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Stolz und Fall

Teil 2

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Inhaltsverzeichnis

1

13.Oktober, Samstag

Satan hat es ziemlich bald bereut, dass er eine halbe Packung Schokoladenkekse gefressen hat, denn er lag den gesamten Freitagabend auf dem Teppich und hat herzzerreißend gejault. Mit Hunden ist es manchmal so wie mit kleinen Kindern und der Geschichte mit dem heißen Herd.

Über Satan mache ich mir im Moment gerade eher weniger Gedanken, sondern viel mehr um das, was mir heute noch alles bevorstehen könnte. Unwillig aus dem warmen Bett zu kriechen, wickele ich mich abermals in meine weiße Bettdecke und versuche, noch etwas vor mich hin zu dösen, um noch etwas in meiner wundervollen Traumwelt zu verweilen.

Die Realität holt mich schneller wieder ein, als erwartet, als mir jemand mit einer ruppigen Bewegung die warme Bettdecke unsanft von meinem Körper zieht. Schlagartig bin ich hell wach und mache mich bereit, der Person kräftig die Meinung zu sagen. Trotz des schwarzen Haargestrüpps auf meinem Kopf, erkenne ich sehr schnell, wer die Person ist, die mich so unsanft aus meiner Traumwelt gerissen hat.

Mandy hat sich vor meinem Bett aufgebäumt und sieht ziemlich wütend an.

„Was zum Geier machst DU denn hier?“ raune ich sie mit schlafbelegter Stimme an.

„Es ist zwölf Uhr mittags! Ist dir überhaupt klar, was für ein Tag heute ist?“

Um mir deutlicher zu machen, wie spät es ist, schnappt sie sich meinen kleinen Funkwecker, der auf dem Nachttisch neben dem Bett steht und hält ihn mir provokativ vor das Gesicht.

„Und weiter?“, frage ich entnervt und ziehe die Bettdecke wieder an mich heran, um ihr den freien Blick auf meine roten Hotpants zu verwehren.

„Wir müssen in einer halben Stunde im Gusto sein, dir ist das schon bewusst?“

Mandy läuft nervös in meinem Zimmer auf und ab. Sie hat mit ihrer Kleidung anscheinend versucht, einen Mittelweg zwischen sexy und elegant zu finden. Ist ihr wahrlich nicht gelungen, denn schwarze Nadelstreifenhosen, passen eindeutig nicht mit weißen High-Heel-Sandalen zusammen.

Aus Angst, dass sie noch mehr rumzetert und mir damit den ganzen Tag versaut, schwinge ich mich aus dem Bett, das dank ihrer Aktion eh kalt geworden ist und stelle mich erstmal unter die Dusche. Ich muss meiner Mutter wirklich klar machen, dass sie nicht jeden ins Haus lassen soll. So wie ich sie kenne, würde sie wahrscheinlich auch einen Kettensägenmörder mit einem Lächeln herein bitten.

Nach 20 Minuten bin ich komplett angezogen und bereit zum weggehen. Mandys Blick verrät mir, dass sie mit meiner äußeren Erscheinung nicht zufrieden ist und sich mit ziemlicher Sicherheit dafür schämt, mit mir gesehen zu werden. Mir macht es wenig aus, mit Jeans, schlabberigem, schwarzem Pullover und zusammen gebundenen, nassen Haaren unter die Leute zu gehen.

Die Hauptstraße, in der das Gusto liegt, ist schon recht belebt und die Geschäfte scheinen einen guten Umsatz zu machen, denn überall laufen Hausfrauen und kleine Familien mit vollen Tüten herum. Der Himmel ist, im Gegensatz zu gestern, grau mit Wolken behangen und es sieht so aus, als würde es heute noch Regen oder sogar ein Gewitter geben.

Vor dem Gusto, einem alt eingesessenen Café in dem schon meine Eltern als junge Leute gesessen und geliebäugelt haben, wartet schon Lissi auf uns. Tobias ist weit und breit noch nicht zu sehen und ich befürchte schon das Schlimmste. Im Inneren des Gustos stehen wild zusammen gewürfelte Tische und Sessel. Es sieht fast aus, wie als würde das gesamte Mobiliar aus Sperrmüll bestehen. Jedoch gibt es so dem gesamten Raum eine gewisse Gemütlichkeit und man fühlt sich fast so, als wäre man bei der eigenen Großmutter zu Besuch.

Wir suchen uns einen ziemlich abgelegenen Platz. Lissi wirft Mandy immer wieder kalte Blicke zu, die mir eine Gänsehaut über den Rücken jagen, obwohl sie nicht mir gelten.

Als die rundliche Kellnerin unsere Bestellung aufnimmt, geht die alte grüne Eichentür auf und Tobias kommt herein. Ein Aufatmen ist bei Lissi und mir deutlich zu spüren. Mandy hingegen bekommt einen ziemlich krampfhaften Gesichtsausdruck und ich fürchte fast, dass sie die ganze Sache verhauen wird.

Tobias schaut sich im Raum um und als er uns erblickt, winkt er uns freudig zu. Wie ein Platzhirsch hockt er sich zwischen Lissi und mich.

Als Tobias Mandy etwas fragend ansieht erkläre ich ihm, dass ich ihr Nachhilfe gegeben habe. Fragend zieht er eine Augenbraue nach oben. Er zweifelt. Schnell lenke ich das Gespräch in eine andere Richtung und wir fangen ein wenig an, über die Schule und mögliche Verbesserungen zu reden. Wie nicht anders zu erwarten, kommen von Lissi recht viele sinnvolle Vorschläge. Sie ist wahrhaftig eine Bereicherung für uns alle.

Um Punkt 13:15 Uhr klingelt Lissis Handy mit einem amüsanten Klingelton. Pink Panther.

Sie verschwindet zur Tür hinaus und kehrt fünf Minuten später mit tränenverschmierten Gesicht zurück. Ich bin überwältigt von ihrer überzeugenden Art. Unter schluchzen erzählt sie die Geschichte über ihren Opa und klingt dabei so verzweifelt, dass ich ihr alles geglaubt hätte, wenn ich es nicht besser wüsste. Tröstend lege ich meinen Arm um ihre Schulter und ziehe sie an mich heran. Sie fängt immer heftiger an zu schluchzen.

„Komm Lissi, ich fahre dich zu ihm. Du solltest ihn jetzt nicht alleine lassen.“ Ohne groß auf die anderen beiden zu achten, werfe ich einen zehn Euro Schein auf den Tisch und verschwinde mit Lissi zur Tür hinaus. In Mandys Gesicht spiegelte sich pure Zufriedenheit wieder, die sie wahrscheinlich hätte nicht so offen zeigen sollen, damit Tobias nicht auf falsche Gedanken kommt. Mein Arm liegt immer noch über Lissis Schulter und sie weint bitterlich in ihr Taschentusch. Sobald wir außerhalb der Sichtweite der anderen beiden sind, lasse ich sie los und Lissi hört wie auf Kommando auf zu weinen und wischt sich lässig mit einem frischen Zellstofftaschentuch die Tränen aus dem Gesicht.

„Das war echt super. Du solltest zum Film gehen.“ Ich lache fröhlich auf und gebe ihr einen Kuss auf die Wange.

Schlagartig bleibt sie stehen und sieht mich mit ihren großen blauen Augen an. Verwirrt drehe ich mich um.

„Oh, sorry, ich konnte gerade nicht anders.“ Lachend gehe ich weiter und auch sie kommt nach, jedoch sehr schweigsam.

Um zwei bin ich wieder zu Hause und fange erstmal an zu frühstücken. Meine Eltern haben mir wie immer Semmeln hingestellt und ich streiche genüsslich ziemlich dick eine bekannte Nussnougatcreme auf eine Mohnsemmel.

Die erste Hürde des Tages wäre also überstanden und so wie ich Mandy kenne, wird sie mich spätestens morgen darüber informieren, wie es gelaufen ist. Noch vor einem Monat hätte ich wahrscheinlich niemandem geglaubt, wenn er mir so eine verrückte Geschichte erzählen würde.

Ich entschließe mich, heute Sandra ins Fegefeuer zu „entführen“. Standesgemäß für das Fegefeuer mache ich mich richtig zurecht, wie es sich für die Schwarze Szene nun einmal gehört. Ich wühle aus meinem überfüllten Kleiderschrank meine schwarze eng anliegende Jeans heraus und dazu ein Oberteil, das knapp unterhalb der Brust endet. Man will ja schließlich zeigen was man zu bieten hat, wenn man mit einem so hübschen Mädel wie Sandra unterwegs ist. Um nicht ganz so billig und vor allem willig rüber zu kommen, ziehe ich noch ein schwarzes Netzoberteil an und stecke mir einige Silberringe an die Finger. Meine Augen setze ich mit etwas Lidschatten, Wimperntusche und Kajal dunkel in Szene und verleihe meiner Gesichtshaut mit einem hellen Puder den letzten Schliff. Als ich mit der gesamten Prozedur fertig bin, betrachte ich mich im Spiegel. Ich muss sagen, ich würde mit mir ins Bett gehen – und nicht nur zum friedlichen schlafen.

Es ist halb neun, höchste Zeit mich auf den Weg zu Sandra zu machen. Draußen weht ein leichter Wind und der Mond ist von Wolken bedeckt. Es hat den ganzen Tag noch nicht geregnet und ich habe die dumme Befürchtung, dass es genau dann anfangen wird, wenn ich das Haus verlasse. Ich hole meine Lederjacke aus dem Schrank und ziehe meine Stahlkappenschuhe an. Man, wie lange ist das denn her, dass ich die getragen habe. In Gedanken schweife ich kurz in die Zeit zurück, in der ich jedes Wochenende im Fegefeuer war und mich dort mit meinen Freunden betrunken habe. Mit der Zeit bin ich reifer geworden und habe immer weniger Wert auf eine Szenezugehörigkeit gelegt. Dennoch fühle ich mich immer noch in dieser Szene am wohlsten.

Kurz vor neun erreiche ich den blauen Wohnblock, in dem Sandra mit ihrer Familie wohnt. Das letzte Mal war ich hier, als ich mit meiner Mutter zum Kaffee eingeladen war. Das ist auch schon wieder eine Ewigkeit her. Nach langem Durchatmen klingele ich Punkt neun Uhr bei dem Namensschild 'Klinger'. Einige Sekunden später ertönt der Summer und ich trete in den Flur ein, in dem augenblicklich das Licht angeht. Ich gehe hoch bis in den 2. Stock. In der Tür steht ein kleiner braunhaariger Junge im Alter von ungefähr 11 Jahren, der mich misstrauisch anschaut. Das muss wohl Sebastian sein, Sandras jüngerer Bruder. Im Gesicht ist nur eine schwache Ähnlichkeit mit seiner Schwester zu erkennen. Sein Glück. Sonst würde ich vielleicht noch irgendwann über ihn herfallen in meiner Verzweiflung.

„Hallo“, sage ich freundlich, „ich bin hier, um Sandra abzuholen. Ist sie denn schon fertig?“

Der Junge lehnt den Kopf auf die Seite und mustert mich von oben bis unten.

„Nö, natürlich nicht. Sie ist eine Frau, die sind doch nie pünktlich. Sie sagt, du sollst rein kommen.“

Der Kleine ist eine Wucht. Ich muss mich schwer beherrschen, nicht laut los zu lachen. So jung und schon so einen Erfahrungsschatz über Frauen. Diese Art muss wirklich in der Familie liegen.

Kurzerhand befreie ich mich aus meinen Stiefeln und gehe geradewegs in Sandras Zimmer. Wie immer strahlen mir die pinken Wände entgegen und ich lasse mich auf der schwarzen Schlafcouch nieder, die diesmal eingeklappt ist. Sandra ist nicht im Zimmer. Wahrscheinlich ist sie noch im Bad und macht noch an ihren Haaren oder sonst was rum. Frauen eben. Wie der Kleine schon so passend erwähnt hat. Ungeduldig werfe ich einen Blick aus dem Fenster, das mit schwarzen Schleiergardienen verhängt ist. Ob es heute wohl noch regnet? Ein plötzlicher Wolkenbruch wäre nicht sonderlich angenehm, zumal wir bis zum Fegefeuer eine gute halbe Stunde laufen müssen und ab zehn Uhr keine Stadtbusse mehr fahren.

Sandra lässt ganz schön lange auf sich warten. Schon viertel nach neun. Ich lasse mich auf der Couch zurück fallen und betrachte die weiß gestrichene Decke. Meine Hand fährt über den schwarzen Bezug des Sofas und ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn sich Sandra in schwarzer Spitzenunterwäsche hier räkeln würde.

Vergraben in meine ausschweifende Phantasie merke ich kaum, dass jemand das Zimmer betreten hat.

„Entschuldige die Verspätung. Habe die Zeit etwas unterschätzt.“

„Macht nichts“, murmele ich benommen und muss mich dazu aufraffen mich wieder in eine Sitzposition zu bewegen. Als ich die Augen aufmache, glaube ich, dass ich immer noch phantasiere. Dort steht sie. Mit dem Rücken zu mir gewandt. In schwarzer SPITZENUNTERWÄSCHE.

Ich schnappe entsetzt nach Luft und beiße mir auf die Lippen und nicht laut auf zu schreien.

Seelenruhig steht sie vor ihrem schwarzen Kleiderschrank und sucht nach Klamotten. Die mit Spitze besetzten Träger ihres BHs umrahmen ihren hellen Rücken. Die feuerroten Locken fallen leicht über ihre Schulterblätter und es sieht fast so aus, als würde ihr Rücken brennen. Mein Blick wandert die Wirbelsäule entlang, hinab zu ihrem ebenmäßigen Hintern, der in sehr knapp bemessenen Pants steckt. Ich bekomme Hitzewallungen und fange an kräftig zu schwitzen. Meine Hände werden feucht und mein Herzschlag beschleunigt sich zunehmend. Sandra kramt immer noch mit einer Seelenruhe in ihrem Kleiderschrank. Ich vergehe fast vor Aufregung. Meine Phantasie überschlägt sich förmlich in dem, was ich jetzt alles mit ihr machen könnte. Mein Atem wird immer schwerer und es kostet mich größte Anstrengungen, sie nicht einfach zu packen und auf die Couch zu werfen. Dabei will ich eigentlich nicht ihren Körper besitzen, sondern sie im Ganzen. Ihre Zuneigung spüren und wissen, dass auch sie sich nach mir sehnt.

Kaum eine Sekunde nachdem ich diesen Gedanken zu Ende gedacht habe, beugt sie sich nach vorne. Es ist so als würde ein Seil meine Kehle zuschnüren. Ich kann nicht mehr anders. Ich muss mich – weg drehen.

Diesen Anblick werde ich nie wieder aus meinen Gedanken löschen können und sie wird mir den ganzen Abend gegenüber sitzen. Diese Vorstellung ist grausam und ungemein erregend zugleich.

Ich höre das Rascheln von Kleidung. Hat sie endlich etwas zum anziehen gefunden? Das Schließen eines Reißverschlusses. Dann wieder das Rascheln.

„Hey“, ertönt es rechts von mir, „sehe ich in Unterwäsche etwa so schrecklich aus, dass du dich gleich weg drehen musst?“

Ich wage einen Blick. Sandra sieht sauer aus und – ist angezogen.

Erleichtert atme ich auf. Sie sieht verdammt gut aus. Enge schwarze Stoffhose und dazu ein ärmelloses Oberteil, das den Bauch gerade mal bis zu der silbernen Gürtelschnalle bedeckt. Ihre Augen sind dezent geschminkt, was das phantastische Grün richtig gut zur Geltung bringt und ihre Lippen schimmern in einem sanft rosigen Ton. Dieser Anblick steigert mein Verlangen nach ihr fast noch mehr, als die schwarze Spitzenunterwäsche.

Langsam gewinne ich meine Fassung wieder.

Sandra sieht immer noch recht verärgert aus.

„Claudia, ich habe dich etwas gefragt?“. In einem leicht aggressiven Tonfall wiederholt sie ihre Frage.

„Nein, ich wollte dich einfach nur nicht angaffen, wenn du dich umziehst. Oder hätte dir das etwa gefallen?“. Meine Fassung ist wieder da. Sandra dreht sich schnaubend weg und nimmt sich ihre schwarze Handtasche, die auf dem Schreibtisch liegt.

„Können wir?“, fragt sie deutlich milder gestimmt. Sie schlüpft in einen langen, schwarzen, taillierten Ledermantel. Er steht ihr phantastisch.

Kurz verabschieden wir uns noch von Sandras Mutter, die uns viel Spaß wünscht, dann treten wir hinaus in die kühle Nachtluft. Es tut gut, die angenehm frische Luft in den Lungenflügeln zu spüren. Es belebt.

Auf den Weg zum Fegefeuer unterhalten wir uns über ganz alltägliche Dinge wie Schule und die Mehrwertsteuererhöhung. Wir kommen auf keine persönlicheren Themen, was mir momentan auch ganz recht ist, denn ich möchte für einen kurzen Moment vergessen, was mir noch alles bevor stehen könnte, sollte die Sache mit Mandy schief gehen.

Das Fegefeuer ist eine kleine Bar, die im Keller eines in den 40er Jahren gebauten Hauses liegt. Die Backsteinmauern sind unverputzt und vermitteln eine düstere Atmosphäre. Das Mobiliar ist sehr massiv gehalten und die alten Holztische und -bänke bestehen aus dunklem Eichenholz und geben dem ganzen Ambiente einen Hauch von vergangener Zeit. Sandra schaut sich interessiert um und setzt sich schließlich an einen kleinen Tisch in einer Nische. Schweigend tue ich es ihr gleich. Auf dem Tisch steht eine leere Flasche „Drachenblut“, in deren Öffnung eine lange schwarze Kerze steckt.

Kaum haben wir unsere Jacken abgelegt, bringt uns die Kellnerin die Karte und lächelt mir freundlich zu. Susi, die Kellnerin kenne ich schon seit über zwei Jahren. Sie müsste mittlerweile 25 Jahre alt sein und ihr Sozialpädagogik-Studium fertig haben. Zu späterer Stunde kam es früher öfter vor, dass sie sich zu uns an den Tisch gesetzt und mit uns etwas getrunken hat, was sie in meinen Augen sehr sympathisch macht.

Ich überfliege die Karte, obwohl ich eigentlich schon weiß, was ich trinken will.

„Ihr kennt euch schon länger?“

Erstaunt blicke ich hinüber zu Sandra, die immer noch die Karte studiert.

„Ja, von früher. Ich war mit meinen Freunden fast jedes Wochenende hier und da lernt man sich mit der Zeit kennen.“

„Na dann ist ja gut.“

Kurze Zeit später bestellen wir und fangen an, die Leute um uns herum zu beobachten. Es hat mir schon immer Spaß gemacht, fremde Leute zu beobachten obwohl es sich eigentlich nicht gehört. Es ist immer wieder faszinierend, ihre Gestik und Mimik zu studieren und ihre Reaktion auf ganz banale Dinge mit anzusehen.

Sandra stellt viele Thesen zu den Leuten auf, die in unserer näheren Umgebung sitzen. Einige von den Leuten kenne ich ebenfalls von früher. Sie gehören fast zum Inventar. Erstaunlicherweise muss ich feststellen, dass Sandra mit ihren Vermutungen meist ziemlich genau ins Schwarze trifft.

Sie hat wirklich eine außergewöhnliche Menschenkenntnis. Ich frage mich, wo sie sich dieses Wissen angeeignet hat.

„Beschäftigst du dich eigentlich viel mit Psychologie?“, frage ich, um die Stille zu durchbrechen, denn sie hat aufgehört, die Leute zu analysieren und beobachtet schweigsam das Flackern der Kerzenflamme.

„Nicht sonderlich. Ich hatte schon als Kind eine recht gute Beobachtungsgabe. Deswegen bist du mir damals am ersten Schultag auch sofort aufgefallen.“

Wieder tritt Schweigen ein. Mein Herz fängt an zu rasen, Sandra starrt jedoch immer noch teilnahmslos die dunkle Kerze an. Tausende von Fragen brennen mir auf den Nägeln, doch wie immer bringe ich nicht den Mut auf, sie zu stellen.

Ich bin ihr aufgefallen. Hat sie sich deswegen mit mir angefreundet und mich recht nah an sich heran gelassen oder ist das alles nur eine Verkettung von Zufällen und warum verliert sie nach und nach ihre Maske mir gegenüber? Werde ich ihr langsam wirklich zu sympathisch oder benutzt sie mich nur als Spielzeug, damit ihr hier nicht langweilig wird, solange Carsten nicht da ist?

„Du hast etwas ausgestrahlt, was mich fasziniert hat. Als du mich das erste Mal angesehen hast, hatte ich das Gefühl, du würdest mich kennen. Das ist natürlich völliger Schwachsinn, aber ich habe mich bei dir wohl gefühlt.“ Mein Herz macht einen Sprung und schnell führe ich mein Glas Met zum Mund, damit mir nicht vor Verwunderung der Mund offen stehen bleibt. Langsam rinnt die goldene Flüssigkeit meine Kehle hinab und ich blicke nervös im Raum hin und her. Sandra starrt mit verträumten Augen auf einen Punkt hinter mir.

„Wie kommt es dann deiner Meinung nach, dass wir immer wieder aneinander ecken?“

Langsam streicht sich Sandra eine Haarsträhne zurück hinter das rechte Ohr. Ihr Blick wandert über mein Gesicht und bleibt an meinen Augen hängen.

„Manchmal bin ich der Meinung, dass du nicht so recht weißt, was du willst. Es kommt einem so vor, als würdest du ständig einen Kampf in deinem Inneren ausfechten“, sie fängt an zu kichern, „das klingt jetzt natürlich völlig dämlich, aber so wirkt es auf mich. Und das verunsichert wiederum mich. Ich kann nicht gut mit Menschen umgehen, die so unbeständig sind. Aber links liegen lassen konnte ich dich irgendwie auch nicht. Ich habe mich ständig gefragt, was denn mit dir los sei, habe zig Vermutungen angestellt. Naja, eines Nachmittags hast du ja dann mehr oder weniger freiwillig preis gegeben, was dich wohl zu dem macht, was du bist.“ Ich fühle mich unbehaglich in meiner Situation und fange an mit dem Bierdeckel zu spielen.

„Aber in letzter Zeit hast du dich ganz schön verändert. Du wirkst irgendwie noch verschlossener und bedrückter als am Anfang. Mich würde ja wirklich interessieren, was dich jetzt schon wieder beschäftigt.“ Sie stützt ihre Ellbogen auf die Tischplatte, die darauf hin etwas zu ihrer Seite kippt und legt ihren Kopf in ihre Hände.

Meine Finger verkrampfen sich. Die Sandra ist soeben wieder da, die es versteht mich in alle Einzelteile zu zerlegen, doch diesmal tut sie es sanfter als sonst. Was weiß sie? Wie genau beobachtet sie mich eigentlich?

Heißer Wachs läuft die Flasche herunter, doch bevor er den Tisch erreichen kann, wird er wieder kalt und hart.

Sandra ist wie dieser Wachs. Erst so heiß, dass man sich die Finger verbrennt und dann wieder kalt und starr.

Schuldbewusst und mit dem Bedürfnis, ihr die gesamte Wahrheit ins Gesicht zu schreien, senke ich den Kopf, in der Hoffnung, dass sie nicht erahnen kann, was in mir vorgeht.

„Es tut mir Leid, wenn ich dich verwirrt haben sollte, aber es macht mir sehr zu schaffen, dass du mir nicht sagen kannst, worum es geht.“

Mit großer Mühe hebe ich meinen schwer gewordenen Kopf und schaue ihr direkt in die grünen Augen, in denen sich der Schein der Kerze widerspiegelt. Doch ihre Augen drücken diesmal keine Kälte aus, sondern so etwas wie Unsicherheit und jede Menge Fragen spiegeln sich in ihnen wieder, für die sie wohl keine richtige Antwort zu kennen scheint.

Schweigend sitzen wir da und sehen in die Augen der Anderen. Die Welt um uns herum scheint nur noch wie ein schlechter Kinofilm neben uns her zulaufen. Es kostet mich Mühe Blickkontakt zu halten, doch ich genieße jede unendlich scheinende Sekunde.

Sandras Hände liegen auf der eingeschweißten Getränkekarte neben der Flasche. Ohne meinen Blick von ihrem Gesicht abzuwenden streiche ich ihr sanft mit dem rechten Zeigefinger über ihren Linken. Ich warte auf eine Reaktion, doch sie bleibt regungslos sitzen. Mit fester Überzeugung, dass das nur eine freundschaftliche Geste ist, packe ich sanft mit der rechten Hand ihre Linke und drücke sie sanft. Sie wendet sich von meinem Gesicht ab und ihr Blick schweift über meine Hand, die ihre festhält. Schlagartig löse ich meinen Griff und will meine Hand schon zurück ziehen, da packt sie diese mit ihrer Rechten und legt sie wieder auf ihre Linke. Meine Hand ist von ihren Händen umschlossen. Mir wird heiß.

Meine Hand fängt an zu pulsieren und ganze Ladungen von Endorphinen durchströmen meine Nervenbahnen.

Gleichzeitig veranlasst mich das Adrenalin, wohl zu einer Antwort.

„Ja, es gibt da etwas, was ich dir nicht sagen kann. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen, es ist nichts, das negativ belastet ist.“

In Sandras Augen spiegeln sich immer mehr Fragen wieder, doch sie findet sich vorerst mit meiner Antwort ab und nickt nachdenklich.

Mittlerweile ist es nach zwölf und das Fegefeuer wird immer voller. Wir reden nicht mehr viel, sondern werfen uns nur hin und wieder Blicke zu.

Wie hoch sind meine Chancen, dass sie Carsten für mich verlässt? Hat sie überhaupt Interesse an Frauen? Wie würde sie auf die Wahrheit reagieren? Würde sie mich so ansehen, wenn ich nur eine gute Freundin wäre? Vermutlich wäre alles viel einfacher, die Karten auf den Tisch zu legen und hoch zu pokern. Aber ich bin zu feige. Wieder einmal.

Kurz nach eins wird es uns zu voll und wir beschließen, uns auf den Heimweg zu machen. Als wir vor die Tür des Fegefeuers treten, gießt es in Strömen und in der Ferne ist ein Gewitter zu hören.

„Na super, du hast nicht zufällig einen Regenschirm dabei?“, frage ich Sandra hoffnungsvoll. Sie schüttelt ihre roten Locken und ich weiß, dass dieser Abend sehr, sehr nass enden wird.

Ich ziehe meine Lederjacke aus und werfe sie ihr über den Kopf.

„Damit du nicht nass wirst.“, dann packe ich sie ohne ein Wort am Handgelenk und jogge mit ihr durch den Regen. Meine Kondition ist gut, nicht so Sandras. Nach fünf Minuten bleiben wir an einem Bushaltehäuschen stehen. Sandra keucht wie verrückt.

Ich bin nass bis auf die Knochen, mein Netzoberteil haftet eiskalt auf meiner Haut und das Gewitter kommt immer näher. Der Wind fegt durch die leeren Straßen und lässt mich zittern. Ein echtes Unwetter kündigt sich an. Ich will so schnell wie möglich nach Hause.

„Hast du dich wieder erholt?“, frage ich. Doch ich sehe, dass Sandra noch immer nach Luft ringt. Ich lasse mich neben sie auf die Bank fallen und beobachte ihre heftigen Atemzüge, die meine Phantasie sogleich wieder zu wilden Auswüchsen anregt. Der Regen scheint gar nicht mehr nach lassen zu wollen. Wir haben noch gut eine viertel Stunde Rennen oder gute zwanzig Minuten schnelles Gehen bis zu Sandra vor uns. Zu mir nach Hause dauert es dann auch noch einmal fünfzehn Minuten – im Rennen.

Nach fünf Minuten hat Sandra wieder Kraft geschöpft und gibt mir mit einem Nicken das Zeichen, dass wir wieder weiter können.

Wir wollen gerade wieder in den Regen aufbrechen, da ertönen dunkle Männerstimmen hinter uns.

„Na Mädels, seid ja ganz schön feucht.“ Ein dreckiges Lachen schallt durch die Dunkelheit. Angewidert wirbele ich herum. Sandra steht stocksteif da. Drei junge Männer treten aus der Dunkelheit in den Schein der Straßenlaterne, die neben dem kleinen Bushaltehäuschen steht, auf dessen Dach immer noch unentwegt der Regen prasselt.

„Sehr lustig, komm Sandra, wir müssen weiter.“

Unsanft packe ich sie am Arm und will sie hinter mir her schleifen, denn die drei Gestalten bereiten mir ein unangenehmes Gefühl in der Magengegend und ich will so schnell wie möglich von ihnen weg, um möglichen Ärger zu vermeiden.

„Hey Süße, nicht so schnell.“

Der Kleinste von den drei Kerlen stellt sich mir in den Weg. Der Schein der Straßenlaterne spiegelt sich auf seiner Glatze wieder. Er ist ein paar Zentimeter größer als ich, dennoch wirkt seine ganze Erscheinung plump und unbeweglich. Und ich kenne ihn vom sehen. Er gehört zu einer Clique von Jugendlichen, die die Vorkommnisse in den 30er Jahren in Deutschland als große Heldentaten bezeichnen.

