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Stolz und Fall

Teil 3

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8. November, Donnerstag

Seit gestern Abend hat sich meine Laune keinen Deut gebessert und nun sitze ich Zähne knirschend vor einem Stapel Hausaufgaben, die sich aus irgendeinem unerfindlichen Grund nicht wie von selbst machen lassen. Sandra hat heute in der Schule kein einziges Wort mit mir geredet. Selbst als ich ihr vorsichtige Blicke zugeworfen habe, hat sie mich konsequent ignoriert.

Ich wuschele mit meinen Fingern durch meine schwarzen Haare und versuche mich wieder auf biochemische Vorgänge zu konzentrieren. Doch ich komme wieder nicht weit.

Lissi hing heute die ganze Pause über an mir dran und jeden meiner Versuche, sie zu fragen wie sie es geschafft hat, die Wahl zu manipulieren, hat sie gekonnt abgeblockt, indem sie angefangen hat, mich vor geschätzten 100 Leuten zu befummeln.

Entnervt klatsche ich mein Buch zu und starte meinen Rechner. Jetzt ist nicht an Hausaufgaben zu denken – und der Bissabdruck hat ein wunderschönes leuchtendes dunkles violett angenommen.

9. November, Freitag

Der Streit mit Sandra verfolgt mich mittlerweile bis in meine Träume, die mich heute Morgen noch vor dem Wecker schweißgebadet aus dem Schlaf haben hochschrecken lassen.

Auch heute hielt es Sandra nicht für nötig, mich auch nur ansatzweise zu registrieren. Stattdessen hat sie sich damit begnügt, mit Tobias herum zu albern, als Mandy gerade nicht in der Nähe war. Was will sie damit bezwecken? Mich etwa eifersüchtig machen? Ernsthaft? Wenn ja, dann hat sie es geschafft.

Meine stetig steigende Wut auf Sandra hat mich heute dazu veranlasst, mich ganz ohne Murren mit Lissi zu verabreden. Wenn Sandra mit Tobias schäkern darf, dann darf ich das mit meiner offiziellen Freundin doch gleich dreimal! Um Punkt drei steht Lissi freudestrahlend vor meiner Haustür. Als ich ihr munteres und fröhliches Gesicht sehe verfliegt mein Ärger ein wenig und ich zwinge mich dazu, Lissi so zu sehen, wie ich sie einst kennen gelernt habe, um die Sache etwas angenehmer zu gestalten.

Wir sitzen in meinem Zimmer und ich zeige ihr meine äußerst legal aus dem Internet herunter geladene Musiksammlung. Bei den meisten Gruppen, die ich ihr vorspiele rümpft sie die Nase und fragt, ob ich nicht etwas Normales da hätte. Schließlich einigen wir uns auf 'Die Ärzte'. Von denen hat sie zumindest schon einmal etwas gehört.

Wie auch schon Sandra, fährt Lissi mit den Fingern über das Glas des Bilderrahmens, in dem das Foto von Mel und mir ist.

„Wer ist das?“, fragt sie außergewöhnlich ruhig.

„Melanie. Ist meine beste Freundin seit Kindertagen.“

„Sieht lustig aus. Hat sie einen Freund?“

Ich muss lachen, wenn ich an Mels Beziehungen denke. Auch wenn Mel auf viele Leute eher zurückhaltend wirkt, kommt sie ganz schön rum, wenn der Abend lang ist. Sie hält es nie lange mit einem Kerl aus, da es ihr nach eigenen Aussagen immer recht schnell langweilig wird und wohl noch nie der Richtige dabei war.

„Nein, derzeit nichts festes, soweit ich weiß. Ich hab sie aber auch seit zwei Tagen nicht mehr gesehen.“

Misstrauisch hebt Lissi eine ihrer blonden Augenbrauen und mustert mich mit ihren hellen Augen.

„Auf was hast denn Lust? Wollen wir ein bisschen Videospiele zocken oder draußen spazieren gehen? Heute ist es ja recht warm.“

Vorsichtig stellt Lissi das Foto wieder an seinen rechtmäßigen Platz im Regal und sieht verträumt aus dem Fenster.

„Nein, auf Videospiele und spazieren gehen habe ich gerade keine Lust.“

Unbeholfen ziehe ich die Schultern nach oben und sehe sie an.

„Was möchtest du denn dann machen?“

Ohne über die möglichen Konsequenzen nachzudenken sprudeln diese Worte aus meinem Mund. Ich stocke.

Lissi dreht sich leichtfüßig zu mir herum und sieht mich mit ihren großen runden Augen an. Ihre feuchten Lippen sind leicht geöffnet und ich ahne schreckliches.

„Ich will -“ Ich muss schlucken und meine Beine fangen an zu zittern. Wie kann ich mich hier zu Hause gegen sie wehren, ohne dass meine Mutter etwas davon mitbekommt? Muss ich es dann wohl oder übel über mich ergehen lassen? Und was ist mit Sandra? Sandra ist ein Stichwort. Augenblicklich sinkt meine Laune wieder und ich stelle mir ihr Gesicht vor, das sie machen würde, wenn sie raus bekommen würde, dass ich mit Lissi in der Kiste war.

„- kuscheln“.

„Hä?“, völlig verwirrt schüttele ich den Kopf und frage mich zugleich, ob ich mich verhört habe.

„Ich will mit dir kuscheln. Was ist denn daran nicht zu verstehen?“

Verdutzt sehe ich Lissi an und hocke mich auf meine weiße Ledercouch und gebe ihr mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie sich neben mich setzen soll.

Sie bettet ihren Kopf auf meine Brust, doch sie löst nicht die gleichen Gefühle in mir aus, wie es Sandra tun würde. Ich lege meinen Kopf zurück und starre an die Decke. Sandra. Sie geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Unser erster Streit. Erbärmlich Claudia. Richtig, richtig erbärmlich. Doch genau genommen sind wir kein Paar. Uns bindet nur ein Versprechen aneinander, das heute vielleicht nicht mehr wert wäre als der Rauch einer Zigarette. Die Erinnerung an einen Traum, den ich kurz vor dem ersten Schultag hatte, kehrt langsam wieder zurück. Ich hatte mich nach jemandem gesehnt, der dieses tiefe Verlangen nach Nähe in mir stillen kann. Glaubte ich wirklich daran, dass Sandra diese Person sein sollte? Die Faszination die von ihr ausgegangen ist. Von dieser Person, die ich bis heute kaum mehr kenne, als bei unserer ersten Begegnung. Was hält mich eigentlich so fest bei ihr? Ich kann nicht sagen, was es ist, aber ohne sie wäre es auch unvorstellbar.

Lissi presst sich stärker an mich und streicht über meinen Bauch. Das Surren des Reisverschlusses. Vorsichtig legt sie ihre Lippen an meinen Hals. Ich nehme es nur entfernt war. Das Hier und Jetzt entgleitet mir zusehends.

Das Einzige, woran ich denken kann, ist Sandra, wie ich sie auf dem Spielplatz getroffen habe, wie sie mich jedes Mal aus der Fassung gebracht hat und wie sie sich in der Nacht des Unwetters an meinen kalten Körper geklammert. Eine Träne rollt über meine Wange.

Ein Klopfen reißt mich aus den Gedanken. Ohne zu wissen wo ich bin, zucke ich zusammen und schaue mich verwirrt in meinem Zimmer um. Die Tür wird aufgerissen und herein kommt Sandra – meine Sandra. Ich keuche. Feste Fingernägel krallen sich in meinen Bauch und schockiert Blicke ich in Lissis Gesicht.

Sandra bleibt wie angewurzelt im Türrahmen stehen. Ihre grünen Augen aufgerissen und starr auf mich gerichtet. Ich versuche etwas zu sagen, doch ich kann nicht. Stille herrscht. Erdrückende Stille.

Mit den Augen verfolge ich Sandras Blick. Sie sieht mir nicht ins Gesicht, sondern sie schaut auf meinen Körper, auf dem Lissi liegt.

„Sa -“, mehr bringe ich nicht heraus. Sandras Mund schließt sich wieder und ihre Augen werden kalt und hart. Eine Gänsehaut jagt über meinen Körper.

„Hast du genug gegafft?“ schallt es aus Lissis Mund und sie schlingt ihre Hände besitzergreifend um meinen Hals. Mein Kopf schnellt immer wieder zwischen Lissi und Sandra hin und her, die viel sagende Blicke hin und her schmettern.

„Entschuldigt die Störung. Ich wollte nur mein Buch zurück holen, das ich Claudia geliehen habe. Aber ich denke, sie wird es mir am Montag wieder mitbringen. Viel Spaß euch beiden noch.“

Sandra ist schon im Inbegriff zu gehen, als sie mit erhobener Stimme noch hinterher schmettert:

„Und treibt es nicht zu laut, sonst bekommt deine Mutter womöglich noch mit das du besondere Freude an deinen Freundinnen hast.“

Sanft schließt sie die Tür hinter sich. Draußen im Flur kann ich die Holztreppen knarren hören und dann das Schließen der Haustüre. Sandra ist weg. Weg.

