "Klar, Cedric, komm rein. Sidney schläft allerdings noch, aber es würde ihm gar nicht schaden, wenn du ihn weckst. Du weißt ja, wo sein Zimmer ist."

Ich schlich mich schnell ungehört zurück. Es klopfte.

"Ich schlafe", rief ich.

Das hinderte Cedric nicht daran dennoch einzutreten.

"Na? Wie geht's dir, mein Lieber? Alles klar bei dir?"

Ich stierte mit finsterem Blick in seine Richtung. "Klar, ging mir nie besser."

"Wahnsinn, auf einmal erscheint es mir hier kälter als draußen. Also, was is los?"

"Weiß nich. Ich glaub meine Eltern haben Eheprobleme. Kein Wunder, wenn einer von beiden nie da ist."

Cedric ließ sich neben mir nieder.

"Außerdem", fuhr ich fort, "hat mein Paps sich total verändert. Früher hatte er mir aus jeder Stadt Karten geschickt. Egal wie oft er schon dort gewesen war. Aber jetzt … es ist schon ewig her, dass ich die letzte Karte gekriegt habe."

"Weißt du, welche es ist?"

Ja, das wusste ich. Jede einzelne dieser Karten war mir sehr wichtig und ich wusste von jeder, wann ich sie bekommen hatte, als auch was auf ihr geschrieben stand. Ich deutete auf eine Karte auf der groß 'New York‘ geschrieben stand. Über die Karte erstreckte sich ein Bild des Central Parks aus der Vogelperspektive.

"Das war die letzte. Mittlerweile bald ein Jahr her."

"Ein ganzes Jahr?"

"Ja. Das weiß ich so genau, weil wir, nachdem Paps aus New York kam, gemeinsam in den Urlaub geflogen sind."

Cedrich schaute mir in die Augen. "Ihr seid in den Weihnachtsferien weggeflogen? Wohin, Alaska?"

"Nein. Nein, wir waren ganz woanders. Boracay."

"Verzeih meine Unwissenheit", Cedric ließ seinen Kopf auf meine Schulter sinken. "Aber was ist Boracay?"

"Boracay ist wunderschön. Kennst du die Bilder von weißen Sandstränden und traumhaft blauem Meer? Mit Palmen und wolkenlosem Himmel? Egal was für ein Ort angegeben ist, aber du kannst dir fast sicher sein, dass es ein Foto von Boracay ist. Es ist eine kleine paradiesische Insel der Philippinen. Dort verbrachten wir unser letztes Weihnachten." Ich lächelte, mit den Gedanken in weiter, weiter Ferne. "Kannst du dir das vorstellen? Weihnachten in Badehose. Da war es irre heiß sag ich dir. Mein wohl schönstes Erlebnis überhaupt. Wir hatten den ganzen Tag nichts anderes als uns. Wir lagen am Strand und ließen uns bräunen. Ich fing Krebse und sammelte mit meiner Mom Muscheln. Mein Paps versuchte auf Palmen zu klettern, ist aber kläglich gescheitert. Aber ich sag dir, das haben die einheimischen Kinder drauf wie noch mal was. Wie nichts sind die oben und kommen an die Kokosnüsse ran. Wir wohnten auf der Insel in einem kleinen Ferienhaus. Gar nichts Luxuriöses. Einfach gemütliche vier Wände und keine vierhundert Meter von unserer Haustür entfernt war auch schon das Wasser. Es gab mehrere dieser Hütten, die alle zu einem nahe gelegenen Hotel gehörten. Dort konnten wir ein und ausgehen, als hätten wir dort ein Zimmer. Im Restaurant essen gehen oder den Swimming Pool benutzen. Aber hey, bei den Möglichkeiten, die uns die kleine Hütte bot, hielten wir uns nicht oft im Hotel auf. Wir hatten zwar keinen Christbaum oder so was, aber wir … ach, Ced, es war unglaublich schön. Für unser Weihnachtsessen haben wir uns Fische gefangen. Hat zwar etwas gedauert, aber irgendwie haben wir es geschafft. Die Fische haben wir dann über einem offenen Feuer am Strand gegrillt. Bis spät in die Nacht saßen wir noch am Wasser und haben einfach in den Himmel geschaut. So wie in Filmen." Ich seufzte. "Ja, es war wie im Film. An diesem Abend war noch alles gut. In diesem Urlaub. Da waren wir noch eine richtige Familie."

Cedric strich mir über den Rücken. "Das ist eine schöne Erinnerung, Sid."

Das fand ich auch. Wer weiß, wie Weihnachten dieses Jahr aussehen würde. Ich seufzte wieder.

"Streiten sie sich denn?"

Ich überlegte kurz, aber nein, gestritten hatten sie noch nie. Zumindest hab ich es noch nie mitbekommen. Aber wer weiß.

"Nun ja, Sid. Manchmal verändern sich Dinge. Menschen werden sich fremd. Manchmal ist es auch einfach so, dass jemand geht. Auch wenn er immer da war, kann der Tag kommen, an dem er aus unserem Leben geht. Das ist der Lauf der Dinge. Und auch wenn es schwer fällt, aber damit müssen wir uns abfinden und weitermachen."

"Was redest du da?"

"Wollte es nur mal gesagt haben", murmelte Cedric. Dann strahlte er mich an. "Ich hab was für dich." Erst jetzt bemerkte ich das Päckchen, dass er mit hatte. Er streckte es mir entgegen. "Aber Weihnachten ist erst in ein paar Wochen."

"Doofmann, das ist kein Weihnachtsgeschenk. Mach halt auf."

Ich folgte seiner Anweisung. Darin befanden sich kleine Schachteln. Ich wusste sofort, was das sein sollte. Cedric hatte mir einen Adventskalender gemacht. Verschämt lächelte ich. "Aber ich hab nichts für dich."

"Man, Sid, man schenkt doch niemandem etwas, weil man selbst was haben will. Ich wollte dir eine Freude machen und wenn du dich artig bedankst, ist das Belohnung genug für mich."

Ich umarmte ihn. "Danke, Cedric."

"Ja, ich weiß, ich bin toll. Also komm, heute darf das erste geöffnet werden."

Ich nahm die Schachtel mit der großen roten Eins heraus und öffnete sie. Ich runzelte die Stirn. Es befand sich darin eine Packung Puddingpulver und ein kleines Fläschchen Schnaps.

"Sehr witzig." Ich streckte ihm die Zunge raus.

"Jetzt ist aber genug des Dankes", grinste er. "So, ich wird wieder rüber gehen. Und mach dir nicht so viel Gedanken wegen deinen Eltern. Deiner Mutter geht's bestimmt gut. Pass lieber ein bisschen mehr auf dich auf."

Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass Cedric mehr wusste als ich.


Ein Geräusch drang an Sidneys Ohr. Es musste wohl die Haustür gewesen sein. Sein Vater ist also gegangen. Bevor Sidney ihn überhaupt gesehen hat nach all den Tagen, hat Herr Losson einfach das Haus verlassen. Ist sonst wohin verschwunden. Sidney schaute zum Fenster raus. Das Auto seines Vaters fehlte. Ist also auch noch für länger weg, dachte sich der Junge. Er ließ sich auf dem Sofa nieder. Auf dem Glastisch vor ihm lag mal wieder sein Papierflieger. Er betrachtete ihn. Lange. Und bevor Sidney selbst registrieren konnte, was er tat, schlug er mit der Faust auf das Stück Papier ein. Ein Schlag. Er hörte nicht das Klirren des Glastisches. Er spürte auch nicht den Schmerz in seiner Faust. Er fühlte sich nur sehr leer. Diese Leere war ihm vertraut. Er hatte sich schon einmal so gefühlt. Wann war das gewesen, fragte er sich. Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass das Flugzeug nichts dafür konnte. Er hob es auf und legte es sich an die Brust. Sanft strich er mit seiner blutigen Hand über die Tragflächen.