Dennoch, vor ihm könnten wir im Zweifelsfall flüchten - die anderen beiden machen mir mehr Sorgen. Die sehen so aus, als betreiben sie regelmäßig einen Sport. Ich beschließe, einen ruhigen Kopf zu bewahren und schließe meine Hand fester um Sandras dünnen Unterarm.

„Entschuldige bitte, aber wir müssen heim. Die Mama hat gerufen.“ Ich versuche mich an dem Kleinen vorbei zu drängen, doch nun verstellt auch sein Freund uns den Weg. Panik steigt in mir auf. Verzweifelt starte ich einen zweiten Versuch.

„So, jetzt hattet ihr euren Spaß. Wir müssen wirklich dringend nach Hause.“

Ein dreckiges Grinsen huscht über die Gesichter der drei und mir wird schlagartig klar, dass ihnen das noch nicht genug Spaß war. Sandra steht mit weit aufgerissenen Augen da und rührt sich keinen Millimeter.

„Hey, Jörn“, der Kleine dreht sich zu dem bullig wirkenden Kerl herum, der sich bisher im Hintergrund gehalten hat, „nimm du dir den Rotschopf.“

Wenn das ein Scherz sein soll, dann geht er echt zu weit. Immer mehr Panik macht sich in mir breit und Sandra scheint sich in einer Art Schockzustand zu befinden. Panisch suche ich mit den Augen den Boden nach Gegenständen ab, die im Notfall als Waffe verwenden könnte. Es wäre sicherlich weniger das Problem, mich selbst zu befreien, sondern vielmehr, dass Sandra nicht in der Lage sein wird, sich zu wehren und schnell weg zu laufen.

„Du nimmst schön die Finger von ihr.“, nehme ich meinen gesamten Mut und schmettere ihm diese Aufforderung mit blanken Hass entgegen.

„Na, da hab ich aber Angst.“. Der Kleine nähert sich meinem Gesicht und packt mein Kinn mit der linken Hand. Reflexartig schlage ich seine Hand mit meiner freien Hand wuchtig weg. Erschrocken weicht er ein paar Schritte zurück. Ich nutze die Gelegenheit und renne los. Sandra immer noch fest am Unterarm festhaltend. Doch da packen mich ein paar kräftige Arme von hinten und heben mich hoch. Ich fange an zu schreien und mit den Füßen auszuschlagen, doch augenblicklich wird mir etwas in den Mund gestopft. Ein starker Geruch von Männerschweiß steigt in meine Nase und ich kann den Kleinen höhnisch lachen sehen. Panisch halte ich immer noch den Unterarm von Sandra fest in meiner Hand. In dem Moment wird Sandra von dem bulligen Kerl von mir weg gezogen. Sie schreit nicht. Ihre Augen sind weit aufgerissen und ihr Mund ist leicht geöffnet. Nun packt er ihre Hände und hält sie hinter ihrem Rücken mit einer Hand fest. Mit der anderen streicht er ihr über den Busen, der in ihrem Ledermantel gehüllt ist. Aus Panik wird Wut. Ich zappele wild vor mich hin und versuche mich zu befreien, doch der Griff von dem Kerl der mich fest hält, wird nur noch fester.

„Na da haben wir aber eine wilde Bestie gefangen.“ Erneut lacht er dreckig auf. Mir steigen die Tränen über meine Machtlosigkeit in die Augen und ich versuche wieder zu schreien. Doch es kommen nur erstickende leise Laute aus meinem Hals, die durch den prasselnden Regen kaum zu hören sind.

Der Kerl, von dem Sandra in die Mangel genommen wird, grinst lüstern und führt sein Gesicht zu ihrem Hals. Dann leckt er ihr gierig über den Hals und gibt abartige Geräusche von sich. Ich koche vor Wut. Ich möchte ihm Schmerzen zufügen. Schmerzen an denen er langsam zu Grunde geht.

Sandra dreht den Kopf in meine Richtung. Unsere Blicke treffen sich für einen kurzen Augenblick. Hilf mir.

In der Ferne grollt der Donner. Mein Hass weicht meinem Verstand. Meine Füße baumeln immer noch in der Luft und der Kleine macht sich nun auch an Sandra zu schaffen. Er fährt ihr gierig grinsend mit der Hand über die Taille.

Was habe ich gelernt? Angst ist gut, aber zeige sie nicht. Verwirre deinen Gegner und glaube an dich. Mein Blick wandert wieder zu Sandra herüber. Ihre Augen sind leer. Sie wirken tot und teilnahmslos. Ich muss handeln.

Die beiden Kerle sind mit Sandra beschäftigt. Meine Chancen steigen, dass ich mich befreien kann.

Ich will gerade zu einem Befreiungsversuch ansetzen als ein markerschütterndes Schluchzen mich zu Stein werden lässt. Der Kleine hat ihren Mantel aufgerissen und will sich gerade an ihrem Oberteil zu schaffen machen. Tränen laufen Sandras Gesicht herunter und sie wimmert leise vor sich hin.

Blanker Hass macht sich in meinem Herzen breit.

Wutentbrannt beiße ich auf den Knebel und stoße mit aller Kraft meinen Kopf nach hinten. Es gibt ein unangenehmes Krachen und ich sehe für einen Moment Sterne. Der Griff meines Peinigers lockert sich augenblicklich und ich falle zu Boden. Der Kerl, der mich eben noch festgehalten hat, torkelt zurück und brüllt vor Schmerzen. Seine Hand hat er vor seine Nase geschlagen, aus der das Blut in Strömen schießt. Ich beachte ihn nicht weiter, springe auf und renne in Richtung Sandra. Der Bulle hat gemerkt, was ist. Hasserfüllt ziehe ich meine Faust knapp an Sandras Kopf vorbei, mitten in sein Gesicht. Es gibt ein lautes schepperndes Geräusch als meine Faust mit voller Wucht auf seine Gesichtsfront trifft. Schreiend fällt er zurück und wie in Zeitlupe erkenne ich einen Schwall Blut gefolgt von ein paar Zähnen aus seinen Mund sprudeln. Mein Blick schweift zu meinem Peiniger hinüber, der sich immer noch wimmernd die Nase hält. Sie ist wohl gebrochen. Sandras Angreifer lehnt gegen die hölzerne Wand des Bushaltehäuschens und tastet in seinem Mund herum. Er bemerkt meinen Blick. Seine dunklen Augen funkeln vor blanken Zorn. Noch bevor ich weiter denken kann, prallt eine Faust in meine Magengrube. Ich ringe nach Luft und mein Mageninhalt ergießt sich über den Boden.

Sandra schreit laut auf.

„Na Karate-Kid? Damit hast du nicht gerechnet!“

Meine Knie werden weich und vor meinen Augen tanzen viele kleine Sterne. Der Speichel läuft mir aus dem Mund und alle Kraft scheint mich verlassen zu haben. Ein Donnergrollen. Dann ein Schrei. Die Faust löst sich aus meinem Bauch und ich taumele einige Schritte nach hinten. Und erkenne Sandra – mit einem wutverzerrten Gesicht. Der Kleine liegt am Boden und hat seine Hände fest in den Schritt gepresst. Hinter ihm steht Sandra, die nun höhnisch grinst. Sie muss ihm ordentlich in die Juwelen getreten haben.

Doch in Sandras Blick ist etwas Wahnsinniges, was mir mehr Angst macht als die drei Kerle. Dann blickt sie mich an und der Ausdruck verschwindet so schnell wie er gekommen ist. Sie stürmt auf mich zu und packt mich unsanft am Arm. Mit einer fixen Handbewegung packe ich noch meine Lederjacke und ziehe mir den Knebel aus dem Mund.

„Wir müssen weg. Ehe die sich wieder erholen.“

Mit letzter Kraft und unter Schmerzen fange ich an zu rennen. Meine Füße tragen mich wie von selbst. Mein Körper wird geleitet von der Angst, dass die drei uns verfolgen und Rache nehmen würden. Sandras offener Mantel schwingt durch den immer heftiger werdenden Regen und ihre roten Haare kleben überall in ihrem Gesicht. Wir laufen die dunklen Straßen entlang. Ich wage es nicht einmal, mich um zudrehen, geschweige denn stehen zu bleiben, aus Angst, dass sie uns doch einholen könnten. Endlich. Sandras Wohngebiet ist in Sicht. Wir legen einen letzten Sprint ein und kommen keuchend an der Haustüre an. Sandra wühlt verzweifelt in ihrer Tasche nach dem Schlüssel. Meine Augen suchen die dunkle Landschaft ab. Schwer lasse ich mich gegen die Wand fallen, als ich merke, dass wir alleine sind und um uns herum alles still ist, außer das immer noch anhaltende Plätschern des Regens.

Sie ist in Sicherheit. Wir sind entkommen. Dem Himmel sei Dank.

Endlich, Sandra schließt die Haustüre auf und wirft mir einen kurzen Blick zu.

„Wir haben es geschafft“, murmele ich erschöpft.

„Ich mache mich dann auf den Weg. Wir telefonieren morgen.“ Ich richte mich wieder auf und will mich auf den Heimweg machen.

„Nein“, Sandras Arme umfassen mich von hinten. Es ist unsere erste Umarmung.

Die Schmerzen scheinen wie verschwunden und meine durchnässte Haut fängt an zu brennen.

„Sandra?“, frage ich zaghaft.

„Bleib heute Nacht bei mir. Ich habe Angst um dich“, haucht sie sanft in mein Ohr, als hätte sie Angst, dass ich nein sagen könnte. Stumm nicke ich und wir gehen die Treppen in den 2. Stock hinauf. In dem Flur hinterlassen wir nichts weiter als eine nasse Spur.

Mit viel Gefühl schließt Sandra die Haustüre auf. In der Wohnung herrscht Totenstille. Es ist zwei Uhr nachts. Vorsichtig befreien wir uns aus den durchweichten Schuhen und schleichen in ihr Zimmer. Das Parkett knarzt unter unseren Füßen.

Vorsichtig schließe ich die Zimmertür hinter mir. Sandra knipst das Licht an und ich sehe sie das erste Mal, seit wir diesen Raum vor ein paar Stunden verlassen haben, wieder bei vollem Licht.

Ihre Augen sind gerötet und ihre Haut ist blasser als sonst. Wassertropfen laufen von ihren Haaren über ihr Gesicht und sammeln sich an ihrem spitzen Kinn, bevor sie auf den hellen Parkettboden fallen.

Wir stehen uns gegenüber und ich spüre ihre Blicke auf meinem Körper. Nach einer halben Ewigkeit wendet sie sich ab.

„Ich hole dir Handtücher und etwas Trockenes zum anziehen.“ Sie verschwindet zur Tür hinaus. Ich traue mich nicht, mich irgendwo hin zu setzen, weil ich Angst habe, etwas schmutzig zu machen. So bleibe ich stehen und warte, bis Sandra wieder kommt. Eine Minute später kommt sie wieder zur Tür herein geschlüpft. Immer noch in den nassen Klamotten. Sie geht zu ihrem Kleiderschrank und zieht ein paar schwarze Sachen heraus und drückt mir diese samt den gelben Handtüchern in die Hand.

„Das Bad ist gegenüber vom Wohnzimmer. Trockene dich gut ab. Die nassen Sachen kannst du im Bad über die Badewanne zum Trocknen hängen. Ich muss mich auch erstmal – waschen.“

Ihr Blick schweift an ihrem eigenen Körper herunter und ich weiß genau, was sie meint.

Geistesabwesend torkele ich ins Bad und ziehe mich aus. Ich fahre über meinen Bauch. An der Stelle an der mich die Faust getroffen hat, ist ein roter Abdruck zu sehen. Jetzt wo das Adrenalin wieder weg ist, spüre ich ein schmerzhaftes Pochen und mein Kiefer fängt an zu zittern. Langsam sinke ich auf die weißen Fliesen des Badezimmerbodens nieder und schlage die Hände vor den Kopf. Es kommt mir alles wie in einem schlechten Film vor.

Ich lache auf und trockene meinen Körper mit dem weichen gelben Handtuch ab. Missmutig hebe ich meine Sachen auf, selbst die Unterwäsche ist nass. Wenn ich die wirklich anziehen sollte, dann kann ich mir sicher sein, dass ich morgen eine Blasenentzündung haben werde. Unsicher nehme ich die Sachen zur Hand, die mir Sandra gegeben hat und tatsächlich – sie hat mir wirklich etwas beigelegt.

Zehn Minuten später tapse ich zurück in Sandras Zimmer und mache mich darauf gefasst, auf die Wohnzimmercouch ausgelagert zu werden.

Sandra hat ihr Schlafsofa ausgezogen und hat es mit einem weißen Spannbettlaken überzogen. Auf dem Sofa selber liegen ein Kissen und eine Bettdecke, die einen schwarzen Bezug haben. Sie selber trägt ein schwarzes Bandshirt von den Apokalyptischen Reitern und darunter einen einfachen Slip in schwarz. Lasziv schlägt sie ihre langen Beine übereinander und sieht mich an.

„Danke für die Sachen“, unbeholfen zupfe ich an dem T-Shirt herum und versuche es weiter herunter zu ziehen, denn Sandra ist offensichtlich der Auffassung, dass T-Shirt und Unterhose ausreichen.

„Das ist doch das Mindeste was ich für dich tun kann.“ Mit diesen Worten lässt sie sich auf dem Bett nach vorne fallen, stützt sich auf ihren Ellenbogen ab und schaut mich mit einem unschuldigen Blick von unten her an. Das T-Shirt bedeckt nicht einmal annähernd ihren wohl geformten Hintern und ich komme schon wieder ins Schwitzen.

Peinlich berührt wende ich mich von ihr ab.

„Wo soll ich denn schlafen? Habt ihr noch eine Decke, dann kann ich nämlich mit der Wohnzimmercouch vorlieb nehmen.“

Sandra zieht die Augenbrauen zusammen und beißt sich selbst sanft auf die Unterlippe, als müsse sie stark über etwas nachdenken. Erwartungsvoll schaue ich sie an.

„Nein, tut mir Leid. Die Gästebettdecke ist gerade in der Wäsche. Ich kann dir leider nur noch meine anbieten.“ Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen klopft sie neben sich auf die Couch, um mich damit aufzufordern mich endlich zu ihr zu setzen. Ich gehorche brav und schon liegen wir zusammen unter der Decke und teilen uns auch noch ein Kopfkissen.

Das Licht geht aus. Stille.

Ich übernachte jetzt also tatsächlich mit Sandra in einem Bett und ich bin trotz der ganzen Sache geil wie sonst was. So beiße ich die Zähne zusammen und versuche trotz meiner überschüssigen Hormone Schlaf zu finden. Sandra bewegt sich leicht und unsere nackten Knie berühren sich sanft. Es ist wie ein elektrischer Schlag und ich habe Angst, dass sie meinen Herzschlag hören könnte.

„Claudia,“ eine leise Stimme wispert in der Dunkelheit.

„Danke für alles. Ohne dich wäre sonst was passiert. Ich stehe zutiefst in deiner Schuld.“

Schlagartig bin ich wieder hell wach und bekomme sofort Beklemmungen.

„Sandra, du brauchst dich nicht zu bedanken oder ähnliches. Zum einen wärst du ohne mich gar nicht in diese Lage geraten und zum anderen hast du mich ja vor diesem Wurzelzwerg gerettet. Ich hoffe, der Sack kann sein Ding nie wieder in eine Frau rein stecken...“. Erschrocken von meinen eigenen Worten murmele ich noch eine Entschuldigung hinterher. Sandra kichert sanft.

„Schon gut. Ich bin immer noch beeindruckt mit welcher Wucht deine Faust zugeschlagen hat. Lernt ihr im Training, wie man mit solchen Situationen umgeht?“.

Geschmeichelt und doch mit einem schlechten Gewissen belastet entschließe ich mich, ihr diesmal die Wahrheit zu sagen.

„Nein, so was lernt man leider nicht im Training. Ich hatte überlegt, wie ich vorgehen muss, damit es gut abläuft... aber“, ich fange an zu stocken und überlege, ob es wirklich richtig wäre, ihr die Wahrheit zu sagen. Das könnte wieder zu viele Fragen aufwerfen.

„Aber…?“, wiederholt sie ungeduldig.

Ich kann sie nicht noch weiter anlügen. Nicht nach so einem Tag.

„Aber in dem Moment, in dem du einen Ton von dir gegeben hast, ist mir der Geduldsfaden gerissen und ich habe nur noch rot gesehen. Mein Körper hat sich von alleine bewegt. Ich hatte nur noch dich im Sinn.“ Kräftig beiße ich mir auf die Lippen, aus Furcht, was als nächstes passieren würde. Schmeißt sie mich jetzt aus dem Bett und verbannt mich auf die Couch? Ich rutsche ein Stück weg von ihr.

Dann plötzlich schlingen sich zwei dünne Arme um meinen Hals und ein weicher Frauenkörper drückt sich gegen den meinen. Ich rieche ihren Duft und ich spüre ihren Herzschlag an meiner Brust.

„Claudia, einem Menschen wie dir, bin ich noch nie begegnet.“

Ihre kalten Beine schlingen sich um meine Oberschenkel und das Gefühl in meinem Herzen wird immer stärker. Vorsichtig lege ich meine zitternden Hände auf ihren Rücken und streiche sanft hoch und runter. Sandra seufzt leise an meinem Hals. Wie gerne würde ich sie jetzt küssen. Nur ein einziger Kuss, das würde mir reichen. Nur einmal ihre Lippen schmecken können. Sandras Griff lockert sich von meinem Hals und wandert meine Oberarme entlang und ihre Hände bleiben auf meiner Taille liegen. Sie rückt ein Stück höher, sodass ich ihren warmen Atem auf meinem Gesicht spüren kann. Instinktiv befeuchte ich vorsichtig meine Lippen.

„Danke“, haucht sie mir entgegen und meine Nackenhaare stellen sich auf.

Sie kommt noch näher, ich schließe die Augen und ihre Lippen berühren sanft die meinen. Mein ganzer Körper beginnt zu prickeln und ich drücke sie stärker an mich. Vorsichtig beginnt sie, ihre Lippen zu bewegen. Ganz sanft. Ich schmecke ihre Süße und all das Geschehene kommt mir vor, wie ein Albtraum. Ihre Mundbewegungen werden stärker und ich spüre ihr Verlangen nach mir deutlich. Sie krallt sich in das T-Shirt und unser Kuss wird intensiver. Ich taste unbeholfen mit der Zunge umher, bis meine auf ihre stößt und wir zu einem langen Kuss verschmelzen. Nach gefühlten Stunden lösen wir uns voneinander. Sandras Fingerspitzen wandern über mein Gesicht, dann über meine Lippen. Wir sprechen kein Wort.

Überglücklich und absolut erschöpft fallen mir irgendwann die Augen zu und immer noch prasselt der Regen gegen die Fensterscheibe.

2

14. Oktober, Sonntag

Schlaftrunken öffne ich die Augen und blicke mich verwirrt um. Pinke Wände? Schlagartig kommt die Erinnerung zurück und vorsichtig wage ich einen Blick zu meiner Rechten. Sandra liegt neben mir, den Kopf auf den Ellenbogen gestützt und sieht mich an.

Es ist also doch keine Einbildung oder Traum gewesen, schießt es mir durch den Kopf.

„Na, auch schon aufgewacht?“ Ich nicke leicht. Ich habe immer noch Schmerzen in der Bauchregion. Die Bettdecke liegt zu unseren Füßen, Sandra richtet sich auf und schiebt mein T-Shirt bis knapp unter die Brust hoch und mustert meinen Bauch, wo sich unterhalb meiner Rippen ein leichter blauer Fleck gebildet hat. Fragend blicke ich zu ihr hinauf.

Sanft streicht sie über die Muskeln, die sich leicht abzeichnen.

„Ich dachte mir schon, dass du recht gut trainiert bist, aber das hätte ich nicht erwartet.“

Sanft legt sie ihre Hand auf meine Brust und küsst mich zärtlich.

Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es schon nach elf ist und meine Eltern wahrscheinlich schon die Polizei alarmiert haben.

„Ich muss kurz meine Eltern anrufen“, mit einem Satz springe ich aus dem Bett und mache mich auf die Suche nach meinem Handy, das in der immer noch klatschnassen Tasche steckt. Nach einem kurzen Telefonat mit meiner Mutter, setze ich mich neben Sandra auf das Bett und fahre ihr mit den Fingern durch die roten Haare, die wirr in alle Richtungen stehen.

Sanft drücke ich ihr einen Kuss auf den Mund, dann klopft es an der Tür. Ich schrecke zurück und Sandras Mutter steckt den Kopf durch den Türspalt.

„Guten Morgen, hatte mir schon fast gedacht, dass du hier übernachtest. Das war ja gestern ein Sauwetter. Ich hab euch Frühstück gemacht.“

Mit hoch rotem Kopf nicke ich dankend. Edith verschwindet wieder.

„Nicht, dass deine Mutter auf komische Gedanken kommt.“

Sandra sieht mich mit einem durchdringenden Blick an.

„Meine Mutter weiß mehr als deine Mutter, aber sie wird schweigen.“

Sandra springt auf und holt meine Sachen aus dem Bad.

Stillschweigend ziehe ich meine immer noch feuchten Klamotten an und setze mich an den gedeckten Tisch in der Küche.

Carsten, schießt es mir plötzlich durch den Kopf. Das ist ein Schlagwort das mir nicht mehr aus dem Kopf geht. Schließlich sind die beiden immer noch ein Paar und aus der gestrigen Nacht ergeben sich nur zwei Möglichkeiten. Sandra wird sich von ihm trennen oder sie sieht mich nur als kleine Affäre an, mit der sie nach Belieben spielen kann. Oder war es doch nur ein Ausrutscher? Ein Experiment? In jeder Zeitschrift ist zu lesen, dass das Mädchen immer wieder untereinander ausprobieren, nur um zu sehen wie es ist. Ich bekomme augenblicklich Beklemmungen und versuche meine Gedanken wieder woanders hin zu lenken. Schließlich sind wir gestern nur knapp einer Vergewaltigung entkommen.

Unruhig rutsche ich auf dem Stuhl hin und her und verabschiede mich dann recht kühl mit einem einfachen Kuss auf die Wange von Sandra eine halbe Stunde später. Die Haustür geht hinter mir zu und da ist es wieder. Das Gefühl innerer Leere.

Langsam mache ich mich auf den Weg nach unten. Im ersten Stock geht plötzlich die Haustüre auf und ein Mädchen mit braun gebrannter Haut und blonden Haaren kommt heraus. Wie gebannt bleibe ich stehen und keuche.

„Mandy?“, das Mädchen dreht sich herum und sieht mich weniger überrascht an.

„Ach hallo Claudia, so wie du aussiehst, wusstest du nicht, dass ich unter deiner Sandra wohne.“ Ein gehässiges Grinsen umspielt ihre Lippen.

„Allerdings.“ langsam gewinne ich die Fassung wieder.

„Du scheinst gerade von Sandra zu kommen, nicht wahr?“

„Ja, tu ich“

„Damit du es weißt, selbst wenn jetzt zwischen Sandra und dir was laufen sollte, unser Deal ist immer noch nicht geplatzt. Ich weiß ein paar Dinge, die sich ziemlich gut in der Schule herum posaunen lassen.“ Und wieder eine Drohung. Meine Abneigung gegen diese Person wächst von Tag zu Tag mehr. Ich bleibe freundlich.

„Wie lief es gestern?“, frage ich mehr oder weniger interessiert.

„Ach, an sich haben wir uns ganz gut unterhalten, nur leider wollte er nur über sich und seinen Schulerfolg reden. Dennoch, ich will ihn haben und du weißt: 1. November.“

Sie macht auf dem Absatz kehrt und rauscht die Treppe herunter. Wie zu erwarten war, hat sich Tobias wie ein egozentrisches Arschloch verhalten und mittlerweile scheint selbst sie begriffen zu haben, dass hinter dem schönen Gesicht auch kein sympathischer Kerl steckt.

Ich weiß zwar nicht, warum sie immer noch den Wunsch hat, mit ihm zusammen zu kommen, aber das ist mir auch relativ egal. Soll er sie doch kaputt machen. Das geht mich dann nichts an.

Auf den Weg nach Hause schaue ich mich immer wieder nervös um und zucke jedes Mal zusammen, wenn ich Leute hinter mir höre. Ich habe das Gefühl, dass jeden Moment die Typen von gestern Nacht auftauchen könnten und ihre Rache fordern. Es ist eh ein Wunder, dass wir die ganze Sache so unbeschadet überstanden haben. Das wird mir erst jetzt richtig klar. Ich frage mich, ob es gut wäre die Polizei zu informieren und Anzeige zu erstatten. Man kann zwar von Notwehr sprechen, aber wer weiß wie es die Anwälte dieser drei Kerle hin biegen, dass wir am Ende noch im Knast landen.

Als ich zu Hause ankomme, darf ich mir von meiner Mutter erstmal eine Standpauke anhören. Das meiste überhöre ich jedoch, weil mir immer noch Sandra im Kopf herum schwirrt.

Dass sie in der Nacht Zuneigung gesucht hat, wäre noch durch den Angriff erklärbar gewesen, ihr Verhalten am Morgen war es jedoch nicht und auch wenn es eine einmalige Sache gewesen wäre.

Und zum Dank hätte sie mich am Morgen doch sicherlich auch nicht so begrüßt. Es war fast, als wären wir ein Pärchen. Aber das sind wir nicht. Es gab kein klärendes Gespräch diesbezüglich. Einzig und allein hat sie durch ihre Gesten gesprochen, aber wie viel kann so etwas bedeuten? Wenn ich Klarheit haben will, muss ich mit offenen Karten pokern und fragen wie es weiter geht und ihr meine Gefühle offenbaren.

Mit Magenschmerzen liege ich in meinem Bett und traue mich nicht, sie anzurufen. Außerdem stapeln sich auf meinem Schreibtisch die Hausaufgaben und die ersten Klausuren stehen in zwei Wochen an. Der Sonntag schleppt sich dahin und ich schaffe nur ein geringes Pensum von dem, was ich mir vorgenommen habe.

3

15. Oktober, Montag

Die goldene Oktobersonne strahlt durch das Fenster auf die Tafel des Chemiesaals, wo ein dicker Lehrer mit Schnauzbart in einer übermenschlichen Geschwindigkeit Reaktionsketten vor sich hin schreibt. Im Klassenzimmer ist es still, man hört nur das Schaben von Kugelschreibern auf den Blöcken.

Weit entfernt von dem Geschehen in meiner näheren Umgebung beobachte ich schlaftrunken, wie die Sonne die Dächer der Stadt einfärbt und alles in ein friedliches Rot eingetaucht wird. Der Gedanke, dass die Temperaturen weiter sinken werden und bald der verregnete November vor der Tür stehen wird, jagt mir einen Schauer über den Rücken.

Mein Blick schweift vom Fenster hinunter auf ein leeres Papier und dann weiter links zu einem rothaarigen Mädchen, das gebannt auf die Tafel starrt und dabei einen recht verzweifelten Gesichtsausdruck macht. Gestern bin ich noch neben diesem Mädchen aufgewacht und sie hauchte mir sanft einen Morgengruß auf die Lippen. Doch nun sind wir hier in diesem stickigen Klassenzimmer und werden zurück in die Realität geholt, in der wir funktionieren müssen wie willenlose Maschinen, damit wir nicht zurück bleiben. Und wofür das alles? Damit wir immer weiter voran kommen und irgendwann auf dem Sterbebett behaupten können, dass wir etwas in diesem ganzen System, das vollgepumpt ist mit überflüssigem Wissen, vollbracht haben? Meiner Meinung nach ist das alles nur die Heuchelei eines Staates, damit genug profitable Bürger entstehen. Denn die Statistiken sprechen eine andere Sprache. Viele Jugendliche, vor allem die mit dem sogenannten Potenzial, verticken an schäbigen Bahnhöfen schlechte Drogen oder fahren sich im Suff zu Tode.

Und genau diese Gedanken spielen sich tatsächlich in einer Person ab, die sich freiwillig in den Chemieleistungskurs eingetragen hat.

Sandras Haare schimmern in der Sonne und ich muss mich fragen, ob die Haarfarbe eigentlich echt ist. Ist es von der Natur aus möglich, dass ein Mensch so feuerrote Haare hat? Normalerweise ist es bei den meisten so ein Rostrot, das entweder eher in blond oder braun übergeht. Statistisch gesehen sterben die Rothaarigen wohl in hundert Jahren aus.

Aber mich würde es wirklich interessieren, ob die Haarfarbe echt ist. Eigentlich müsste ich ja nur nach Körperstellen suchen, naja… . Genau genommen gäbe es auch noch eine andere Möglichkeit, die Echtheit ihrer Haare zu erfahren – sie einfach zu fragen, aber das wäre auch langweilig. Wobei diese Variante auf mein eh schon sehr zurück gebliebenes Liebesleben passen würde. Seufzend sinke ich auf meinen grünen Ordner nieder und starre wieder auf die Tafel, die mittlerweile fast vollkommen zugeschrieben ist, obwohl noch nicht einmal die erste Stunde vorbei ist.

Zu meiner Linken fängt Sandra an zu kichern. Fragend sehe ich zu ihr hinauf.