Deutlich kann ich spüren, wie die Farbe aus meinem Gesicht entweicht und somit jegliche Empfindung. Ich lass mich nach hinten fallen und starre wieder an die Decke. Es ist mir egal was Lissi denkt oder tut. Jetzt ist es zu spät.

„Es muss hart für dich sein, dass sie uns so gesehen hat.“

Ich gebe keine Antwort. Langsam löst sie ihre Umarmung und gleitet von der Couch. Doch es interessiert mich nicht.

„Es ist schwer von jemandem los zu kommen, in den man so verliebt war. Aber bleib doch nicht in der Vergangenheit hängen Claudia. Ich werde jetzt verschwinden. Ich will deine Tränen nicht sehen. Wenn du dich wieder beruhigt hast, kannst du mich gerne anrufen. Vorher nicht.“

Lissi haucht mir einen Kuss auf die Wange und verschwindet ebenfalls aus meinem Zimmer. Wieder das Knarren der Holztreppe. Und wieder das Klacken der großen, weißen Glashaustüre.

Ich bin alleine. Vollkommen allein. Ein unangenehmes Stechen macht sich in meiner Brust breit, doch ich ignoriere es und hoffe, dass ich an dem Gefühl zu Grunde gehe. Der Putz von meiner Decke scheint immer weiter auf mich zu zu kommen. Wie die Ereignisse, die mich wie ein Zug überfahren und in tausend Stücke gerissen haben. Mehrmals versuche ich aufzustehen, doch meine Kraft hat mich vollkommen verlassen und nach dem dritten Versuch verdränge ich mit Leichtigkeit das Bedürfnis, mich zu bewegen. Stille Tränen laufen unentwegt über meine Wangen, den Hals entlang und tropfen schließlich mit einem leisen Geräusch auf das Leder.

10. November, Samstag

Mit schmerzenden Gliedern erwache ich am Morgen. Meine Augen sind verklebt und die Welt draußen vor meinem Fenster liegt unter einem grauen Schleier. Langsam stehe ich von dem Sofa auf und betrachte mich im Spiegel. Meine schwarzen Haare kleben an meinem Nacken fest und meine sonst so ausdrucksvollen Augen sind unter den roten und dicken Lidern kaum noch zu erkennen. Die Erinnerung an gestern trifft mich wie ein Schlag ins Gesicht.

Ich öffne den Reißverschluss meiner dunkelblauen Strickjacke und fahre mit den Fingern über die Stelle, an der Lissi ihre Spur hinterlassen hat. Angeekelt von allen Sachen reiße ich sie mir vom Leib und betrachte mich abermals im Spiegel. Die leichten blutigen Kratzer von Lissi sind mittlerweile verkrustet und der Biss unmittelbar neben meinem Bauchnabel beginnt an den Seiten gelb zu werden. Splitternackt und mit hängenden Schultern mache ich mich auf den Weg in unser grünes Bad. Im Haus ist es noch still. Wie spät es wohl sein mag? Die Uhr im Bad verrät mir, dass es kurz nach sechs ist. Meine Eltern schlafen also noch. Ich drehe den Wasserhahn auf und stelle die Temperatur auf die niedrigste Stufe. Ich zucke zusammen, als das kalte Wasser meinen Rücken herunter rinnt. Zitternd beiße ich die Zähne zusammen und lasse das Wasser immer weiter laufen. Schmerzen breiten sich in meinen Gliedmaßen aus. Ich lebe.

Mit nassen Haaren, dunkel gefärbten Lippen und einem einfachen, viel zu kurzen Handtuch um die Brust gewickelt gehe ich zurück in mein Zimmer und sperre die Tür hinter mir zu.

12. November, Montag

Zitternd liege ich unter meiner Bettdecke und kalter Schweiß läuft über meine Stirn. Meine Mutter sitzt auf meiner Bettkante und schaut sorgenvoll auf das Fieberthermometer, das sie mir soeben aus dem Ohr gezogen hat.

„40,1“, sagt sie und legt das Thermometer auf meinen Nachtschrank, der neben meinem Bett steht.

„Schule fällt aus und ich koch dir jetzt was.“ Meine Mutter erhebt sich und macht sich in Richtung Tür.

„Ich habe keinen Hunger“, knurre ich in meine warme Bettdecke.

Schnaubend dreht sie sich zu mir herum.

„Du hast das komplette Wochenende nichts gegessen. Wenn du jetzt nichts isst, lass ich dich im Krankenhaus zwangsernähren.“ Sie knallt die Tür hinter sich zu.

Stimmt, ich konnte das ganze Wochenende keinen Bissen zu mir nehmen, da der Gedanke an Essen allein schon schreckliche Krämpfe in meinem Magen ausgelöst hat. Um nicht an Sandra zu denken habe ich mich in meinen Büchern vergraben und bis spät in die Nacht gelernt. Und das habe ich jetzt davon. Fieber und Schulausfall. Wenigstens muss ich so vorerst der Realität nicht ins Auge schauen. Ich tätschele mit meiner Hand nach Satan, der neben mir im Bett liegt und komische grunzende Laute von sich gibt.

Ob sie sich wohl Sorgen machen wird, wenn ich heute nicht in der Schule bin? Wohl kaum. Die Frage warum sie plötzlich in meinem Zimmer stand, lässt mich seit 2 Tage nicht mehr los.

Wollte sie sich wieder mit mir vertragen? Mit mir Schluss machen? Schluss machen wohl weniger, jedenfalls zu diesem Zeitpunkt. Jetzt ist die Sache für sie wohl gegessen, weil mir keine plausible Ausrede einfällt. 'Unachtsamkeit', so etwas wird sie mir nie und nimmer glauben. Vor allem nicht nach der Sache vom 1. November. Mit dem Handrücken wische ich mir den Schweiß von der Stirn und drehe mich herum, um noch etwas weiter zu schlafen, in der Hoffnung, all die Gedanken aus meinem dröhnenden Schädel zu bekommen. Doch als ich endlich zum Schlafen komme, hämmert sich das Geschehene noch tiefer in meinen Kopf hinein.

15. November, Donnerstag

Weder Sandra noch Lissi haben sich bei mir gemeldet, obwohl es bei ersterer keine große Überraschung ist.

Nachdem ich drei Tage mit Fieber im Bett verbracht habe, mache ich mich heute endlich wieder auf den Weg in die Schule. Das Wetter ist genau so grauenvoll wie mein Gemütszustand. Nächste Woche schreiben wir drei wichtige Klausuren und ich habe mir vorgenommen, mein Liebesleben für die nächsten zwei Wochen komplett unter den Tisch fallen zu lassen.

Durchgefroren bis auf die Knochen sitze ich im Geschichtsunterricht und mache mir auf meinem Block Notizen. Tobias wirkt geistesabwesend und gestresst. Wahrscheinlich der erste Krach mit seiner vermeintlichen Traumfrau.

„Hey Claudi, geht’s dir schon wieder besser?“ Mathias lehnt sich zu mir vor und sieht mich durch seine dicken Gläser sorgenvoll an.

„War schon mal besser. Könnt ich mir deine Physiknotizen ausleihen?“

Zu meiner eigenen Verwunderung sitzt Sandra tatsächlich noch neben mir. Würde ja auch langsam auffallen, wenn wir uns ständig auseinander und wieder zusammen setzen.

Nach zwei Stunden Physik und brutalen Kopfschmerzen darf ich mich endlich auf den Heimweg machen. Und noch etwas an diesem Tag hat mich überrascht. Lissi war nirgendwo zu sehen.

Am Nachmittag bekomme ich Besuch von Mel, die sich sogleich auf mein Bett wirft und sich an der Keksdose bedient, die mir meine Mutter auf den Nachttisch gestellt hat.

„Man, krank müsste man sein.“ Sie beäugt einen Schokoladenkeks und stopft ihn sich gierig in den Mund.

„Glaub mir, du willst nicht mit mir tauschen.“

„Das stimmt allerdings. Gibt es eigentlich etwas Neues an der Herzfront?“

Ich winke ab und nippe an meinem Tee.

„Frau Manner, Sie haben doch wohl nicht schon wieder irgendeinen dämlichen Mist gemacht?“

Unbeholfen zucke ich mit den Schultern und tue so, als würde ich in meiner Schreibtischschublade nach etwas bestimmten suchen.

„Irgendwann erschieß ich dich noch mal!“

„Wäre wahrscheinlich besser so.“

Ich wühle etwas zwischen den Blättern herum und eine kleine Metalldose von Hustenbonbons fällt mir in die Hände.

Ich betrachte die Dose und muss feststellen, dass sie schon mindestens 2 Jahre alt ist, denn die Firma hatte ihr Logo bereits geändert.

Neugierig öffne ich die Dose und etwas, das aussieht wie eine selbstgedrehte Zigarette kommt mir entgegen.

Mel schaut mich fragend an.

„Wusste gar nicht, dass du noch was daheim hast.“

„Ich auch nicht, muss schon älter sein. Meinst du das kann man noch rauchen?“

Sie springt auf und reißt mir den Joint aus der Hand.

„Nicht in deinem Zustand.“ Sie stopft ihn zurück in die Dose und wirft diese zurück in die Schublade.