"Fuck, Sid, was hast du mit deiner Hand gemacht?" Cedric ließ seine Tasche fallen und betrachtete den dicken Verband, den meine Mutter angelegt hatte. Ich rollte mit den Augen, schließlich war er nicht der erste meiner Klasse, der mich an diesem Morgen danach fragte.

"Das war ein Versehen", entgegnete ich und hoffte, dass Cedric es wie alle anderen dabei beließ. Der begutachtete den Verband von allen Seiten.

"Bist du noch ganz knusper? Hackst dir da die Hand ab und sagst es war ein Versehen?"

"Was redest du da?" Meine Hoffnung war gestorben.

"Nja, das Teil da sieht eher aus, als würde es deine Hand daran hindern wollen abzufallen. Darunter ist bestimmt kein normaler Schnitt oder so was. Also sag an, was hast du gemacht?"

Ich zögerte. .

"Also, du kennst ja den Glastisch in unserem Wohnzimmer. Nun ja, den habe ich zerschlagen."

Cedric sah mich ungläubig an. Hätte ich an seiner Stelle wahrscheinlich auch. Diese Tische werden schließlich so gebaut, dass sie nicht von kleinen Jungen zerteilt werden können. Und ich war nun wirklich auch kein Herkules.

"Ced, hör schon auf so blöd zu schauen."

"Tschuldige, aber … was für ein Glastisch?"

Ich lachte. "Der war gut." Ich blickte auf die Uhr. Der Unterricht würde gleich beginnen.

Cedrics nachdenklichen Blick beachtete ich nicht. Er biss sich ein wenig auf die Lippen, dann fragte er ruhig: "Und wie ist das passiert?"

"Ach, egal."

"Nein, nicht egal!" Er legte seinen Arm um meine Schulter. "Ich meine, euer … Glastisch … war richtig … groß und … glasig. Und so. Und wenn du den kaputt gekriegt hast … Sid, schau dich an. So sanft wie du bist, wundert es mich direkt, dass du mich zum abspritzen bringst."

Wie bitte? So aus dem Nichts konnte auch nur Ced so einen Satz herknallen.

Er sah mir tief in die Augen. "Was war los?"

Eigentlich süß, wie er sich um mich sorgte. Trotz dieses Spruchs gerade. Aber irgendwie kam es mir etwas übertrieben vor. Ich hatte mich verletzt, was veranlasste ihn bitte daraus so ein Drama zu machen, als hätte ich irgendwelche schwerwiegenden Probleme.

"Es war nichts. Du weißt doch, mein Dad hat sich schon länger keine Zeit mehr für mich genommen. Ich war einfach nur extrem wütend und …. ach, ich weiß nicht. Vielleicht fällt das unter die Kategorie Kurzschlussreaktion."

Ich spürte wie Ceds Hand langsam über meine Schulter streichelte. Dann drückte er mir einen kleinen Kuss auf die Wange.

"Hey, ihr Süßen, das könnt ihr aber besser, oder?", rief Steffen aus der letzten Reihe. Wir drehten uns um. Sämtliche Mitschüler grinsten uns entgegen. Nur Gwen machte dazu noch eine unmissverständliche Geste, indem sie ihre Zunge gegen die Innenseite ihrer Wange schlagen ließ. Was war sie überhaupt für ein Mädchen?

Cedric grinste zurück. "Holla, Mates, aber so billig sind wir nich. Wenn ihr ne Life-Show wollt, dann muss ich schon zur Kasse bitten."

Bevor jemand allerdings die Chance für einen Konter erhielt, kam aber unser Lehrer zur Tür herein. "Good morning! English time!", hallte es durch den Raum. Damit war sämtliche Aufmerksamkeit wieder von uns abgezogen, glücklicherweise. Und im allgemeinen Schullärm, während die anderen unter Stöhnen und lustlosen Mienen ihre Hefte hervorholten, flüsterte Cedric: "Wir gehen heute Nachmittag einkaufen. Werden schon was Schönes für deinen Dad finden."

"Ich komme gleich", rief ich, als es klingelte. Ich holte meine Jacke und rannte zur Tür. Draußen stand Cedric.

"Mein Lieber, so gehst du mir aber nicht raus", ermahnte er mich. "Ohne Schal und Mütze nehm ich dich nicht mit."

Ich glotzte ihn an. Er trug nicht mal eine Jacke.

"Falls du zu mir irgendeinen Kommentar abgeben willst, erspar ihn dir. Ich bin heiß und bin auf diese ganzen Accessoires nicht angewiesen."

Normalerweise hätte Ced beim Thema 'unnötige Accessoires‘ den Kürzeren gezogen, aber merkwürdigerweise trug er weder Ringe noch Ketten oder irgendwelche Buttons. Das, was am meisten hervorstach, war die Tatsache, dass er mal wieder keinerlei schwarz trug. Braune Hose, rotes Oberteil. Woher kam diese neue Gesinnung? Egal. Ich rannte noch mal ins Haus.

Zwar holte ich mir meine Mütze und den Schal, aber nur, weil es wirklich kalt war. Wie Cedric so dünn angezogen herumrennen konnte, verstand ich nicht.

"Solltest du darauf spekulieren krank zu werden, damit ich dich gesund pflege, vergiss es."

"Wie charmant von dir. Du hättest auch diese Jesus-Familie weitergeschickt, nicht wahr?"

"Ich wusste nicht, dass Volkszählung ist", maulte Cedric. In der Fußgängerzone war wirklich gut was los. Hätte nicht gedacht, dass der Weihnachtsstress schon Mitte Dezember solche Ausmaße annimmt. Cedric und ich drängten uns durch die Leute. Er musste Angst haben mich zu verlieren, denn irgendwann nahm er mich einfach bei der Hand.

"Also, was schwebte dir so vor? Was würde deinen Alten freuen?"

Ich hatte ehrlich gesagt keine Ahnung. Was konnte ich meinem Vater schon großartig schenken? Gefragt hatte ich ihn auch nicht nach speziellen Wünschen. Wann denn auch.

"So, wir haben zwei Möglichkeiten. Geschäfte oder Weihnachtsmarktstände. Was darf es denn sein, der Herr?" Mit übertriebenen Gästen deutete Cedric mal auf die Einkaufsgebäude, mal auf die kleinen Holzhütten. Anscheinend überlegte ich ihm zu lange, denn er griff wieder nach meiner Hand und rief: "Lass ma rumschauen", und so zog er mich mit zum Weihnachtsmarkt. Wir kamen an einem Goldschmied vorbei. Dann an einem Händler, der Krippenfiguren in allen Größen und Ausführungen anbot.

"Ohaa", rief Ced. "Manche dieser Figuren kosten mehr, als der Original-Stall von vor zweitausend Jahren wert gewesen war."

Wir gingen weiter. Vorbei an Kerzen und Laternen. Tees und Gewürzen. Christbaumschmuck und Lichterketten. Irgendwie war es romantisch. Cedric und ich gingen Hand in Hand den Markt entlang. Überall waren Lichter, Weihnachtsdüfte und von irgendwoher erklang leise eine Melodie. Winter wonderland. Es war ein friedlicher Moment, den ich in vollen Zügen genoss. Wir kamen zur nächsten Hütte. Ich las 'ein halber Meter Bratwurst‘. Bevor Cedric den Satz auf seiner Zunge jedoch loswerden konnte, küsste ich ihn auf den Mund. Wenn der meinte er könnte die ganze Atmosphäre durch einen Satz ins Lächerliche ziehen, hatte er sich geschnitten. Völlig verblüfft, schaute er mich an. Er blickte abwechselnd zwischen dem Stand und mir hin und her, schließlich schluckte er seine Bemerkung hinunter. Zufrieden lächelnd zog ich ihn mit mir mit. Wir holten uns Glühwein und eine Waffel mit heißen Kirschen. Was ich meinem Vater schenken wollte, wusste ich aber immer noch nicht.

"Verdammte scheiße", fluchte Ced.

"Na na na. Hat da jemand Kirschen auf sein Hemd gekleckert? Mach dir nichts draus, rot auf rot fällt nicht allzu sehr auf." Ich lege meinen Arm um ihn.