„Ich versteh auch kein bisschen von dem, was der Dünster da an die Tafel schreibt.“

„Ja, das ist nicht nur Chemie, das mir zurzeit schwer im Magen liegt.“, antworte ich ziemlich knapp ohne weiter auf sie zu achten. Neben Chemie gibt es für mich noch Problemfall Mandy gekoppelt mit Problemkind Tobias und zu guter Letzt noch die liebe Sandra, die mir immer noch keine deutlichen Signale gegeben hat, wie ich die Geschichte vom Wochenende deuten kann. Letzteres wäre sicherlich noch das Einfachste. Ich könnte sie einfach fragen, aber dazu bin ich natürlich viel zu feige und viel zu wenig von mir selbst überzeugt. Stimmt, da war ja noch was: die Schulsprecherwahl, die ebenfalls an dem apokalyptischen Datum stattfinden sollte.

Nach drei unendlichen Stunden Chemie, die nur noch mehr Fragen aufgeworfen haben, beschließe ich, die Freistunde auf dem Schulhof zu verbringen. Es ist keine Wolke am Himmel und ich lasse mich auf meinen Lieblingsplatz an den alten Steintreppen nieder. Da sitzt plötzlich Sandra neben mir.

Vorsichtig sehe ich zu ihr herüber in der Hoffnung, dass sie von alleine beginnt zu sprechen. Doch sie kann nur über das Wetter und Chemie reden. Geistesabwesend starre ich zu einem überquellenden Mülleimer hinüber.

„Was denkst du über die Sache?“, reißt mich wieder in die Realität zurück.

Der Kontext ist mir nicht wirklich bewusst, aber ich denke zu wissen worum es geht. Sie will über das Wochenende reden.

„Ich denke, du weißt genau wie ich zu dir und zu der Sache vom Wochenende stehe. Was weiter passieren wird, hängt ganz allein von dir ab.“ ich könnte mich dafür ohrfeigen, dass ich ihrer vorhergehenden Sätze nicht mitbekommen habe. Am Ende steh ich noch da wie der letzte Trottel.

Auffordernd blicke ich ihr ins Gesicht und warte gespannt auf eine Antwort.

Sandra zieht die dünn gezupften Augenbrauen nach oben und sieht mich mit großen Augen an.

„Claudia, eigentlich wollte ich deine Meinung zu der Reformpolitik hören.“

„Oh.“, mehr fällt mir dazu nicht ein.

Nach einer fünfsekündigen Pause bekommt Sandra einen Lachanfall, dass ich schon befürchte, dass sie jeden Moment erstickt.

„Du bist manchmal echt ein Brüller Claudia, über was du dir alles Gedanken machst.“

Verärgert über das Gesagte und meine eigene Blödheit wende ich mich wieder dem überfüllten Mülleimer zu und knirsche mit den Zähnen.

„Wie gut, dass ich wenigstens noch zur Lachnummer diene.“

„Ach komm, sei nicht eingeschnappt.“

Sandra kichert immer noch vor sich hin wie ein pubertäres Schulmädchen. Es reicht. Sie macht sich über mich und meine Gedankengänge lustig. Wutentbrannt stehe ich auf und mache mich mit einem kurzen „Man sieht sich“ auf den Weg in den SMV Saal in der Hoffnung, dort meine Ruhe zu haben. Auf meinem Rücken spüre ich noch Sandras bohrende Blicke, doch ich habe zu viel Wut im Bauch um mich noch einmal zu ihr um zudrehen und die Sache zu klären.

Abgehetzt und atemlos komme ich im fünften Stock an, reiße die alte Holztür zum SMV Zimmer auf, feuere meine Schulsachen in die Ecke und lasse mich auf die alte grüne Couch fallen.

„Oho, da ist ja jemand gut drauf.“ Ich zucke zusammen. In meiner Wut habe ich nicht bemerkt, dass sich noch jemand in dem Zimmer befindet. Es ist Lissi, die über einem ihrer Schulbücher brütet.

„Warum hast du eigentlich schon wieder frei?“, fahre ich sie unfreundlicher an, als geplant.

Ein tadelnder Blick trifft mich.

„Tut mir Leid, war nicht so gemeint.“ Ich lasse mich tiefer in das Sofa sinken und hoffe innerlich, dass es mich frisst.

„Willst du drüber reden?“, fragt Lissi leicht gereizt.

„Nein“

„Lass mich raten, es geht um Mandy oder um dein Schatzi.“

„Möglich.“

Mit einem lauten Knall haut Lissi ihr Schulbuch zu und sieht mich mit funkelnden Augen an.

„Ich habe heute Morgen mit Mandy gesprochen.“

„Aha.“

„Sie meinte, dass du und Sandra nun endlich glücklich vereint wärt. Meinen Glückwunsch. Dann brauchst du mich ja jetzt nicht mehr oder habt ihr etwa schon den ersten Beziehungsstreit?“

Verblüfft schaue ich sie an und versuche in ihrem Gesicht zu erkennen, was in ihrem Inneren vorgeht. Sie ist aufgebracht.

„Du solltest deine Informationen von vertrauenswürdigeren Quellen beziehen.“

Lissi schüttelt verwirrt den blonden Kopf und scheint stark nachzudenken.

„Aber du hast doch mit Sandra geschlafen...“

Die Aussage bringt mich zum Lachen und mir wird wieder etwas leichter ums Herz.

„Nein, nein, das war alles ganz anders. Sandra und ich waren was trinken und sind dann in das Unwetter gekommen. Ich habe sie nach Hause gebracht und habe bei ihr übernachtet, weil sie mich nicht noch mal nach draußen gehen lassen wollte. Am nächsten Morgen habe ich dann Mandy, die unter ihr wohnt, im Treppenhaus getroffen. Da ist sie wohl davon ausgegangen, dass Sandra und ich jetzt ein Paar sind.“

Die Sache mit dem Übergriff und der Geschichte im Bett verschweige ich dezent.

Lissis Gesichtszüge werden augenblicklich weicher und ein Lächeln umspielt ihre schmalen Lippen.

„Achso, na dann.“

4

26. Oktober, Freitag

Ich bin der Verzweiflung nahe.

Mandy scheint eine Rückentwicklung durch zu machen, Tobias ist von der Schulsprecherwahl besessen und Sandra kümmert sich einen Dreck um mich. Die einzige, die mir ständig an den Fersen klebt und versucht mich zu unterstützen, ist Lissi.

Ich habe mehrfach versucht, mit Sandra ein tiefer gehendes Gespräch zu beginnen, aber sie interessiert sich nur für irgendwelche Hausaufgaben oder sonstige Nachrichten. Sie hat eine Distanz aufgebaut, die fast der gleich kommt, die am Anfang geherrscht hat. Es tut weh. Jedes Mal durchfährt mich ein stechender Schmerz, sobald ich sie sehe. Die Einsamkeit und die Sehnsucht zehren immer mehr an meiner Seele.

Tobias reagiert keineswegs auf meine Ausfrageversuche über sein Liebesleben und lenkt das Thema immer wieder auf die Wahl.

Mandy scheint es nicht für nötig zu halten, mit mir zu kommunizieren und steckt stattdessen lieber mit ihren Weibsen die Köpfe zusammen. Wahrscheinlich wissen diese Barbies auch schon über die ganze Sache Bescheid. Wundern würde es mich auf jeden Fall nicht.

In Karate läuft derzeit gar nichts mehr. Meine Leistungen werden immer schlechter und meine Reaktionszeit ist vergleichbar mit der eines Anfängers.

Mel ist mittlerweile eine der wenigen Personen, die mir noch das Leben versüßen. Ich habe mich für heute Abend mit ihr verabredet, um mal wieder ein bisschen Zeit miteinander zu verbringen – ganz wie in alten Zeiten. Obwohl es danach sicherlich nie wieder so werden wird wie früher, denn ich habe mich endlich dazu durch gerungen, zu mir selber zu stehen. Jedenfalls erstmal einen kleinen Anfang zu machen, bevor die Sache dann nächste Woche sowieso auffliegt. Sie soll es von mir erfahren und nicht durch das Hören-Sagen.

Nervös rutsche ich auf meinem Stuhl hin und her und blicke meinen Konkurrenten ins Gesicht. Es handelt sich um einen protzig wirkenden Jungen, der ein hässlicher Bruder von Tobias sein könnte und eine graue Maus, die aussieht, als wäre sie auf der Suche nach jemandem, der sie defloriert. Es wird ziemlich peinlich, wenn die beiden Tobias und mich schlagen würden. Wobei es andererseits auch seine Vorteile hätte, ich wäre aus dem Rampenlicht hinaus und es würde wahrscheinlich weniger Leute interessieren, wenn mein kleines Geheimnis raus kommen würde. Schnell verwerfe ich meinen Gedanken, als mir Lissi die Hand auf die Schulter legt.

„Ganz ruhig, das wird schon noch werden. Es wird sich alles zum Guten wenden. Du wirst sehen, alles wird gut.“

Etwas liegt in ihrer Stimme, das mir eine Gänsehaut bereitet.

Eine böse Vorahnung? Nein, Lissi ist nicht so durchtrieben.

Zu Hause angekommen lasse ich mich auf mein Bett fallen und starre an die weiße Decke. Sandra. Dieser Name geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Egal wie schlecht sie mich behandelt, mein Verlangen nach ihr scheint mit jedem Tag zu wachsen. Sie ist unerreichbar für jemanden wie mich, doch habe ich immer noch das Gefühl, dass der Geschmack ihrer Lippen immer noch auf meiner Zunge liegt. Nachdenklich streiche ich mir über meine Lippen und schlafe kurze Zeit später ein.

Kurz nach sechs reißt meine Mutter mich aus dem Schlaf.

„Bist du nicht um sieben mit Mel verabredet.“

Ich schrecke hoch und schlage beinahe meiner Mutter mit dem Kopf die Zähne ein. Schimpfend verschwindet sie zur Tür hinaus und Satan wedelt hinter ihr her.

Ich habe Mel zu einem Playstation und DVD Abend bei mir überreden können. Ich bin dankbar für die Sicherheit die mir mein Zimmer gibt und hoffe, dass heute alles nach Plan läuft.

Mit einer leichten Verspätung trifft Mel schließlich ein und streckt mir zur Begrüßung einen Quarkkuchen entgegen.

„Hab ich heute Nachmittag noch gebacken. Mir war danach.“

Ich muss lachen und wir gehen mit einer Flasche Martini auf mein Zimmer. Der Kuchen schmeckt wirklich ausgezeichnet und wir sparen nicht mit dem Martini. Meine Wangen fangen an zu glühen. Dies ist ein sicheres Zeichen, dass meine Zunge nun locker genug ist um mit der Wahrheit raus zu rücken. Wir sitzen auf meinem weißen Sofa und in meinem kleinen Fernseher läuft der Film „Dogma“ - eine Satire über die Christenheit.

„Mel, ich muss dir was beichten, was ich dir schon ewig hätte beichten müssen.“ Schuldbewusst senke ich den Kopf. Mel sieht mich fragend an und fängt dann an zu lachen.

„Ach, du meinst die Sache von damals, als du bei mir warst und aus Versehen meinen Lieblingsbilderrahmen kaputt gemacht und dann verschwinden lassen hast. Das weiß ich doch schon längst.“

Sie klopft mir aufmunternd auf die Schulter. An einen Bilderrahmen kann ich mich nicht erinnern.

„Nein, darum geht es nicht. Du hattest mich doch mal gefragt, wie es bei mir mit Jungs aussieht.“

Mel nippt am Glas.

„Ja, aber das ist doch auch schon wieder etwas her.“

Sie scheint zu ahnen wie ernst mir die Sache ist und stellt das Glas auf den braunen Holztisch, auf dem die leere DVD Hülle und die Flasche Martini steht.

Als ich nicht weiter spreche, sieht sie mich fordernd an.

„Spuck’s aus, wir sind zusammen groß geworden. Du kannst mir doch seit Jahren alles erzählen. Gibt’s etwa endlich jemanden in deinem Leben? Wurde aber auch mal Zeit.“

Ich hole tief Luft und fahre mit dem Zeigefinger den Rand des Glases nach.

„Ja, könnte man so sagen. Nur die ganze Sache ist kompliziert.“

„Das ist es doch immer. Das sind die Hormone. Die lähmen deine komplette Denkfähigkeit. Komm erzähl mir doch mal von ihm.“

„Mel, es ist wirklich etwas schwieriger als normalerweise.“

„Komm schon.“ Mel klingt wie ein trotziges Kleinkind.

„Die Person ist ziemlich launisch. Mal sind wir uns so nah und im gleichen Augenblick herrscht wieder eine riesige Distanz. Wir haben uns geküsst, als wir gemeinsam in einem Bett geschlafen haben, aber seitdem herrscht absolute Funkstille, obwohl wir in den gleichen Kursen sind.“

„Mh, das ist echt nicht ganz normal zumal ihr schon eine gemeinsame Nacht verbracht habt – und da ist wirklich nichts gelaufen, nicht mal ein bisschen fummeln? Es ist doch meist so, dass nach dem ersten Kuss alles geregelt ist. Rede doch mal mit ihm.“

„Versuch ich ja die ganze Zeit, aber sie weicht immer aus.“

Es herrscht Schweigen. Aus der Küche ist ein Klappern zu hören.

„'sie'?“, wiederholt Mel.

Ich atme tief durch und sammele mich mit meiner ganzen Kraft.

„Sandra.“

Wieder schweigen.

Mel beißt sich auf die Lippen und ich sehe ihr an, dass sie sehr stark am nachdenken ist.

In dem Film kommt es gerade zur Schlägerei zwischen Gut und Böse. So muss es wohl gerade in ihrem Kopf aussehen. Der Quarkkuchen liegt mir schwer im Magen und ich verspüre den Wunsch ihn wieder hervor zu würgen.

„Wie lange schon hast du diese Neigung?“ durchdringt mit einer unangenehmen Ruhe Mels Stimme das Schweigen.

„Ich weiß nicht mehr genau wann es angefangen hat, aber irgendwann wurde es mir dann schlagartig klar. Du bist die Erste der ich das jetzt ganz freiwillig erzähle.“

Mels Gesichtszüge sind immer noch hart.

„Und du bist dir sicher, dass das nicht nur so eine Phase ist? Ich meine, viele machen doch mal so eine Phase durch, aber die hat sich nach einem Jahr meist wieder. Kann ja sein, dass das bei dir etwas länger dauert als normal. Bist halt ein Spätzünder.“

Ich muss grinsen.

„Ob es eine Phase ist, wird sich noch heraus stellen.“

Mel nickt kaum merklich.

„Du meintest ich wäre die Erste, der du es freiwillig erzählt hättest, hast du es denn schon mal unfreiwillig getan?“

Ich erinnere mich an den Tag mit Sandra auf dem Spielplatz und den verregneten Tag, wo ich bei Lissi zu Hause war und ich ihr in meiner Not alles gebeichtet habe. Immer stand irgendein Zwang dahinter, aber heute will ich einfach nur ehrlich sein und mich nicht hinter irgendwelchen Vorwänden verstecken.

„Ok, wenn du mich schon so schocken musst, dann möchte ich auch die ganze Geschichte hören.“

Eigentlich bin ich es leid, diesen ganzen Irrsinn jedes Mal von neuem runter zu rasseln, aber für Mel tue ich es gerne, obwohl auch nicht ganz so detailliert wie sie es gern hätte. Ich erzähle ihr von Sandras Freund Carsten, Mandys Intrige und auch von dem Überfall vor fast zwei Wochen.

Mit jedem Wort werden Mels Augen größer. Sie scheint ziemlich schnell zu begreifen, welche Last auf meinen Schultern liegt. Als ich fertig bin, fällt sie mir um den Hals.

„Das hast du nicht verdient.“ Ich zucke lässig mit den Schultern. Aus dieser Perspektive habe ich das noch gar nicht gesehen.

„An deiner Stelle hätte ich dieser Schlampe schon längst die Fresse poliert.“ Mel hatte schon immer einen Hang zur Unsachlichkeit, aber ich muss ehrlich gestehen, dass ich in so mancher stillen Stunde auch schon den Drang verspürt habe, das mit ihr zu tun.

„Aber Sandra ist schon etwas seltsam. Ich meine, wenn dieser Carsten wirklich so eine Person ist, wie du ihn beschreibst, dann sehe ich keine Gründe für Sandra bei ihm zu bleiben. Außer, er ist natürlich vollkommen anders, wenn sie alleine sind, was ich eher nicht glaube“, fügt sie hastig hinzu. „Hast du dir schon einmal die Möglichkeit ausgemalt, dass etwas aus der Vergangenheit diese beiden zusammenhält und dass Sandra vielleicht wegen irgendeiner Sache in Carstens Schuld steht?“

So weit hatte ich noch gar nicht gedacht. Zwar hat mir meine Phantasie ziemlich bunte Geschichten gezeigt, doch keine von denen empfand ich für real. Die These, dass es vielleicht etwas gibt, das sie auf eine nicht nachvollziehbare Weise verbindet, hatte ich noch nie richtig durchdacht.

„Und was meinst du soll ich jetzt tun?“

„So wie ich dich kenne weißt du doch schon längst, wie die einzige Option lautet, um die Sache ein für alle Mal zu klären. Geh hin und sag ihr, was du fühlst. Wenn sie dich abblitzen lässt, dann such dir eine Neue und wenn nicht, dann kann es dir im Übrigen auch egal sein, was deine Klassenkameraden über dich denken. Hat dich doch noch nie gestört. Du bist in der 6. Klasse mal mit einer grünen Jogginghose und lilafarbenem Kelly Family Top in die Schule gewandert.“

Mel hat die Sache auf den Punkt gebracht. Sie hat endlich das in Worte gefasst, was ich mir schon seit einigen Wochen in meinem Kopf zusammen gereimt habe.

„Wann willst du es machen?“

„Was machen?“

„Ihr es sagen, du Feigling.“

„Was hältst du für sinnvoll?“

„1. November, dann haste alles in einem Abwasch erledigt und wenn Mandy dann plaudert, kann es dir nämlich egal sein. Du hast vielleicht sogar das, was du willst und sie steht alleine da. Wäre doch ein schöner Triumph.“ Mel lächelt böse.

Ich mag ihre Denkweise, sie könnte mir echt gefallen, wenn da nicht unsere Freundschaft wäre, die mir wichtiger ist als eine heiße Affäre.

Bis spät in die Nacht spielen wir noch ausgelassen mit meiner Spielkonsole und vernichten noch den Rest, der sich in der Martiniflasche befindet. Gut gelaunt bringe ich sie zur Haustür, wir verabschieden uns so herzlich wie lange nicht mehr.

„Ach Claudia“, sie dreht sich noch einmal um, „behalte diese Lissi im Auge, es gefällt mir nicht, was du da erzählt hast.“

Fragend sehe ich sie an, doch sie lässt mich stehen und verschwindet in die Dunkelheit der Straße.

Morgen wird es ein Gewitter geben.

5

27. Oktober, Samstag

Ich habe das Gefühl, dass mein Schädel die Größe eines Luftballons und die Schwere einer Bowlingkugel angenommen hat. Die Rache der halben Flasche Martini, die immer noch auf dem kleinen Holztisch steht und deren Glas in der Sonne glitzert.

Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es schon nach Mittag ist und ich krieche wie ein Wurm aus meinem Bett. Auf den Weg ins Bad kommt mir mein Vater entgegen.

„Guten Morgen, Liebes.“ Ich winke ab. Ich mag keine gut gelaunten Menschen vor meinem ersten Kaffee.

In der Hoffnung, dass es meine müden Glieder belebt, lasse ich kaltes Wasser über meinen Körper laufen.

Um drei Uhr fühle ich mich endlich wieder als Mensch und mache mich auf, eine Kleinigkeit zu essen. Der grinsende Blick meiner Mutter verrät mir, dass sie genau weiß, dass wir da oben gezecht haben und ich nun die Rechnung dafür zahlen muss.

Zurück in meinem Zimmer schnappe ich mir mein Telefon und die Klassenliste.

Die Vorsätze, die ich dank Mel endlich gefasst habe, will ich nicht wieder unter den Tisch fallen lassen und stelle mir selber ein Ultimatum, aus dem ich mich kaum noch heraus winden kann. Ich rufe Sandra an.

Es klingelt und Sandra ist am Apparat.

„Sandra, ich würde gerne am 2. November etwas Ernstes mit dir besprechen. Hast du da Zeit?“

Eine Pause tritt ein.

„Willst du mir von den Plänen für die Schule erzählen?“, spöttelt sie.

„Darum geht es nicht, ich will mit dir reden.“

„Gut, dann treffen wir uns nach der Schule im Park.“

Sandra kommt mir ziemlich mies gelaunt vor, deswegen gebe ich mich mit dem Treffpunkt zufrieden, obwohl ich es schon gerne etwas privater gehabt hätte.

Das Wochenende verlief nicht weiter spektakulär, außer dass Lissi einmal angerufen hat, um zu fragen wie es mir geht.

6

31. Oktober, Mittwoch

Wie auch schon das Wochenende vergingen die letzten Tage sehr schnell – viel zu schnell für meinen Geschmack. Morgen würde es sich also entscheiden. Ich hatte auch kaum noch die Gelegenheit mit Mandy zu reden. Sie scheint sich vor mir immer mehr zurück zu ziehen und auch Tobias scheint jeden Tag eine neue Grenze in Sachen Egozentrik zu überschreiten.

Für Sandra bin ich nach wie vor nur noch eine von vielen Mitschülern und kurzzeitig war ich am überlegen, sie einfach zu küssen – vor der gesamten Schule. Aber für so etwas bin ich leider nicht der Typ und es würde meinem Ego auch nicht sonderlich gut tun, wenn sie mir dann vor all den Leuten eine scheuern würde.

Meine Sportleistungen leiden immer noch schrecklich unter dem derzeitigen Druck, jedoch ist es immer noch besser als letzte Woche.

Trotz der Erschöpfung durch das Training liege ich die halbe Nacht wach. Der Vollmond, der durch das Fenster scheint, erhellt mein Zimmer. Mein Magen schmerzt und die Angst hat mich jetzt schon fest im Griff. Ich hätte es meinen Eltern sagen sollen, heute, damit sie es morgen, wenn etwas schief laufen sollte nicht von anderen Leuten erfahren.

Als ich in der 8. Klasse war, hatten wir einen Schulsprecher, der von allen männlichen Klassenkameraden als Tucke oder ähnliches bezeichnet wurde. Er ist jedes Mal ausgerastet, wenn ihn jemand als schwul bezeichnet hat. Im Laufe des Schuljahres hat er immer mehr Selbstbewusstsein entwickelt und ist mit einer Sicherheit durch die Gänge gelaufen, sodass es nur noch wenige gewagt haben ihm diskriminierende Worte an den Kopf zu werfen. An seinem letzten Schultag ist er mit einem Mädchen-t-shirt in die Schule gekommen. Das T-Shirt sorgte für ziemlich viel Aufsehen unter den Schülern, wie auch unter den Lehrern. Jedoch trug er dieses Shirt mit einem Stolz, den ich selten bei einem Menschen gesehen habe. Die Aufschrift lautete: I know what boys want.

7

1. November, Donnerstag

Noch bevor mein Wecker klingelt, wache ich auf und mache mich auf den Weg ins Bad. Mühevoll versuche ich, meine Augenringe weg zu schminken. Meine Glieder schmerzen von dem gestrigen Training und ich fühle mich übel.

Das Gesicht, das mich da im Spiegel anblickt, ist nicht das meinige.

Ohne Kaffee mache ich mich früher als gewohnt auf den Weg in die Schule. Vielleicht nimmt Mandy ja ihre Drohung zurück und lässt Gras über die Sache wachsen?

Ich müsste sie schon mit Gras bestechen, damit aus der Sache was wird.

Auf den Boden starrend rempele ich plötzlich gegen etwas Weiches.

„Mensch, pass doch auf.“

Verwirrt blicke ich auf. Es ist Lissi.

„Sorry, was machst du denn hier?“

„Dich abholen, was sonst. So wie du heute drauf bist, findest du wahrscheinlich nicht mal alleine den Weg in die Schule.“

„Wäre vielleicht auch besser so.“

Die Idee mit dem Schulwechsel ist mir bisher noch gar nicht gekommen. Für Eventualitäten sollte ich sie im Hinterkopf bewahren.

Es ist 7:30 Uhr, als wir das Schultor erreichen.

„Wie wird es heute ablaufen?“

Lissi scheint auf diese Frage gewartet zu haben.

„Also, die Kandidaten werden heute bis zur 4. Stunde ganz normal den Unterricht besuchen. Der Rest des SMV-Teams sammelt derweil die Stimmzettel in den einzelnen Klassen ein. Die zählen wir dann im SMV Zimmer aus und geben euch dann nach der 4. Stunde Bescheid. In der 5. Stunde müssen die Gewählten dann wie gewohnt zum Rektor und dann in der 6. Stunde gibt es die Durchsage, wer nun dieses Jahr das Sagen hat. Nicht viel anders als letztes Jahr.“

Im zweiten Stock verabschiede ich mich von Lissi und langsam biege ich um die Ecke eines sonst recht leeren Korridors ein. Mandy sitzt auf dem Fensterbrett eines großen Rundbogenfensters und starrt gebannt hinaus.

Widerwillig geselle ich mich zu ihr.

„Was gibt’s denn da so Interessantes zu sehen?“

„Dies und das“, antwortet sie geistesabwesend.

„Na, das muss ja toll sein.“

„Versuch es erst gar nicht. Hast schon Bammel vor heute? Ich meine, das ist der letzte Tag an dem dein Hetero-Image standhält.“

„Schon mal überlegt, was deine Aussage wert ist, wenn ich morgen mit einem Kerl an meiner Seite auftauche?“

Sie wendet ihren Blick vom Fenster ab.

„Na, das würde deiner Süßen aber gar nicht gefallen.“

„Vielleicht ist sie ja gar nicht mehr meine Süße, dir ist doch sicherlich nicht entgangen, wie unser Verhältnis in letzter Zeit war?“

„Was ihr so treibt, ist mir scheiß egal.“ Wütend stapft sie davon und vergisst in ihrer Eile ihren Schulordner. Ich fühle mich nicht verpflichtet ihn ihr nach zu tragen und lasse ihn mit einer schwungvollen Bewegung in den Mülleimer gleiten.

Leichtfüßig mache ich mich auf den Weg zu Geschichte. Überraschenderweise hat sich Tobias auch schon im Klassenzimmer eingefunden und kaut auf einem roten Kugelschreiber herum.

Ich klopf ihm auf die Schulter.

„Na, aufgeregt?“

Verwirrt dreht er sich zu mir herum und sieht mich an, wie ein Rehkitz, das gerade seine Mutter wieder gefunden hat.

„Ein bisschen.“

„So viel Bescheidenheit steht dir nicht Tobias. Das bist nicht du.“

„War ja klar, dass es dir wieder egal ist, ob du gewählt wirst oder nicht.“

„Stimmt.“

Zurück auf meinem Platz schlage ich das Geschichtsbuch auf Seite 87 auf und fange an, noch einmal das Kapitel über die Kuba-Krise zu lesen.

Wenige Minuten vor Unterrichtsbeginn kommt Mandy herein gestöckelt und brüllt quer durch das ganze Zimmer:

„Claudia, hast du meinen Ordner gesehen?“

Ich tue überrascht und sage schlicht nein.

Nach zwei Stunden monotoner Beschallung über politische Hintergründe und Fakten zur Kuba-Krise werden wir von dem Stundengong erlöst und ich mache mich bereit, vielleicht das letzte Mal in meiner Schullaufbahn die Pausenaufsicht zu übernehmen.

Auf dem Schulhof ist recht wenig los, da es leicht nieselt und die meisten Schüler, und besonders die weiblichen, scheinbar Angst um ihre Frisuren haben. Nachdenklich blicke ich über den gepflasterten Platz und frage mich, was sich verändert, wenn die ganze Sache publik werden würde. Würde ich immer noch so eine innere Ruhe verspüren, wenn mich alle angaffen und mit dem Finger auf mich zeigen? Ich meine, Homosexualität wird sogar von der im Mittelalter hängen gebliebenen Kirche zumindest geduldet. Warum dann auch nicht in einer Schule?

Ich vergaß, Kinder sind grausam.

Die Freistunde verbringe ich damit, einen Kriminalroman von Stephen King zu lesen. Er ist nicht sonderlich gut und die Zeit verrinnt nur langsam. Im Kollegstufenzimmer sitzen nur vier weitere Schüler, die sich intensiv darüber unterhalten, was sie für Alkohol fürs Wochenende noch besorgen müssen, da der Jüngste von ihnen offenbar sturmfrei hat und dort eine Party steigen soll. Mich würde das Gesicht der Eltern interessieren, wenn sie nach dem Kurzurlaub nach Hause kommen und das komplette Haus nach Erbrochenem und Alkohol riecht.

Diese Erfahrung mussten meine Eltern bei mir bisher noch nie machen. Sie sollten dankbar sein.

In Physik ruht mein Blick unentwegt auf Sandra und das Gefühl in meinem Magen wird immer stärker. Morgen wird sie es wissen, schießt es mir durch den Kopf und ich drehe mich reflexartig zu Mandy um, die meinen Blick sofort bemerkt und höhnisch grinst. Tobias, der neben ihr sitzt starrt gebannt auf das Periodensystem, das zwar nichts mit dem momentanen Stoff zu tun hat, aber eine wahnsinnig gute Ablenkung zu sein scheint.