„Fehlt jetzt noch, dass du in deinem Gesamtzustand noch anfängst zu kiffen.“

Desinteressiert zucke ich mit den Schultern, drehe mich auf meinem Stuhl hin und her.

„Und jetzt erzähl endlich oder ich erzähl deiner Mutter, dass du kurz davor bist in den Drogensumpf abzustürzen und dich heimlich prostituierst.“

Sie grinst schelmisch.

„... und so bin ich jetzt zu dem Entschluss gekommen, das in den nächsten 2 Wochen ruhen zu lassen.“

Mel zieht langsam ihre rechte Augenbraue noch oben. Ihre Lippen werden mit einem unwahrscheinlichen Druck aufeinander gepresst. Sie ist sauer. Richtig, richtig sauer.

„Dir ist echt nicht mehr zu helfen! Ihr seid doch alle total bekloppt!“

„Möglich“, ich nippe an meinem Kamillentee.

„Ich seh jetzt schon, irgendwann kann ich dich noch für den Darwin-Award anmelden!“

„Dann müsst ich mich vorher aber noch richtig bekloppt umbringen.“

„Das schaffst du hundert pro auch noch.“

„Möglich und was sagst du zu den 2 Wochen Pause? Ich muss nämlich langsam anfangen zu lernen, sonst wird das mit dem Abi nächstes Jahr nix mehr.“

„Stimmt, wäre echt besser, wenn du dich mal auf andere Sachen konzentrierst, dann kannst du nämlich auch keinen Schaden mehr anrichten.“

31. November, Freitag

Ich habe es tatsächlich geschafft, ohne jeglichen Kontakt zwei Wochen lang durchzuhalten! Niemals hätte ich gedacht, dass mir die Prüfungszeit so gut tun würde. Sandra ist distanziert freundlich und Lissi wirft mir hin und wieder verstohlene Blicke zu, sagt aber nichts. Sie hatte ja selbst gesagt, ich soll mich wieder melden, wenn ich mit mir selber ins Reine gekommen bin und das ist eben noch nicht der Fall.

Ab morgen beginnt also offiziell die Weihnachtszeit und die Menschen beginnen hektisch, überall nach überflüssigen Geschenken zu suchen, die am 27.12. des Öfteren den Weg in den Laden wieder zurück finden.

Sandra hatte mir bis Weihnachten ja auch ein Ultimatum gesetzt. Nun, das werde ich jetzt wohl kaum einhalten können, denke ich bitter.

1. Dezember, Samstag

„Hi Mel, was machst du denn hier? Waren wir verabredet?“.

Mel hatte sich auch wieder beruhigt und ist wieder zur normalen Tagesordnung übergegangen.

„Nö, das nicht.“ Sie watschelt mit ihren grün-orange-lila gestreiften Socken in mein Zimmer. Es ist ein Uhr nachmittags und ich hocke in meinem Muppet-Schlafanzug auf meinem Bett und schaue sie durch meine schwarzen Fusseln an.

„Ich brauche dich.“

„Für was?“

„Ich brauche eine Partybegleitung für heute Abend. Ich hab dir doch von dem süßen Halbschweizer erzählt, den ich vor einer Woche kennen gelernt habe und der hat mich zu sich auf eine Party eingeladen und gemeint, ich kann noch gerne eine Freundin mitbringen. Und damit meine Absichten nicht ganz so deutlich sind, würde ich dich gerne mitnehmen. Du hast doch eh nix vor.“

„Nö, das nicht. Ich komm schon mit. Wo ist denn das ganze?“

„Ca. 2 Kilometer Stadtauswärts. Können da locker mit dem Rad hinfahren und uns so richtig die Kante geben. Für Alkohol und Essen hat er wohl reichlich gesorgt.“

„Ok, bin dabei.“

„Wunderbar, dann tät ich sagen um neun bei mir daheim. Von dort aus ist es am kürzesten und zieh dir was Nettes an! Bis dann!“

Und schon ist sie wieder zur Tür hinaus verschwunden.

Eine Party also. War lange auf keiner Party mehr. Wird bestimmt ganz nett, wenn vielleicht noch ein paar Leute da sind, die ich auch kennen könnte.

Mit einer leichten Verspätung von zehn Minuten stehe ich dick eingepackt vor Mels Gartentor und klingele. Mels Eltern haben ein älteres Haus, das schon fast in einer vorortähnlichen Umgebung liegt.

Fünf Minuten später schwingen wir uns wieder auf die Räder und radeln eine schlecht beleuchtete Landstraße entlang. Der Wind pfeift durch meine Handschuhe und ich mache mir Sorgen darüber, wie wir den Weg in betrunkenem Zustand unbeschadet wieder zurück legen sollen.

Nach 15 Minuten Fahrt kommen wir durchgefroren bei der angegebenen Adresse an. Es ist ein sehr pompöses Haus mit großem Vorgarten. Von drinnen ist deutlich der Bass von der Musik zu hören und die Party scheint schon im vollen Gange zu sein.

An der Haustür begrüßt uns ein gut aussehender großer Typ mit stahlgrauen Augen und an Mels Blick kann ich erkennen, dass das ihr potenzielles neues Männchen ist. Hoffentlich muss ich heute nicht alleine nach Hause zurück fahren.

Die Feier findet wohl hauptsächlich im Wohnzimmer statt, wobei der Gastgeber eigentlich wissen müsste, dass ab einer gewissen Stunde die Teenies meist pärchenweise in andere Räume verschwinden werden.

Das Wohnzimmer ist wirklich edel eingerichtet; Buchenholzmöbel und alles Ton in Ton. Es muss ein komplettes Set gewesen sein, denn selbst die Wohnzimmercouch ist an der Rückwand der Lehne aus Buchenholz. Die Couch an sich ist mit einem dunklen Kunstleder überzogen und in der einen Ecke des Raumes flackert, für eine Party äußerst unüblich, ein Feuer im Kamin. Mel ist sogleich mit ihrem Schwarm verschwunden und ich husche mit meinem Blick über die Gesichter der anwesenden Gäste. Niemand, den ich kenne. Kurzerhand schnappe ich mir einen Plastikbecher und gieße mir Heidelbeerglühwein ein, um meine Finger wieder zu beleben. Ich lasse mich in einem Ledersessel nieder und beobachte das Treiben. Die Party wird immer voller und die Musik lauter. Nach dem dritten Becher Glühwein finde ich, dass meine Hände genug aufgewärmt sind und mache mich über den Likör her. Am Überlegen, ob ich jetzt Himbeer oder Kirsche nehmen soll, legt sich plötzlich eine Männerhand auf meine Schulter.

Och nö, bitte keine Anmache jetzt. Dabei hab ich mich doch extra so dezent wie möglich angezogen. Schwarze Hose und grauer Dreiviertelpullover.

Also setze ich eine möglichst kalte Miene auf und drehe mich langsam herum und lasse vor Schreck beinahe meinen Becher fallen.

„Manuel!“

„Hey Claudia, dich hätte ich hier echt nicht erwartet.“

Mit einem charmanten Lächeln, das seine weißen Zähne entblößt, nimmt mir der Karatekämpfer aus der Nachbarstadt den Becher aus der Hand und füllt ihn mit Himbeerlikör.

„Ebenfalls. Bist du mit dem Gastgeber befreundet?“

„Ist mein Cousin“, und er drückt mir den randvollen Becher wieder in die Hand und langt nun selber nach einem Plastikbehältnis.

Nachdem er sich reichlich Whisky eingeschenkt hat, verziehen wir uns in die Küche, welche gleich neben dem Wohnzimmer liegt.

„Scheinst dich ja wieder recht gut von dem Freundschaftswettkampf erholt zu haben.“ Er lacht auf und nippt an seinem Getränk.

„Nun ja, ich war das Schulhofgespräch wegen dem Veilchen. Aber es sind keine äußeren Schäden zurück geblieben.“

Seine blauen Augen funkeln mich an und wieder huscht ein kurzes Lächeln über seine schmalen Lippen.

„Und was meinst du, wird das was zwischen deinem Cousin und der Mel?“

„Mel? Er hat mir nichts von einer Mel erzählt, aber mein Cousin hat noch nie gerne mit mir über sein Liebesleben geredet.“

So wie sein Cousin und auch er aussehen, wären die sicherlich tagelang beschäftigt, wenn sie sich über ihr Liebesleben unterhalten würden. Ihnen liegen sicherlich die Mädchen zu Füßen, auch wenn immer publiziert wird, dass das Aussehen zweitrangig ist und doch nur die inneren Werte zählten.

Ich muss in mich hinein grinsen, als mir klar wird, dass ich auch nicht anders bin. Sandras Freund habe ich auch mehr nach dem Aussehen, als nach dem Inneren beurteilt.

„Was ist denn so lustig?“, seine große Hand stützt sich auf der steinernen Küchenplatte ab.

„Nichts“, und kippe meinen Himbeerlikör hastig hinunter. Ich will jetzt nicht an Sandra denken, sondern die Party genießen.

Meine Kehle brennt, so dass ich anfange zu husten.