"Falls du mir übrigens immer noch ein Lätzchen schenken willst, das würdest du hiermit spätestens zu Ostern zurück bekommen. Gerade da is ja dann gefährlich mit weich gekochten Eiern und so."

Wir schlenderten weiter. Der Josef der lebendigen Krippe begrüßte uns fröhlich. "Na, ihr beiden? Wie wärs mit einem Foto?" Cedric und ich schauten uns an und zuckten dann beide mit den Schultern. Wir stellten uns zu beiden Seiten des Esels auf. Ja, es war ein echter Esel.

"Und jetzt bitte recht freundlich." Der Josef drückte ab. Als er die Kamera vom Gesicht nahm, schaute er uns skeptisch an. Dann nahm er das Foto und lächelte: "Ich dachte zwar ihr währt Brüder, allerdings nicht solche Brüder." Er lachte. "Wie auch immer, fröhliche Weihnachten!"

Wir nahmen das Bild entgegen. Darauf sah man deutlich den Esel. Und Cedric und mich, wie wir uns einen Zungenkuss gaben.

"Wenn wir gar nichts mehr für deinen Dad finden, könntest du ihm ja das Foto hier schenken."

"Vergiss es. Das wird meine neue Wichsvorlage. Bei dem attraktiven Burschen. Wirklich, so einen hübschen Esel habe ich noch nie zuvor gesehen."

"Frag ihn doch nach seiner Handynummer", witzelte Cedric. "Oder den Typen da. Das is doch auch mal ein Cutie."

Cedric nickte in Richtung eines älteren Herrn, der im Schneidersitz auf der Straße saß. Er hatte einen dicken Bierbauch, der im Kontrast zu seinen eingefallenen Wangen standen. Ein wilder, grauer Bart wucherte in seinem Gesicht. Auf seinem Kopf trug er eine rote, verdreckte Nikolausmütze. Er hatte nur eine dünne Hose und ein löchriges Kragenhemd an. Immerhin war er noch in eine rote Decke gehüllt, doch ob das wirklich warm hielt? Vor ihm lag ein Gitarrenkoffer, in dem vereinzelt ein paar Münzen lagen. Irgendein besonders lustiger Typ war außerdem so spendabel und hatte seinen Kaugummi hinein gespuckt. Der Penner-Nikolaus klimperte ein bisschen auf den Saiten seiner Gitarre herum. Dann stimmte er schließlich ein richtiges Lied an. Mit gebrochener Stimme sang er 'Feed the world‘. Ich langte in meine Hosentasche.

"Halt", rief Ced. "Was machst du da?"

"Ich schau, ob ich ein wenig Kleingeld für den Typen hab."

"Klar. So wie der aussieht, gibt der das auch bestimmt nicht für Alk oder Kippen aus. Man, Sid, wenn du solchen Leuten etwas gibst, dann Essen. Da kannste nichts falsch machen. Wobei kommt auch wieder drauf an. Ob er Vegetarier ist. Oder Moslem. Oder Laktose intolerant. Oder …." Ich küsste ihn. Er provozierte es ja regelrecht. Wir kehrten mit einer Bratwurstsemmel zurück. Der Mann blickte auf. Mit einem Lächeln und "danke, danke, danke" nahm er die Mahlzeit entgegen. Ich wollte mich gerade von ihm abwenden, da hielt er mich am Ärmel fest. Ich blickte hinab und sah, dass er mir etwas entgegenstreckte. Es war ein kleiner Button. Ungläubig starrte ich ihn an. "Für dich", brachte er hervor, gefolgt von einem Hustenanfall. Ich nahm den Gegenstand dankend an und ging mit Cedric weiter.

"Was hat dir der Nikolaus geschenkt?"

Ich hielt den Button ins Licht. "Ein Button mit einer weißen Taube drauf." Ich hatte mich getäuscht. Beim ersten Blick dachte ich es wäre ein Papierflugzeug abgebildet gewesen. Ich drehte mich noch mal zu dem Straßenmusiker um. "Wo ist er hin?"

"Hm?" Cedric sah sich nun auch um. Der Penner war verschwunden. Cedric zog mich weiter. "Is doch egal. Vielleicht hat der Penner-Nikolaus auch nur ein Date mit dem Gammelfleisch-Osterhasen. Lass ma jetzt weiter nach einem Geschenk suchen."

"Brauchen wir nicht mehr, das habe ich jetzt. Ich werde meinem Vater den Button hier schenken."

Ced nickte ernst. "Hast du Lust auf nen halben Meter Bratwurst? Hey! Hey, warte doch. Ich habe wirklich zum Essen gemeint. Ob du Hunger hast, wollte ich wissen. Verdammt, bleib stehen!"

Ich blieb wirklich stehen. Allerdings aus einem anderen Grund. In einiger Entfernung sah ich meine Mutter. Sie befand sich an einem Stehtisch. Lachend unterhielt sie sich mit einem Mann, der nun auch noch seinen Arm um sie legte.

"Verdammt, Ced, was macht dein Dad da mit meiner Mutter?"

"Was werden sie schon machen, Sid. Sie …."

"Schau doch hin, verdammte Scheiße. Der legt seinen Arm um sie. Ced, sie ist eine verheiratete Frau und sie ist, scheiße noch mal, meine Mutter. Der kann doch nicht …." Cedrics Kuss hinderte mich am weiterreden.

"So, Süßer, jetzt beruhig dich, atme tief ein und aus und um Himmels Willen nicht pressen. Es könnte sonst passieren, dass in dem Chaos, was du dein Gehirn nennst, etwas platzt. Schau einfach ruhig zu."

Ich beruhigte mich und beobachtete die beiden. Meine Mutter wirkte richtig fröhlich. Und dann sah ich Frau Enric. Sie kam mit drei Tassen und drückte ihrem Mann einen Kuss auf den Mund. Sie waren also gemeinsam unterwegs. Kein heimliches Date von vergebenen Erwachsenen. Einfach Freunde, die ein bisschen Spaß hatten. Ich schnaufte. Was ging da nur gerade in meinem Kopf ab?

"Komm, Sid, lass uns weitergehen. Ich kann mir etwas Spannenderes vorstellen als unsere Eltern beim feiern zu beobachten. Golf zum Beispiel oder Goldfische."

"Nein, warte, ich will wissen, ob mein Paps auch mitgekommen ist." Cedric schüttelte den Kopf. Er schlang seine Arme um mich. "Sid, dein Vater ist nicht dabei."

"Woher willst du das wissen?"

"Weil … fuck." Er ließ mich los. "Weil meine Mutter nur drei Tassen mitgebracht hat."


Sidney saß im Wohnzimmer. Sein Papierflugzeug lag in seinem Schoß. Langsam strich er über das glatte Papier. Die Spitze des Fliegers war auf ihm zugewandt, als würde es ihn ansehen. Dann stieg es ganz langsam empor, näherte sich Sidneys Gesicht und strich mit einem Flügel über seine Wange. Danke, murmelte der Junge. Er sah seinem Flugzeug eine zeitlang zu, wie es im Raum seine Runden drehte. Sein Blick fiel zum Fenster. Erbarmungslose Sonne. Es war unglaublich heiß, weshalb Sidney es sich auch erlauben konnte nur kurze Hosen und ein T-Shirt anzuhaben. Er richtete sich auf und ging in den Flur.

"Paps, ich muss mit dir reden." Sein Vater zog sich gerade seinen Mantel an, ein Koffer stand neben ihm. Das Papierflugzeug segelte langsam auf Herrn Lossons Schulter nieder.

"Ich halte dich auch nicht lange auf. Aber es ist wirklich wichtig."

Sidney bekam keine Reaktion also fuhr er einfach fort.