Vor lauter Nervosität zerbreche ich mein Lineal und das Mittelstück fliegt auf Sandras Block.

„Jetzt komm mal wieder runter. Wusste gar nicht das du so erfolgsgeil bist.“

Ich sammele die Reste des Lineals wieder ein und werfe sie hinter die Heizung, hinter der schon Generationen von Schülern ihr Zeug verstaut haben.

Das Läuten der Glocke kommt mir erstaunlich schrill vor.

Fast zeitgleich springen Tobias und ich auf, entschuldigen uns kurz bei Herrn Dünster und stürmen zur Tür hinaus.

„Oh man, ich fühl' mich, als würde ich jeden Moment Vater werden?“

„Du weißt, wie es sich anfühlt Vater zu werden?“ frage ich verdutzt.

„Nein, natürlich nicht, aber ich stelle mir vor, dass es so ähnlich ist.“

„Mensch, du hast ja Vorstellungen vom Leben.“

Abgehetzt bleiben wir vor dem SMV Zimmer stehen. Unsere beiden Konkurrenten sind ebenfalls schon da und begrüßen uns ziemlich knapp. Tobias klopft an, obwohl diese Förmlichkeit nicht nötig wäre.

Wir treten ein. In dem Zimmer könnte man die Luft schneiden und in den Gesichtern kann ich erkennen, dass die Wahl anders verlaufen ist als erwartet. Nur Lissis Gesicht hat einen seltsamen Ausdruck der Zufriedenheit angenommen.

„Ihr seht aus als hätte man euch gerade gesagt, dass der Kaffeeautomat defekt ist“, versuche ich die Stimmung etwas auf zu lockern. Hier und da huscht ein leichtes Grinsen über die Gesichter, welche jedoch gleich wieder starr werden.

Tobias ergreift das Wort.

„Okey, reden wir nicht lange um den heißen Brei herum. Wie ist es gelaufen?“

Keiner der SMV-Mitglieder will sich rühren. Die beiden Neuen stampfen nervös von dem einen auf den anderen Fuß.

Lissi räuspert sich und steht auf.

„Soll ich?“, fragt sie Jasmin, die normalerweise diese Aufgabe in den letzten beiden Jahren übernommen hat. Ein kaum sichtbares Nicken gibt ihre Zustimmung.

„Also ich komme erst zu der Nummer 1. Mit einem weiten Abstand vor allen anderen ist es wieder Tobias geworden.“

Tobias' Augen weiten sich und ein breites Grinsen legt sein Gesicht in tiefe Lachfalten. Sein Blick wandert über die versammelte Runde und plötzlich erstarrt sein Lachen.

„Na dann, Claudia, du wirst doch dann sicherlich wieder unsere Nummer zwei werden.“

„Freu dich nicht zu früh.“

„Ach was“, er umarmt mich in seinem Überschwang.

„Sie hat recht. Du solltest dich wirklich nicht zu früh freuen.“ Jasmin hat ihre Stimme wieder gefunden.

„Claudia“, sie atmet tief durch, „ist nur an die dritte Stelle gekommen.“

Schweigen.

Eine Erleichterung macht sich in mir breit. Ich bin es nicht. Innerlich jubelt alles. Ich tue mich schwer ein selbstgefälliges Grinsen zu unterdrücken und reiße mich zusammen.

„Wollt ihr denn nicht sagen, wer dann die Nummer zwei geworden ist?“

Jasmin wirft mir einen düsteren Blick zu.

„Michaela Schuster.“

Die kleine graue Maus kreischt vor Freude auf und springt wie wild durch das Zimmer. Die meisten SMV-Mitglieder würdigen sie keines Blickes und starren stattdessen mit angestrengten Mienen auf den alten Holztisch.

Herzlich beglückwünsche ich Michaela und gebe ihr symbolisch den Schlüssel zum SMV Zimmer.

Anstandsgemäß bedanke ich bei allen Leuten und wünsche ihnen viel Erfolg für ihre weitere Arbeit. Ohne viele weitere Worte drehe ich mich um und gehe hinaus auf den Gang. Es ist noch immer die 4. Stunde und in den meisten Klassenzimmern herrscht Unterricht.

Ich höre Schritte hinter mir und drehe mich um. Es ist Lissi, die mich mit starrem Blick ansieht und grinst.

„Na Claudia, die Selbstzufriedenheit steht dir recht gut.“

Sie wird mir immer unheimlicher und ich frage mich mehr und mehr was in ihrem Kopf vorgeht.

„Hättest wohl nicht gedacht, dass die Wahl so ausgeht. Hat keiner von uns gedacht.“ fährt sie fort, als ich nichts erwidere.

Sie kommt näher.

„Keiner hätte erwartet, dass die kleine graue Maus so viele Stimmen zusammen bekommt. Hast doch die ganzen geschockten Gesichter gesehen. Aber es kommt dir ja nur zu gute, Claudia. Jetzt bist du endlich aus dem Blickfeld aller und kannst dich wieder voll und ganz auf dein Liebesleben konzentrieren.“

Sanft streicht sie mir der rechten Hand über meine Wange. Ihr Ärmel rutscht nach unten und ich erkenne überall tiefe Schnitte an ihrem Handgelenk, die mir früher nie aufgefallen sind. Sanft schiebe ich ihre Hand bei Seite.

„Ich muss los. Bis bald.“

Schnellen Schrittes mache ich mich davon. Ich will weg, weg von ihr.

Da ich es immer noch zwanzig Minuten bis zur Pause sind, beschließe ich mich wieder in den Physiksaal zu hocken. Ich klopfe an und gehe schweigend zu meinen Platz. Auch Herr Dünster hat kurzzeitig aufgehört an die Tafel zu schreiben. Die Blicke verfolgen mich. Ruhig lege ich mein Zeug auf meinen Platz und drehe mich nach kurzem Zögern zu der Klasse um.

„Tobias ist die Nummer eins und Michaela Schuster ist die Nummer zwei.“

Die fassungslosen Gesichter meiner Klassenkameraden sprechen Bände und ich muss darüber lächeln, nur auf Mandys Gesicht spielt ein zufriedenes Grinsen, ähnlich dem von Lissi.

Herr Dünster nimmt seinen Unterricht wieder auf. Sandra packt unter der Bank meinen Arm und drückt ihn sanft, jedoch ohne ihren Blick von der Tafel abzuwenden. Diese Geste bedeutet mir mehr als alle Wahlsiege zusammen.

Eine Hürde ist genommen, die nächste ist jetzt auf der Feier für die Schulsprecher, die in der China-Bar heute Abend stattfinden wird, Mandy und Tobias zu einem Paar zu machen. Als ehemaliger Schulsprecher darf ich dazu natürlich nicht fehlen und auch Mandy gilt als meine Begleitung.

Als ich zu Hause ankomme, werde ich sofort von meiner Mutter angerufen, die wissen will, wie die Wahl gelaufen ist. Auch sie kann die Enttäuschung nicht verbergen.

Gegen sechs Uhr mache ich mich fertig für die Bar. Ich liebe Cocktailbars und die China-Bar trifft mit ihrem fernöstlichen Ambiente genau meinen Geschmack.

Punkt acht Uhr stehe ich vor dem Eingang der Bar und nach und nach trudeln auch die entsprechenden Leute ein. Nur von Michaela, Mandy und Lissi ist keine Spur zu sehen. Tobias hält vor Jasmin Volksreden, als mich Katharina zur Seite nimmt.

„Hey Claudia, wie geht’s dir?“

„Mir geht’s bestens. Warum sollte es mir schlecht gehen?“

„Du sollst nur wissen, wenn es nach uns allen gegangen wäre, dann wärst du jetzt an Tobias Stelle. Es ist wirklich schade, dass du nicht mehr dabei bist. Hier, von uns allen.“

Sie drückt mir einen weißen Briefumschlag in die Hand. Ich schaue sie fragend an, doch sie winkt ab.

Mit einer halben Stunde Verspätung trudeln Michaela, Lissi und Mandy endlich ein. Wir haben schon eine erste Runde Pina Colada intus und die Stimmung ist gut. Vergessen scheint die Enttäuschung über das Wahlergebnis. Mandy drängt sich gekonnt zwischen Tobias und Katharina, die widerwillig weg rutscht.

„Was macht die denn hier?“, faucht sie mir zu. Ich beuge mich vor.

„Wird hoffentlich die Neue vom Tobias“, zische ich zurück und mache ihr mit einer Handbewegung klar, dass sie nicht stören soll.

Lissi hat sich neben mir auf der Bank nieder gelassen und bestellt sich einen Zombie.

„Was war denn los? Bist doch sonst nicht so unpünktlich.“

„Ach, ich hatte noch was zu klären.“ Sie nickt kaum merklich zu Mandy hinüber, die sich immer dichter an Tobias anschmiegt, das ihn in seiner Siegeseuphorie nicht sonderlich zu stören scheint.

Der Abend wird immer später und alle schauen immer tiefer ins Glas. Die Stimmung ist so ausgelassen wie nie, nur Michaela wirft mir immer noch schuldbewusste Blicke zu und nippt immer noch an ihrem ersten Cocktail, obwohl die meisten anderen schon bei ihrem dritten oder vierten sind.

Als ich aufstehe muss ich mich schwer beherrschen nicht zu taumeln, ich packe Michaela an der Schulter und flüstere in ihr Ohr.

„Hey, du“, ich lalle leicht, „brauchst dir echt keine Gedanken wegen K-Kandi-Kandi - du weißt schon. Hast mir sogar nen Gefallen getan. Find dich echt spitze.“

Mein Blick schweift in die Runde und da sehe ich es. Mandy und Tobias liegen halb auf der Bank und sehen aus, als würden sie sich jeden Moment auffressen. Ein Feuerwerk breitet sich in meinem Herzen aus und ich fange laut an zu jubeln. Die anderen wissen zwar nicht, worum es geht, grölen aber kräftig mit, da der Alkoholpegel schon sehr hoch ist.

Zur Feier des Tages lade ich jeden einzelnen noch auf einen Kurzen ein.

Meine Erinnerung erlischt in dem Moment, an dem ich aus der China-Bar in die kühle Nacht hinaus gehe.

8

2. November, Freitag

Ein penetrantes Piepen weckt mich. Ich liege auf dem Rücken. Meine Gliedmaßen fühlen sich schwer an und schmerzen. Langsam öffne ich die Augen und stelle fest, dass ich nicht in meinem Zimmer bin. Etwas kommt mir bekannt an diesem Zimmer vor. Ich war hier schon einmal. Vorsichtig hebe ich den Kopf und sehe zu meiner Rechten. Ich erkenne einen blonden Haarschopf, der gerade nach dem piependen Wecker greift. Ich muss schlucken. Auf meiner Zunge ist immer noch stark der Geschmack von Tequilla. Schlagartig wird mir bewusst neben wem ich hier liege. Es ist Lissi. Sie dreht sich herum.

„Guten Morgen Claudia.“ Sie lächelt mich verträumt an.

„Morgen.“, sage ich automatisch zurück.

Was war gestern? Wir haben gebechert und dann? Ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Ich habe einen kompletten Filmriss.

Sie bemerkt meinen verdutzten Gesichtsausdruck.

„Du warst gestern bis zum Rand voll“, sie lächelt lasziv, „und du bist ganz schön wild wenn du betrunken bist.“

Alles Blut sackt nach unten.

„Bitte?“, ich verstehe nicht genau was sie meint, aber ich habe eine böse Vorahnung.

„Wild eben“, sie richtet sich auf. Sie hat kein T-Shirt und keinen BH an, sodass ich ihre spitzen Brüste heraus ragen sehe. Vielleicht schläft sie ja immer nackt? Ich klammere mich an meine Decke und versuche ein Stück Wäsche an meinem eigenen Körper zu fühlen. Aber da ist nichts. Krampfhaft versuche ich mich an gestern Abend zu erinnern, aber es geht nicht. Ich weiß nur noch, dass Tobias mit Mandy rumgemacht hat und wir dann auch ziemlich bald gegangen sind. Und dann?

„Was war denn gestern? Hast du mich besoffen hier her geschleppt?“

Frage ich in der Hoffnung, dass ich das hier alles falsch verstehe.

„Ja, unter anderem. Nur im Bett bist du dann wieder etwas zu dir gekommen und es war einfach phantastisch. Das erste Mal mit einer Frau hätte ich mir nicht so gut vorgestellt.“ Sie lächelt mich glücklich an.

Mein Herz macht einen Aussetzer. Ich soll mit ihr geschlafen haben? Im Suff? Geht das denn überhaupt? Oder erlaubt sie sich nur mit mir einen bösen Scherz?

„Jaja, sehr lustig Lissi, ich wäre dir fast auf den Leim gegangen.“, ich lache hoch auf.

Sie kuschelt sich an meine Schulter.

„Claudi, ich mache keine Scherze. Du bist echt süß, wenn du so verwirrt bist. Da bekomm ich fast Lust es noch mal zu tun.“ Sie kichert wie ein kleines Mädchen.

Ich schreie auf und springe aus dem Bett. Sie schaut mich erstaunt an und ich merke, dass ich wirklich splitternackt bin. Panisch bedecke ich die kritischen Stellen meines Körpers mit den Händen und suche meine Sache zusammen, die im kompletten Zimmer verteilt sind und bestialisch nach Rauch stinken.

Das kann nicht sein, schießt es mir immer wieder durch den Kopf. Das kann nicht sein. Nicht mit Lissi. Nicht so.

Panikerfüllt sprinte ich mit nacktem Hintern zu ihrer Zimmertür hinaus und lasse sie alleine zurück. Ich renne den kompletten Weg zu mir nach Hause. Verschwitzt und mit einem fürchterlichen Brand komme ich zu Hause an. Meine Mutter macht die Tür auf und fragt, wo ich denn so lange gewesen sei und ob ich wieder bei Sandra geschlafen hätte. Ohne ein Wort stürme ich die Treppe hinauf ins Badezimmer.

Das kalte Wasser läuft meinen Körper entlang. An meinem Hals und an meiner Brust sind überall Lissis Spuren von letzter Nacht. Es muss also wahr sein. Was habe ich getan? Wie konnte mich der Alkohol dazu bringen, Sandra voll und ganz zu vergessen? Wenn sie das erfahren sollte, wird sie mich für eine billige Schlampe halten, die mit jeder in die Kiste steigt, die gerade zu haben ist. Ich ekle mich vor mir selbst und schrubbe so fest es geht mit dem Schwamm auf meiner Haut herum, in der Hoffnung, dass ihre Spuren verschwinden. Aber sie verschwinden nicht.

Und was ist mit Lissi? Sie schien sich nicht gerade unwohl zu fühlen. Ob ich sie dazu überreden kann, es als einmaligen Ausrutscher anzusehen und über die Sache nicht mehr zu sprechen? Das ist erbärmlich, richtig erbärmlich und das auch noch bei meinem allerersten Mal.

Es ist 7:45 Uhr, als ich das Haus verlasse. Zu Fuß schaffe es nie und nimmer pünktlich in die Schule zu kommen und Auto fahren sollte ich auch nicht, weil ich mich immer noch recht benommen fühle. Ich hole mein Mountainbike aus der Garage und schwinge mich darauf. An dem Lenker sind überall Spinnweben, was mich überlegen lässt, wie lange ich schon nicht mehr Fahrrad gefahren bin.

Mit fünf Minuten Verspätung betrete ich das Klassenzimmer. Ohne viel zu sagen setze ich mich auf meinen Platz – neben Sandra. Tobias scheint es auch nicht allzu gut zu gehen, denn er hat den Kopf auf die Bank gelegt und schläft seinen Rausch aus. Mandy hockt neben ihm und fährt mit ihren langen Fingernägeln durch sein üppiges, heute recht zerzaustes, schwarzes Haar.

Was mit den beiden ist, ist mir relativ egal. Insgeheim wäre ich vielleicht froh gewesen, wenn Mandy es überall herum erzählt hätte. So müsste ich es Sandra wenigstens nicht sagen.

Sandra ist ausgesprochen ruhig und schreibt vor sich hin. Hin und wieder werfe ich ihr verstohlene Blicke zu, um irgendeine Reaktion bei ihr hervor zu rufen. Fehlanzeige. Sie ignoriert mich. Kann es wirklich sein, dass die ganze Geschichte schon zu ihr durchgedrungen ist? Verzweifelt umklammere ich meinen Stift. Ich muss mit Lissi reden. Schadensbegrenzung. Und das noch vor dem Treffen mit Sandra heute nach der Schule.

Kaum hat es geläutet räume ich hektisch meine Sachen zusammen und stürme zur Tür hinaus. Ich höre Dünster noch rufen.

„Erst zu spät kommen und dann noch als Erste abhauen, das sind die Richtigen, wa!“

Ich flitze hoch in den fünften Stock und klopfe an das SMV Zimmer. Ungewohnt. Als mich jemand herein bittet, sitzt nur Michaela in dem Zimmer. Sie schaut mich schüchtern an.

„Guten Morgen, hast du Lissi gesehen?“

Ohne mir in die Augen zu schauen, schüttelt sie den Kopf und vergräbt ihr Gesicht wieder über ein Buch. Sehr freundlich.

Durch die Schülerscharen dränge ich mich hinunter auf den Pausenhof. Hektisch sehe ich mich um. Überall wuseln Schüler umher und spielen entweder mit Bällen oder essen gierig ihr Pausenbrot. Doch nirgendwo ist eine Spur von Lissi zu sehen. Es weht ein kalter Russenwind und ich entschließe mich wieder dazu, ins Gebäude zu gehen. Vielleicht sollte ich versuchen, sie nach der Pause abzupassen.

Mit hängendem Kopf mache ich mich auf den Weg zum Geschichtssaal. Die Korridore sind voller als normal. Ich komme am Mädchenklo vorbei, aus dem gerade ein paar Unterstufenschülerinnen kommen.

„Boar, in der Oberstufe gibt’s ja nur so Intrigen. Ist ja wie bei GZSZ.“ Ich werde hellhörig. Intrige? Oberstufe?

Vorsichtig öffne ich die Tür zum Mädchenklo und stecke den Kopf hinein. Ich höre Stimmen. Zwei Mädchen die sich angeregt über etwas unterhalten. Sie scheinen mein Eintreten nicht bemerkt zu haben.

„Ich habe was ich wollte, wieso sollte ich dann noch etwas für dich tun?“

„Ganz einfach, weil es Teil unserer Abmachung war. Und wenn du es nicht tust, werde ich die Sache um deinen Süßem auffliegen lassen.“

„Das wagst du nicht. Das ist ja Erpressung!“

„Und du bist eine Betrügerin!“

Ich kenne die Stimmen. Es sind Lissi und Mandy. Gespannt halte ich den Atem an.

„Okey, ich mach was du willst. Aber danach wird nie wieder ein Wort von der Sache erwähnt. Sonst erzähle ich ihr jedes kleine Detail und dann bekommen wir beide nicht das, was wir wollen.“

Lissi antwortet ziemlich sauer.

„Einverstanden“. Das Gespräch ist zu Ende, der Riegel klackt und die Tür zu der hintersten Kabine geht langsam auf. Schnell verschwinde ich zur Tür hinaus und lehne mich an die Wand neben der Tür. Was hat das alles zu bedeuten? Was geht hier eigentlich vor?

„Boar und jetzt ist noch die Dritte dazu gekommen. Jetzt gibt’s bestimmt gleich fett Ärger.“ Die zwei Mädchen von vorhin stehen neben mir und sehen mich an wie ein seltenes Tier.

„Verschwindet“, fahre ich die beiden Mädels mit dem Tokio Hotel Ordner an.

Klack. Die Tür geht auf. Mandy stürmt an mir vorbei ohne mich zu entdecken. Einige Sekunden später taucht auch Lissi mit einem selbstzufriedenen Grinsen auf dem runden Gesicht auf.

„Hallo Lissi“, sie zuckt zusammen und wirbelt herum.

„Claudia“, keucht sie atemlos.

„Was machst du denn hier. Man hast du mich erschreckt.“ Sie wirkt nervös, sehr nervös.

„Nun, ich wollte mal ein bisschen mit dir reden.“

„Boar, jetzt geht’s gleich ab. Die streiten sich bestimmt um so nen voll süßen Typen. Vielleicht unseren sexy Schulsprecher!“ Die beiden Mädchen sind wieder da und scheinen auf eine Schlägerei oder ähnliches zu warten.

„Seid ihr nicht für so was noch ein bisschen zu jung?“, fahre ich die beiden Mädchen an und packe Lissi unsanft am Oberarm.

In einem weniger belebten Flur bleibe ich schließlich stehen. Die Schüler die auf dem Boden hocken schenken uns nur wenig Beachtung.

„Sei doch ein bisschen zärtlicher, ich bin doch eine Dame.“

Lissi reibt sich den Oberarm und setzt einen Schmollmund auf.

„Lissi, das was gestern Nacht geschehen ist...“, Lissi unterbricht mich.

„Ich weiß Claudia, du willst dich dafür entschuldigen. Aber das brauchst du nicht und es war wunderschön. Deine zärtlichen Berührungen, deine Küsse auf meinem Nacken und deine Zunge. In dem Moment ist mir klar geworden, dass ich sehr viel für dich empfinde. Ich möchte noch mehr solcher Momente mit dir erleben.“

Ich schlucke.

„Du willst eine Fickbeziehung?“, frage ich ziemlich schroff und hoffe, dass sie nur das will.

„Ach Claudi, so plump bin ich nicht. Ich will dich ganz für mich haben. Ich will, dass wir ein festes Paar werden. Ein richtiges Pärchen, das Spaziergänge macht und das zusammen Essen geht und das abends zusammen einschläft. Claudia...“, sie umfasst meinen Hals und kommt meinem Gesicht immer näher, „ich habe mich in dich verliebt. Ich habe es gemerkt, als wir so viel Zeit miteinander verbracht haben.“

Zärtlich legt Lissi ihre Lippen auf meine. Reflexartig schiebe ich sie unsanft zurück.

„Nein,“ wimmere ich, „das kann nicht sein. Du und ich, das geht nicht. Für mich gibt es nur Sandra.“

Lissi beißt sich auf die Lippen und schaut mich mit ihren ozeanblauen Augen an.

„Ich habe vermutet, dass du so reagieren würdest. Aber Claudia, du weißt doch mittlerweile selber dass sie dich nicht will. Du hast bei ihr übernachtet und es nichts passiert. Kaum schläfst du einmal bei mir, … . Verstehst du nicht, es ist Schicksal! Nicht Sandra war für dich bestimmt, sondern ich.“ Lissi blickt panisch hin und her. Ihre Gedanken scheinen zu rasen. Ich schüttele den Kopf. Das kann nicht sein. Nicht Lissi. Sie ist eine gute Freundin geworden und mehr nicht. Nicht im Traum könnte ich mir vorstellen, mich jemals so nach ihr zu verzehren, wie nach Sandra.

„Das stimmt nicht.“

„Was?“ sie schaut mich verwirrt an.

„Sandra und ich, als ich bei ihr geschlafen habe, ich habe dir nicht alles erzählt.“

Ihr Gesicht gleicht dem einer Puppe. Kein Muskel scheint mehr in ihrem Körper zu zucken und ihre Haut wird weiß wie Porzellan.

„Das ist eine Lüge!“, brüllt sie mir entgegen und rennt an mir vorbei. Einige Schüler schauen zu mir auf und schmunzeln. Es rauscht in meinen Ohren. Lissi ist fort und ich weiß weder, um was es für eine Abmachung geht, noch wie es um Sandras Herz bestellt ist. Abermals habe ich das Gefühl, dass mir der Boden unter den Füßen weggerissen wurde.

Die Geschichtsstunde schleppt sich dahin. Die Referendarin wirkt angespannt und leicht gereizt. Besonders scheint sie es heute auf Tobias abgesehen zu haben, der immer noch ziemliche Mühe hat, sich auf dem Stuhl zu halten.

Wie würde Sandra reagieren, wenn ich ihr von mir aus von meinem kleinen Ausrutscher erzählen würde? Wäre sie sauer? Sie hätte eigentlich keinen Grund dazu. Sie hat mir nie gesagt, dass sie etwas von mir will und sie hat auch nie wieder ein Wort über unsere gemeinsame Nacht verloren. Ich bin ihr zu nichts verpflichtet und lieber soll sie es durch mich aus erster Hand erfahren, als durch eine aufgebrachte Lissi, die wahrscheinlich jetzt alles tun wird, um ihre eigenen Ziele zu erreichen. Nervös kaue ich auf meinen Nägeln herum. Ich hatte diese Angewohnheit eigentlich schon vor unzähligen Jahren abgelegt, aber heute wäre ein guter Zeitpunkt wieder damit anzufangen. Glücklicherweise habe ich heute Volleyballtraining, dort kann ich noch Mel sprechen. Sie hatte Recht mit Lissi. Ich hätte vorsichtiger sein müssen. Doch jetzt ist es zu spät und ich kann nur noch den Schaden so weit wie möglich begrenzen.

Zur vereinbarten Zeit war ich im Park. Ich habe zwei Stunden auf Sandra gewartet. Aber sie kam nicht. Mit hängendem Kopf bin ich nur kurz nach Hause gefahren, um dann gleich wieder weiter ins Training zu gehen.

„WAS ZUM TEUFEL GEHT EIGENTLICH IN DEINER RÜBE VOR, CLAUDIA SUSANNA MANNER?“

Mel brüllt durch die Umkleidekabine und gestikuliert heftig mit ihren Händen.

„Ich habe dich gewarnt, ich habe dich gewarnt!“, sie läuft energisch hin und her, ihre lila Haare fallen ihr wirr ins Gesicht. Eingeschüchtert hocke ich im Umkleideraum der Grundschule auf einer alten Bank und fühle mich schlechter als je zu vor.

„Von dir hätte ich eigentlich mehr erwartet. Kannst du deine Triebe nicht besser unter Kontrolle bringen?“, Mel hat schon einen hoch roten Kopf und sie fasst sich immer wieder an die Stirn, als könne sie nicht begreifen, was gestern vorgefallen ist.

„Es war der Alkohol!“, versuche ich mich zaghaft zu verteidigen.

„An 80 Prozent ALLER One Night Stands ist der Alkohol Schuld. Das ist eine billige Ausrede!“ Sie ist richtig wütend.

Sie dreht mir den Rücken zu und kickt gegen eine fremde Tasche, die scheppernd ein paar Meter weit fliegt.

„Erzähl mir noch mal, was du im Klo gehört hast.“

„Aber was bringt das denn?“

„Erzähl es mir noch mal! Ich habe da einen etwas objektiveren Blick als du!“

Zum dritten Mal wiederhole ich die Geschichte. Ein Pfiff ertönt aus der Halle. Das Training hat angefangen.

„Mel?“, verunsichert deute ich mit dem Finger auf Richtung Tür. Sie winkt ab.

„Scheiß auf das Training. Mandy und Lissi stecken doch unter einer Decke, da bin ich mir sicher. Nur was für eine Abmachung soll Mandy erfüllen? Was könnte denn Mandy tun, was Lissi von Nutzen sein könnte? Lissi steht auf dich, nur steht ihr da Sandra im Weg. So viel ist klar.“

Wie versteinert bleibt sie stehen.

„Sandra!“, sie reißt ihre blauen Augen auf.

„Sandra?“, wiederhole ich verwirrt.

„Verstehst du denn nicht? Sandra ist ein Störfaktor – für Lissi. Lissi scheint irgendwas zu haben um Tobias zu erpressen oder etwas, dass Mandy nützt und im Gegenzug dazu muss Mandy etwas für sie tun. Lissi ist nicht in deinem Jahrgang. Mandy schon und soweit ich weiß, besuchen Mandy und Sandra einige Kurse zusammen. Das wiederum heißt, dass Mandy einen Draht zu Sandra hat. Wenn Lissi ihr das mit dem ONS erzählt, kommt es eher unglaubwürdig, aber wenn es Mandy tut, die euch beide kennt, dann kann das verdammt böse enden.“

Unwillig das zu glauben schüttele ich den Kopf.

„Aber Sandra hält keine Stücke auf Mandy. Sie hat mich selbst vor ihr gewarnt.“

„Meine liebe Claudia“, sie kniet vor mir nieder und legt ihre warmen Hände auf meine nackten Oberschenkel, „Sandra mag vielleicht nicht viel auf Mandy halten, aber welchen Grund könnte denn Mandy haben, ihr einen Bären aufzubinden? Sie hat mitbekommen, dass ihr in letzter Zeit mehr Kontakt als üblich hattet und so wie du mir diese Schlange geschildert hast, wird sie schon einen Weg finden, Sandra die Geschichte glaubhaft zu gestalten. Solche Weibsen haben zwar sonst nicht viel in der Birne, aber wenn es um Intrigen geht, dann sind sie meist ganz groß.“

„Dann glaubst du, weiß sie es schon?“

Mel nickt unsicher.

„Und zwar genau seit der ersten Pause als Mandy aus dem Klo gestürmt ist. Sie kann es doch nicht riskieren ihren Geliebten so schnell wieder zu verlieren. Und zwischen den beiden gibt es anscheinend etwas, was du auf keinen Fall erfahren darfst, damit die ganze Sache nicht auffliegt.“

Tränen steigen in mir auf. Die Lage ist noch aussichtsloser als vorher und auch diesmal scheine ich in eine Falle getappt zu sein. Ich hasse mich selber. Ich hasse mich für meine Leichtsinnigkeit und Naivität. Heiße Tränen laufen meine Wangen herunter.