„Alles in Ordnung?“ Manuel klopft mir ein paar mal kräftig auf den Rücken, das mich noch mehr zum Keuchen bringt.

„Geht schon wieder“, krächze ich und fülle meinen Becher am Wasserhahn auf.

„Na dann ist ja gut.“

Das Gespräch plätschert vor sich hin und wir reden hauptsächlich über die bevorstehende Weltmeisterschaft und wer unsere persönlichen Favoriten sind. Die Partygäste haben mittlerweile angefangen Teebeutel zu rauchen und in der Luft liegt der Geruch von verbrannten Kräutern.

Ziemlich schnell konnten wir uns einen Platz auf der Wohnzimmercouch sichern, da die meisten eben mit rauchen oder fragwürdigen Tanzbewegungen beschäftigt sind.

„Sag mal Claudia, wie geht es eigentlich deinem Freund?“

„Mh?“, ich verschlucke mich beinahe an meiner Piña Colada.

„Welcher Freund, ich hab keinen Freund. Wer hat dir denn diesen Blödsinn erzählt?“

Manuel stützt seinen Kopf auf die Oberfläche seiner linken Hand und legt den Kopf in Schieflage. Seine fantastischen blauen Augen fixieren mein Gesicht.

„Nun“, seine Lippen bewegen sich langsam, „ich dachte, dass eine Frau wie du doch sicherlich einen Freund hat.“

„Nein, nicht wirklich“, und nehme einen großen Schluck von dem sahnigen Getränk.

Nach einer Stunde und einem weiteren Becher Hochprozentigen habe ich den Kopf auf die Lehne der Couch gelegt und starre die mit Holz verkleidete Decke an. Die eigentlich geraden Holzbahnen nehmen wellenartige Formen an.

Plötzlich taucht der Gastgeber wieder auf. Im Schlepptau Mel, die leicht zerzaust aussieht.

„HEY! Gratuliere!“ brülle ich durch den Raum und einige andere alkoholisierte Teenies fangen an zu johlen, obwohl sie nicht verstehen, um was es geht. Mels Wangen verfärben sich rot und ich weiß, dass sie sich gerade für ihre betrunkene Freundin schämt. Auch Manuel hat in der letzten Stunde dem Alkohol zugesprochen und begrüßt herzlich seinen Cousin. Die beiden würden ein wirklich hübsches Schwulenpärchen abgeben – und das sage ich ihnen auch. Mel sieht aus, als würde sie mich am liebsten schreiend aus dem Haus jagen. Ich stehe vom Sofa auf um auf das frisch verliebte Pärchen zuzugehen. Plötzlich packen mich zwei starke Hände von hinten an der Hüfte und hieven mich hoch. Kreischend und unkoordiniert mit den Füßen strampelnd hänge ich in der Luft.

„Koooomm Claudi, wir gehen jetzt ne Runde spazieren!“ und schon schleppt mich Manuel ohne Jacke nach draußen und lässt mich auch nachdem wir die Haustür passiert haben nicht runter. Ich schreie immer noch wild, dass er mich gefälligst los lassen solle, doch er lässt mich erst auf einer kleinen abgelegenen Parkbank runter. Unsanft lande ich mit dem Hintern auf der kalten Holzbank. Schuhe habe ich auch nicht an.

Ächzend und leicht verschwitzt lässt sich Manuel neben mir nieder und hält mir ein Päckchen Kippen hin. Unbeholfen ziehe ich einen Glimmstängel aus der noch vollen Packung und schaffe es mit Mühe und Not diese auch anzuzünden. Von der eisigen Kälte, die draußen herrscht, bekomme ich nur wenig mit, da der Alkohol meine Glieder schon weitgehend unempfindlich gemacht hat.

„Sooo, genug frische Luft!“ Wankend stehe ich von der Bank auf und steuere mehr oder weniger zielstrebig wieder in die Richtung in der ich die Party vermute.

Eine kräftige Hand langt nach mir und zieht einmal kräftig. Zu betrunken, um den Fall abzufangen, lande ich quer über Manuels Schoß, der nicht mehr aufhören kann zu lachen.

„Hey“, lalle ich und versuche mich wieder auf zu rappeln, dann zieht er mich auch schon an seinen Oberkörper und eine übelriechende Fahne kommt mir entgegen.

„Du stinkst nach Al-Alkohol!“ motze ich und versuche mich aus seinem Griff zu befreien. Doch er lässt mich nicht los und lacht mich immer noch weiter mit seinem hübschen Gesicht an.

Unsere Gesichter sind nur wenige Zentimeter voneinander entfernt und ich muss anfangen zu kichern, als ich mich an eine ähnliche Situation mit Sandra erinnert habe.

„Was ist denn so lustig?“

„Hat mich nur an was erinnert“, und ich wende bekümmert mein Gesicht von seinem ab.

„Etwa an so was...“, plötzlich greift seine Hand meinen Kopf und drückt mich zu sich hin. Seine schmalen Lippen fangen an sich auf den meinen zu bewegen. Verzweifelt kralle ich meine Hände in sein Hemd und versuche, ihn von mir weg zu schieben. Doch ich habe keine Kraft. Sandra schießt mir wieder in den Kopf. Was sie gesehen hat und dass es nie so werden wird, wie es hätte sein sollen. In völliger Verzweiflung und mit Aussicht auf eine Zukunft ohne sie, schlinge ich meine zitternden Arme um seinen Hals und erwidere scheu seinen Kuss. Leise rinnen Tränen über meine Wangen, doch er scheint es nicht zu bemerken. Der Geschmack von Whisky breitet sich auf meinen feuchten Lippen aus. Er schmeckt anders. Kein Vergleich zu ihr. Gar kein Vergleich.

Manuel lockert seinen Griff und ich hocke mich rittlings auf seinen Schoß. Ohne ihm in die Augen zu blicken, schlinge ich erneut in Verzweiflung meine Arme um seinen breiten Hals, an dem die Schlagader sich deutlich abzeichnet.

Und schlagartig weiß ich genau was ich will. Vergessen. Und zwar schnell.

Meine Tränen sind verronnen und ich schmiege meine Wange an seine.

„Wohnst du in der Nähe?“, seine Hände die auf meinem Hintern liegen, krallen sich in meine Hose und ziehen mich ruckartig näher an sich heran.

„Das können wir bequem zu Fuß erreichen.“

Wie in Trance und in Socken trotte ich hinter ihm her. Seine Hand in meiner. Wir betreten wieder die Party, die sich immer noch nicht geleert hat und suchen den Gastgeber um uns zu verabschieden. Mel passt mich im Esszimmer ab. Sie wirkt besorgt.

„Claudi, geht’s dir gut?“

„Aaaaaaaalles in Ordnung. Du wirst ja eh hier pennen. Ich verpiss mich!“ Ich taumele leicht nach vorne und küsse Mel zum Abschied auf den Mund.

„Bis Montag!“ Mit großen Augen schaut sie mich an und will schon etwas erwidern, doch dann werde ich abermals von Manuel an der Hand gepackt und mit nach draußen gezogen.

Mel schüttelt den Kopf und läuft hinter uns her.

„Was soll das?“, keift sie Manuel an.

„Schon gut! Ging mir nie besser.“ Mel bleibt fassungslos stehen, als ich mit Manuel zu der Haustür hinaus verschwinde. Zwei warme Arme umfassen sie sanft von hinten und jemand haucht ihr einen Kuss auf die Wange.

„Hoi, cooles Gespann.“

„Wenn du wüsstest, oder besser dein Cousin.“ Bitter senkt Mel den Kopf.

Unser Atem zeichnet sich in der kalten Nachtluft ab. Meine Gedanken gleiten ab und immer wieder wandert mein Blick zu Manuel. Er ist ein Mann. Ein stattlicher Mann. Wahrscheinlich der Schwiegersohn den sich meine Eltern immer gewünscht haben und den ich auch in aller Öffentlichkeit küssen kann oder einfach nur Hand in Hand durch die Straßen gehen.

Als hätte er meine Gedanken lesen können, greift er plötzlich nach meiner kalten Hand und schenkt mir ein Lächeln.

„Warum gehst du eigentlich in der Nachbarstadt zum Karate, wenn du hier in der Nähe wohnst?“

„Ach so, eigentlich wohn' ich ja noch gar nicht hier. Aber in 2 Wochen zieh ich hier her. Meine Eltern haben mir zum 21. eine 2 Zimmer Wohnung vermacht, die ich mir gerade herrichte. Aber zum schlafen reicht es schon aus.“

Wieder zeigt er mir seine weißen Zähne, die im Licht der Laterne gespenstisch wirken.

Wo ist eigentlich mein Fahrrad? Oh, das muss ich morgen holen. Ja. Morgen.

Immer noch habe ich das Gefühl auf Wolken zu gehen, als er die dunkle Haustür eines mehrstöckigen älteren Hauses aufschließt. Die Treppen knarren so stark, dass ich der Meinung bin, dass eigentlich alle uns hören müssten. Schwer fällt mein Kopf gegen die neu gemachte Wand, als Manuel wohl länger als normal braucht um das Schloss zu seiner Wohnung zu öffnen. Quietschend geht die schwere Tür auf und er macht Licht in dem frisch gestrichenen Flur.