"Verdammt, du musst doch merken, dass es Mom nicht gut geht. Irgendwas ist doch zwischen euch. Und es muss was anderes sein als die Arbeit oder dass du so wenig Zeit hast. Das habt ihr schließlich all die Jahre hinbekommen. Wir haben es hinbekommen. Ich meine, was ist denn passiert? Wir unternehmen überhaupt nichts mehr. Wenn du da bist, dann schläfst du oder machst sonst irgendwas. Wann hast du das letzte Mal mit uns einen schönen Tag verbracht?"

Ihm lief langsam eine Träne über die Wange.

"Liebst du sie denn nicht mehr? Und mich? Selbst nach anstrengenden Flügen und Arbeitstagen hast du es immer geschafft wieder auf den Beinen zu sein. Mit uns zusammen zu sein. Und wenn es einfach nur zusammen dösen war."

Die Tränen liefen über sein Gesicht, das Kinn hinab. Er konnte sich nicht mehr zusammen reißen.

"Bitte, sag doch was."

Der Vater blickte auf seinen Sohn herab und lächelte. Ein trauriges Lächeln.


Es klingelte an der Tür. Ich hörte wie meine Mutter an die Tür ging.

"Hallo Cedric. Nett, dass du vorbei kommst. Sidney sitzt in der Küche."

Ja, ich saß in der Küche. Am Tisch auf dem sich ein Kuchen befand. Es war kein besonders komplizierter Kuchen. Wie er schmeckte, wusste ich auch nicht. Aber ich hatte ihn gebacken. Ich bin extra um vier Uhr in der Früh aufgestanden und habe diesen verdammten Kuchen gebacken. Ich hab ihn sogar mit Schokoladenkuvertüre bestrichen. Nicht Nutella draufgeschmiert, dass es aussieht wie hingeschissen. Der Kuchen war von einer feinen, glatten Kuvertüreschicht überzogen. Ich hatte hier Kerzen. Zwar nicht in den Kuchen reingesteckt. aber so viele Kerzen, wie ich gebraucht hätte, hätten eh nicht drauf gepasst. Aber ich hatte Teelichter und Duftkerzen besorgt. Gestern noch extra zum Weihnachtsmarkt gerannt und sie bei der Kerzenhütte gekauft. Der Tisch war schön gedeckt, ich hatte Tannennadeln als Deko verstreut. Dazu noch ein paar Zweige. Und auch wenn es kein großartiges Geschenk war, hatte ich den Button eingepackt. Er befand sich in einer der Schachteln von Cedrics Adventskalender, die ich noch mal mit schönem blauem Papier verpackt hatte. Es war quasi perfekt. Ein perfekter Geburtstagstisch. Nur etwas fehlte. Und das war das scheiß verdammte Geburtstagskind. Ich schlug mit beiden Fäusten auf die Tischplatte.

"Vorsicht, sonst stellst du noch einen Rekord im versehentlichen Tische zerschlagen auf." Cedric stand im Türrahmen und betrachtete die Szenerie. Es musste ziemlich erbärmlich aussehen. Da saß ich allein an diesem festlichen Tisch, nur ohne Fest.

"Cedric, ich checks nicht. Ich checke es einfach nicht." Er setzte sich neben mich.

"Was soll diese ganze scheiße. Ich habe mich auf diesen Tag gefreut. Das muss er doch gewusst haben. Wo ist er also? Seinen großen Trolley hab ich im Schrank im Flur entdeckt, das heißt er ist auf jeden Fall nicht bei der Arbeit. Hier im Haus ist er aber auch nicht, denn sein Auto steht nicht vor der Tür." Ich glotzte den Kuchen an. Dieser Kuchen war wie ein Schlag ins Gesicht. Spottend thronte er auf dem Tisch, unangetastet. Cedric musste erraten haben, was für ein Gedanke mir eben durch den Kopf schoss, denn er schnellte vor und hielt meine Arme fest.

"Hier wird kein Kuchen vernichtet. Nicht wenn jemand der Anwesenden ihn sogar alleine in Rekordzeit aufessen könnte." Er hielt mich fest.

"Warum bist du überhaupt hier?", giftete ich ihn an. "Du müsstest in der Schule sein. Oder hast du den Kuchen auf die Entfernung wittern können?"

"Du müsstest in der Schule sein", äffte Ced. "Und du, mein Lieber? Ich bin hier, weil ich keine Lust hatte im Unterricht 'mein rechter, rechter Platz ist leer‘ zu spielen. Schon lustig, wie einsam man mit 26 anderen Leuten sein kann, wenn du nicht anwesend bist."

"Und mit welcher Ausrede hast du dich vom Schulgelände geschlichen?"

"Ich habe diese Meisterleistung mit dem geheimen Ritual des 'niemandem Bescheid geben‘ vollbracht. Ich habe zwei Beine, die bringen mich auch ohne große Worte an mein Ziel."

"Und was wenn wir eine Arbeit schreiben? Die Lehrer tragen dir eiskalt 'nen Sechser ein."

"Oh man, Sid, es gibt wichtigeres als Noten. Wie diesen Kuchen beispielsweise, den du beinahe getötet hättest. Und jetzt versuch dich zu entspannen." Er begann meinen Rücken zu massieren. Seine feste Berührung tat gut. Zur Erhebung der Stimmung führte sie allerdings nicht.

"Na, das is doch schon etwas besser. Wenigstens hast du jetzt nicht mehr den bösen Blick drauf. Und jetzt ab, auf dein Zimmer. Ich komme gleich nach."

Zombiemäßig schlurfte ich die Treppe hoch. Meine Mutter, die im Wohnzimmer am Fenster stand, beachtete ich nicht. Sie war zu einem gewissen Teil schuld daran, dass Paps seinen Geburtstag nicht mit uns feierte. Wie ich zu dieser Behauptung kam, wusste ich allerdings selbst nicht. Ich legte mich auf mein Bett und starrte zur Decke. Begrab mich unter dir, dachte ich. Den Gedanken gab ich aber schnell auf. Ich konnte ja nicht mal Löffel verbiegen.

"Keine Sorge, Frau Losson. Ich muntere ihn schon wieder auf", hörte ich Ced rufen. Dann kam er zur Tür herein. Er hielt einen Korb in seinen Händen. Schnell schloss er die Tür und begann im Zimmer herumzuwirbeln. Er verteilte im ganzen Raum meine Kerzen und zündete sie an, stellte auf mein Nachtkästchen einen Teller mit Kuchenstücken und zog die Vorhänge zu.

"Was hast du vor?"

"Strippen."

"Was?", fuhr ich ihn an.

"Oh. Also so entsetzt war noch nie jemand, wenn ich es in Aussicht stellte. Aber bleib ruhig, war nur ein Witz."

Er machte sich an meinem Fernseher zu schaffen und schaltete den DVD-Player ein. Aus meinem Regal holte er sich den Film Titanic.

"Das is jetzt nicht dein ernst, oder?"

"Das is jetzt schon mein ernst. Wir machen uns jetzt ein paar schöne Stunden. Richtig gemütlich mit deinem Kuchen der übrigens wunderbar schmeckt. Ich glaube meine Mutter hat noch nie einen besseren gebacken."

Ungewollt entfuhr mir ein Lächeln. Sofort setzte ich aber wieder meine griesgrämige Miene auf. Cedric kuschelte sich zu mir ins Bett und nahm sich ein Stück Kuchen.

"Man, Cedric, das gibt Flecken."

"Keine Sorge, wenn wir dunkle Flecken machen, kann ich auch für weiße Flecken sorgen, um das wieder zu überdecken. Das hebt sich gegenseitig auf, glaub's mir. Außerdem hab ich noch ein paar Teller mitgebracht. Wofür hältst du mich?"

Er nahm sich wieder ein Stück. Moment, hatte der das erste schon wieder aufgegessen? So schnell konnte man gar nicht schauen. Ich starrte ihn an. Er legte den Kopf schief und sah zurück. Dann stopfte er mir ein Stück Kuchen in den Mund. Völlig überrascht fing ich an zu husten.

"Tschuldige, dein offener Mund erschien mir wie eine Aufforderung dich zu füttern."