Mel rüttelt mich unsanft an den Schultern.

„Hör auf zu flennen und zieh dich um.“

Mit verquollenen Augen schaue ich zu ihr herauf. Doch sie hat sich schon zu ihrer Sporttasche umgedreht und wirft unachtsam ihre Sportklamotten hinein.

„Ganz einfach, wir gehen jetzt zu Sandra und klären die Sache auf. Wenn du ihr wirklich was bedeutest, dann wird sie dir mehr Glauben schenken als irgend so einer dämlichen Barbiepuppe. Und hör auf so dämlich zu gucken!“

Widerwillig nicke ich und fange langsam an mich umzuziehen.

„Claudia, jetzt mach hinne!“

Ohne viel nachzudenken, befolge ich Mels Befehle. In mir herrscht eine Leere, die mit nichts in der Welt zu füllen wäre. Jegliche Hoffnung scheint dahin.

Die kalte Nachtluft bläst durch das Visier meines Helms. Ich klammere mich fest um Mels Hüften. Ich fahre sehr gerne bei ihr hinten auf dem Roller mit, doch heute kommt es mir so vor, als würde ich über meinem Körper schweben und alles nur noch entfernt realisieren.

Nach zehn Minuten Fahrt kommen wir in Sandras Wohngebiet an. Es ist kurz nach acht. Sie sollte noch wach sein. Unsanft schiebt mich Mel zur Haustür und klingelt dann auch noch für mich. Die Sprechanlage knackt und Edith, Sandras Mutter meldet sich.

„Wer da?“

Ich bekomme keinen Ton raus.

„Hallo?“

Mel springt ein.

„Hallo, hier ist Claudia, ich wollt kurz mal mit Sandra sprechen.“. Entsetzt sehe ich Mel an, sie hat meine Stimme ziemlich dämlich nachgemacht. Sie zuckt lässig mit den Schultern.

„Ok.“

Der Summer der Tür geht.

„Jetzt geh schon oder ich tret dir in den Arsch.“ Vorsichtig öffne ich die Tür zum Treppenhaus.

„Ruf mich an, wenn du wieder abholt werden willst. Ach und du hattest mal erzählt, dass diese Mandy hier wohnt. Wenn du sie im Treppenhaus siehst, zieh dir die Kapuze ins Gesicht und schlag ihr ein paar in die Fresse.“ Mit einem kurzen Abschiedsgruß dreht sich Mel um und schon bald ist das knattern ihres Rollers zu hören.

Langsam mache ich mich auf den Weg in den zweiten Stock. Es gibt kein Zurück mehr. Sollte ich jetzt einen Rückzieher machen, würde mich das teuer zu stehen kommen, da Mel in mancher Hinsicht keine Gnade walten lässt.

Immer wieder bleibe ich stehen und horche, ob ich vielleicht irgendwo Sandras wütende Schreie höre. Als ich auf der vierten Treppe bin, sehe ich Klingers Haustüre aufgehen. Ein Mädchen in einer schwarzen Jogginghose und gelben Shirt tritt heraus. Prompt bleibe ich auf der Treppe stehen und traue mich nicht weiter zu gehen.

Sandras Augen verengen sich.

„Guten Abend Claudia“, ihre Stimme ist eisig und abweisend, sodass mir das Blut in den Adern gefriert. Nervös versuche ich den übergroßen Klumpen der in meinem Hals zu stecken scheint, herunter zu schlucken.

Der ganze Plan kommt mir plötzlich ganz schön bescheuert und unrealisierbar vor. Kein Ton kommt über meine Lippen. Sandra zieht genervt eine ihrer dünnen Augenbrauen nach oben.

„Hast du jetzt auch noch die Stimme verloren? Wenn du nichts sagst, werde ich die Tür wieder zu machen und du kannst meinetwegen hier im Hausflur stehen bleiben bis du schwarz wirst.“

Ihre Hand wandert zur Tür und sie ist im Begriff sie wieder zu zu knallen.

„Nein“, hauche ich kaum hörbar. Sie hält inne.

„Ach, die Dame kann also doch wieder sprechen.“

„Bitte...“, winselnd blicke ich zu ihr hinauf und gehe vorsichtig eine Stufe höher.

Für eine Sekunde erkenne ich Zweifel in ihren Augen, die sich jedoch sofort wieder in tiefe Abneigung verwandeln. Mit sich selbst ringend wirft sie ihre Haare nach hinten.

„Komm rein, mir ist kalt.“

Schweigend trotte ich durch die Haustüre und stelle meine Schuhe im Flur ab. Edith ist in der Küche und wirft mir einen merkwürdigen Blick zu. Ich grüße kurz und im nächsten Moment sitze ich stocksteif auf Sandras schwarzer Schlafcouch. Sie nimmt mit dem Lederschreibtischstuhl vorlieb und schaukelt hin und her.

Fast fünf Minuten vergehen.

„Sag schon. Was willst du?“, fragt Sandra schließlich mit gereiztem Unterton. Langsam hebe ich den Kopf und versuche ihr direkt in die Augen zu sehen, aber sie weicht meinem Blick aus und starrt stattdessen aus dem Fenster hinaus, an dem unzählige Insekten kleben, die von dem Schein der Lampe in Sandras Zimmer angelockt wurden.

„Hast du heute mit Mandy gesprochen.“

„Ja“, kommt ruhig von ihr zurück.

„Was hat sie dir erzählt?“

„Dies und das“. Ich seufze und meine Schultern sacken noch weiter nach vorne.

„Ich kann mir schon vorstellen was sie dir erzählt hat.“

„Was denn?“, spielt sie die Neugierige.

„Sandra, du hast mir selber gesagt, dass man Mandy nicht trauen kann. Deswegen solltest du vielleicht nicht alles für bare Münze nehmen was sie erzählt.“

Sie verengt ihre Augen zu kleinen Schlitzen.

„Hör zu Claudia, Mandy hat mir erzählt, dass sie mit Tobias zusammen ist“, plötzlich springt sie von ihrem Stuhl auf und kommt auf mich zu. Ihr zarter Mund nährt sich meinem Ohr, „und außerdem“, fährt sie fort, „hat sie erzählt, dass du es in der Nacht Lissi noch richtig besorgt hast.“

Sie rückt wieder etwas von meinem Ohr ab und unsere Gesichter sind sich ganz nahe. Ihre Augen sind klar und groß. Sie will eine Antwort. Sie will die ganze Geschichte. Der Angstschweiß treibt aus meinen Poren.

„Ich weiß es nicht.“ Verwirrt tritt Sandra zurück.

„Wie, du weißt es nicht mehr. Du musst es doch wissen, wenn du es mit jemanden getrieben hast.“

Schuldbewusst senke ich den Kopf.

„Sandra, ich weiß es eben nicht. Wir sind ziemlich spät aus der Bar gekommen und ich hatte 5 starke Cocktails. Ich weiß von dem Zeitpunkt nichts mehr, als ich aus der Bar bin. Und am nächsten Morgen bin ich dann nackt neben Lissi aufgewacht. Ich kann weder bestätigen noch verleugnen, dass ich was mit ihr hatte. Aber wenn es so wäre, dann hätte ich es nüchtern nie getan. Das musst du mir glauben. Ich... Lissi ist nur eine Freundin für mich. Mehr nicht.“

„Tss, jetzt alles auf den Alkohol schieben.“ Sandra dreht sich weg. Genau das hatte Mel auch schon gesagt. Innerlich schwor ich mir nie wieder dieses Teufelszeug anzurühren.

„Und ich soll dir glauben? Wenn ich dir glauben soll, dann bring mir doch einen Gegenbeweis, dass du in der Nacht seelenruhig und ganz brav neben Lissi geschlafen hast.“, bricht es aus ihr hervor.

Ich bin verwirrt. Sie will einen Beweis?

„Die einzige die weiß, was in der Nacht war, ist Lissi. Und die behauptet felsenfest, dass ich es wild mit ihr getrieben habe.“

„Oho, jetzt hast du es schon wild mit ihr getrieben. Muss ja echt ne geile Nacht gewesen sein. Hast vielleicht noch mehr Details? Bin jetzt echt neugierig!“ Sandra fängt an zu schreien und meine Verzweiflung wächst von Minute zu Minute.

„Sandra, ich weiß nicht ob ich der Aussage von Lissi vertrauen kann.“ starte ich einen neuen Versuch.

„In deiner Situation würde ich auch versuchen zu lügen. Aber nicht mit mir. Warum sollte Lissi denn erzählen, dass ihr miteinander geschlafen habt, auch wenn ihr es nicht getan haben solltet? Ich schätze sie jetzt nicht so ein, dass sie das aus Spaß macht.“

„Da geht etwas nicht mit rechten Dingen zu!“

„Ach auf einmal. Was kommt jetzt? Du bist hier nur das arme Opfer? Das kannst du mal voll knicken.“

„Möglich und jetzt halt doch mal die Klappe und höre zu!“

Sandra zuckt zusammen. Ich bin laut geworden, schwer lässt sie sich in ihren Bürostuhl zurück fallen und blickt mir das erste Mal heute Abend offen ins Gesicht. Das vorhin, das klang wie Eifersucht. Ganz sicher. Ich bedeute ihr immer noch etwas. Das gibt mir Kraft. Ich erzähle ihr von dem Gespräch, was ich auf dem Klo mitbekommen habe und von der Vermutung, die Mel angestellt hat und auch von der Liebeserklärung die mir Lissi gemacht hat. Sandra hört es sich alles schweigend an, ohne dass sie mit irgendeinem Muskel ihres Körpers zuckt. Als ich fertig bin, schaut sie mir in die Augen, ganz tief, als wolle sie prüfen, ob das was ich sage die Wahrheit ist. Ich halte ihrem Blick stand, weil ich weiß, dass es die Wahrheit ist. Sie scheint meine Sicherheit und Überzeugung zu spüren und nickt schließlich.

„Claudia, du musst zugeben, dass das ganze ziemlich weit her geholt klingt. Ich will damit nicht sagen, dass ich die Möglichkeit ausschließe, dass es sich so zugetragen hat. Ich würde gerne von dir einen Beweis fordern, aber Lissi ist in dich verliebt und sie wird sicherlich alles tun um dich an sich zu binden. Aber eins verstehe ich nicht, warum hast du so viel in letzter Zeit mit Mandy zu tun? Ich will die Sache verstehen und ich will dir auch wieder glauben können.“

Der Moment ist gekommen vor dem ich mit am meisten Angst hatte, all die Wochen habe ich mich geschunden, um dieser Frage zu entgehen. Würde ich mehr Mut aufbringen, dann würde ich jetzt vielleicht glücklich vergeben sein oder aber auch immer noch Solo, aber ohne das Opfer einer Intrige zu sein und könnte mich in aller Ruhe auf mein Abi konzentrieren. Es macht jetzt keinen Sinn mehr, alles zu verbergen. Ich muss zu mir und meinen Gefühlen stehen. Ich will Sandra nicht verlieren und durch die Heimlichtuerei wird das sicherlich bald der Fall sein oder es ist schon der Fall.

„Mandy hat durch einen dummen Zufall etwas heraus gefunden und hat mich erpresst. Sie hat gemeint, sie erzählt es der betreffenden Person, wenn ich sie nicht mit Tobias bis zum 1. November zusammen bringe. Durch Zufall wurde dann noch Lissi in die Sache verwickelt, doch scheint Lissi mit der Zeit mit Mandy ebenfalls gemeinsame Pläne geschmiedet zu haben.“

Es legt sich ein Schweigen über uns. Sandras wache Augen mustern mich eine Zeit lang, bis sie langsam fortfährt.

„Jetzt wird mir einiges klar. Jetzt ist mir endlich klar, warum du in letzter Zeit so oft mit Mandy unterwegs warst und auch sonst sehr gestresst wirktest. Man hat dir die Belastung in der Schule angesehen, nur an dem einen Samstag ging es dir dem Anschein nach gut. Claudia, was tust du nur immer?“ Sandra steht auf und setzt sich neben mich auf das Sofa. Sanft legt sie ihren Arm um meine Schulter. Ich spüre ihre Wärme und das angenehme Kribbeln kehrt in meinen Bauch zurück. Das habe ich lange nicht mehr spüren dürfen. Ich würde sie am liebsten küssen, aber das geht nicht.

„Aber Claudia, um was ging es denn? Vielleicht kann ich dir ja weiter helfen.“

Ich lache hell auf und weiche ihrem fragenden Blick aus.

„Es ging um dich.“

„Um mich?“, wiederholt sie meine Antwort, als ob sie sie nicht verstanden hätte. Schützend zieht sie mich dichter an ihren Körper heran und noch mehr wohltuenden Wärme strahlt durch den Stoff meines Pullovers. Himmlisch.

„Aber was wolltest du denn vor mir verbergen?“

Mein Herzschlag wird ungewohnt ruhig und mein Atem geht gleichmäßig. Das Unwohlsein verschwindet aus meinem Körper und ich spüre wie all die alte Kraft wieder in mich zurückkehrt, die ich über die Wochen vermisst habe.

Ruhig beginne ich die ganze Geschichte zu erzählen, über ihren Anruf, den Zettel im Hausaufgabenheft, dem Chatgespräch und schließlich bis hin zu Mandys Erpressung und dem Zusammenbruch vor Lissi. Die ganze Zeit ruht Sandras Arm auf meiner Schulter. Als ich fertig bin mit erzählen, blicke ich in ihr Gesicht. Ihre Wangen sind gerötet.

„Und, was sagst du dazu?“, frage ich schüchtern.

Ein leichtes Lächeln umspielt ihre schmalen Lippen.

„Das hätte ich nie von dir gedacht, dass du meinetwegen so ein riesen Ding aufziehst. Und dass du wirklich glaubst, dass ich so plump im Internet meine Gefühle offenbaren würde, war mehr doof als naiv.“

„Naja“, mache ich ziemlich unbeholfen.

„Weißt du, je mehr ich dich kennen lerne, desto mehr bin ich von dir fasziniert. Anfangs wirktest du wie ein Küken, das seine Mama verloren hat, doch ich glaube, ich muss diese Ansicht über dich revidieren.“

Ich gestehe ihr hier auf Umwegen meine Liebe und die hat nichts Besseres zu tun, als mich mit irgendwelchen Viechern zu vergleichen? SO, hatte ich mir das nicht vorgestellt.

Seufzend lasse ich den Kopf hängen.

„Du hast mich nie gefragt, wie ich gefühlsmäßig zu dir stehe, Claudia.“

Sie grinst mich an und mir ist klar, dass ich keine Chance bei ihr habe. Sie will mich noch ein letztes Mal demütigen, bevor sie mir den endgültigen Gnadenstoß gibt.

„Wie soll es schon mit dir sein. Du bist mit Carsten zusammen und deinen Aussagen nach glücklich. Da ist wohl wenig Platz für eine wie mich.“

Sandra streicht mir sanft über die Wange.

„Weißt du Claudia, als wir die Nacht zusammen verbracht haben, da bist du während des Küssens eingeschlafen. Ich war ziemlich enttäuscht von dir, eigentlich hätte ich mir etwas mehr gewünscht. Aber das hast du auch mal wieder nicht mitbekommen, wie auch vorhin. Deine scheinbar wilde Nacht mit Lissi, es hat mich rasend gemacht.“

„Weil sie mich eher als Trophäe im Schrank hatte als du?“, frage ich ziemlich blauäugig.

„Dir ist echt nicht mehr zu helfen“, sie kneift mir fest in die Wangen.

„Ich war eifersüchtig, weil sie dir so viel näher gekommen ist, als ich. Ich meine, du hast weg geschaut, als ich in Unterwäsche vor dir stand. Ich hatte eigentlich erwartet, dass du wenigstens versuchst zu fummeln.“

Ich nehme ihre Hände von meinen Wangen und drücke sie sanft.

„Lissi war mir nie näher. Selbst wenn wir miteinander geschlafen haben sollten, so wollte ich immer nur dich. Es gab Tage da wollte ich dich einfach packen und küssen.“

„Und warum hast du es nicht getan? Du hättest dir viel ersparen können! Und zum anderen ließ ich dir für diesen Schritt auch genug Möglichkeiten...“

Sandra zieht ihre Hände aus meinen. Ohne viel nachzudenken packe ich sie wieder und lasse sie nicht mehr los. Diese Möglichkeit lasse ich mir diesmal nicht mehr gehen. Dafür habe ich viel zu viel durchgemacht um jetzt wieder ohne alles dazustehen.

„Weil ich ein verdammter Feigling bin. Ich hatte Angst vor einem Korb. Und, bekomme ich jetzt einen Korb?“

„Das fragst du eine vergebene Frau?“

Mein Gesichtsausdruck bringt sie zum Lachen.

„Claudia, ich empfinde wirklich tiefe Gefühle für dich, aber bevor mehr daraus werden kann, müssen viele Sachen geklärt werden. Wenn du die Wahrheit über diesen ganzen Irrsinn heraus findest, werde ich dir gehören.“

Eine klare Ansage.

„Und was ist, wenn ich wirklich mit Lissi geschlafen haben sollte?“, die Angst ist wieder da.

„Dann“, sie streicht mit der Hand über meinen Oberschenkel, „werde ich dafür sorgen, dass wenigstens dein zweites Mal unvergessen bleibt.“

Mir fällt die Kinnlade runter. Sie will wirklich mit mir zusammen sein und das mit allem. Freudentränen steigen in mir auf. Meine Hände schlingen sich um ihren duftenden Hals und ich nehme das erste Mal ihren Geruch so intensiv wie nie wahr.

„Hey, nichts überstürzen. Erst musst du dein Leben regeln und ein paar Leuten gilt es die Knochen zu brechen.“

Sie lacht mich dreckig an, was mich auf der Stelle richtig wild macht. Doch ich muss mich zurück halten, noch.

Ich habe das Gefühl, dass ich alles schaffen kann, doch eine Sehnsucht ist immer noch unbefriedigt.

„Sandra, ich habe eine Bitte.“

„Was denn?“, sie sieht mich mit ihren grünen Augen fragend an.

„Einen Kuss“, hauche ich so verführerisch wie mir möglich ist.

„Da brauchst du nicht zu fragen.“ Und ehe ich mich versehe, hält sie meinen Kopf in ihren Händen. Sie beißt zärtlich in meine Lippen, ihr Oberkörper drückt mich auf das Sofa und sie liegt schwer auf mir. Ihr Atem wird immer schneller und meine Hände streichen über ihren Rücken. Sie krallt sich in meinen Pullover, meine Hände verfangen sich in ihren Haaren. Ihre Bisse werden immer stärker. Als ich die Augen wieder öffne ist ihr Gesicht immer noch kurz über meinem.

„Hat sie Spuren hinterlassen?“, fragt sie außer Atem.

„Wer, Lissi?“

„Ja“

„Ja, hat sie.“, antworte ich fast zu schnell.

„Wo überall?“

„Hauptsächlich im Dekolleté und an der Schulter.“

Ohne weiter zu fragen zieht mir Sandra gekonnt den Pulli über den Kopf und betrachtet die Spuren der letzten Nacht.

„Wo noch?“

„Nirgendwo mehr.“

„Auch nicht zwischen den Beinen?“

„Was?“, die Frage ist mir verdammt peinlich.

Sandra legt die Stirn in Falten.

„Komisch“, murmelt sie.

„Warum?“, ich habe immer noch einen hoch roten Kopf.

„Wenn man schon diese lästigen Flecken macht, dann sind die normalerweise überall.“

„Was willst du mir damit sagen?“

„Ganz einfach, es kann sein, dass Lissi gar nicht so weit bei dir gekommen ist. Wenn du so sturzbesoffen warst, dass du einen Filmriss hast, dann muss sie die ganze Sache eigentlich übernommen haben. Die wenigsten bringen eine gelungene Nacht zustande, wenn sie so viel intus haben. Die 'wilde Nacht' kann also noch mehr in Frage gestellt werden, außer du bist so eine Person, die sich zwar an nichts mehr erinnern kann, aber dennoch äußerst handlungsfähig ist. Hast du denn schon mal einen Filmriss gehabt und wurde dir danach dann erzählt, was du getan hast?“

Nach und nach scheint sich Sandra auf meine Seite zu schlagen. Klar, ist ja auch in ihrem eigenen Interesse, aber was mache ich, wenn sich die ganze Sache nicht klärt?

Einen Filmriss. Ich kann mich nicht daran erinnern, schon mal so viel getrunken zu haben, dass das vorgekommen wäre. Das gestern war das erste Mal – anscheinend in vielerlei Hinsicht, denke ich bitter.

„Nein, das war der Erste.“

Sandra runzelt die Stirn. Ihr gelbes T-Shirt ist verrutscht und entblößt ihre blasse Schulter.

„Gut, dann geht’s wohl nicht anders. Du hast heute nicht zufällig sturmfrei?“

Ich schüttele verwirrt den Kopf.

„Ok, dann frage ich anders. Habt ihr eine gut gefüllte Hausbar und hätten deine Eltern etwas dagegen, wenn ich heute bei dir übernachte?“

„Ja, die Hausbar sollte noch voll sein und meine Eltern interessiert das nicht sonderlich, wer bei mir übernachtet. Was hast du vor?“

„Wirst du schon sehen.“

Sie verschwindet aus dem Zimmer und lässt mich verwirrt zurück. Fluchtartig ziehe ich mein T-Shirt wieder an, weil ich Angst habe, dass Edith ins Zimmer gestürmt kommen könnte. Zehn Minuten später kommt Sandra wieder ins Zimmer spaziert. Sie hat sich umgezogen und trägt nun einen dunkelblaue Jeans und dazu ein schwarzes Oberteil. In der Hand hält sie eine Flasche Whisky.

„Ich hoffe ihr habt Mischgetränke daheim. Ich bekomme das Zeug pur nicht runter.“

Langsam aber sicher dämmert mir, was sie vor hat. Sie will mich abfüllen um zu testen, wie ich mich verhalte wenn ich sturzbesoffen bin. Der Gedanke, dass ich heute wieder so betrunken sein werde, wie gestern, verursacht ein widerliches Gefühl in meinem Magen.

„Bist du sicher, dass das so eine gute Idee ist? Vielleicht verhalte ich mich ja auch ganz anders als bei Lissi, ich meine, ich bin in dich verliebt und in Lissi nicht.“

Sandra sucht in ihrem Kleiderschrank ein paar Sachen zusammen und stopft sie in eine schwarze Tasche.

„Ach, mach dir da mal keine Gedanken, ich hab da schon meine Mittelchen, damit die Sache unter Kontrolle bleibt, falls du wirklich über mich herfallen solltest.“

Sie macht mir Angst. Mittelchen? Ob ich wirklich wissen will, was sie damit meint? Hoffentlich kann ich mich daran dann nicht mehr erinnern.

Erstaunt begrüßt meine Mutter Sandra.

„Huch Sandra, mit dir hätte ich ja gar nicht gerechnet. Wollt ihr heute Abend noch weg oder macht ihr einen Mädchenabend?“

„Hallo Frau Manner, nein, wir gehen heute nicht mehr weg. Wir machen einen Mädelsabend. Ja, das könnte man so sagen.“

Schweigend stehe ich daneben und hoffe, dass ich nicht rumgröle, wenn ich betrunken bin. Das könnte echt übel enden.

„Ach, dann mach ich euch noch ein paar Snacks, damit ihr nicht verhungert. Du hast eh kaum was auf den Rippen und Claudias Kalorienbedarf liegt eh jenseits des Normalem.“ Mit diesen Worten verschwindet meine Mutter in die Küche. Ich werfe Sandra einen entschuldigenden Blick zu, doch sie winkt ab und wir gehen auf mein Zimmer.

„So, wo ist denn jetzt die Hausbar?“

Die Hausbar befindet sich im Arbeitszimmer meines Vaters, das ebenfalls im ersten Stock ist. Wir betreten das kleine Zimmer mit den olivgrünen Wänden und dem dunklen Holzfußboden. Der Alkohol befindet sich in einem alten Schrank, in dem unter anderem auch Akten gelagert werden, die mein Vater für seine Arbeit braucht. Ich öffne die Klappe zur Hausbar und uns kommt ein strenger Geruch von Kräuterlikören entgegen. Mein Vater bekommt immer wieder von seinen Kunden dieses Zeug geschenkt, jedoch mag er es gar nicht. Früher hat er mich immer dazu verdonnert, das Zeug auf die Hausparties meiner Freunde mitzunehmen, damit es endlich weg kommt. Da die Zeit der Hausparties mit Anfang 18 ihr Ende gefunden hatte, stapeln sich nun die Flaschen in der Bar und werden zu allen möglichen Anlässen versucht, der Verwandtschaft unter zu jubeln. Klappt leider nur mit mäßigem Erfolg, wenn man sich die Menge an Flaschen ansieht.

Sandras Blick schweift über die Etiketten der Flaschen.

„Du meintest, du hast gestern 5 Cocktails getrunken? Weißt du, was da drin war? Wenn ja, könnte wir ja alles zusammen in ein Glas kippen und dann trinkst du das dann einfach.“

„Willst du mich umbringen? Dann lande ich womöglich mit Alkoholvergiftung im Krankenhaus.“

„Ok, dann eben auf eine sanftere Tour, aber du isst nachher nichts, damit es schneller geht.“

Das klingt weniger nach einem Vorschlag, als eher nach einem Befehl. Sandra scheint nicht sonderlich an meinem körperlichen Wohlbefinden interessiert zu sein, denn ich habe seit heute Mittag nichts mehr gegessen und habe mittlerweile einen tierischen Hunger.

„Du Sandra, auch wenn ich am Ende total betrunken sein muss, wir können trotzdem den Abend ein bisschen genießen.“

Ich streiche ihr sanft über den Rücken. Sie scheint sich wieder etwas zu entspannen und nickt zustimmend.

„Was hältst du von Sekt?“

Meine Mutter hat uns eine Platte mit Obst und belegten Broten gemacht, die nun auf meinem Couchtisch steht – neben 3 Flaschen Cola, dem Whisky und dem Sekt.

Gemütlich hocken wir auf der weißen Couch und spielen DOA – ein Prügelspiel. Sandra ist darin richtig gut und wir haben ein Trinkspiel daraus gemacht. Der Verlierer einer Runde muss ein Glas Sekt auf Ex weg kippen. Ich bin beim zweiten und Sandra nuckelt immer noch an ihrer Cola. Nach und nach beginnen meine Wangen zu glühen und ich fange an zu kichern.

Elf Uhr. Der Sekt ist leer und ich habe mich an Sandra angelehnt, weil ich fast die gesamte Flasche alleine getrunken habe.

„Weißt du was? Ich hasse Sekt.“

Meine Zunge wird immer schwerer und ich habe Mühe, die Sätze fließend auszusprechen.

„Hier, Whisky-Cola, das dürfte dir langsam den Rest geben.“

Sandra hält mir das Glas unter die Nase. Ich schiebe es weg.

„Nein, ich will das nicht.“

„Claudia, du weißt, warum wir das ganze hier veranstalten.“

„Jetzt bleib mal locker, wir haben noch ganzzzz viel Zeit. Du stresst immer so rum.“

Ich nehme Sandra das Glas aus der Hand und setze es an ihren Mund.

„Wenn du trinkst, dann trink ich auch.“

Sie verdreht die Augen und trinkt.

„Nicht runter schlucken“, befehle ich ihr.

Fragend sieht sie mich an, schluckt aber nicht. Das Glas stelle ich zurück auf den Tisch und nähere mich ihrem Gesicht. So gefühlvoll wie es mir noch möglich ist, lege ich meine Lippen auf die ihren. Sie versteht was ich will.

Sie packt mich am Rücken und drückt mich auf die Couch. Sie liegt über mir. Ich öffne leicht meinen Mund und der Geschmack von Whisky und Cola breitet sich auf meiner Zunge aus.

Sandra leckt sich die Lippen und lächelt.

„Hätte nicht gedacht, dass dir so was gefällt.“

„Tja“, mache ich und grinse wie ein Honigkuchenpferd.

„Nüchtern würde ich es mich auch nicht trauen.“

Wie ein Stichwort nimmt Sandra erneut einen Schluck von dem Gemisch. Diesmal trinkt sie es aber selber.

Mit einer gekonnten Bewegung hockt sie sich auf meine Hüfte, leckt sich über die Lippen und fängt an, mich stürmisch zu küssen. Meine Hände krallen sich in ihre Jeans und mein Kopf wird immer benebelter. Unentwegt beißt Sandra mir in die Lippen und schiebt ihre Zunge in meinem Mund. Niemals hätte ich gedacht, dass Sandra ihr Verlangen so wenig unter Kontrolle hat. Oder lässt sie sich bewusst so gehen, weil sie es einfach total anmacht?

Der Gedanke, dass sie verrückt nach mir ist beflügelt mich. Meine Hände wandern weiter nach oben und ich ziehe ihr das Oberteil über den Kopf.

Mit geröteten Wangen und einem zärtlichen Lächeln blickt sie mich an.