Manuel hilft mir, selbst leicht schwankend, aus der Jacke und wirft sie über einen Küchenstuhl. Die Wohnung hat eine hohe Decke und überall liegt noch Folie und Farbeimer stehen in den Ecken.

Seine Hände streichen meine Hüfte entlang.

„Möchtest du etwas trinken?“

Sanft und ein wenig unbeholfen streichen seine Hände über meine Brust und er fängt an meinen Oberkörper mit Küssen zu bedecken. Erschreckend stelle ich fest, dass ich komplett nackt bin – und er auch. Das einzige Licht, das in das Zimmer fällt, kommt von der Straßenlaterne. Wir liegen auf einer Doppelluftmatratze, die bei jeder kleinsten Bewegung hin und her schaukelt. Unter uns liegt eine Decke. Das Kissen ist auf dem Boden des Zimmers gelandet.

Jetzt soll es also so weit sein.

Eigentlich sollte sich jetzt eine gewisse Anspannung über meinen Körper legen, aber davon ist absolut nichts zu spüren. Sei es der Alkohol oder die Gleichgültigkeit. Vielleicht dieser Mix auch zusammen.

Ich höre, wie etwas aufgerissen wird. Stimmt ja, zwischen Mann und Frau konnten Kinder ja unangenehme Nebenerscheinung sein.

Manuel lehnt sich über mich.

„Wirklich alles in Ordnung?“, fragte er mit ernsthafter Besorgnis. Ich gebe ihm mit meinem stummen Nicken zu verstehen, dass es das ist.

Ein leichter Druck ist auf meinen Unterleib zu spüren. Ich beiße die Zähne zusammen und versuche den Schmerz zu unterdrücken.

Verdammt. Schlagartig lässt er von mir ab.

„Du hast doch Schmerzen!“ und er will sich von mir herunter rollen, doch reflexartig packe ich ihn am Hintern.

„Nein.“ lüge ich ihm bestimmend ins Gesicht.

„Aber...“, ich ziehe ihn wieder an mich heran.

Manuel schnaubt leise. Mit einem gezielten Stoß dringt er in mich ein und ich schreie auf.

„Jetzt dürfte das Schlimmste vorbei sein.“ flüstert er mir ins Ohr. Doch das Gegenteil ist der Fall. Mein Unterleib krampft sich zusammen, doch ich lasse den Schmerz über mich ergehen und sehe es als gerechte Strafe an. Vorsichtig gleitet er hin und her, bis er nach einer Ewigkeit endlich zu kommen scheint. Er steht auf und verschwindet hinaus. Wahrscheinlich ins Bad.

Das war es also, denke ich vollkommen erschöpft und mit einem brennenden Schmerz. Ich fasse an meinen Unterleib und kann im Schein der Laterne erkennen, dass Blut an meinen Fingern klebt.

Urplötzlich beginnt mein Körper zu zittern und ich rolle mich in die warme Decke ein. Seine Rückkehr aus dem Bad bekomme ich nicht mehr mit.

2. Dezember, Sonntag

Es ist noch dunkel als ich die Augenlider aufschlage und meinen überaus dröhnenden Kopf hebe. Ich liege in einem orange gestrichenen Raum auf einer blauen Luftmatratze. Die Klamotten liegen im kompletten Zimmer verteilt. Mein Blick schweift zu Manuel, der leicht schnarchend neben mir liegt. Vorsichtig schlüpfe ich aus dem schaukelnden Nachtlager und beginne meine klammen Anziehsachen zusammen zu suchen. Wecken werde ich ihn nicht, schießt es mir durch den Kopf. Es war eine einmalige Sache.

Die Straßen sind von einer dünnen weißen Schicht bedeckt und ein eisiger Wind pfeift mir um die Nase. Es hatte heute Nacht geschneit. Der erste Schnee des Winters.

Etwas orientierungslos laufe ich durch die dunklen Straßen des Vorortes, auf der Suche nach dem Haus in dem gestern die Party stattgefunden hatte. Mein Unterleib brennt noch immer und ein unangenehmes Gefühl hat sich über meinen ganzen Körper gelegt.

Ein Blick auf mein Handy verrät mir, dass es 7 Uhr ist. Schneller als gedacht finde ich mein eingeschneites Fahrrad wieder und mache mich auf den Heimweg.

Mit noch immer vernebeltem Kopf fahre ich in leichten Schlangenlinien die Landstraße entlang.

Duschen, ich will nur noch duschen.

Wie besessen schrubbe ich mit dem Duschschwamm über meine Haut, doch das Gefühl von Ekel will nicht von meinem Körper weichen, obwohl Manuel gewiss kein unattraktiver Mann ist. Abgesehen von dem Schmerz war es auch bei weitem nicht so, wie es immer in Büchern oder Filmen gezeigt wurde. War es so schlecht, weil ich einfach keine echten Gefühle für ihn aufbringen konnte oder war wieder einmal sie der Grund, warum ich es nicht geschafft habe, die Sache an mich heran kommen zu lassen?

Nachdem ich alles Blut von meinen Oberschenkeln geschrubbt habe, lasse ich mich völlig erschöpft in mein weiches, reines Bett fallen.

3. Dezember, Montag

Zu meiner großen Überraschung hatte sich Mel kein einziges Mal bei mir gemeldet. Ob sie wohl sauer war? Ich bin früher dran als sonst und hocke mich in der großen Aula auf einen Heizkörper. In der Nacht von Sonntag auf Montag hatte es unaufhörlich geschneit und so durfte ich am Morgen durch 20 cm hohen Schnee stapfen. Meine eingefrorenen Hosenbeine tauen an dem warmen Heizkörper langsam wieder auf und bilden unter meinen Turnschuhen eine Wasserlache.

Verträumt schaue ich in die bunte Schülermenge und halte Ausschau nach Leuten die ich kenne. Mit schnellen Schritten kommt ein rothaariges Mädchen direkt auf mich zu. Ich muss schlucken. Ihr Gesicht ist wutverzerrt und ihre Augen zu kleinen Schlitzen zusammen geschrumpft. Ich drücke mich an die kalte Steinmauer in der Hoffnung mit dieser verschmelzen zu können. Schlagartig hat sich mein Herzschlag beschleunigt und ich spüre, wie mir das Blut aus dem Gesicht weicht. Mein Verstand sendet mir immer wieder Warnsignale, aber ich kann mich nicht bewegen, obwohl ich wahrscheinlich sollte. Einige Meter vor mir schleudert sie ihre Tasche und ihren Ordner beiseite, die fast gegen ein paar Unterstufenschüler knallen und meine Glieder verkrampfen sich nur noch weiter.

Ein lautes Klatschen widerhallt in der großen Aula. Dann herrscht Stille. Unzählige Schüler starren uns an und fangen sogleich an zu tuscheln. Dutzende Augenpaare durchbohren mich. Mit brennender Wange drehe ich mich zu Sandra um, deren Gesicht immer noch eine schreckliche Grimasse ist, durch die zwei glänzende Augen blicken.

„Du Hure!“, brüllt sie mir entgegen. Wie angewurzelt klebe ich immer noch an der Mauer, unfähig einen Ton von mir zu geben.

„REDE! WAS SOLL DIESER MIST!“ Sandra will wieder auf mich los gehen, dann wird sie plötzlich von zwei Leuten gepackt und von mir weggezogen. Wie in Trance beobachte ich die Szene.

Was zur Hölle geht hier eigentlich vor, schießt es mir wieder und wieder durch den Kopf.

Tobias und Lissi haben sich schwer daran, die immer noch keifende Sandra im Zaum zu halten, die trotz ihres zierlichen Körpers wie eine Bestie um sich schlägt.

„Du kommst jetzt mit!“, brüllt schließlich Tobias sie an und zerrt sie immer weiter von mir weg.

„Und du auch!“ richtet sich Lissi mit einem Unterton an mich, der mir das Blut in den Adern gefrieren lässt.

Unter unzähligen gaffenden Blicken folge ich dem Dreiergespann in einen Raum, der eigentlich zu Projektarbeiten bestimmt ist. Völlig benommen vergesse ich sogar, meine Schulsachen mit mir zu nehmen. Leise schließe ich die Tür hinter mir.

Sandra brüllt immer noch wie am Spieß und ihr Gesicht hat sich knallrot verfärbt.

„Lass mich los du Dreckskerl!“

Sandra stößt mit ihrem Kopf nach hinten und verfehlt nur knapp Tobias' Kiefer. Ihm steht vor Anstrengung der Schweiß im Gesicht.

Dann knallt es erneut. Lissi hat Sandra eine Ohrfeige verpasst. Plötzlich sackt sie in sich zusammen und hängt nun wie versteinert in Tobias' Armen. Sanft lässt er sie auf die Couch gleiten und wischt sich die unzähligen Schweißtropfen von der Stirn die sich darauf gebildet hatten.

„Was zum Geier ist hier los!“, Tobias fährt mich stocksauer und schwer atmend an.