"Fuck, Ced, wie fütterst du denn? In anderen Ländern beseitigt man auf diese Weise Staatsfeinde."

"Na, Herr Losson, wenn sie sich so viel besser auskennen, Herr Losson, weil sie Füttern studiert haben, Herr Losson, dann sollten sie mir vielleicht etwas Nachhilfe in dieser Wissenschaft geben, Herr Losson."

Ein fieses Grinsen machte sich auf meinem Gesicht breit. Ich biss ein Stück Kuchen ab, kaute ein bisschen und näherte mich dann Cedrics Mund.

"Moment. was wird das?", rief er entgeistert.

"Nur ne kleine Nachhilfestunde."

"Vergiss es, das is eklig."

"Na und? Ist Lars Schwanz auch. Trotzdem hattest du den auch schon im Mund."

"Ach darum geht's dir also. Na bitte schön. Musst halt gleich direkter werden." und mit diesen Worten verschwand Cedrics Kopf unter der Decke. Der wird doch nicht etwa … Doch, tat er. Nun gut, ich war zwar überhaupt nicht in der Stimmung dafür, aber wehren wollte ich mich jetzt auch nicht. Ich lehnte mich zurück und sah Jack im Fernseher zu, wie er seinen tollen Satz rief: "Ich bin der König der Welt."

Idiot. Das war wirklich die schwachsinnigste Stelle im ganzen Film.

"Geht's dir jetzt besser?", fragte Cedric, als sein Kopf sich wieder mit meinem auf Augenhöhe befand. Merkwürdigerweise ja. Ich war entspannter und auch mein Ärger war ein wenig verraucht. Wir sahen also gemeinsam der Titanic bei ihrer Jungfernfahrt zu und stopften uns mit Kuchen voll. War wirklich nicht schlecht, hab ich gut hinbekommen.

"Lust aufn Schuss Sahne?"

Hatte ich mich da gerade verhört? "Du mieses Schwein, wir schauen gerade diesen tollen Film und du denkst schon wieder …"

"Halt die Klappe und mach den Mund auf", meinte Cedric ruhig. Er hielt mir eine Sprühdose Schlagsahne vor den Mund. Und wir sahen weiterhin gemeinsam der Titanic bei ihrer Jungfernfahrt zu, stopften uns mit Kuchen voll und füllten uns abwechselnd mit Sahne ab.

Schließlich waren unsere Fressvorräte aufgebraucht. Der Film lief weiter. Als die Szene kam, in der Rose sich zeichnen lassen wollte, schrie Cedric auf einmal auf: "Ahh, Pornographie. Da muss Klein Sid-Kid leider wegschauen." und er hielt mir die Augen zu.

"Was soll der Quatsch? Ich geb dir gleich Pornogaphie."

Cedric lächelte. "Und wie willst du es mir geben, mieses Schwein?"

Damit, was dann passierte, hatte Cedric wirklich nicht gerechnet. Vielleicht war es der Zuckerrausch, vielleicht auch der Anblick der nackten Frau auf dem Bildschirm … wobei, das wohl eher doch nicht. Jedenfalls fielen wir übereinander her. Ich krallte und saugte an Cedric, bis er leise anfing zu stöhnen. Sein Gürtel war schnell geöffnet und flink wanderte meine Zunge an seine empfindlichen Stellen. Wenn er jetzt noch mal den Sahne-Spruch bringt, dachte ich, beiß ich einfach zu. Aber das tat er nicht. Er lag völlig entspannt da, die Augen geschlossen und der Mund halb geöffnet. Ich öffnete die Schublade meines Nachtkästchens.

"Was suchst du?", fragte Ced benommen.

"Meinen Adventskalender", antwortete ich.

"Du meinst?"

"Ja."

"Und du bist sicher, dass …"

"Ja!"

Auf einmal wirkte Cedric nicht mehr so entspannt. "Und wer soll …."

"Du natürlich, ich bin ja schon gekommen. …. was bistn auf einmal so nervös?"

"Na ja, es wird das erste Mal für dich sein und ich möchte es dir so angenehm und schön wie nur möglich machen."

Endlich hatte ich ein Kondom aus dem Adventskalender gefischt. Ich strich Cedric über die Wange.

"Sieh dich doch um. Kerzen brennen, du hast mich mit Schokolade und Sahne gefügig gemacht und Titanic läuft im Hintergrund. Welcher Moment sollte perfekter sein?"

Er schaute mir in die Augen. Dann küsste er mich zärtlich. Ich fummelte wieder zwischen seinen Beinen herum. Wir rieben uns aneinander, streichelten, küssten. Dann rollte er sich endlich das Kondom über. Fuck, ich hätte nicht gedacht, dass es so wehtun würde.

"Sidney, alles ok?" Nein, ganz bestimmt nicht.

"Natürlich. Fester, Ced." Hatte ich den Schwachsinn, was feuerte ich ihn auch noch an mich zu foltern? Aber dann stellte sich eine Veränderung ein. Statt unangenehm und schmerzhaft fühlte sich Ced in mir auf einmal gut an. Ich stöhnte leicht auf. Im Fernseher erschien die Hand an der Kutschenscheibe. Cedric wurde schneller, atmete heftiger. Wir bewegten uns gemeinsam. Ich keuchte. Wer hätte gedacht, dass … fuck, war ich gerade noch mal gekommen? Genau als aus dem Fernseher erschallte: 'Eisberg direkt voraus!' war es auch bei Cedric soweit. Er wurde ruhiger bis er sich schließlich zurückzog. Sanft legte er sich auf mich und gab mir einen kleinen Kuss auf die Wange.

"Weißt du was, Sid? Ich glaub mir gefällt Titanic wirklich."

Er legte seinen Arm um mich. Gebannt sahen wir dem Treiben auf dem Schiff zu. Die Rettungsboote, die langsam abgelassen wurden. Eben sagte Rose' Mutter: 'Ich hoffe die Boote sind nicht zu voll.'

"Biatch!", rief Cedric neben mir.

Ich stimmte ihm schweigend zu.

Es war wie jedes Mal, wenn ich diesen Film sah. Sobald das Schiff am Sinken ist, überzog mich permanente Gänsehaut. 'Gentleman, es war mir eine Ehre mit Ihnen zu spielen.‘ Langsam zogen die ergreifenden Bilder vorüber. Ein altes Ehepaar, das sich im Bett aneinanderklammerte, während das Wasser den Boden schon überschwemmte. Eine Mutter, die ihren Kindern eine keltische Sage zum Einschlafen erzählte, sodass sie nicht merken würden, wenn der nasse Tod sie ereilte. Ein brennendes Flugzeug. Ein Schrank voller Porzellan. … Moment. Ein brennendes Flugzeug? Ich schüttelte den Kopf. Mein erstes Mal musste mich müde gemacht haben. 'Es tut mir leid, dass ich ihnen kein besseres Schiff bauen konnte, kleine Rose.' Ein Schrei einer Frau blitzte in meinem Kopf auf. Er gehörte nicht zum Film. Ich lehnte mich an Cedric. Was war mit mir los? Die Menschen auf dem Schiff kämpften mittlerweile ums Überleben. Menschen klammerten sich an Geländern fest, versuchten sich von den unteren Etagen auf Rettungsboote zu schwingen. 'Ich hätte gerne noch einen Brandy.‘ Keine Überlebenden. Ah, fuck. Irgendwas stimmte nicht. Geräusche drangen wie von weit her an mein Ohr. Bilder flimmerten kurzzeitig vor meinen Augen auf. Ich schloss kurz die Augen und konzentrierte mich dann wieder auf den Film. Fabrizio wird von einem Schornstein des mächtigen Schiffes erschlagen. Das eine Ende der Titanic war mittlerweile unter Wasser. Feuerwehrmänner löschten die Flammen. What the fuck?