„Das ist aber gegen die Abmachung.“

„Nö, ist es nicht.“

Sandra fängt an zu lachen. Ihr Busen, der in einem erstaunlich engen roten BH steckt wackelt dabei etwas auf und ab. Ich komme mir vor wie ein Spanner, weil ich es nicht schaffe den Blick von dieser Pracht zu lassen.

Meine Hände wandern über ihren glatten Rücken, dann vor zum Bauch und noch ein bisschen weiter nach oben. Zaghaft streiche ich über ihre wohl geformten Rundungen. Der BH ist aus Satin und fühlt sich ebenfalls glatt und angenehm an, aber nicht annähernd so gut, wie ihre Haut. Sandra sitzt immer noch mit aufgerichtet Oberkörper auf mir und lässt mich gewähren. Mit meinen Fingerkuppen fahre ich ihr sanft über den Rücken. Ihre Augen sind geschlossen und sie seufzt leise.

Plötzlich lässt sie sich nach vorne fallen.

„Ist die Tür abgeschlossen?“. Der Alkohol spricht mir immer mehr zu und ich muss stark überlegen ob ich abgeschlossen habe.

„Denke nicht. Aber meine Mutter kommt eh nicht hier rein.“

Sandra springt auf und geht zu meiner weißen Zimmertür und dreht den Schlüssel herum. Unentschlossen steht sie da und blickt auf den kleinen Tisch, auf dem immer noch der Whisky und die Cola stehen. Ihre Hände fahren an ihrem Bauch herunter und bleiben an ihrem Hosenbund stehen. Ihr Mund ist leicht geöffnet und ihre Wangen sind immer noch rosig. Mit einem schnellen Handgriff öffnet sie den Knopf ihrer Hose und zieht diese in einer Bewegung nach unten. Sie wirft die Jeans in eine Ecke und auch noch die Socken mit dazu.

Erstaunt beobachte ich das Geschehen vom Sofa aus und langsam habe ich das Gefühl, dass sich alles dreht. Kurz überlege ich, ob ich mir das nicht einbilde, dass hier Sandra in roter Satinunterwäsche vor mir steht und noch einen Whisky-Cola mischt.

Sandra dreht mir den Rücken zu und ihr perfekt geformter Hintern gerät in mein Blickfeld. Das Glas stellt sie auf meinen Nachttisch und sie selber – räkelt sich auf meinem Bett. Weiße Laken, rote Unterwäsche – nur die Lila Wand hinter ihr steht in einem extremen Kontrast zu diesem sinnlichen Bild.

Erstaunt über Sandras Verhalten richte ich mich auf.

„Also Claudia, du kannst zu mir kommen, wenn du das da auf Ex austrinkst. Ansonsten pennst du allein auf der Couch.“

„Das ist aber mein Bett.“ Ich will nichts mehr trinken. Ich bin für meinen Geschmack fast schon besoffen genug.

Sandra streicht sich über den linken Oberschenkel. Mir wird heiß. Ich muss das Fenster aufmachen. Schwankend springe ich auf und gehe hinüber zum Fenster. Die kalte Nachtluft klatscht mir frontal ins Gesicht und ich versuche wieder klare Gedanken fassen zu können. Jedoch wird mir dadurch nur noch schwindeliger. Ich halte mich am Fensterbrett fest.

„Claudia“, Sandras Stimme dringt an mein Ohr.

Ohne viel nachzudenken gehe ich auf die zu, packe das Glas und trinke es in einem Zug aus. Es schüttelt mich.

Ich spüre wie mein Kopf glüht und kann im Spiegel sehen, dass ich knallrot bin.

Mit einer unkoordinierten Bewegung lasse ich mich auf mein Bett und halb auf Sandra fallen.

„Du bist ja ganz schön fertig.“, höre ich sie mehr zu sich selber als zu mir sagen.

„Mir geht’s gut“, nuschele ich vor mich. Ein Blick auf Sandras Unterwäsche belebt mich wieder und ich fahre sanft mit den Fingerspitzen ihre Körperlinien nach. Sie beobachtet mich dabei ganz genau, fast so als ob sie Angst hätte, etwas zu verpassen.

„So geht das aber nicht.“

Fragend sehe ich sie an. Was geht so nicht? Ich will ihr doch gar nicht zwischen die Beine – glaub ich.

„Was meinst?“, ich schüttele meinen Kopf um den Nebel zu vertreiben. Doch der Nebel bleibt.

„Naja“, sie fährt mit dem Zeigefinger mein linkes Schlüsselbein nach, „ist doch unfair, wenn ich hier in Unterwäsche liege und du noch deine ganzen Klamotten an hast.“

„Gar nicht unfair.“, versuche ich zu widersprechen, warum, weiß ich nicht.

„Ach, halt die Klappe.“, sie schubst mich von sich herunter und versucht mir das T-Shirt über den Kopf zu ziehen. Ich versuche sie davon abzuhalten, bin aber viel zu unkoordiniert und gebe schließlich auf. Sandra wirft das Shirt mit einer leichten Handbewegung auf den hellen Parkettboden und macht sich an meinem Hosenknopf zu schaffen. Ich habe ein Dejavù. Ich habe das starke Gefühl, genau diese Situation vor nicht all zu langer Zeit schon einmal erlebt zu haben. Jemand versucht mir die Hose auszuziehen, ich will aber nicht. Plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen.

„Lissi!“, brülle ich Sandra entgegen. Sie hält inne und schaut mich an.

„Was redest du da?“, Sandra schüttelt verwirrt ihre roten Locken.

„Lissi hat mir gegen meinen Willen die Hose ausgezogen. Wie du grad !“, ich lalle immer noch. Doch meine Gedanken sind einigermaßen klar.

„Weißt du etwa wieder was passiert ist?“

„Nich direkt, weiß aber, dass ich’s schon mal erlebt hab, so wie du grad an meiner Hose rumgemacht hast. Kann nur Lissi gewesen sein. Sonst hat mir noch nie jemand an der Hose rumgefummelt.“

Sandra sitzt stocksteif da und starrt mich mit großen Augen an.

„Dann kann es also wirklich sein.“

„Hä?“

„Ach Claudia, das erkläre ich dir morgen, wenn du deinen Rausch ausgeschlafen hast.“

„Achso“, ich fasse nach Sandra und ziehe sie zu mir herunter und fange an sie unbeholfen zu küssen.

9

3. November, Samstag

Mein Schädel dröhnt. In meinem Magen herrscht Chaos und der Geschmack auf meiner Zunge heute ist Whisky. Sandra liegt neben mir, das Gesicht auf den Ellenbogen gestützt. Sie hat mein T-Shirt an und nicht mehr die rote Unterwäsche vom Vorabend.

„Morgen“, mache ich schlaftrunken. Diesmal denke ich, mich an alles erinnern zu können.

„Du bist schon wieder eingepennt.“

Sandra wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu.

„Was?“

„Du bist schon wieder eingeschlafen während wir uns geküsst haben. Das ist jetzt schon das zweite Mal.“

„Tschuldigung“, murmele ich in meine weiße Bettdecke hinein.

„Aber ich war voll bis oben hin.“

„Ich weiß“, sie gibt mir einen fast schon mütterlichen Kuss auf die Stirn.

Sanft ziehe ich sie zu mir herunter und versuche das gut zu machen, was ich gestern Abend offenbar wieder einmal versäumt habe. Ein leichtes Seufzen kommt über ihre Lippen, als ich die Augen öffne erkenne ich, dass sie selbst die Augen geschlossen hält.

Es gibt wenige Sachen, die ich von diesem Samstag erwartet hätte – aber mit einem Kater neben Sandra aufzuwachen, gehört definitiv nicht dazu.

Sandra liegt mit dem Kopf auf meiner Brust. Sie hat die Augen immer noch geschlossen und atmet gleichmäßig. Ein Anblick für die Götter.

„Zu welcher Erkenntnis bist du eigentlich gestern Abend gekommen?“

Sandra hebt den Kopf und sieht mich an.

„Ach so. Du warst ja gestern Abend recht betrunken und als ich versucht habe dich auszuziehen, hast du versucht dich ernsthaft zu wehren. Hast es aber nicht ansatzweise geschafft. Und dann meintest du ja noch, dass du das Gefühl hattest, eine ähnliche Situation schon mal erlebt zu haben. Daraus lässt sich so viel schließen, dass zumindest die Möglichkeit besteht, dass dich Lissi gegen deinen Willen ziemlich leicht hätte ausziehen können. Ich meine, du scheinst am Donnerstag noch betrunkener gewesen zu sein als gestern Abend. Von dem her wäre es ein leichtes gewesen, eine heiße Nacht zu inszenieren. Aber Claudia, so gerne ich dich mag, ich möchte das klären. Ich habe keine Kraft für eine Beziehung mit ungeklärten Verhältnissen. Ich bin nicht noch einmal in der Lage, solche Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Bitte decke das alles auf und bring deine Welt in Ordnung, damit ich hier mit dir eine glückliche Zeit erleben darf.“

Ihre Worte lassen mich aufhorchen? Hat sie gerade von ihrer Vergangenheit gesprochen? Die Worte meiner Mutter fallen mir wieder ein, die meinte, dass es Sandra wohl in Köln nicht leicht gehabt hat und dass es dort viele Schwierigkeiten gab. Sandra will hier einen kompletten Neuanfang – mit mir und mit vollkommen sicheren Verhältnissen.

Vorsichtig streiche ich über ihre roten Haare, die leicht nach irgendeinem Fruchthaarwaschmittel duften.

„Schon gut. Das wird schon. Die Frage ist nur, wie wir die Wahrheit aus Lissi raus bekommen können. An ihr Gewissen können wir ja wohl kaum appellieren. Sie ist verliebt und das ist wohl mit das größte Problem.“

„Nicht unbedingt“, ihre grünen Augen funkeln mich verheißungsvoll an.

„Sie ist in dich verliebt und das kannst du dir zu Nutze machen. Wenn sie dich wirklich so bedingungslos liebt wie sie tut, muss sie sich ihrer Sache nur sicher sein und dann wird sie schon reden.“

„Wie meinst du das?“

„Ganz einfach. Sie muss dir soweit vertrauen, dass sie dir alles erzählen kann ohne Angst zu haben, dass das irgendwelche Auswirkungen auf euer Verhältnis hat.“

„Aber ich habe ihr einen Korb verpasst. Da wird sie ja wohl kaum Vertrauen zu mir fassen.“

„Dann komm doch einfach mit ihr zusammen und finde es so heraus.“

„Wie bitte?“, wie vom Blitz getroffen richte ich mich auf.

„Was sagst du da? Ich soll mit ihr zusammen kommen? Bist du denn von allen guten Geistern verlassen?“

Sandra bleibt ruhig liegen und sieht mich durchdringend an.

„Anders wirst du es wohl kaum raus finden. Spiel so mit ihr, wie sie mit dir gespielt hat Claudia. Komm mit ihr zusammen, decke den Plan auf, trenne dich aufgrund ihres Fehlverhaltens von ihr und dann kannst du zu mir zurück kommen. Natürlich würde ich es sehr vorziehen, wenn du nicht mit ihr schlafen würdest. Eigentlich wäre es mir sogar noch lieber, wenn es nur bei Händchen halten bleiben würde.“

„Das kannst du nicht von mir verlangen. Ich kann doch Lissi nicht in so eine Falle rennen lassen. So falsch bin ich nicht. Sie war da, als ich jemanden gebraucht habe. Ich finde, du verlangst ein wenig viel von mir. Natürlich bin ich bereit, dir jeden Wunsch zu erfüllen und ich würde natürlich selber auch gerne wissen, was da am laufen ist, aber ich will Lissi nicht so hinterhältig ausnutzen.“

Sandra senkt bekümmert den Kopf.

„Aber wie sollen wir es sonst heraus finden?“. Sandras Blick bricht mir fast das Herz. Ihre Augen strahlen Zweifel und Angst wieder. Ein Blick, welcher mir von ihr völlig unbekannt ist. Die unfehlbare Sandra hat also wirklich Angst und weiß nicht weiter. Ein ganz neues Gefühl, aber ihr ist es wichtig, dass die Sache sich klärt und nicht noch weitere Kreise zieht.

Auf der anderen Seite war Lissi auch bereit mich ins Verderben zu stürzen und meine Chancen bei der Frau, die ich liebe, gleich Null zu setzen. Ich bin hin und her gerissen und kann nicht sagen, was die richtige Entscheidung ist.

Auch muss ich bedenken, dass ich fast nichts über die Frau weiß, die hier neben mir liegt und mich mit großen verzweifelten Augen ansieht. Was ist in Köln passiert? Was ist der Grund dafür, dass sie sich nach solch einer Sicherheit sehnt? Fragen über Fragen auf die es nur zu wenige Antworten zu geben scheint.

Sandra vertraut mir nicht bedingungslos, das weiß ich und deswegen braucht sie wahrscheinlich auch den Beweis, dass ich alles für sie tue, um mit ihr zusammen sein zu dürfen. Aber was gibt mir die Sicherheit, dass alles gut wird, wenn die Sache geklärt ist?

„Sandra, ich werde versuchen die Wahrheit aus Lissi raus zu kriegen. Aber ich habe eine Bitte im Gegenzug.“

Sie schaut zu mir herauf und ihre Miene erhellt sich langsam wieder.

„Ich möchte wissen, was in Köln passiert ist.“

Sandra setzt zum protestieren an, wie ich es gedacht habe. Behutsam drücke ich ihr meinen Zeigefinger auf die schmalen roten Lippen.

„Lass mich ausreden. Ich möchte es erst wissen, wenn die Sache hier geklärt ist. Was zählt ist die Gegenwart. Die Vergangenheit kann warten. Du musst wissen, ich brauche auch eine gewisse Sicherheit und wenn du mir dann das erzählst, was dich zu dem gemacht hat, was du heute bist, kann ich mir sicher sein, dass das mit uns beiden etwas Ernstes werden könnte.“

Leise nickt Sandra. Dieses Nicken bedeutet für mich mehr als tausend Liebesschwüre.

„Und wie sieht es zwischen uns beiden aus, solange die Sache noch nicht geklärt ist?“

Insgeheim hoffe ich, dass wir wenigstens Zärtlichkeiten miteinander austauschen können.

„Ich würde es für das Beste halten, wenn wir enthaltsam leben. Außerdem muss ich gestehen, dass es mir richtig gut gefällt, dein Feuer zu entfachen.“ Sanft lächelt sie in sich hinein.

„Was?“

„Was glaubst du warum ich schon so gerne mit dir gespielt habe. Ich wusste, dass hinter deinem impulsiven Verhalten während unserer Gespräche, sehr viel Leidenschaft steckt, die nur darauf wartet, empor zu kommen.“, sagt sie ziemlich trocken.

Ich seufze. Sandra lässt sich immer mehr von mir in die Karten gucken. Sie spielt gerne. Sehr gerne sogar. Eine explosive Mischung.

Mit mir selbst zufrieden, grinse ich in mich hinein und fahre Sandra durch die feuerroten Locken.

„Ab morgen gilt die Enthaltsamkeit, heute können wir noch den Tag genießen. Ich will nicht noch mehr Kopfschmerzen als ich jetzt eh schon habe.“

Entrüstet will Sandra meiner Forderung etwas entgegen setzen, doch ich bin schneller und drücke meine Lippen sanft auf die ihren. Ihr Widerstand bricht und sie gibt sich meinem Kuss hin. Immer wieder entfahren ihr sanfte Seufzer, die mich fast in den Wahnsinn treiben und doch kann ich meine Triebe zurück halten, allein in dem ich sie in meinem Armen liegen sehe.

10

5. November, Montag

„Claudia... ich kann es einfach nicht fassen.“ Lissis Augen weiten sich und glitzern in der Spätnachmittagssonne. Das immer lichter werdende Blätterdach der Bäume im Park hinter Schule wirft seine Schatten auf das runde Gesicht des blonden Mädchens. Sie ist hübsch. Sehr hübsch sogar.

„Lissi, es ist kein Witz. Die Sache mit Sandra ist aus und vorbei. Du hattest Recht, sie erwidert meine Gefühle nicht, deswegen will ich lieber mit dir eine schöne Zeit verbringen und mich ... äh, in kalten Winternächten an deinem zarten Körper wärmen.“ Ich würge die Worte hervor, die mir Sandra am Sonntag so gefühlvoll ins Telefon gehaucht hatte. Der Plan stand, ich würde Lissi hintergehen, um mein eigenes Glück zu finden – das hoffe ich jedenfalls.

Zwei Arme schlingen sich um meinen Hals, sodass mir fast die Luft weg bleibt.

„Ich bin so glücklich. Das kannst du dir nicht vorstellen. Endlich, endlich gehörst du mir? Nie wieder wird dich auch je eine andere mehr so berühren.“

Ein Schmerz sticht in meiner Brust. Wie würde ich mich an Lissis Stelle fühlen, von der Person die ich liebe so eiskalt hintergangen zu werden? Rasch verwerfe ich den Gedanken und kehre wieder zurück zu Sandra, um die Umarmung angenehmer zu machen. Der rote Satin auf ihrer blassen Haut, die roten Haare und die unendlich tiefen Augen.

Lissi nähert sich meinen Lippen. Meine Augen schweifen umher. Wir sind an einer ziemlich verlassenen Stelle im Park hinter der Schule und Menschen sind weit und breit nicht zu sehen. Ich lasse Lissi gewähren und schließe die Augen. Angestrengt versuche ich mich an den Geschmack von Sandras Lippen zurück zu erinnern. Diese roten zarten Lippen, die sich am Samstag so oft auf meine gelegt hatten. Mir wird heiß von dem Gedanken. Und wieder ein Stechen in der Brust. Es fühlt sich falsch an, was ich hier tue, aber es geht nicht anders.

Nach gefühlten Stunden löst sich Lissi endlich wieder von mir. Meine komplette Lippengegend ist feucht. Sie hat mich abgeleckt wie ein Hund. Zuhause muss ich mir dringend das Gesicht waschen.

Verträumt sieht sie mich an. Ich zwinge mich zu einem verkrampften Lächeln. Es scheint ihr zu reichen.

„Und was machen wir jetzt? Wollen wir vielleicht zu mir gehen und ich stelle dich meinen Eltern vor – oder vielleicht gehen wir auch auf mein Zimmer...“, sie spricht nicht weiter, doch ich weiß genau was sie will. Spielerisch streicht sie mit ihrem linken Zeigefinger über mein Brustbein.

„Ach, das ist jetzt echt doof, aber ich habe heute noch einen dringenden Termin beim Arzt, den ich leider nicht verschieben kann. Tut mir echt Leid, aber ein anderes Mal.“ Zum Abschied gebe ihr einen Kuss auf die Wange und fange an Richtung Schule zu laufen, wo immer noch mein Fahrrad steht. Lissi bleibt wie ein begossener Pudel auf der Stelle stehen.

Keuchend komme ich auf dem Fahrradhof an und gehe durch die fast leeren Fahrradständer zu meinem roten Mountainbike, das etwas verloren in der hintersten Ecke steht.

Mit schwarzen Turnschuhen und dunkler Hose lehnt Sandra am alten Holzzaun und beobachtet mich. Mit einem Nicken gibt sie mir zu verstehen, dass Lissi nicht hinter mir ist und dass wir ungestört miteinander reden können.

„Wie lief es?“

„Wie geplant.“

Ohne sie anzuschauen öffne ich das Fahrradschloss. Ich habe immer noch das Gefühl, dass Lissis Lippen auf meinen liegen. Es bereitet mir tiefstes Unbehagen eine andere als Sandra zu küssen – noch dazu eine, die so grauenvoll küsst.

„Hat sie dich geküsst?“

Aus dem Augenwinkel kann ich erkennen, dass Sandra ihre grünen Augen zu kleinen Schlitzen verengt hat und mich mustert.

Ich zucke mit dem Achseln und murre etwas Unverständliches vor mich hin.

„Also hat sie dich geküsst?“ Wie schon am Freitag liegt in Sandras Stimme ein gereizter Unterton, bei dem sich mir die Nackenhaare aufstellen.

„Ja.“ Das Schloss klackt.

„Und wie war sie?“, bohrte Sandra weiter in der Wunde, um sie noch größer zu machen.

„Probiers selber aus.“

„Also ist sie besser als ich?“

„Vielleicht.“

„Oho, na dann wird es ja eine spaßige Zeit werden. Meinen Glückwunsch.“

Das Knirschen von Sandras Zähnen war deutlich zu hören. Ächzend richte ich mich auf und versuche ihr in die Augen zu blicken. Sie weicht aus. Anscheinend findet sie jetzt gerade den Haken an dem ganzen wohl ausgefeilten Plan. Die Eifersucht. Damit hatte die liebe Sandra wohl doch nicht gerechnet. Es gefällt mir, zu sehen wie viel ich ihr nun doch wert bin.

Mit dem Handrücken streiche ich ihr sanft über die Wange.

„Hey“, sie zuckt.

„Du brauchst dir keine Gedanken zu machen. Um ehrlich zu sein, es war grauenvoll. Wenn du dieses Spiel beenden willst, dann sag es, aber mache dann keinen Aufstand, falls sich die Sache nie klären sollte.“

Sandra schnaubt. Sie ringt innerlich mit sich selber und scheint gerade abzuwägen, was jetzt die klügere Entscheidung ist. Sanft streicht sie mit der Hand über meinen Handrücken.

„Nein, mach weiter. Du darfst mich dabei aber auf keinen Fall vergessen. Ich will doch nur unser bestes. Ich meine, wenn Mandy und Lissi wirklich in der Lage sind eine solche Intrige zu spinnen und damit so viel Verwirrung zu stiften, werden sie womöglich auch zu anderen Sachen fähig sein und uns das Leben schwer machen. Es ist zu unser aller Besten, damit sich die Sache aufklärt und wir endlich in Frieden unser Abitur schreiben können und dann ungestört zusammen sein können.“

Sanft ziehe ich ihren Kopf an mich heran und hauche ihr einen Kuss auf die roten Lippen.

„Auf die Freundschaft.“, grinse ich sie an.

„Also wirklich!“, tut Sandra empört, dennoch lächelt sie mich an.

Meine Lungen brennen von der kalten Novemberluft die ich während des Fahrrad fahrens einatme. Es ist zwar sonnig, dennoch sind die Vorboten des Winters schon anwesend. Auf den Straßen liegt feuchtes Laub und ich muss aufpassen, dass ich nicht wegrutsche und mit dem Gesicht auf der Straße bremse. Endlich bin ich zu Hause angekommen und kann mich seit Wochen wieder voll und ganz meinen Hausaufgaben widmen, die in letzter Zeit mehr als leiden mussten. Eigentlich müsste man meinen, dass eine Oberstufenschülerin im letzten Jahr besseres zu tun hätte als irgendwelchen Beziehungsirrsinn aufzuklären.

Keuchend komme ich zu Hause an. Das Auto meiner Mutter steht in der gepflasterten Einfahrt und ich freue mich innerlich schon auf eine warme Mahlzeit. Voller Vorfreude schwinge ich unsere weiße Glashaustüre auf. Es klappert in der Küche. Wunderbar, meine Mutter ist schon beim kochen. Ich biege rechts in die große Küche mit Esszimmer ein. Meine Mutter steht mit dem Rücken zu mir am Herd mit mehreren Töpfen. Es riecht himmlisch und mein Magen fängt an zu knurren.

„Hallo Mama, was gibt’s denn zu essen?“

Ohne den Blick von dem Herd nehmen antwortet meine Mutter.

„Kartoffeln mit Gemüse und Hühnchen.“

Jubelnd will ich auf mein Zimmer gehen um mir bequemere Sachen anzuziehen als meine Mutter mich abermals zurück ruft.

„Eine Lissi hat angerufen. Sie hat gefragt, wann du deinen dringenden Arzttermin hast.“

Ich muss schlucken.

„Nun...“, versuche ich mir eine Ausrede zurecht zu legen.

„Claudia, wir haben dich nicht dazu erzogen zu lügen und es kränkt mich, dass du Leuten Lügen erzählst. Ich weiß nicht warum du das getan hast, aber dein Vater und ich würden es sehr willkommen heißen, wenn du das in Zukunft unterlassen würdest.“

Das oberste Ziel meiner Mutter war es immer gewesen, mich zu einem ehrlichen und aufrichtigen Menschen zu machen. Wenn sie wüsste, wie es wirklich um mein Innerstes bestellt ist, dann würde es ihr wahrscheinlich das Herz zerreißen.

Der Appetit ist verflogen und mit hängendem Kopf mache ich mich auf den Weg in mein Zimmer.

„Der Termin war um 16:00 Uhr.“ kommt es mit einer monoton klingenden Stimme aus der Küche.

Ich liebe meine Mutter.

In meinem Zimmer angekommen werfe ich den Rucksack mit einer lässigen Handbewegung auf mein Bett und ziehe mich aus. Lissi ist so ein Biest. Macht die doch tatsächlich Kontrollanrufe bei mir zu Hause. Ich greife zum Telefon und suche aus dem integrierten Adressbuch nach Sandras Nummer. Es klingelt.

„Klinger“, meldet sich eine Jungenstimme. Es ist Sandras jüngerer Bruder.

„Hallo, hier ist die Claudia, ist Sandra da?“

„Ja, moment.“

„Warum müssen sich Frauen immer anrufen?“, höre ich ihn nuscheln, während er das Telefon in Sandras Zimmer trägt.

Der Kleine ist zum brüllen.

„Hi Claudia, jetzt schon Sehnsucht?“

„Ich nicht, aber Lissi.“

„Was?“ Sandra ist verwirrt. “Ist sie etwa bei dir zu Hause?“

„Nein, nein. Das jetzt nicht, aber sie hat bei mir angerufen um zu überprüfen ob ich wirklich einen Arzttermin hatte.“

„Und nun, du hattest doch gar keinen?“

„Hatte ich auch nicht, aber meine Mutter hat erkannt, dass es eine Lüge meinerseits war und hat mich aus der Affäre gezogen. Sandra, wir müssen echt aufpassen. Lissi ist wahrscheinlich gerissener als ich es anfangs vermutet habe.“

„Jetzt krieg dich mal wieder ein. Du tust ja gerade so als wäre sie ein Stalker und besessen von dir. Jetzt übertreibe mal nicht. So schlimm wird es schon nicht werden und wenn du dich geschickt anstellst, können wir vielleicht bald beide gemeinsam Silvester feiern.“

Der Klang von Sandras Stimme hat mich wieder aus den Wahnvorstellungen zurück geholt, dennoch bleibt ein unangenehmes Gefühl in der Magengegend wenn ich an sie denke. Was passiert eigentlich, wenn die Aktion schief läuft und Lissi alle möglichen Sachen in die Welt setzt. Gerüchte verbreiten sich wie ein Lauffeuer und werden schließlich auch bei meinen Eltern landen. Lissi hat Einfluss und das Vertrauen vieler Mitschüler, sodass kaum jemand ihre Aussagen in Frage stellen würde.

Die Sache beginnt immer schwieriger zu werden, als sie am Anfang schien.

Es ist kurz vor acht als ich meine Hausaufgaben endlich erledigt habe und ich mich in aller Eile auf den Weg ins Training mache. Seit Mels Spontanaktion von Freitag habe ich keine Gelegenheit mehr gehabt, um sie über den neusten Stand der Dinge aufzuklären. Ich lege sehr viel Wert auf ihr Urteilsvermögen und werde alles so bald wie möglich haarklein erzählen, wobei ich wohl wissend ein paar kleine Details auslassen werde.

In der Grundschule begrüßt mich Mel herzlich. Sie sieht abgekämpft aus. Hatte wohl einen harten Tag in der Arbeit. Ihr Lächeln verrät mir, dass sie genau wissen will, was passiert ist.

„Ach, komm schon, Claudi. Das Training können wir doch ausfallen lassen und du erzählst mir stattdessen lieber was vorgefallen ist. Hast du eigentlich eine Ahnung, dass ich das ganze Wochenende wie auf Kohlen saß – deinetwegen.“

Ich lächele verschwörerisch.

„Wenn du schon, das ganze Wochenende darauf gebrannt hast, wird die eine Stunde dir auch nichts mehr ausmachen.“

Gut gelaunt steuere ich in die Turnhalle und lasse die schimpfende Mel hinter mir zurück.

Nach einer Stunde brennen meine Handgelenke und ich lasse mich erschöpft auf die Bank in der Umkleidekabine nieder sinken. Der Schweiß läuft meine Stirn entlang und meine Brust fühlt sich seit langem endlich wieder wie von einer großen Last befreit an.

Die anderen Frauen aus unserem Team ziehen sich ebenfalls gerade um und schwatzen noch ein wenig über die neusten Fernsehsendungen, die in letzter Zeit angelaufen sind. Mich persönlich interessiert das weniger. Viel interessanter jedoch finde ich Mels Augen, die starr auf mich gerichtet sind. Ich weiß genau, was sie will und ihre blauen Augen durchbohren mich förmlich. Sobald die Letzte aus der Umkleidekabine draußen ist, wird sie mir entgegen stürmen und mich erst wieder gehen lassen, bis sie komplett alles weiß. Die liebe Mel, hoffentlich wird sie sich nie ändern.

Mit kreisenden Bewegungen fahren ihre schlanken Finger über das glänzende Plastik ihres Helms, in denen sich das Licht der Straßenlaterne reflektiert. Mein Monolog endete vor ungefähr drei Minuten. Gespannt starre ich ihr in das schmale Gesicht und versuche ihre reglose Mimik zu deuten.