Immer noch sprachlos von dem Geschehen zucke ich unschuldig mit den Schultern.

„Claudia“, Tobias packt mich unsanft bei den Schultern, „hör auf zu lügen!“

„Ich weiß es nicht!“, breche ich mein Schweigen. Völlig überfordert mit der Situation blicke ich hinüber zu Sandra, die in sich zusammen gesackt auf der alten grünen Couch sitzt und auf den Boden starrt.

„Die tickt doch nicht umsonst aus.“, schlussfolgert Lissi mit einem abschätzigen Blick auf Sandra und lehnt sich gegen einen Schrank.

„Ich weiß nicht was SIE hat.“ entgegne ich wütend und bin schon im Begriff wieder aus der Tür hinaus zu stürmen.

„Du lügst.“

Schlagartig drehen sich alle zu dem rothaarigen Mädchen um.

Langsam richtet diese ihren Kopf auf und blickt mir mit ihren geröteten Augen direkt ins Gesicht.

„Du lügst.“ wiederholt sie abermals ungewöhnlich ruhig.

„Also hast du doch was gemacht!“, motzt Tobias.

„Ich weiß aber nicht was!“ verteidige ich mich verzweifelt.

„Und was hat Claudia gemacht, dass du so austickst? Jetzt mach doch endlich mal dein Maul auf!“ brüllt Lissi durch den Raum und fängt sich einen strafenden Blick von Tobias ein.

„Das geht nur sie und mich etwas an.“, antwortet sie mit einem kalten Blick zu Lissi. Sandra scheint sich wieder beruhigt zu haben.

„Oh und wie es mich was angeht!“ keift Lissi zurück und an ihrer Schläfe beginnt heftig eine Ader zu pochen.

„Sie ist nämlich MEINE Freundin!“

Schweigen.

Tobias reißt erstaunt die Augen auf und sein Mund öffnet sich leicht. Seine Gedanken scheinen zu rasen. Sandra, wie auch ich zeigen keine Regung auf diese Aussage.

„Wie lange denn schon?“, bringt Tobias leise heraus.

Urplötzlich steht Sandra auf und Tobias macht sich bereit, sie jeden Moment davon abzuhalten wieder auf mich loszugehen.

Stattdessen nähert sie sich langsam Lissi und streicht der wütenden Blonden sanft mit dem Handrücken über die helle Haut.

„Glaubst du ernsthaft, dass du die Einzige bist?“ haucht sie über ihre schönen roten Lippen.

Lissis Kiefer bebt und ich mache mich bereit einzuschreiten, falls diese auf sie los geht. Tobias Augen flackern.

„Jesus Maria, was treibt ihr drei eigentlich?“ bricht es wieder aus ihm heraus, der sich, seinem Blick nach zu urteilen, gerade die wildesten Phantasien ausmalt.

„Ach“, mit wallendem Haar wendet sich Sandra zu Tobias, „da sind nicht nur wir drei beteiligt, sondern noch ein Kerl.“

Tobias klappt vollends die Kinnlade runter und schlagartig ist mir bewusst, was Sandra wissen musste. Ich will hier weg, denn das wird gleich richtig übel enden.

„Mh, so wie du guckst, weißt du auch nichts von Claudias nächtlichem Abenteuer mit einem gewissen Kerl.“ Sandra wirft Lissi einen stechenden Blick zu.

„Du lügst du HURE! Du willst sie doch nur für dich!“ kreischt Lissi.

„Ich lüge nicht. Wenn ich sie wollen würde, dann könnte ich sie jederzeit haben.“ Sandras eisige Stimme schallt in meinen Ohren wieder. Ein heftiger Schmerz krampft mein Herz zusammen. Dieser Schmerz ist um einiges heftiger und unerträglicher als der, den ich bei Manuel erlebt habe. Wenn sie mich wollen würde? Das heißt, sie hat es endgültig gemacht.

„JETZT MACH DOCH AUCH MAL DEN MUND AUF CLAUDIA!“, schreit Lissi abermals durch den Raum und stößt sich von dem Schrank ab. Die Fäuste geballt und über ihr Gesicht huscht ein Schatten. Ein triumphierendes Lächeln breitet sich über Sandras Gesicht aus.

„Ja es stimmt. Ich war mit einem Kerl im Bett.“

Sage ich mehr zu Sandra als zu Lissi.

„Du bist eine verdammte Fremdgeherin!“, Lissi ist nun den Tränen nahe.

Wie in Trance mache mich auf in Richtung Tür. Als ich die Türklinke nach unten drücke, drehe ich mich noch einmal zu Lissi um.

„Lissi, es tut mir Leid. Es war nichts echt. Du darfst dich bei Sandra bedanken, die mir ein Ultimatum gestellt hat. Um es offiziell zu machen. Es ist Schluss.“ Mit diesen Worten verschwinde ich zur Tür hinaus und mache mich auf den Weg ins Klassenzimmer, nachdem ich mein Zeug aus der Aula geholt hatte, da es schätzungsweise vor 3 Minuten geläutet hat.

Wie zu erwarten war, tauchte Sandra natürlich nicht zum Unterricht auf. Unfähig über irgendwelche Gefühle nachzudenken, konzentrierte ich meine Gedanken auf den Unterricht, um nicht vor versammelter Mannschaft los zu heulen. Auch Tobias liess sich heute nicht mehr im Unterricht blicken, nur Mandy rutschte nervös auf ihrem Platz hin und her.

Mit schallenden Kopfhörern liege ich auf meinem Bett und starre an die weiße Decke. Die Welt um mich herum scheint zu verschwimmen und es zieht mich in einen tiefen Schlaf.

Unsanft rüttelt mich jemand am Oberarm. Erschrocken und schlaftrunken richte ich mich auf und blicke meiner Mutter ins Gesicht, deren Gesichtszüge außergewöhnlich hart sind.

Verdutzt nehme ich die Kopfhörer ab und frage was los sei.

„Claudia, ich glaube wir müssen uns mal unterhalten.“

Die immer noch hübsche Frau Mitte vierzig setzt sich auf die Kante meines Bettes und betrachtet mich mit ihren dunklen braunen Augen.

„Was gibt es denn?“

Nervös schlägt sie die Hände ineinander und wieder auseinander.

„Vorhin hat Lissi angerufen.“

Ein ekliges Gefühl macht sich in meinem Magen breit und ich ziehe verächtlich die Augenbrauen nach oben.

„Warum hast du mich nicht geweckt?“

Seufzend wendet meine Mutter ihren Blick von mir ab und meine schlimmste Vermutung scheint wahr geworden zu sein.

„Du musst nichts sagen, ich weiß was sie dir erzählt hat.“

Anscheinend erleichtert, mich nicht danach fragen zu müssen, verändert sie abermals ihre Sitzposition.

„Claudia, ich habe lange darüber nachgedacht und mich gefragt, warum du nie zu mir gekommen bist und mit mir über die Sache gesprochen hast. Hattest du Angst, dass wir dich aus dem Haus jagen?“, fragt sie mit einer verzweifelten Stimme.

Kaum merklich ziehe ich meine Beine an den Körper und halte sie fest umklammert.

„Das nicht gerade. Ich hatte viel eher Angst euch zu enttäuschen.“ murmele ich kaum hörbar in meine Knie.

„Das ist jetzt aber echt ein Schwachsinn. Du bist unsere Tochter und wir lieben dich so wie du bist. . Ich meine, uns hätte es doch viel schlimmer treffen können! Du wurdest noch nie mit der Polizei heim gebracht oder wegen Drogenbesitzes verhaftet!“, versucht sie die Situation etwas aufzulockern, was ihr aber nur mit mäßigem Erfolg gelingt.

Vorsichtige hebe ich meinen Kopf um meiner Mutter direkt ins Gesicht zu blicken.

„Heißt das, dass ihr es respektiert?“

Die braunhaarige Frau stützt sich auf ihre Linke und legt den Kopf zur Seite, ohne mich anzublicken.

„Wir werden es vorerst akzeptieren.“ Nervös kaue ich auf meiner Lippe herum.

„Aber eines möchte ich nun doch von dir wissen. Wie sieht denn nun – sagen wir – deine Version der Geschichte aus?“

Leicht zitternd ziehe ich meine Beine noch näher an meinen Körper heran und vergrabe abermals mein Gesicht.

„Ich habs schon ziemlich früh bemerkt. Vielleicht mit 15 oder so. Naja und dann ist ja irgendwann Sandra in unsere Klasse gekommen und ich hab mich irgendwie in sie verliebt.“

Nachdem ich die Geschichte, die ich schon einige Male mittlerweile erzählt hatte, relativ offen meiner Mutter berichtete, reagiert sie genau so wie Mel beim ersten Mal. Mit weit aufgerissenen Augen schaut sie mich an.

„Meine Güte“, bricht es aus ihr hervor. „Zu meiner Zeit war das ganz anders.“ Ich lächele hilflos und lege mein Kinn wieder auf meine Kniescheibe.

„Und was sagst du dazu?“, frage ich vorsichtig.