Der Pfarrer predigte, während eine Menge Gläubiger sich an ihn klammerte. 'Mister, könnten sie sich mit ihrer Wanderung etwas beeilen?‘ Keine Überlebenden. Tränen stiegen mir in die Augen. Der Höhepunkt des Films war gekommen. Doch ich konnte mich nicht mehr darauf konzentrieren. Andere Bilder und Worte blitzen in meinem Kopf auf. Ein Flugzeug in Flammen. Ein Nachrichtensprecher. Cedrics Gesicht. Meine Mutter beim Essen. Starr. Keine Überlebenden. Auf dem Bildschirm pfiff nun einer der Bootsmänner. 'Kehrt um mit den Booten.‘

Dann Cedrics Stimme: 'Manchmal ist es auch einfach so, dass jemand geht.'

Seine Mutter: ' Aber wenn ich ihm sage, was mit seinem Vater ist …'

Wieder Cedric: ' Sid, dein Vater ist nicht dabei.'

Keine Überlebenden.

"Sid? Fuck, Sid, was ist los?" Cedric schlug mir leicht ins Gesicht, doch ich spürte es kaum. 'Komm zurück. Komm zurück.‘

Synchron sprach ich mit Rose mit: "Komm zurück, komm zurück. Komm zurück!

Cedrics Gesicht wurde panikartig. "Sid, verdammt." Er zog sich seine Hose an. "Frau Losson!", schrie er. "Frau Losson."

Ich hörte wie meine Mutter ins Zimmer kam. Wie peinlich, dachte ich mir, das Kondom muss noch irgendwo liegen. War ich überhaupt angezogen? Egal. Alles verschwamm vor mir. Und dann war da nur noch Cedrics Gesicht. Cedric, der mich in seinen Armen hielt und mir besorgt in die Augen sah.


Sidney stand im Flur. Sein gesamter Körper stand unter Spannung. Ihm gegenüber stand eine erwachsene Person. Sein Vater. Natürlich sein Vater, wer sollte es sonst sein. Er trug seinen Mantel, bereit zum gehen. Sidney hasste diesen Moment. Er hatte ihn so oft durchlebt. Der Abschied von seinem Vater, wenn er seine Arbeit wieder aufnehmen musste und hinaus in die Welt flog. Wenn er dafür sorgte, dass jemand rechtzeitig zu einem wichtigen Geschäftstermin am anderen Ende der Welt eintraf. Dass jemand an den Ort gelangte, wo eine ihn liebende Person sehnsüchtig auf seine Ankunft wartete. Dass eine Familie glücklich und wohlbehalten, zurück aus dem Urlaub, in der Heimat ankam. Das hat sein Vater all die Jahre getan. Für Menschen gesorgt, während er seine eigene Familie vernachlässigen musste. Doch schlimmer war, dass ihm selbst die Rückkehr, die er anderen Menschen ermöglichte, am Ende nicht vergönnt war. Von einem Flug ist er nie zurückgekehrt.

Herr Losson machte einen Schritt auf Sidney zu. Er strich seinem Sohn zärtlich über die Wange und lächelte sein trauriges Lächeln.

"Mein Sohn," sprach er. Beim Klang der Stimme begann Sidney am ganzen Körper zu zittern. Zu lange war es her, dass er diese Stimme gehört hatte. Nicht mal aus der Erinnerung, nicht mal in seinen Träumen hatte er sie hervorrufen können.

"Du hast es doch immer gewusst." So verharrten sie einen Augenblick. Dann nahm sich der Vater seinen Koffer, wobei er weiterhin seinem Sohn in die Augen sah. Tränen liefen beiden über die Wangen. Dann riss etwas den Vater weg. Er wurde durch die Tür hindurch von Sidney weggerissen. Der Koffer hinterher und so verschwanden sie im nächsten Moment. Herausgerissen aus Sidneys Leben. Das leichte Zittern seines Körpers wurde abgelöst durch ein unkontrolliertes Schütteln. Vor seinen Augen flimmerte es. Bilder von einem abgestürzten

Flugzeug aus den Nachrichten. Seine Mutter, die vor dem Fernseher zusammen gebrochen war. Und noch immer hat er die Augen seines Vaters vor sich. Voller Trauer. Leise schwebte das Papierflugzeug an sein Ohr und mit ihm die Worte: Es tut mir leid, ich liebe dich.


Mein eigener Schrei riss mich aus dem Schlaf. Ich saß aufrecht in meinem Bett. Schweißnass und heftig atmend. Ein Traum. Es war nur ein Traum. Das Haus am Strand. Vater. All die Male, die er an der Tür stand, bereit zum gehen. Ein Traum. Die ganze Zeit gewesen. Die Tür meines Zimmers sprang auf und Mom kam herein gestürmt.

Sie sah mich mit besorgtem Blick an, doch bevor sie eine Frage stellte, veränderte sich ihr Blick und ich glaube mein Anblick war Antwort genug. Sie wusste, dass ich wusste.

"Er ist tot, nicht wahr?"

Ihre Wange wurde feucht und sie setzte sich neben mich, nahm mich in den Arm.

"Ja, Sid, er ist tot." Dann drückte sie mich an sich. Durch meinen Kopf schossen hunderte von Gedanken. Meine Atmung verlangsamte sich. Ich konnte sie leise schluchzen hören. So verharrten wir für einige Zeit. Nur wir beide. Endlich wir beide.

"Seit wann, Mom?" Das Sprechen fiel mir schwer, doch ich musste darüber reden. Und ich wusste, dass es meiner Mutter genauso ging.

Ihre Stimme zitterte. "Seit bald einem Jahr." Wir lösten uns voneinander. Sie sah mich mit traurigen Augen an. Doch ich las auch etwas wie Erleichterung in ihrem Blick. Sanft strich sie über meinen Oberschenkel.

"Letztes Jahr stürzte kurz vor Weihnachten eine Maschine ab. Es war die Maschine, die deinen Vater nach Hause hätte bringen sollen, bevor wir dann gemeinsam in den Urlaub fliegen wollten."

"Boracay," flüsterte ich.

"Genau." Sie schluckte. "Dein Vater hatte geplant, dass wir alle gemeinsam ein ganz besonderes Weihnachten verbringen. Als Wiedergutmachung, dass er die letzten Monate besonders viel unterwegs war. Er hatte sich gewünscht, dass wir Weihnachten auf Boracay verbringen. Und er hatte sich so darauf gefreut. Wir haben alle drei ständig darüber geredet. Wir lachten bei dem Gedanken statt Walnüssen und Mandarinen, Kokosnüsse und Bananen auf unseren Weihnachtstellern zu haben. Fürs Festessen wollten wir uns Fische fangen und über offenem Feuer grillen. Kein Schnee und Eis, kein grau in grau, sondern Sand und Sonne. Es hätte ein unvergessliches Weihnachten werden sollen."

Ihr Mundwinkel zuckte kurz. Und mit einem bitteren Unterton sprach sie weiter.

"Es wurde ein unvergessliches Weihnachten. Sie hatten uns nicht mal vorher informiert. Die Fluggesellschaft. Aus den Nachrichten haben wir es erfahren. Wir saßen abends gemütlich auf der Couch. Dein Vater hätte am nächsten Morgen wieder da sein sollen. Du hattest schon deinen Koffer für den Urlaub gepackt. Und dann war da das Bild. Das Flugzeug und überall Flammen. Die Rettungsleute und Feuerwehrmänner. Es hatte auf dem Weg nach Deutschland Turbulenzen gegeben. Irgendein technischer Defekt der Triebwerke. Und dann ist es in einer ländlichen Gegend in der Provence gelandet. Den ganzen Bericht über wusste ich schon, welche Maschine es war. Als ich hörte, von wo aus es gestartet war, hatte ich Gewissheit."

Sie schaute bedrückt auf meine Decke, fuhr mit ihren Fingern das Tribal-Muster nach. Es herrschte völlige Stille. Nicht mal unsere Atmung mochte durch diese Stille dringen.

"Es gab keine Überlebenden. … Kinder, Familien … es hatte keiner überlebt."