„Mel?“, verunsichert tippe ich sie an der Schulter an.

Langsam dreht sie den Kopf in meine Richtung und ihr Gesicht wird vom Schein der Laterne erhellt. Es wirkt fast gespenstisch.

„Claudia, ich halte es für keine gute Idee, so an die Sache heran zu gehen.“

„Ich weiß, es ist unfair Lissi gegenüber, aber wie soll ich denn sonst die Wahrheit erfahren? Mandy wird es mir wohl kaum auf die Nase binden wollen.“

„Nicht nur wegen Lissi. Vielmehr bereitet Sandra mir Kopfzerbrechen. Sie verbirgt etwas vor dir und was gibt dir die Sicherheit, dass sie dir jemals die Wahrheit sagen wird. Auf Lissi solltest du ein Auge werfen und Sandra musst du festnageln.“

Ein Funkeln tritt in ihre Augen, das ich noch nie zuvor bei ihr gesehen hatte. Was ist auf einmal mit Mel los? Ist sie jetzt von allen guten Seelen verlassen? Zwar hatte sie schon immer den objektiveren Blickwinkel, dennoch überspitzt sie die Sache wohl doch ein wenig.

„Und was hältst du von Sandras Theorie, dass das ganze ein abgekartetes Spiel ist?“, frage ich vorsichtig und mache mich innerlich schon auf den nächsten verbalen Fauststoß in die Magengrube bereit.

„Nun, sie hat mehr Wissen über die möglichen beteiligten Personen wie ich, von dem her kann ich darüber nicht viel mehr urteilen. Nur eins ist klar, etwas läuft nicht mit rechten Dingen und du, meine liebe Claudia, stehst mit im Mittelpunkt dieses ganzen Wahnsinns.“

Ich muss schlucken. Aus Mels Mund hört sich das an, als würden wir uns in einem schlechten Mafiafilm aus den 60er-Jahren befinden und ich der Drehpunkt wäre.

Um die wirren Mafiaszenen aus meinem Kopf zu bekommen, schüttele ich mich leicht und beschließe, es für heute damit zu belassen. Mel scheint das genau so zu sehen, denn sie zieht gerade ihren Helm über den Kopf und steckt den Schlüssel in das Zündschloss des Rollers.

„Machs gut Claudia, ich hoffe für dich, das alles so wird, wie du dir das vorstellst.“

Und sie fährt knatternd davon, ohne auf eine Antwort zu warten.

Den Auspuffgeruch ihres Rollers immer noch in der Nase, befestige ich meine Sporttasche auf dem Gepäckträger meines Fahrrads und radele hinein in die kalte Nacht.

11

6. November, Dienstag

Mit finsterer Miene betrachte ich Tobias und Mandy, die eng umschlungen gegen eine dreckige Wand gelehnt rumknutschen. Mandy steht mit dem Rücken zu mir, sodass ich nur Bruchstücke von Tobias Gesicht erkennen kann. Er hat die Augen geöffnet und beobachtet seine Umgebung. Sein Blick streift mich und bleibt auf mir stehen. Lässig stoße ich mich von der alten Steinsäule ab, packe meinen Ordner und die Tasche und mache mich auf den Weg zur Bücherei. Meine Stimmung ist auf dem absoluten Tiefpunkt angelangt, zumal mich Lissi heute Morgen schon auf dem Schulweg abgefangen hat und mich in eine Seitenstraße gezerrt hat. Mit Mühe und Not konnte ich sie davon abhalten, mich auf offener Straße zu vergewaltigen.

Wie erwartet befindet sich niemand in der alten Schulbibliothek, da das Interesse an Büchern im Zeitalter der digitalen Medien konstant abnimmt. Mit knurrendem Magen lasse ich mich auf einen Stuhl an einem Tisch in der hintersten Ecke fallen und schalte meinen Mp3-Player ein. Ich greife kurz hinter mich und ziehe ein Buch aus dem Regal. Harrius Potter et Philosophi Lapis – ein lateinisches Kinderbuch, dass ich zur Tarnung vor mir aufstelle, um dahinter mein Pausenbrot zu verspeisen. Der Geruch von Salami steigt mir in die Nase und augenblicklich vergeht mir wieder der Appetit. Seufzend lasse ich die grüne Plastikdose zurück in meine Umhängetasche gleiten und starre auf eine Textpassage in dem vor mir aufgeschlagenen Buch. Ich verstehe kein Wort. Glücklicherweise habe ich Latein nach der 10. Klasse ablegen können. In Gedanken versunken starre ich auf die Zeilen, die vom nahen betrachtet immer mehr zu einem grauen Brei werden. Ein Schatten fällt auf mich. Ruckartig schrecke ich hoch und verdrehe mir den Kopf nach der Person.

Es ist ein Mädchen, das ungefähr einen halben Kopf kleiner ist als ich, viel zu kurze Karottenjeans trägt und dazu eigenartige braune Schuhe. Sie hat einen weiten grauen Kapuzenpulli an und starrt mich mit ihren großen runden Augen schüchtern an. Es ist Michaela. Die neue Schulsprecherin.

„Was?“, frage ich gereizt und ziehe mir die Kopfhörer aus den Ohren.

Erschrocken tritt sie einen Schritt zurück und vergisst dabei ihren Mund zu schließen.

Genervt nehme ich das Harry Potter Buch zur Hand und halte es ihr hin.

„Willst du das vielleicht lesen?“

Ihre großen runden braunen Augen weiten sich noch mehr und fangen an zu glänzen. Die wird doch nicht etwa gleich anfangen zu heulen.

Ich richte mich gänzlich auf und drehe mich nun auch mit dem Körper in ihre Richtung. Mit einer lässigen Handbewegung streiche ich einige schwarze Strähnen zurück und versuche mich zu einem Lächeln zu bewegen. Aus meinem Mp3 Player dröhnt immer noch Children of Bodom.

„Hast du irgendeine Frage? Kommst du mit etwas nicht klar?“

Immer noch verängstigt schließt sie ihren Mund und schüttelt ihre braunen Locken.

Heute bin ich wirklich nicht in der Stimmung auf solche Spielchen.

„Wenn etwas ist, dann sag es jetzt oder verschwinde wieder.“

Sie zuckt zusammen, läuft ein paar Schritte rückwärts und kracht gegen einen Tisch.

„Angst, dass ich dich fresse?“ Genervt klatsche ich das Buch auf den alten Tisch und beobachte die Staubwolke die durch das Sonnenlicht gut sichtbar ist.

„Nein, das nicht...“, sie fängt an vorsichtig zu sprechen.

Sie kann es also doch noch.

Ihr Mund steht wieder einige Zentimeter offen und ihre Augen flackern wild hin und her. Das Läuten der Stundenglocke lässt sie zusammen zucken. Ohne ein weiteres Wort dreht sie sich um und rennt zur Tür hinaus.

Verwundert schüttele ich den Kopf und beschließe nicht weiter über diese Begegnung nachzudenken.

Während des Matheunterrichtes gebe ich meinen Gedanken freien Lauf und überlege mir die effektivste Taktik, heute unbemerkt aus der Schule zu kommen – zumindest so, dass mich Lissi nicht bemerkt. Tragischer weise haben wir heute zur gleichen Stunde aus und sie hat heute Morgen schon kund getan, das sie auf mich am Haupteingang warten wird. Und ewig kann ich mich auch nicht auf dem Klo verstecken. Noch vor zwei Jahren hätte ich die Notausgänge nutzen können, doch die waren jetzt alle mit Sensoren bestückt, die jedes Öffnen einer Tür sofort im Sekretariat melden und es ist wirklich unwahrscheinlich, wie schnell die fette Sekretärin rennen kann. Da wird einem himmelangst, wenn diese Massen auf einen zugerollt kommen.

Ohne einen sonderlich guten Plan zu haben vergeht die Stunde wie im Fluge. Tobias quetscht sich an mir vorbei und sprintet den Gang entlang. So verbissen habe ich den ja noch nie gesehen, aber anscheinend sind heute alle am Rande des Wahnsinns. Ich bin ja mal gespannt, was passiert, wenn mit Mandy wieder Schluss ist. Das könnte durchaus lustig werden, da sie ja jetzt keinerlei Trümpfe gegen mich mehr in der Hand hat. Vor mich hin grinsend mache ich mich auf den Weg zu Geschichte.

Natürlich habe ich es nicht geschafft Lissi zu entkommen, da unsere mittlerweile recht hysterisch gewordene Geschichtsreferendarin Daten und Fakten wie ein Dauerfeuer auf uns nieder prasseln hat lassen, als gäbe es kein Morgen mehr. Deswegen war ich gar nicht mehr in der Lage gewesen, unterrichtsfremden Sachen in meinen Schädel Platz zu machen.

„Hi Claudi“, Lissi strahlt mich von einem Ohr bis zum anderen an.

„Hallo Lissi und nenn mich bitte nicht 'Claudi'“. Meine Laune hat sich keinen Deut gebessert und auch Lissi steuert nicht unbedingt zu einer Besserung bei.

„Och, sei doch nicht so mies gelaunt. Es ist doch ein wunderschöner Tag.“

Mein Blick schweift in den Himmel, aus dem es schon den ganzen Tag nieselt.

„Ganz wunderbar.“

Ohne groß auf Lissi zu achten steuere ich zielstrebig Richtung Heimat. Lissi folgt mir wie ein Hund. Hin und wieder werfe ich ihr einen Seitenblick zu und frage mich, wie lange sie mich dann noch begleiten will. Mein Magen knurrt, doch innerlich ist das Verlangen nach Essen nicht vorhanden.

An unserem weißen Gartenzaun mache ich halt und drehe mich zu Lissi um. Sie lächelt mich immer noch an, was meine Laune noch mehr verschlechtert.

„Danke fürs nach Hause bringen. Machs gut.“ Schnell drehe ich mich um und trete die Gartentür auf. Lissi bleibt wie ein Pudel im Regen stehen und sieht mir nach.

„Also Claudia!“, höre ich eine Stimme hinter mir dröhnen. Wie versteinert bleibe ich auf dem gepflasterten Weg stehen und schlucke. Oh wie ich diesen Wortlaut hasse.

Langsam drehe ich mich um.

„Hallo Mama.“

„Claudia, du willst doch deine Freundin hier nicht ernsthaft im Regen stehen lassen. Möchtest du noch mit rein kommen und was mit uns essen? Heute gibt es Dampfnudeln.“

Meine Laune hat jetzt den absoluten Tiefpunkt erreicht und meine Mutter hat sich auch noch gegen mich verschworen.

Schwatzend gehen Lissi und meine Mutter an mir vorbei. Ich bleibe noch fünf Minuten im Regen stehen, mit der Hoffnung, dass all meine Wut von den Regentropfen hinfort gewaschen wird.

Der Hefeteig gibt nach als ich meine Gabel hinein steche und ich beobachte mit ungeteilter Aufmerksamkeit, wie die Vanillesoße über den Tellerrand läuft.

Lissi und meine Mutter unterhalten sich köstlich. Wenn das so weiter geht, schlägt meine Mutter am Ende noch vor, dass sie vielleicht bei uns über Nacht bleiben solle. Das wäre mein Todesurteil.

„Ach Claudia“, ich schrecke hoch.

„Sandra hat angerufen.“

Hektisch blicke ich zu Lissi die mich durchdringend ansieht. Verdammt, hoffentlich schöpft sie keinen Verdacht.

„Huch, was will die denn? Wahrscheinlich nur wieder die Hausaufgaben.“

Abschätzig zucke ich mit den Schultern, doch Lissis Blick jagt mir Schauder über den Rücken. Ich schiebe die Dampfnudel von mir weg und schaue aus dem Fenster. Der Regen wird heftiger.

„Soll ich dich dann nach Hause fahren?“, frage ich Lissi.

„Daraus wird nichts Claudia, Papa hat heute das Auto und kommt erst spät abends zurück.“ Ich muss schlucken.

„Geht doch erstmal hoch in dein Zimmer und macht dort was Schönes, vielleicht hat es ja bis dahin dann aufgehört zu regnen.“ Ohne etwas gegessen zu haben verschwinde ich mit Lissi hoch in mein Zimmer. Als ich die helle Holztreppe nach oben steige, spüre ich ihre brennenden Blicke auf meinem Rücken. Die Tür hinter mir fällt ins Schloss und ich setze mich auf meinen Bürostuhl.

Lissi lehnt sich an den Schreibtisch.

„Sandra hat also angerufen. Wegen den Hausaufgaben? Interessant.“

Sie hält die Hand vor sich hin und betrachtet ihre langen Fingernägel. Der Schweiß bricht mir aus.

„Ich nehme an, dass es wegen den Hausaufgaben ist. Wir pflegen nur noch ein Verhältnis wie Klassenkameraden, nicht mehr und nicht weniger.“ Wut fängt an sich in meinem leeren Magen zu stauen.

„Klassenkameraden also.“

„Genau, Klassenkameraden.“

Mit einem Ruck stößt Lissi sich von meinem Holzschreibtisch ab und wirbelt zu mir herum. Ihre Fingernägel krallen sich schmerzhaft in meine Schultern und ihr Gesicht ist nur noch wenige Zentimeter von dem meinen entfernt.

Mein Herz beginnt zu rasen und ihre blauen Augen weiten sich immer mehr.

„Du gehörst ganz allein mir.“ keucht sie und bohrt ihre Nägel noch weiter in mein Schulterfleisch. Meine Finger verkrampfen sich und die Wut in meinem Magen verwandelt sich in pure Angst. Lissi droht mir auf eine Art und Weise, wie ich sie noch nie bei jemandem erlebt habe. Sie kommt mir vor wie eine Irre, die zu allem bereit ist.

Eine Schweißperle rinnt über meine Stirn und ich kämpfe gegen den Drang an, schreiend aus der Tür zu laufen.

„Ich gehöre dir Lissi, aber das gibt dir noch lange nicht das Recht deine Fingernägel so tief in meine Schultern zu bohren.“

Ihre Augen werden wieder schmaler und der Druck auf meinen Schultern lässt nach. Sie lässt sich nach vorne um meinen Hals fallen.

„Ich liebe dich doch so, Claudia“, weint sie in mein schwarzes Halstuch. Mein Herz drückt immer noch unangenehm gegen meine Brust.

„Ich dich doch auch.“, bringe ich ihr trotz tiefster Abneigung entgegen.

Um es ihr auch noch zu bestätigen, küsse ich sie so leidenschaftlich wie es mir gelingt, obwohl ich immer wieder mit der Magensäure kämpfen muss, die mir immer wieder aufsteigt.

Gegen Abend wird das Wetter besser und ich bringe sie mit dem Fahrrad nach Hause mit der Ausrede, dass ich gleich noch ins Karate-Training müsse, denn sie hatte den ganzen Nachmittag über Andeutungen gemacht, dass sie lieber bei mir bleiben würde.

Auf der großen Hauptstraße biege ich links ab und fahre in ein Wohngebiet mit vielen bunten Wohnhäusern. Meine Jeanshosen saugen das Wasser was von den Reifen spritzt bestens auf und so komme ich nass bis zu den Knien bei einem blauen Wohnblock an.

Mein Fahrrad stelle ich jedoch vor dem Nachbarhaus ab und schaue mich vorsichtig um. Mein Blick schweift über die Fensterreihe des ersten Stocks des blauen Wohnblocks. In einem Fenster sind ganz klar rosa Vorhänge zu erkennen. Das muss Mandys Zimmer sein. Es befindet sich direkt unter Sandras. Wieviel Mandy wohl aus der Wohnung über ihr mitbekommt?

Ich schleiche zu der Haustür, immer wieder den Blick auf das Fenster mit den rosafarbenen Gardinen gerichtet.

Wie gewohnt klingel ich bei Klingers und Sebastian macht mir auf. Ich spurte die grauen Treppen hinauf, in der Angst, dass jeden Moment eine Haustür im ersten Stock aufgehen könnte. Doch es bleibt ruhig. Sebastian steht in der braunen Haustür und blickt mich verwundert an.

„Sandra ist in ihrem Zimmer“, sagt er schlicht.

Ich nicke ihm zu, ziehe meine Schuhe aus und klopfe an Sandras Zimmertür. Ich trete ein. Sandra hockt an ihrem PC und hat mehrere Messenger Fenster offen.

Ich räuspere mich und Sandra dreht sich zu mir herum, nachdem sie alle Fenster geschlossen hat.

„Claudia, welch späte Überraschung.“

„Lissi“, keuche ich.

„Was ist mit ihr? Hat sie dich vergewaltigt?“

Ich schüttele meine schwarzen Haare und hocke mich auf das Sofa, auf dem eine rote Bettdecke ausgebreitet liegt.

„Sie ist vollkommen verrückt.“

Sandra zieht die Augenbrauen hoch und erhebt sich von ihrem Lederstuhl.

„Wie kommst du denn jetzt darauf? Hat sie versucht dich aufzuessen?“

Schwer lässt sich Sandra neben mich fallen und schaut mich eindringlich an.

„Nein, das nicht.“

Ich schildere ihr so bildhaft wie möglich ihr Verhalten von heute Mittag, als sie von Sandras Anruf erfahren hat. Nachdenklich wippt Sandra auf der Stelle hin und her.

„Und da ist noch etwas. Ich hatte vor einigen Wochen einen guten Blick auf Lissis Handgelenke – sie schneidet sich regelmäßig.“

Sandras Blick wird scharf.

„Nun, das ist nichts Ungewöhnliches für Mädchen.“

„Sich selbst zu verletzten ist nichts ungewöhnliches, sagst du?“

Ich schüttele den Kopf. Mir widerstrebt der Gedanke, dass ich mich selbst dermaßen verletzten könnte.

„Meinst du nicht, es wäre besser die Sache anders anzugehen? Ich glaube kaum, dass wir so viel Erfolg haben werden. Und wenn, ist fraglich wann.“

„Weihnachten.“

„Was?“

Sandras Blick ist geistesabwesend auf das Fenster gerichtet. Draußen ist es dunkel und es hat wieder anfangen zu regnen.

„Weihnachten will mich Carsten besuchen kommen.“

Ein Seufzer entweicht mir.

„Willst du nicht vorher noch mit ihm reden? Ich meine über uns...“

„Nun, das sollte ich der Fairness halber tun, aber etwas sagt mir, dass ich es jetzt noch nicht kann.“

„Willst du mir damit sagen, dass du nicht daran glaubst, dass wir eine gemeinsame Zukunft haben könnten?“

Frage ich verzweifelt. Ich habe Angst, Angst vor ihrer Antwort. Die Selbstzweifel fangen schon wieder an, an mir zu nagen. Ich hatte so gehofft, dass wenigstens Sandras Gefühle mir gegenüber vollständig geklärt wären. Aber da habe ich mich wohl auch geirrt. Unter dem Ächzen der Couch stehe ich auf und mache mich auf in Richtung Tür.

„Mach’s gut, Sandra“, meine Hand wandert zum Türgriff. Als ich im Begriff bin, die goldfarbene Türklinke nach unten zu drücken, hält mich Sandra zurück.

„Claudia, du verstehst da etwas falsch. Ich bin mit Carsten seit über 3 Jahre zusammen. Da fällt es mir schwer von heute auf morgen mit ihm Schluss zu machen und das auch noch über Telefon oder Internet. Das ist einfach nicht richtig.“

Ich nicke stumm und öffne die Tür.

„Mach die Tür wieder zu und komm her.“

Wie in Trance befolge ich ihre Anweisungen und setze mich neben sie auf das Sofa. Drei Jahre ist sie also schon mit ihm zusammen. Das ist eine lange Zeit. Verständlich, dass sie sich da nicht so leichtfertig von ihm trennen kann. Ich hingegen kenne Sandra jetzt seit knapp 2 Monaten. Da kann ich nicht mithalten, aber dennoch hat Sandra etwas dazu veranlasst sich in mich zu verlieben. War es vielleicht nur die Einsamkeit, die sie dazu bewegt hat, etwas für mich zu empfinden? Kann ich ihre Worte, dass ich etwas ganz besonderes für sie sei, für bare Münze nehmen? Ich weiß es nicht. Die Unsicherheit nagt an meinem Innersten und es schmerzt allein der Gedanke daran, ihre Gefühle könnten nicht aufrichtig sein.

Ein Arm legt sich um meine Schulter und Sandras Stirn drückt sich gegen meinen Wangenknochen.

„Claudia“, flüstert sie mir sanft ins Haar. Ihr Atem ist deutlich an meinem Hals zu spüren und ein Schauer jagt mir über den Rücken.

„Wenn wir so weiter machen, ertrage ich es nicht mehr länger.“ Meine Stimme ist kalt und fremd. Es ist als würde nicht ich selbst sprechen. Sandra zieht ihren Kopf wieder zurück und sieht mich mit ihren leuchtend grünen Augen durchdringend an.

Sie nickt kaum merklich.

„Ich will dich die ganze Nacht im Arm halten.“ Ein Zucken durchfährt meinen Körper, als sie mir diese Worte ins Ohr flüstert. Erschrocken drehe ich mich zu dir um. Ein leichtes rot huscht über ihre Wangen.

„Aber ich dachte du wolltest …?“

„Die Eifersucht…. Du meintest, du hast versucht sie zur Beruhigung zu küssen. Es sticht in meiner Brust, wenn ich schon einen Gedanken daran verschwende. Ich will das du heute Nacht bei mir bleibst.“

Ihre Arme schlingen sich um meinen Hals und ihre Lippen huschen sanft über meine Wange.

Jeglicher Verstand weicht aus meinem Kopf. Ich bin verfallen mit Haut und Haar und könnte mich wahrscheinlich nicht mal gegen sie wehren, selbst wenn ich es noch so wollen würde.

Ich nicke zaghaft und rufe meine Mutter an, dass ich heute Nacht nicht nach Hause kommen werde, weil ich Sandra noch mit den Hausaufgaben helfe. Ohne weitere Fragen zu stellen, wünscht mir meine Mutter eine gute Nacht und legt auf. Normalerweise hätte sie mir eine Standpauke gehalten, dass ich nicht unter der Woche bei anderen Leuten schlafen solle, aber anscheinend hat sie gerade einen guten Tag und lässt den Dingen ihren Lauf.

Es ist zehn Uhr, als Sandra bei mir im Arm liegt und mit den Fingern über meinen Bauch streicht.

Sie umkreist mit ihren schmalen Fingern meinen Bauchnabel und wandert wieder nach oben. Spielerisch schiebt sie das T-Shirt, das sie mir geliehen hat, bis zu den Schultern nach oben, sodass mein schwarzer Sport-BH zum Vorschein kommt. Im schwachen Licht, das draußen von der Straßenlaterne durch das Fenster scheint, beobachte ich ihre Bewegungen. Ihr rechtes Bein hat sie um mich geschlungen und ihren Kopf hat sie auf meine Schulter gebettet. Zögerlich streicht sie über den schwarzen Stoff und ich frage mich, worauf sie hinaus will. Vorsichtig schiebt sie ihre linke Hand unter das Stück Stoff und tastet sanft umher. Was will sie? Will sie heute nur fummeln oder gar das volle Programm? Meine Gedanken fangen an zu rasen und meine Aufregung wächst von Sekunde zu Sekunde. Ohne Vorwarnung packe ich sie an den Schultern und ziehe sie auf mich. Ich fahre mit meiner Hand an ihren Hinterkopf und drücke sie zu mir herunter. Gierig fange ich an sie zu küssen. Atemlos lösen wir uns wieder voneinander.

„Was willst du?“, keuche ich.

„Das fragst du, nachdem du mich so küsst?“, ihr Gesicht glüht.

Eine Mischung aus Panik und Lust durchdringt meinen Körper. Die Beklemmung breitet sich immer mehr in meinem Magen aus und ich schiebe Sandra sanft von mir weg, die gerade eifrig dabei ist, mir das T-Shirt über den Kopf zu ziehen.

„Was ist?“, fragt sie verständnislos und wirft das T-Shirt in die hinterste Ecke des Schlafsofas.

„Hältst du es für richtig, das aus einer Laune heraus zu machen?“

Sandra streicht sich die roten Locken, die im Schein der Straßenlaterne wie ein tiefes Braun wirken, hinter ihr Ohr zurück und seufzt. Zärtlich legt sie ihre schmalen Hände auf meine Schultern und verlagert leicht ihr Gewicht nach vorne.

„Dir scheint es wirklich ernst zu sein, nicht wahr?“

Ich schweige. Ja, es ist mir ernst und wenn sie das jetzt erst begriffen haben sollte, tut sie mir wahrhaftig Leid.

„Ok, dann warten wir. Du überraschst mich immer wieder, dass du dir so eine Gelegenheit durch die Lappen gehen lässt.“

Ich mich auch, denke ich im Stillen und ziehe sie an mich heran.

Anscheinend zufrieden mit der Entwicklung schlingt sie ihre Arme um meinen Hals und bleibt noch ein wenig auf mir liegen.

12

7. November, Mittwoch

Die Morgensonne prasselt mir aufs Gesicht. Es ist kurz vor sieben. Vorsichtig ziehe ich meinen tauben Arm unter Sandras Rücken hervor. Sie gibt ein kurzes knurren von sich und dreht sich auf die andere Seite. Geräuschlos stehe ich auf und nehme meine Anziehsachen vom Stuhl. Mit dem Rücken zu Sandra kleide ich mich langsam an, um unnötigen Lärm zu vermeiden und sie nicht vor dem Läuten des Weckers zu wecken. Mit einem kurzen letzten Blick auf ihre schlafende Gestalt schleiche ich zur Zimmertür und mache mich auf den Heimweg. Die feuchten Straßen sind bedeckt mit Nebelschwaden und die kalte Luft brennt mir in den Lungen. Die Straßen von Gladbach erwachen langsam zum Leben und hier und da kann man Fußgänger sehen, die mit ihren Hunden spazieren gehen oder eifrige Geschäftsleute die auf dem Weg in die Arbeit sind. In Gedanken versunken beobachte ich das allmorgendliche Treiben und lande schließlich wieder bei Sandra.

Was hat mich gestern eigentlich geritten, dass ich mir so eine Chance entgehen hab lassen?

War es die Angst sie mit meiner Unerfahrenheit zu enttäuschen? Die Selbstzweifel die mich immer noch plagen oder einfach nur die Tatsache, dass ich die Wahrheit über so viele Dinge einfach nicht kenne? Und was ist mit Carsten? Sollte ich wirklich mit Sandra schlafen, noch bevor mit den beiden endgültig Schluss ist? Denn eigentlich ist das so etwas wie fremdgehen und ich bin dann in dem Fall die böse 'Ehebrecherin'.

Nachdem ich zu Hause war und meine Sachen gewechselt hatte, habe ich mich abermals auf mein Fahrrad geschwungen und bin in Richtung Schule gefahren. Die Nebel liegen immer noch schwer auf dem dunklen Asphalt der Straße und total durchnässt komme ich im Biologieklassenzimmer an. Sandra ist bereits da und hat wie immer ihren Platz in der ersten Reihe neben mir eingenommen.

„Morgen“

„Stimmt der Morgengruß...“, verträumt starrt sie aus dem Fenster. Als ich mich setze legt sie mir ihre rechte Hand auf die Schulter und haucht kaum hörbar in mein Ohr.

„Das hast du heute Morgen vergessen.“ Meine Nackenhaare stellen sich auf.

„Ich wollte dich nicht wecken“, flüstere ich durch meine geschlossenen Zähne.

„Ich war schon lange wach.“ Lässig zuckt sie mit den Schultern und wendet sich wieder nach vorne.

„Ist es eigentlich normal für Mädchen in diesem Alter noch mit einander zu übernachten?“

Schreiend springe ich auf und wirbele herum. Mathias, der Klassenprimus schaut mich mit großen Augen durch seine äußerst modische Brille an. Mein Puls rast. Auch Sandra hat sich umgedreht und schaut ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Verwirrung ist in seinem Gesicht zu lesen.

„Mathias“, schnaufe ich, „man schleicht sich nicht von hinten an und belauscht anderer Leute Gespräche.“

„War doch nur ne Frage“, mürrisch lehnt sich Mathias wieder zurück und schlägt sein Buch auf.

Der Schreck sitzt immer noch tief und auch Sandra scheint es an die Nieren gegangen zu sein.

-Wir müssen vorsichtiger sein- kritzelt sie unauffällig auf ein Blatt Papier und schiebt es mir hin.

„Kannst du mir das erklären?“, fragt sie desinteressiert.

Ich nicke und fange an, etwas über Chromosomen zu erzählen.

Nach zwei Stunden Biologie ist die erste Pause. Lustlos mache ich mich in Richtung der alten Aula. Sandra und ich haben beschlossen uns so wenig wie möglich gemeinsam blicken zu lassen.

Mit einem lauten Knall lasse ich meine Tasche auf den Boden fallen und stelle mich zu Hanni und Nanni unserem Pferdevernarrten Zwillingspaar.

„Seltener Besuch“, lacht mich Nanni an.

Ich zucke unwillig mit den Schultern und zwinge mich zu einem Lächeln. Eigentlich habe ich gehofft, dass mich Lissi hier in der hintersten Ecke der Aula nicht entdecken kann.

„Ich pflege nur die Klassengemeinschaft.“

Beide fangen an wie kleine pubertäre Mädchen zu kichern.