„Dass ihr alle nicht ganz bei Trost seid und hier so einiges schief läuft, brauche ich dir sicherlich nicht zu sagen. Aber viel wichtiger ist ja, wie willst du das ganze wieder hin bekommen oder hast du jetzt vor, mit Manuel zusammen zu kommen?“ fragt sie mich offen ins Gesicht ohne ihre Hoffnung zu verbergen, dass es das ist, was sie sich am meisten wünscht.

„Nein. Das war pure Dummheit und es bedeutet mir nichts.“ sage ich entschlossen.

„Ok, also willst du Sandra haben?“

Pff. Sandra. Ja, vielleicht will ich sie trotz allem noch haben. Ihr duftendes Haar, die weiche Haut und ihre wundervollen Augen.

„Weißt du, dein Vater hat riesige Anstrengungen an den Tag legen müssen, um mich zu bekommen.“

Verwundert schaue ich sie an. Was will sie jetzt? Ich dachte es geht um mich und nicht um die alten Geschichten meiner Mutter.

„Er war immer so was von schüchtern. Er hätte es ja noch nicht einmal geschafft, mich bei der Hand zu nehmen, um allen zu zeigen, dass ich zu ihm gehöre. Eines Tages wollte ich dieses Spiel einfach nicht mehr mitspielen und hatte seine Schüchternheit satt – obwohl er ein verdammt attraktiver Bursche war. Nun, da habe ich einfach angefangen mit anderen Kerlen auszugehen. Es war ein warmer Frühlingstag, als ich mit Martin Krämer auf dem Schulhof stand und wir uns leidenschaftlich küssten. Die Blicke deines Vaters bohrten sich förmlich in meinen Rücken.“ Sie fängt an, wie ein 15-jähriges Schulmädchen zu kichern und strahlt mich an.

„Dann ist dein Vater auf uns zugestürmt gekommen und hat dem Krämer das Nasenbein gebrochen und über den kompletten Schulhof gebrüllt, dass er mich liebt.“ Seufzend schaut sie zu meinem Fenster hinaus, auf dessen dunklem Holzrahmen sich eine dicke Schneeschicht gebildet hat.

Erstaunt über so viel Aggressivität meines Vaters, schaue ich meine Mutter an und warte, bis sie beginnt weiter zu reden.

„Zuerst war ich ja ziemlich entsetzt, aber als ich das wütende Gesicht deines Vaters gesehen habe, hatte ich endlich den Beweis, dass ich ihm das Wichtigste bin. Und was muss ich sagen, unsere Ehe ist bis heute glücklich.“

Wow Papa, du hast mehr drauf als ich dachte.

„Ich habe dir diese Geschichte jetzt nicht erzählt um mit meinem Liebesglück zu prahlen. Ich will dir damit sagen, dass du genau so bist, wie dein Vater damals. Du bist einfach zu schüchtern und reitest dich überall rein. Und jetzt Claudia Susanna Manner, heb deinen Arsch aus dem Bett und bring die Sache in Ordnung.“

Ich ringe nach Luft.

„Mama?“, keuche ich entsetzt.

„Hoch jetzt!“, keift sie mich an. Wie von der Tarantel gestochen springe ich auf. Ohne, dass ich weiter darüber nachdenken kann, scheucht sie mich aus meinem eigenen Zimmer und die Treppe hinunter.

„Mama! Stop!“, doch sie hat kein Erbarmen. Sie packt meine Turnschuhe und schmeißt sie vor die Tür. Mitsamt meiner Winterjacke folge ich den Turnschuhen.

Durch die Glastür ruft sie noch

„Ich lass dich erst wieder rein, wenn du das wieder in die richtigen Bahnen gelenkt hast!“

Völlig fassungslos und in weißen Socken stehe ich in unserem Vorgarten. Es ist fünf Uhr und es schneit schon wieder.

Frierend wate ich durch die verschneiten Straßen von Gladbach. Es ist ruhig, nur hier und da rauscht ein Auto an mir vorbei.

So viele Fragen wirbeln durch meinen Kopf und keine einzige Antwort scheint es zu geben – auf keine von all diesen. Was war wirklich bei der Wahl? Bin ich wirklich mit Lissi in der Kiste gewesen und vor allem wie hat Sandra von Manuel Wind bekommen?

Wo liegt die Lösung dieses ganzen Wahnsinns? Fröstelnd stelle ich mich in eine Bushaltestelle um vor dem Schneetreiben, das immer dichter zu werden scheint, Schutz zu suchen.

Sandra. Lissi. Mandy. Michaela. Mel – und Tobias, schießt es mir durch den Kopf. Tobias! Das ist es! Er ist immer noch mit Mandy zusammen. Warum ist er urplötzlich mit ihr zusammen gekommen? Er scheint sie nicht mal zu mögen. Hängt er mit in der Sache drin?

Beflügelt von diesem Gedankengang stürze ich Richtung Altstadt. Ich war erst einmal bei Tobias zu Hause, als wir bei ihm eine SMV-Versammlung gemacht haben. Der Schnee knarrt unter meinen Schritten und die Schneeflocken behindern meine Sicht, sodass ich nur noch 10 Meter vor mich schauen kann. Ohne Rücksicht auf meinen durchgefrorenen Körper, renne ich immer weiter die alte Hauptstraße entlang, bis ich endlich zu einem Altbau komme. Hoffentlich ist er da! Er war heute schließlich auch nicht mehr in der Schule.

Mit roten, schmerzenden Fingern drücke ich den kupfernen Knopf der alten Klingel, die sich unter dem verzierten Namensschild mit der Aufschrift 'Rotenberg' befindet.

„Wer da?“, erklingt eine verzerrte Stimme durch die alte Sprechanlage.

„Claudia Manner, ist Tobias zu sprechen.“

„Komm rauf.“ es knackt in der Anlage und im selben Moment geht der Summer der Tür.

Rotenbergs Wohnung befindet sich gleich im Erdgeschoss. Sogleich geht eine Tür zu meiner Linken auf, nachdem ich die drei Stufen einer kleinen Treppe bezwungen habe.

Eine Frau mit geierartigem Gesicht mustert mich und meine vereisten Sachen. Von Tobias weiß ich, dass die Frau die Haushälterin ist, da seine Eltern nur selten zu Hause sind und seine beiden Geschwister und wahrscheinlich auch er von ihr versorgt werden.

Noch bevor ich etwas sagen kann taucht Tobias im Gang hinter der alten Frau auf.

„Claudia, welch Überraschung.“ Von seinen sonst so überschwänglichen Begrüßungen ist nicht viel zu spüren.

„Ich muss dringend mit dir reden.“, bringe ich durch meine klappernden Zähne hindurch.

„Komm rein.“

Nachdem ich meine Schuhe vor der Tür stehen gelassen habe, gehen wir in sein Zimmer mit der hohen Decke, dem Stuck und den großen Fenstern. Mit schmerzenden Händen krempele ich meine Hosenbeine nach oben um nicht eine Pfütze in seinem Zimmer zu hinterlassen.

Ich mache es mir auf der blauen Couch so bequem wie möglich und sehe ihn mit großen Augen an. Wird er mir weiterhelfen können oder wollen? Meine ganze Hoffnung klammert sich an ihn. Ich kann nur von Glück reden, dass Mandy heute nicht bei ihm ist.

Erwartungsvoll sieht er mich an und scheint nur darauf zu warten, dass ich den Grund für meinen Besuch preis gebe.

„Du hast heute ja mitbekommen, was los ist“, er nickt stumm, „nun es geht um folgendes: Warum bist du eigentlich mit Mandy zusammen?“ Auf diese Frage war er nicht gefasst. Nervös wandert seine Hand an sein volles Haare und fährt mit den Fingern hindurch.

„Na warum wohl, weil ich sie liebe. Du kannst Fragen stellen.“

Das hatte ich erwartet. Er lügt. Und das wie gedruckt.

„Tobias, hör auf mich anzulügen.“

Entrüstet schnappt er nach Luft, doch bevor er das Wort ergreifen kann, greife ich erneut an.

„Ich weiß, dass du Mandy nicht liebst. Zwischen Mandy und Lissi läuft irgendeine Abmachung.“ Seine Entrüstung verwandelt sich zunehmend in Unruhe.

„Jetzt, Claudia, spinn hier nicht rum. Was sollten denn Mandy und Lissi bitte schön für eine Abmachung haben?“

Herrisch verschränke ich die Arme vor meiner Brust, abermals fährt sich Tobias durch das Haar.

„Lissi hat etwas, mit dem sie dich erpresst. Hab ich recht? Und du bist doch nur mit Mandy zusammen, weil Lissi sonst dein Geheimnis ausplaudert.“

Nach Luft ringend starrt mich Tobias an.

„Woher...“, doch sogleich fängt er sich wieder und springt auf.

„Ich weiß echt nicht was du für Probleme mit deinem Liebesleben hast, aber halt mich da gefälligst raus! Ich will nicht da mit rein gezogen werden!“

„Pah! Ich habe also recht!“, meine Stimme bebt.

Was mach ich bloß, wenn die Karte auf die ich alles gesetzt habe, nicht mitmacht?

„Du weißt doch gar nichts!“ schmettert er mir wütend entgegen.