Stockend flüsterte Mom weiter. "Du hast es nicht geglaubt." Sie strich sich die Tränen aus dem Gesicht. "Du bist da gesessen ohne dich zu Rühren. Keine Gefühlsregung. Du hast nur vor dich hingemurmelt, dass das bestimmt kein so guter Pilot war wie Paps. Du hast gar nicht mehr aufgehört zu reden. Dass Paps morgen da ist und alles gut wird. Dass wir in den Urlaub fliegen werden. Im ersten Moment wollte ich dich anschreien. Ich verstand nicht, warum du das sagtest. Doch dann bemerkte ich diesen Ausdruck in deinen Augen. So leer. Du hast nur vor dich hingestarrt. Dann bist du in aller Ruhe aufgestanden und hast gesagt du gehst ins Bett, weil wir morgen schließlich fit sein müssten für die Reise. Ich habe dich nur ungläubig anschauen können. Ich war so hilflos. Das ganze schien keinen Zugang zu dir zu haben. Die Vorstellung, dass dein Vater wirklich tot war und nicht mehr zurückkommen würde, wie er es sonst immer getan hatte, hatte keinen Platz in deinem Kopf.

Ich konnte die Nacht nicht schlafen. Ich hatte gehofft, dass du morgen klar denken würdest. Doch das tatest du nicht. Du hast dich mit einer Fröhlichkeit an den Tisch gesetzt und bist noch mal den Zeitplan durchgegangen. Hast gefragt, wann du Paps wecken sollst und ob ich nun auch endlich fertig gepackt hätte. Und ich wusste nicht, was ich machen sollte, also sagte ich, dass dein Vater noch nicht da wäre. Dass es Probleme mit der Maschine gab und er deshalb noch gar nicht gestartet war und aus unserer Reise wohl nichts würde. Ich glaube unterbewusst hast du die ganze Wahrheit gekannt, doch du wolltest es nicht wahr haben. Konntest es nicht wahr haben. Du bist aggressiv geworden. Deinen Koffer hast du durchs Wohnzimmer geschleudert, wodurch unser Glastisch zerbrach. Du bist regelrecht ausgerastet und in deiner Wut aus der Wohnung gestürmt. Du bist blind auf die Straße gelaufen und wurdest von einem Auto erfasst."

Ich schwieg. An den Unfall konnte ich mich nicht erinnern. In meiner Erinnerung war ein klares Bild von Sand und Meer. Kein Krankenhauszimmer.

"Du bist im Koma gelegen. Die ganzen Weihnachtsfeiertage. Und ich hatte solche Angst. Dass ich innerhalb weniger Tage euch beide verlieren müsste. Tag und Nacht bin ich an deiner Seite gewesen. Habe mit dir gesprochen. Und weil ich dachte, es würde dir gut tun, habe ich dir Dinge erzählt. Ich habe dir die Geschichte eines Weihnachtens erzählt, wie es schöner nicht sein konnte. Ich hatte all unsere Wünsche und Vorstellungen in die Geschichte gesteckt. Vielleicht hätte ich es nicht tun sollen. Als du erwacht bist und mich gesehen hast, waren deine ersten Worte: Das war das schönste Weihnachten aller Zeiten.

Und obwohl du wahrscheinlich Schmerzen gehabt haben musstest, sahst du so friedlich und glücklich aus. Du hattest bekommen, was nie mehr möglich war. Ein Weihnachtsfest zu dritt. Mit deinem Vater."

Sie setzte sich neben mich und wir breiteten die Decke über uns aus.

"Es hätte Alternativen gegeben. Ich hätte mit dir reden können. Oder dich bei einem Psychiater anmelden. Doch, dein leerer Blick von dem schrecklichen Abend und dein Lächeln im Krankenhaus waren beide so gegenwärtig vor meinem inneren Auge. Und ich wusste, was mir besser gefiel. Also hatte ich eine Entscheidung gefällt. Ich ließ deinen Vater für dich am Leben. Es war nicht mal besonders schwer, weil dein Verstand sich vieles selbst so zu Recht legte, dass du nie Zweifel daran hattest, dass er wirklich noch da war. Anfangs tat ich noch Dinge, wie ein drittes Gedeck bereitstellen oder dir Sachen erzählen, die dein Vater neulich gemacht hatte." Sie schwieg.

Nach einer kurzen Pause erzählte sie weiter.

"Eines Nachts hab ich noch mal kurz nach dir gesehen, als du schon schliefst. Dein Fenster stand offen und ich wollte es schließen, da merkte ich, dass dein Papierflugzeug nicht an seiner Stelle lag. Und instinktiv wusste ich, was du getan hattest. Wie damals, als du ein kleines Kind warst, hast du es zu deinem Vater schicken wollen. Da machte ich mir zum ersten Mal Gedanken wie lange es so weitergehen sollte. Ich habe das Flugzeug in der Nacht nicht zurück an seinen Platz gelegt, sondern es bei mir aufbewahrt. Der nächste Morgen war schrecklich. Du hattest einen Anfall. Geschrieen. Konntest nicht mehr atmen. Wieder fiel ich eine Entscheidung. Wir zogen um. Die Sommerferien boten sich dafür an. Ich dachte vielleicht würde ein Umgebungswechsel helfen. Ach, ich weiß selbst nicht genau, was ich mir davon erhofft hatte. Oder ob ich glaubte, dass es was nützen würde." Sie lächelte leicht.

"Hier hast du Cedric kennen gelernt. Und er hat dich aufleben lassen. Du warst nicht mehr so still. Du warst so wie früher. Lebendig und normal."

"Wann hat er erfahren, was mit mir ist?"

Sie strich mir über meinen Kopf.

"Vermutlich gleich am ersten Tag. Weißt du noch, am Tag unseres Einzugs, als die Enrics herüber kamen um zu helfen? Ich habe ihnen gleich zu Beginn reinen Wein eingeschenkt. Als ihr beiden oben in deinem Zimmer wart und Frau Enric ihren Kuchen brachte, hatte sie mich nach deinem Vater gefragt. Da musste ich einfach die gesamte Geschichte erzählen. Sie werden es dann noch am selben Abend Cedric gesagt haben."

Schweigen. Cedric, wow. Er hatte es mitgemacht. Die ganze Zeit über. Das war ihm bestimmt nicht leicht gefallen, schließlich gab es Momente, wo er keine so gute Miene mehr zu dem Thema machen konnte.

"Es war nicht leicht für dich, oder?", flüsterte ich.

"Ich habe es für dich getan, Sidney. Und irgendwie hat es mir durch meine eigene Trauerzeit geholfen, weil ich durch dich die Momente hatte, in denen ich so tun konnte, als wäre dein Vater noch bei uns. Manchmal glaubte ich es wirklich für einen Augenblick. Dann fühlte ich mich so glücklich." Sie sah mich ernst an.

"Aber meine Trauerzeit ist schon lange vorbei. Dein Vater ist seit einem Jahr tot. Aber für dich ist der Gedanke nun ganz frisch. Wenn ich etwas für dich tun kann …" Ich ließ sie nicht zu Wort kommen, sondern umarmte sie. So fest wie ich nur konnte. Sie erwiderte die Umarmung. Die Tränen rannen über mein Gesicht.

"Es wird alles gut," flüsterte sie.

Langsam beruhigte ich mich wieder. "Mom, danke für alles."

Sie nickte mir zu, gab mir einen Kuss auf die Stirn und erhob sich schließlich. An der Tür hielt sie noch mal kurz inne und seufzte. "Endlich wird alles gut." Dann löschte sie das Licht.

Ich wartete bis sie in ihrem Zimmer war, dann griff ich in der Dunkelheit nach meinem Handy. Es dauerte etwas bis am anderen Ende abgehoben wurde. Kein Wunder, bei der Uhrzeit.

"Sid, auch wenn zu der Zeit die ganzen Werbungen laufen, aber …" Ein Gähnen war zu vernehmen. "Für Telefonsex ist es zumindest für mich zu spät."

"Ced, mein Vater ist gestorben. Schläfst du heute Nacht bei mir?"