„Man, ich hätte echt nicht gedacht, dass der Tobi und die Mandy mal ein Paar werden würden. Der hat doch immer so über die abgelästert, wie billig sie sei und was die nicht wohl alles für Geschlechtskrankeheiten hat...“. Hannis Wangen fangen auf ihrer leicht gebräunten Haut an zu leuchten. Ein Wort wie Geschlechtskrankheit passt dem Anschein nicht in ihre kleine heile Mädchenwelt.

„Das hätte ich wahrlich auch nie gedacht.“, wiederhole ich ihre Worte verträumt.

„Ich bin ja mal gespannt wie lange das hält. Also ich war immer der Meinung, dass der Tobias in Wahrheit auf diese hübsche Geschichtsreferendarin mit den schönen braunen langen Haaren steht.“, beginnt Hanni das Thema von neuen.

„Tobias steht doch auf fast alles, Hauptsache weiblich und noch einigermaßen jung.“ Genussvoll beiße ich in mein Pausenbrot. Hanni und Nanni schauen mich mit großen Augen an.

„Ist was?“, frage ich immer noch kauend.

„Kommt der wirklich so viel herum, wie alle sagen?“

So viel Unschuld bringt mich zum Lachen, dass ich mich beinahe an dem Käsebrot verschlucke.

„Schlimmer. Also, Finger weg.“

Erschrocken weichen die beiden einen Schritt zurück und werfen sich viel sagende Blicke zu.

Den Rest der Pause verbringen die beiden sich über irgendeine Pferderasse zu unterhalten, von der ich noch nie in meinem Leben etwas gehört habe. Das Thema interessiert mich weniger und ich genieße die Lissi-lose Pause.

Gegen Ende der Pause mache ich mich auf den Weg in die Bibliothek um etwas für meine Facharbeit zu recherchieren. Der Raum ist wie immer leer und heute außergewöhnlich kalt. Zielstrebig steuere ich meinen Stammplatz in der hintersten Ecke an und muss mit Erschrecken feststellen, dass der Raum doch nicht so leer ist wie anfangs gedacht.

Ein Mädchen mit braunen Locken, orangenen Hosen und einer grünen Bluse sitzt auf meinem Lieblingsplatz und vergräbt ihr Gesicht tief in ein Buch. Es ist Michaela Schuster. Mit vorsichtigen Schritten nähere ich mich ihr und beuge mich nach vorne, um den Titel des Buches lesen zu können. 'Bridget Jones – Schokolade zum Frühstück'. Ein schrecklicher Film. Ich wusste gar nicht, dass es solche Bücher auch in der Bibliothek gibt. Man wird immer wieder überrascht.

„Ist das Buch besser als der Film?“

Michaela zuckt zusammen und langsam erscheint ihr Gesicht hinter dem Umschlag des Buches. Die großen runden Augen starren mich unverblümt an. Ich lächele.

Ein undefinierbarer Ausdruck macht sich auf ihrem Gesicht breit.

„Musst du gar nicht in den Unterricht?“, frage ich höflich.

Sie schüttelt mit den braunen Locken. Erinnert mich irgendwie an Sandra, wenn sie trotzt – aber wirklich nur im entferntesten Sinne.

„Oh, ihr habt also eine Freistunde“, schlussfolgere ich.

Ohne mich nur einen Augenblick aus den Augen zu lassen nickt sie kaum merklich mit dem Kopf. Es ist mir immer mehr ein Rätsel wie so ein Mäuschen nur so viele Stimmen ergattern konnte.

„Hör zu“, ich lasse meine Tasche auf den Boden gleiten und schwinge mich auf den freien Holzstuhl gegenüber von Michaela.

„Als Schülersprecher musst du ein wenig mehr Durchsetzungsvermögen haben. Als Antwort nur zu nicken oder mit dem Kopf zu schütteln reicht auf keinen Fall aus. Du willst doch ernst genommen werden?“

Ihre Finger krallen sich in den weichen Umschlag des Buches.

Missmutig ziehe ich eine Augenbraue hoch und frage mich, warum dieses Mädchen so viel Angst vor mir hat.

„Ja“, piepst sie unbeholfen.

„Na also, geht doch!“

„Du musst lernen offen auf Menschen zugehen, sonst bist du Tobias keine große Hilfe.“

Sie wird knallrot.

„Nun, hast du eigentlich irgendwelche Fragen an mich, weil du wolltest doch neulich irgendetwas von mir.“

Sie beißt sich auf die schmalen roten Lippen und starrt auf das Buch hinunter. Etwas scheint ihr keine Ruhe zu lassen, aber sie ist nicht in der Lage es frei heraus mir gegenüber zu äußern. Erinnert mich ein wenig ein mein früheres Ich. Die Minuten verstreichen und sie starrt immer noch angestrengt auf das Buch. Unruhig schlage ich das linke über das rechte Bein.

„Ich wollte mich bei dir Entschuldigen!“, bricht es plötzlich aus ihr heraus. Verwundert hebe ich die Augenbrauen.

„Entschuldigen, warum denn das?“

„Wegen der Wahl“, ihr Blick ist immer noch gesenkt.

„Schau mich an.“

Sie schüttelt widerwillig den brauen Lockenkopf.

„Schau mich bitte an“, wiederhole ich in einem strengeren Tonfall und beuge mich vor auf den alten Holztisch.

Langsam hebt sie ihren Kopf und schaut mich mit glänzenden Augen an.

„Sie haben dich gewählt. Dafür brauchst du dich doch nicht zu entschuldigen.“ Sanft lächele ich ihr zu.

„Doch, eigentlich wärst du ja gewählt worden.“ Sie springt auf, packt ihren gelben Rucksack und stürmt zur Tür hinaus. Reflexartig stürme ich ihr hinterher und packe sie am Arm, noch bevor sie die Tür zur Bibliothek öffnen kann. Meine Hand umschließt hart ihren bebenden Oberarm. Ihr Blick ist starr auf den alten gefliesten Boden gerichtet und dicke Tränen kullern über ihre geröteten Wangen.

„Was hast du gesagt?“

Sie schluchzt erbärmlich vor sich hin. Ich lockere meinen Griff. Ich wäre gewählt worden? Aber die Stimmen wurden doch zweimal gezählt?

„Lass sie los Claudia“, eine eisige Stimme lässt mich zusammen zucken. Mein Blick geht Richtung Tür von wo die Stimme kam.

Lissi lehnt lässig im Türrahmen und beobachtet die Szene wie eine Raubkatze die kurz davor ist ihre Beute zu erlegen.

Michaela reißt sich los und prescht an Lissi vorbei. Lissi ignoriert das verängstige Mädchen vollkommen und lässt die Tür hinter sich zuknallen. Langsamen Schrittes kommt sie auf mich zu. Ich rühre mich keinen Zentimeter.

„Hallo Claudia, bringst du etwa kleine Mädchen zum weinen?“

Lissis Stimme ist belegt und klingt fremd in meinen Ohren. Diese Kälte, wie gestern.

„Nicht mit Absicht“, wispere ich. Meine Gedanken rasen und am liebsten würde ich davon laufen. Aber ich kann nicht. Meine Beine scheinen mit Blei gefüllt zu sein.

„Du wirkst so verspannt. Soll ich dich ein bisschen massieren?“

Sie tritt vor mich, legt ihre Hände auf meine Schultern und haucht mir einen Kuss auf die Wange.

„Nein danke, es geht.“ antworte ich stocksteif.

„Mh, wie schade“, sie geht um mich herum und fährt mit ihren Fingern über meinen Rücken.

„Lissi…“

„Ja?“, sie umfasst mich von hinten und fährt über meinen Busen.

„Was heißt 'eigentlich wärst du gewählt worden'?“

Ihre Fingernägel krallen sich schmerzhaft in meinen Oberkörper.

„Willst du das denn wirklich wissen?“

„Ja, das will ich“, ihr Griff wird immer fester und ich beiße die Zähne zusammen, um nicht vor Schmerzen laut aufzuschreien.

Plötzlich lacht Lissi schrill auf und stößt mich nach vorne. Ich knalle gegen einen Stuhl und drehe mich schlagartig zu ihr um. Sie steht mit verschränkten Armen da und ihr blonder Pony hängt ihr tief ins Gesicht, sodass ihre Augen kaum darunter zu sehen sind. Doch ich brauche ihre Augen nicht zu sehen, um ihre stechenden Blicke auf meiner Haut zu spüren.

„Nun, sagen wir es so. Das Wahlergebnis wurde etwas verändert – zu deinen Gunsten.“

„Wie meinst du das, zu 'meinen Gunsten'?“

„Claudia, stell dich nicht dümmer als du bist. Du hast doch nicht ernsthaft geglaubt, dass so ein Niemand mehr Stimmen kriegen würde als du. Das Wahlergebnis wurde so manipuliert, dass du nur noch an dritter Stelle kommst und nicht mehr so in der Öffentlichkeit stehst.“

„Aber du wolltest doch unbedingt, dass ich wieder kandidiere!?“

„Ja, das schon. Aber das war bevor ich von der Geschichte mit Sandra Wind bekommen habe. Ich wollte dich schützen. Verstehst du denn nicht? Ich habe das getan, um dir einen Gefallen zu tun. Du wolltest doch von Anfang an den Job nicht mehr haben, deshalb habe ich alles daran gesetzt das du das bekommst, was du dir wünschst. Ich war zwar verwundert, als du verkündet hast, dass du doch zur Wahl antrittst, aber das spielte dann doch alles keine Rolle mehr. Bist du mir nicht dankbar?!“

Langsam trete ich einen Schritt zurück und stoße gegen den Stuhl, gegen den ich vorhin gefallen war.

„Das ist und bleibt Betrug, Elisabeth.“

Unter dem langen Pony weiten sich zwei große Augen.

„Aber Claudia, du willst mich doch nicht etwa auffliegen lassen? Denn das ist ganz unmöglich. Das würdest du niemals schaffen.“ Eine bedrohliche Ruhe liegt in ihrer weichen Stimme und ich muss stark gegen den Drang kämpfen, davon zu laufen.

„Nein, ich will dich nicht auffliegen lassen.“

Lissi geht wieder auf mich zu. Ich kann nicht zurück. Sie steht abermals vor mir und packt mich bei den Hüften.

Ihr Mund nähert sich meinem Ohr. Angstvoll kneife ich die Augen zusammen, vor dem was jetzt kommen mag.

„Das will ich dir auch nicht geraten haben.“

Ich erstarre zu Stein. Das war keine einfache Aussage, das war eine Drohung, die nicht nur zum Spaß ausgesprochen wurde. Ich spüre mein Herz bis zum Hals schlagen. Lissi lehnt sich wieder langsam zurück und blickt mich mit zuckersüßem Lächeln an.

„Wann wollen wir eigentlich unsere gemeinsame Nacht wiederholen? Gestern hatten wir ja leider nicht die Gelegenheit dazu“, fragt sie, als wäre nichts gewesen. Wenn sie wüsste, was ich gestern Nacht getan habe, würde es mit ziemlicher Sicherheit nicht nur bei einer Drohung bleiben.

„Lassen wir uns Zeit.“ Ich packe sie sanft bei den Schultern und schiebe sie ein Stückchen von mir weg.

„Zeit. Du sagst immer wir hätten Zeit. Aber die haben wir vielleicht nicht.“

Wieder muss ich den Kloß in meinem Hals runter schlucken.

„Aber mal doch nicht den Teufel an die Wand.“ Krampfhaft versuche ich zu lachen.

„Lass es uns gleich hier tun.“

„Was? Es kann doch jeden Moment jemand rein kommen!“

„Das ist doch das aufregende!“

„Aber wenn uns jemand sieht!“

Lissi reißt mein T-Shirt nach oben und schabt dabei mit ihren Fingernägeln über meinen Oberkörper. Blutige Striemen zeichnen sich auf meinem Bauch ab.

„Dann ist es wenigstens offiziell!“

Lissi sinkt auf die Knie und leckt über meine Haut.

„Hey!“, ich packe ihre Kopf und will ihn nach hinten drücken, doch sie beißt mir fest in die Haut meines Bauches.

„AU! Spinnst du jetzt völlig!“

Lachend zieht Lissi ihren Kopf zurück.

Meine Lippen fangen an zu beben. Ihr Kopf nähert sich wieder meinem Bauch.

Die Tür wird aufgerissen. Zeitgleich reißen Lissi und ich den Kopf in Richtung Tür. Mein Herz bleibt stehen. Es ist Sandra.

Entsetzen steht ihr ins Gesicht geschrieben. Ihr Blick wandert von meinem Gesicht, über meine Brust bis hin zu meinem Bauch. Lissi fängt an zu grinsen und richtet sich wieder auf.

„Entschuldigt, ich wollte nur etwas nachgeschlagen.“ Sandra tritt durch die Tür und verschwindet sogleich wieder hinter einer Regalreihe.

Sanft schlingt Lissi ihre Arme um meinen Hals.

„Nun ist es wohl doch offiziell.“ Sie küsst mich auf den Mund und verschwindet dann zur Tür hinaus. Als die Tür hinter ihr ins Schloss klackt, falle ich auf die Knie, die mein Gewicht nicht mehr tragen können.

Das Shirt immer noch bis über die Brust gezogen, hocke ich auf den Boden und starre ins Leere. Sandra taucht hinter einem Bücherregal wieder auf und geht langsam auf mich zu. Als sie vor mir steht, schaue ich zu ihr auf und ich sehe ihr an, dass sie immer noch nicht ihre Fassung wieder gefunden hat. Sie kniet sich zu mir nieder und streift mein Shirt über die Brust. Dann betrachtet sie meinen Bauch und schüttelt den Kopf.

Vorsichtig packt sie mich unter den Armen und hilft mir auf. Meine Beine sind wackelig und in meinem Kopf rasen die Gedanken.

Was ist noch alles passiert, von dem ich nichts mitbekommen habe?

„Geh du vor, dreh dich nicht um. Melde dich im Sekretariat krank und wir treffen uns an der Müllerstraße.“

Sie lässt mich los, ich richte mein Shirt und gehe mit zitternden Beinen zur Tür hinaus. Ich kann mich nicht erinnern, wie ich den Weg ins Sekretariat zurück gelegt habe, geschweige denn, wie ich in die Müllerstraße gekommen bin.

Irgendwann ist Sandra zu mir gestoßen und hat mich am Arm gepackt und hinter sich her geschleift.

Nach einer halben Ewigkeit sind wir in Sandras Wohngebiet. Die Stelle, wo mich Lissi gebissen hat, brennt.

Es ist kurz nach 10, als Sandra die braune Haustüre aufschließt und mich durch die Tür schiebt. In der Küche hört man das Klappern von Geschirr. Ich ziehe gerade meine Schuhe aus, als Ediths Kopf durch die Küchentür schaut.

„Huch, Sandra. Schon so früh aus?“, fragt sie misstrauisch.

„Es gab einen kleinen Zwischenfall.“

„Guten Tag, Frau Klinger“

„Hallo Claudia, was ist denn passiert?“

Sandras Mutter wischt sich die Hände an einem rot karierten Geschirrtuch ab und kommt auf uns zu.

„Stell jetzt bitte keine Fragen Mama.“ Edith sieht uns schweigend an und Sandra und ich verschwinden auf ihr Zimmer. Auf dem Weg zu ihr haben wir nicht geredet und so fange ich an, Sandra das zu berichten was sie hören will.

„Ich habe gesehen wie du in die Bibliothek gegangen bist. Keine Minute später stand Lissi vor der Tür. Bestimmt 5 Minuten lang.“

Erstaunt blicke ich in ihr blasses Gesicht.

„Du meinst, dass sie mich verfolgt hat?“

„Für einen Zufall halte ich es sicherlich nicht.“

„Und was sollen wir jetzt tun? Ich mache nicht noch einmal etwas wie das da mit!“ und deute auf meinen Bauch, der jetzt noch mehr brennt als zuvor.

„Claudia“, zärtlich nimmt mich Sandra in den Arm, „ich will ja auch nicht, dass sie dir weh tut. Aber ich fürchte, sie ist langsam am durchdrehen.“

Ich hebe den Kopf und sehe sie an.

„Und weiter?“

„Wenn du dich jetzt von ihr trennst, wirst du keine ruhige Minute mehr haben.“

„Und was ist, wenn ich ihr einfach sage, dass ich fest gestellt habe, dass ich doch auf Männer stehe?“

„Sie ist klug genug um zu wissen, dass du lügst. Du bist nämlich eine verdammt schlechte Lügnerin.“

Ich kuschele mich tiefer in ihre Arme und sie fängt an zärtlich meinen Kopf zu streicheln. Ihr Duft steigt mir in die Nase und benebelt meine Sinne völlig.

„Du brauchst einen richtig guten Grund, um dich von ihr zu trennen.“

„Du meinst eine manipulierte Wahl reicht nicht?“

„Wahrscheinlich steckt noch viel mehr hinter der Sache, als nur eine manipulierte Wahl.“

„Ich frage mich nur, wie sie es geschafft hat, meine Stimmen zu reduzieren. Die Stimmen werden normalerweise immer von 2 verschiedenen Leuten gezählt und es ist immer jemand dabei, der die Aufsicht übernimmt.“

„Und wer zählt?“

„Lissi und Dieter, und Jürgen hat meist die Aufsicht.“

„Sind die beiden zuverlässig?“

„Normalerweise schon.“

„Mh“, Sandra bewegt nachdenklich den Kopf hin und her.

„Also steckt bei der Wahl Mandy auch noch mit drin. Denn alleine kann sie so was niemals durchgezogen haben.“

„Wahrscheinlich.“

Sandra drückt mich nach hinten auf die Couch und streicht mit viel Feingefühl mein Shirt nach oben. Augenblicklich fängt der Biss wieder an zu brennen. Lissis Zahnabdrücke sind eindeutig zu sehen und auch ihre Kratzer zeichnen sich immer noch auf meiner leicht gebräunten Haut ab.

Zärtlich fährt sie mit ihren Fingerspitzen die roten Striemen nach und gibt mir schließlich einen Kuss auf die Stelle dicht neben dem Biss.

„Ich lasse nicht noch einmal zu, dass sie deinen Körper so misshandelt“ flüstert Sandra kaum hörbar mehr zu sich selbst als zu mir.

Mir wird warm, heiß. Ich greife nach der Hand, die immer noch auf meinem Bauch liegt und gebe ihr einen Kuss auf die Handinnenfläche.

„Danke“

Sanft ziehe ich Sandra wieder zu mir heran und fange an, mit den Knöpfen ihrer dunklen Bluse zu spielen. Ich fahre die Nähte nach und öffne schließlich einen Knopf nach dem anderen. Mit den Handflächen streife ich ihr den Stoff von den Schultern. Unter der Bluse verbirgt sich eine sahnige, zarte Haut. Ich richte mich auf und drücke sie sanft in die roten Kissen ihres Bettzeugs. Ihre Brüste stecken in einem dunkelgrünen Stück Stoff, der wunderbar mit ihren tiefen Augen harmoniert. Ich lege meine Lippen an ihren schmalen Hals und gleite an ihrer Pulsader vorbei, die sich in regelmäßigen immer kleiner werdenden Abständen auf und ab bewegt. Mit der Hand fahre ich über ihren flachen Bauch und spiele mit der kleinen Schleife, die sich in der Mitte ihres BHs befindet. Meine Lippen wandern tiefer und hauchen über das leicht hervorstehende Schlüsselbein. Sandras Atemzüge sind flach, dennoch ruhig. Zögerlich vergrabe ich mein Gesicht in dem Spalt zwischen ihren wohl geformten Brüsten. Sandra seufzt. Schüchtern blicke ich zu ihr auf. Sie hat die Augen geschlossen und ihr Mund ist leicht geöffnet. Zärtlich beginne ich jeden weichen Zentimeter ihres Dekolletés zu küssen. Ich spüre meinen eigenen Herzschlag so deutlich wie selten zuvor. Meine Hand wandert über den herrlich glatten Satinstoff und schließlich umfasse ich den Rand des BHs. Wieder schweift mein Blick nach oben zu Sandra. Als sie mein Zögern bemerkt öffnet sie die Augen sieht mich mit einem Blick an, der nichts sagt, außer: mach weiter. Zögerlich nicke ich und Sandra schließt wieder die Augen. Vorsichtig ziehe ich den BH beiseite. Mein Herz schlägt hart gegen meine Brust und das Blut scheint nur noch in meinen Kopf zu schießen. Mir wird immer heißer und ich traue mich nicht, zu ihr hinab zu schauen. Der Schweiß bricht mir aus und meine Finger beginnen zu zittern.

„Wenn es dir peinlich ist hin zu schauen, dann schließ einfach die Augen“, wispern ihre schmalen Lippen mir zu.

Ich schließe die Augen und meine Hand fährt den dünnen Stoffstreifen entlang, halb über ihren Rücken bis zu einem kleinen Plastikteil. Mit einer einfachen Fingerbewegung schnippt das Teil auseinander. Meine Finger gleiten wieder nach vorne – unter den Stoff. Langsam und vorsichtig taste ich umher, ganz gleich so, als hätte ich Angst, etwas sehr zerbrechliches kaputt zu machen. Meine Fingerkuppen streichen über eine Rundung und gelangen schließlich an einen kleinen Knubbel. Ich stocke und kneife meine Augen fester zusammen. Sanft fahre ich über den Knubbel und spüre, wie er größer und härter wird. Ich lasse von ihm ab und schiebe den Stoff ganz nach oben. Wieder gleiten meine Lippen über die weiche Haut, auf der sich nun eine Gänsehaut gebildet hat, bis sie die kleine Erhebung gefunden haben. Vorsichtig nehme ich sie zwischen die Lippen und lecke mit der Zunge darüber. Plötzlich legt Sandra mir eine Hand auf den Kopf und drückt diesen leicht herunter. Sanft beiße ich mit den Zähnen hinein. Sie seufzt leise. Unruhig räkelt sie sich unter mir. Angeheizt von dem Geschehen, lasse ich meine freie Hand über ihren Bauch gleiten, bis sie auf ihren Hosenbund stößt.

Es ist richtig, schießt es mir durch den Kopf und ich öffne ungeschickt den metallenen Knopf ihrer Jeanshose. Immer noch mit zitternden Händen öffne ich den kleinen kupferfarbenen Reißverschluss. Zögerlich mache ich die Augen auf und erkenne, dass sie auch hier smaragdgrüne Unterwäsche trägt. Mit zwei Fingern fahre ich abermals über den glatten Stoff und schiebe meine komplette Hand in enge Jeanshose. Erstmals wage ich es, auf ihren Oberkörper zu blicken. Ihr BH liegt oberhalb der Stelle, an die er hin gehört und ihre rosigen Brustwarzen sind aufgerichtet. Mein Kopf glüht, als ich Sandra so mit geschlossenen Augen unter mir liegen sehe. Wie ein Kleinkind bette ich meinen Kopf auf ihren nackten Brüsten. Mein Kopf senkt und hebt sich im Rhythmus ihres Atems.

Ein Klopfen lässt mich hoch schrecken. Schlagartig ziehe ich die Hand aus ihrer Hose und starre zur Tür.

„Essen!“, ruft Edith von draußen. Sandra sitzt mit hoch rotem Kopf aufrecht da und atmet geräuschvoll ein und aus. Ihr BH endet kurz über ihren Brustwarzen, von denen ich meinen Blick nicht weg bewegen kann. Sandra grinst mich verlegen an, als sie die Richtung meiner Augen bemerkt und richtet ihre Unterwäsche wieder so hin, dass sie an dem Platz ist, wo sie hin gehört.

„Du kannst den Mund wieder zu machen – vorerst.“

Sie knöpft geschickt ihre Bluse zu und schlendert an mir vorbei in Richtung Tür. Wie in Trance trotte ich hinter ihr her.

Immer wieder spüre ich die Blicke von Sandras Mutter auf meinem Gesicht ruhen und ich weiß gar nicht so recht, wohin ich meinen Blick richten soll. Wir sitzen in der kleinen Küche an dem Esstisch an dem gerade mal drei Leute gut Platz haben und essen einen guten Hackbraten. Sandra konzentriert sich voll und ganz auf ihre Kartoffeln und ich versuche großes Interesse für das Bild eines Kükens aufzubringen, das an der Wand, die mir gegenüber liegt hängt.

Plötzlich steht Sandra auf und verschwindet zur Tür hinaus.

Ediths Blicke werden immer stechender und ich wende mich ihr direkt zu.

„Wie geht es denn deiner Mutter, Claudia?“

Ich schlucke saftiges Stück Fleisch hinunter.

„Ihr geht’s wie immer gut. Ist natürlich immer schwer beschäftigt mit dem Haushalt.“

„Also in Köln ist das ziemlich unüblich, dass ein Elternteil Vollzeit zu Hause bleibt. Aber hier scheint ja alles etwas anders zu laufen.“

Erneut steche ich die Gabel in eine Kartoffel.

„Gladbach ist eben noch ziemlich zurück.“

„Claudia“, Edith legt ihre Hand auf meine linke Hand, die ich auf der Tischkante platziert habe, „ich bin dir wirklich dankbar, dass du dich so gut um Sandra kümmerst, aber bist du dir sicher, dass du dem Druck stand halten kannst?“

Ein Stück Kartoffel bleibt in meinem Hals stecken und ich bekomme einen starken Hustenanfall, der mir die Tränen in die Augen treibt.

„Bitte?“, huste ich hervor.

„Seit ihr zusammen seid, geht es Sandra viel besser. Das kann ich nicht bestreiten, aber ich denke du bist mit der Situation überfordert.“

Ich verstehe immer noch nicht und schüttele verwirrt mit dem Kopf, sodass mir meine Haare ins Gesicht fallen.

„Warum sollte mich eine Freundschaft überfordern?“

Edith lässt meine Hand los und lehnt sich auf dem schwarzen Küchenstuhl zurück.

„Eine Freundschaft wäre sicherlich kein Problem gewesen, aber eine Beziehung mit Sandra wie ihr sie habt ist schwierig.“

Mir wird speiübel und meine Augen scheinen aus ihren Höhlen treten zu wollen. Was weiß diese Frau? Das Essen liegt in meinem Magen wie Blei und ich kämpfe gegen das starke Bedürfnis an, alles wieder hervor zu würgen.

„Claudia, du musst wissen, Sandra hat mir nichts über euch beide gesagt, aber du glaubst doch nicht wirklich, dass eine Mutter nicht weiß, was da vorgeht.“

Die Gabel fällt mit einem lauten Klimpern auf den Teller.

„Du hast es deiner Mutter noch nicht gesagt, nicht wahr?“

Wie eine ferngesteuerte Marionette schüttele ich den Kopf.

„Keine Sorge, ich werde es deiner Mutter nicht sagen, aber sie ist nicht auf den Kopf gefallen und du solltest sobald wie möglich mit ihr darüber reden. Denn ich kann mir vorstellen, dass es für sie nichts Schlimmeres gäbe als es von Dritten zu erfahren.“

Edith zwinkert mit verheißungsvoll zu. Mit zitternden Händen greife ich nach der Gabel und fahre mit den Fingern über den glatten Griff.

„Was meinen Sie mit 'überfordert'?“

Edith zieht ihre schmalen Augenbrauen nach oben und taxiert mich mit ihren stahlgrauen Augen.

„Wie viel weißt du denn über Sandra?“

Diese Frage trifft mich wie ein Schlag ins Gesicht. Nichts, schießt es mir durch den Kopf.

„Mama, das ist jetzt nicht der richtige Augenblick über so etwas zu reden. Komm mit Claudia, du wirst eh nichts mehr essen können.“

Sandra lehnt in der Tür und wirft ihrer Mutter einen eiskalten Blick zu, der mir das Blut in den Adern gefrieren lässt. Ich bedanke mich kurz bei Edith für das Essen und tue dann so wie mir befohlen.

„Immer muss sie sich in meine Angelegenheiten einmischen!“

Mit diesen Worten knallt Sandra die Tür hinter sich zu. Sandra ist rasend vor Wut, aber ich finde nicht die richtigen Worte um sie zu beruhigen, denn meine Gedanken kreisen immer noch um das Gesagte.

„Sei froh, dass du mit deiner Mutter so offen mit dem Thema umgehen kannst.“

Seufzend lasse ich mich auf dem schwarzen Lederstuhl nieder und beobachte Sandra, die immer wieder im Zimmer auf und ab geht.

„Ach, was weißt du schon!“, blafft Sandra mich an.

„Ich weiß genau so viel, wie du mir erzählt hast!“

Missmutig verschränke ich die Arme vor der Brust und schaue Sandra zornig an.

„Dann frag doch meine Mutter, wenn du was wissen willst!“

„Das sollte ich vielleicht tun, die würde mir sicherlich mehr erzählen als du!“

Ungehalten springe ich von dem Stuhl auf, der unter der plötzlichen Bewegung ein quietschendes Geräusch von sich gibt. Ich stapfe zur Tür und reiße diese auf.

„Bis dann“, motze ich Sandra an und gehe ohne ein weiteres Wort zur Tür hinaus. In der Küche ist wieder ein Klappern von Geschirr zu hören. Edith spült gerade ab. Geladen verschwinde ich zur Haustür hinaus. Der Biss brennt wie die Hölle, doch ich jogge den kompletten Weg nach Hause, bis ich endlich Schweiß überströmt dort ankomme.

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