Am anderen Ende war nur Stille zu hören. Dann ein regelmäßiges Tuten. Aufgelegt. Enttäuscht legte ich mich hin. Was war das jetzt? Ich schloss die Augen. Mein Kopf tat weh. Kein Wunder, schließlich wusste ich seit heute, dass mein Vater tot war …

Nein, das stimmte nicht ganz. Ich habe es immer gewusst. Ich konnte es nur nicht wahrhaben. Vielleicht war meine Trauer in diesem Moment auch deshalb nicht so groß. Bis auf kleine, eingeredete Unwahrheiten und die Träume hatte ich seit einem Jahr keinen Vater mehr. Seine Nähe, seine Zuneigung, er selbst fehlte nicht erst seit heute Nacht. Und ich hatte damit gelebt. Sogar einigermaßen glücklich. Ich brauchte keine Trauerzeit. Es ging mir gut.

Na ja, etwas brauchte ich vielleicht doch. Ich brauchte Cedric. Das Gespräch über musste ich daran denken, was er für mich bereit war zu tun. Was er für mich getan hatte.

"Hm, auch wenn er jetzt nicht kommt, hat er doch schon mehr für mich getan, als ich jemals verlangen könnte."

"Was? Es kommt noch jemand? Und ich dachte ich wäre der einzige für dich." Ich drehte meinen Kopf in die Richtung aus der die Stimme gekommen war. In meiner Tür stand eine dunkle Gestalt. Schnell tapste sie zu mir und kuschelte sich unter die Decke.

"Cedric! …. Au, wieso kickst du mich?"

"Das war für die Überraschung in deiner Stimme. Und für jede Sekunde, die du gezweifelt hast, dass ich rüberkomme, verdienst du eigentlich noch einen Tritt mehr."

"Du willst mich nicht treten. Du willst mit mir kuscheln." Es folgte ein weiterer Tritt.

"Und der war für diese anmaßende Behauptung. Aber du hast ja recht." Er drückte mich sanft an sich.

"Bist du etwa so rübergekommen?"

"Warum? Bin ich underdressed? Mein Anzug ist in der Reinigung und außerdem dachte ich der 'Just-Shorts-Look' wäre für Momente in deinem Bett eh schon zu viel Kleidung." Dieses Mal gab ich ihm einen Tritt. Dann lächelte ich.

"Du hast ja recht." Ich streichelte ihn sanft. Dann runzelte ich die Stirn. "Cedric, wie bist du ins Haus gekommen?"

"Fragen, Fragen, Fragen. Küss mich lieber. Du brauchst jetzt ganz viel Zärtlichkeit, weil du doch jetzt kein Psycho mehr bist. Is bestimmt nicht leicht so ein Leben als normaler Mensch zu führen." Mit den Worten leckte er mir über meine Lippen. Wir küssten uns. Sehr lange und zärtlich.

"Danke," flüsterte ich.

"Es war nur ein Kuss, Sid. Und nicht mal ein besonders guter. Aber zu meiner Verteidigung, es ist spät."

"Idiot, ich meinte …." Er legte mir seinen Finger auf den Mund.

"Shhh, ich weiß, was du meinst." Seine Stimme hatte einen ernsten Ton angenommen. "Nachdem du eingeschlafen warst, wollte ich eigentlich bei dir bleiben, aber deine Mutter meinte, ich sollte erst mal nach Hause gehen. Wie geht es dir?"

"Komischerweise gut. Ich habe zwar meinen Vater verloren, aber dafür habe ich meinen Freund gewonnen."

"Deinen Freund? Hast du den im Schrank versteckt?"

"Fragen, Fragen, Fragen. Küss mich lieber." Wieder fanden unsere Lippen zueinander. Unsere Zungen spielten und wanden sich. Mitten im Kuss, flüsterte Cedric: "Weißt du, das ist ein lustiger Zufall. Gerade jetzt, wo du deinen Freund gefunden hast, hab ich es auch."

Ich grinste. "Und wer ist der Glückliche, wenn ich fragen darf?"

"Steffen."

Ich biss Cedric in seine Lippe. Dann lachten wir beide. "Unsere Beziehung fängt ja sehr leidenschaftlich an.", sagte Cedric. "Bei all den Zärtlichkeiten. Aber hätte mir klar sein müssen, dass ein Psycho-Killer wie du auf Schmerzen steht." Auf den folgenden Tritt hatte er sich vorbereitet. Und so balgten wir noch lange bis schließlich, nach etlichen Tritten, Küssen und Bissen, der Schlaf über uns kam.

"Haben wir alles? Cedric, könntest du bitte aufhören deinen Freund abzuschlecken. Auch wenn er süß ist, es soll noch etwas von ihm übrig sein, wenn wir an unserem Ziel angekommen sind."

Faszinierend was für eine Hektik Herr Enric machte, während sich die beiden Frauen zu seiner Seite in aller Ruhe unterhielten.

Wir standen zu fünft in der Halle des Flughafens. Ich hielt die Hand meines Freundes, unsere Finger hatten sich verschränkt. Noch immer konnte ich nicht glauben, dass ich nun hier stand und bald den Flug antreten würde, von dem ich ein Jahr zuvor geträumt hatte. Meine Mutter und Herr und Frau Enric … Verzeihung .. Enzo und Julia, darauf bestanden sie nun, … hatten geplant zusammen Weihnachten zu feiern. Das Weihnachtsfest, auf das ich nun schon ein Jahr gewartet hatte. Nach ein paar Anrufen waren die Tickets gebucht, die Unterkünfte reserviert und hier standen wir nun.

"Ich hab dich lieb", flüsterte ich Cedric ins Ohr.

"Immer zweimal mehr wie du."

Ich versetzte ihm einen Stoß. "Mehr als diesen Spruch haste nicht drauf? Ced, der stammt von einer Tasse!"

"Ich glaube aber kaum, dass eine Tasse das kann, was wir gestern bei dir im Bett gemacht haben. Und auf dem Boden. Und auf deinem Schreibtisch."

"Lalalala, ich will keine Einzelheiten hören", rief Herr Enric und hielt sich die Ohren zu.

"Keine Sorge, Dad, die delikaten Details, nämlich dass Sidneys Adventskalender bis auf eine Ausnahme aus Kondomen bestand und er kein unbenutztes mehr besitzt, hebe ich mir fürs Weihnachtsessen auf."

"Ah, lalalala. Also auf geht's. Jeder schnappt sich seine Koffer und … ja, natürlich Schatz, deinen nehme ich auch."

"Und du gibst mir deinen." Cedric griff nach meinem Koffer. "Schließlich kann ich nicht zulassen, dass mein alter Herr einen besseren Gentleman abgibt, als ich."

Die Enrics machten sich auf den Weg. Ich wollte ihnen folgen, da hörte ich ein Räuspern.

"Schon verstanden, Mom." Mit übertrieben freundlicher Stimme sagte ich: "Und ich werde deinen Koffer nehmen. Ich kann ja nicht zulassen, … ja, kann ich halt nicht."

Wir strahlten uns an. "Ach, Sid, wer hätte das gedacht. Jetzt werden wir doch das Weihnachten unserer Träume verbringen."

"Ja, Mom, das stimmt. Es stimmt alles. Nicht nur, dass wir unser Weihnachten nachholen. Wir feiern es sogar als eine Familie."

Das waren wir nun. Eine Familie. Und nicht nur, weil mein Freund einen Tag vor unserer großen Reise mich mit einem Kniefall und dem dazu passenden Ring überraschte. Genau, einem Ring. Einem Schlüsselring mit dem Schlüssel zum Haus der Enrics daran.

Fröhliche Weihnachten!


Während die Lossons und Enrics ihren Urlaub genossen, wurde die Tür zu Sidneys Zimmer geöffnet. Das Papierflugzeug richtete sich neugierig auf. Dann erhob es sich in die Luft und schwebte auf die Schulter der Gestalt im Türrahmen. Es war ein Mann in blauer Uniform. Dann, so plötzlich wie er erschienen war, verschwand er wieder und mit ihm das Flugzeug.

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