„Oh doch, ich weiß ziemlich sicher, dass es zwischen Mandy und Lissi eine Abmachung gibt und wenn sich Lissi gegen Mandy wenden sollte, dann kannst du dich von ihr trennen.“

Fassungslos und fragend starrt mich Tobias an.

„Ich hab vor ein paar Wochen ein Streitgespräch zwischen beiden mitbekommen. Die beiden haben zusammen eine richtig große Intrige gesponnen! Und jetzt brauche ich deine Hilfe, um die Sache mit Sandra wieder zu bereinigen! Oder wäre es nicht etwa auch in deinem Sinne, die Sache ans Tageslicht zu bringen? Dann kannst du dich endlich von Mandy trennen! Du bist doch nicht glücklich!“

Tobias ringt mit sich selber. Er lässt sich tief in seinen Sessel sinken und fasst sich mit der Hand vors Gesicht. Er wägt ab. Und zwar, ob ich ihm wirklich behilflich sein kann.

„Nein“, wispert er kaum hörbar. Und ich weiß, dass die Sache damit beendet ist.

„Claudia“, er lehnt sich nach vorne und starrt auf den Boden, „ich kann dir nicht helfen. Es würde noch mehr Leute ins Unheil stürzen, als es das eh schon getan hat. So Leid es mir tut...“.

Dieser Kampf ist verloren. Ich nicke kurz und verschwinde dann zur Tür hinaus, wieder in den Schnee der so weiß und rein auf dem Bürgersteig vor der großen alten Tür liegt.

Auf Tobias kann ich also nicht setzen. Sandra und Lissi fallen auch flach. Mandy ebenso. Und Michaela? Sie steckt doch auch bis zum Hals mit in der Sache?

Mit hängendem Kopf mache ich mich wieder auf den Heimweg. Ich weiß nicht wo sie wohnt, also kann ich das heute nicht mehr klären. Ich muss morgen sehen, dass ich sie in einer stillen Minute abpassen kann.

Und das Training habe ich auch verpasst.

4. Dezember, Dienstag

Tobias deckt jemanden. Nur ist die Frage, wen. Mein Hals brennt und ich bekomme kaum noch ein Wort heraus. Der gestrige unfreiwillige Spaziergang durch die Stadt hat meine Gesundheit nicht gerade gefördert, doch ich kann es mir nicht leisten, in der Schule zu fehlen. Zum einen wegen des Stoffes, der in unsere Schädel gepresst wird und zum anderen steht heute mindestens ein wichtiges Gespräch auf der Tagesordnung.

Noch vor der ersten Stunde mache ich mich auf den Weg ins SMV Zimmer und klopfe an der Tür. Als ich das kleine düstere Zimmer betrete, ist nur Jürgen anwesend, der normalerweise für das Stimmen zählen und einsammeln zuständig ist.

Als er mich erblickt, begrüßt er mich mit gesenktem Blick. Verwundert über seine Reaktion frage ich ihn, ob er Michaela gesehen hat. Er schüttelt wie ein schüchternes Kind den Kopf und vergräbt sich wieder über seinem Buch. Komisch, dabei war er doch immer recht umgänglich.

Nach 2 Stunden Deutsch mache ich mich in der ersten Pause nicht sofort auf ins SMV Zimmer, da ich befürchte, dort Lissi über den Weg zu laufen. Stattdessen statte ich der Bibliothek einen Besuch ab. Nach einem kurzen Blick durch die Räumlichkeit finde ich das, was ich hoffte vorzufinden. Das letzte Zusammentreffen mit Michaela hatte Lissi geschickt verhindert. Doch jetzt bezweifele ich, dass sie nochmal dort auftauchen würde.

„Frau Schulsprecherin, ich hätte da mal eine Frage.“ Ich stelle mich direkt vor den Tisch, auf dem sie ihr Buch aufgeschlagen hat. Mit einem Lächeln will sie der Fragestellerin antworten, doch als sie meine Gestalt vor sich erkennt, entweicht jegliche Farbe aus ihrem Gesicht.

„Was gibt’s denn?“, fragt sie nachdem sie sich wieder gefasst hat und starrt wieder auf ihr Buch. Unbeirrt ziehe ich mir einen Stuhl heran und setze mich ihr gegenüber.

„Nun, ich denke du weißt ziemlich genau was ich wissen will.“

Ihre dünnen Arme fangen unter dem grünen Maschenpulli an zu zittern.

Seufzend fasse ich nach ihrem Arm und halte sie fest. Mit großen Augen, den Tränen nahe, starrt sie mich an.

„Ich wollte es nicht!“ haucht sie, als ihr eine große Träne über die Wange läuft.

„Es tut mir Leid! Ich wollte nicht betrügen! Ich werde mich sofort beim Direktor melden!“

Sie versucht sich von meinem Griff zu befreien, doch ich bin stärker als sie und halte sie gekonnt fest.

„Moment mal, was möchtest du beim Direx melden?“

Unwirsch schüttelt sie ihren Kopf hin und her, als würde sie versuchen eine lästige Fliege zu verscheuchen.

„Rede!“, fahre ich sie an.

Tränen rinnen ununterbrochen über ihr Gesicht. Hoffentlich kommt jetzt niemand rein, nach der Aktion von gestern wäre dann mein Ruf vollkommen im Eimer.

„Na, dass die Wahl manipuliert ist!“, bricht es aus ihr heraus.

Ich wusste es! Es konnte nicht sein, dass dieses kleine schüchterne Mädchen gegen mich gewinnen konnte. Also steckt doch Lissi dahinter. Das würde auf jeden Fall ihre Reaktion nach der Verkündung des Ergebnisses erklären. 'Bist du nicht mit dem Ergebnis zufrieden, jetzt stehst du nicht mehr so im Mittelpunkt', hatte sie mir damals gesagt.

Vor mir sitzt nun dieses Bündel Elend, das es nun gilt wieder zur beruhigen.

„Mach dir keine Sorgen. Ich weiß, dass du das nicht allein eingefädelt hast und auch nur ein Opfer bist.“

Abermals schaut sie mich mit großen flehenden Augen an.

„Und nein, ich werde es niemandem petzen. Ich will, dass du deinen Posten behältst.“ Ich lächele sie aufmunternd an, doch ihre Tränen wollen nicht aufhören zu fließen.

„Lissi hat dir geholfen die Wahl zu gewinnen, oder?“

Ihr ganzer Leib zittert und ich weiß, dass das nun genug war.

Ich ziehe meine Hand zurück, packe meine Sachen und lasse das weinende Mädchen zurück.

So, was haben wir jetzt an Informationen. Lissi hat wirklich die Wahl manipuliert, vielleicht mit Mandys Hilfe? Und Tobias deckt jemanden. Doch mit jeder Lösung scheinen sich noch mehr Fragen aufzutun. Und jetzt?

Mit dröhnendem Schädel melde ich mich im Sekretariat krank und mache mich auf den Heimweg. Froh, dass ich heute weder Lissi, noch Sandra in der Schule gesehen habe.

„Huch, schon so früh zurück?“, begrüßt mich meine Mutter verwundert. Ich bin ihr immer noch recht dankbar, dass sie mich trotz meines Misserfolges vom Vortag doch wieder ins Haus gelassen hat. Mein Vater scheint nach wie vor von dem düsteren Geheimnis seines Töchterchens nichts mitbekommen zu haben, oder er kann es einfach nur gekonnt verbergen.

„Bin krank.“, murre ich und will mich sogleich auf mein Zimmer verziehen.

„Bleib mal kurz hier, ich geb dir was. Dir fehlen einfach die Vitamine. Du schaufelst Berge von Fleisch jeden Tag in dich hinein, aber Gemüse und Obst stehen dir nicht an.“

Meine Mutter löst eine von ihren Vitamintabletten in einem Glas Wasser und reicht es mir. Angewidert schütte ich das Zeug, das angeblich nach Zitrone schmeckt herunter und verziehe angeekelt das Gesicht.

In meinem Zimmer befreie ich mich aus den durchnässten Klamotten und ziehe mir eine warme Jogginghose und einen dicken Wollpullover an, den mir meine Oma einst gestrickt hat.

Wer könnte mir denn noch helfen? Michaela ist auch nur ein Spielball von Lissi gewesen und wird wohl kaum mehr über die ganze Sache wissen. Tobias schweigt wie ein Grab und sonst ist niemand mehr übrig, der mir wohl gesonnen ist.

10. Dezember, Dienstag

Verdammt, so einen kalten und verschneiten Winter hat es wahrscheinlich die letzten 10 Jahre nicht mehr gegeben. Wenn das so weiter geht, kann ich bald das Haus durch mein Fenster verlassen ohne tiefer als einen Meter zu fallen.

Die Halsschmerzen von letzter Woche vergingen glücklicherweise relativ schnell, aber mittlerweile bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass langsam alle den Verstand verlieren zu scheinen. Nicht, dass in letzter Woche eh nicht genug über den Vorfall getuschelt worden war, nein, jetzt werde ich auch noch von Tobias ignoriert. Dass mich Sandra nur noch mit wütenden Blicken anstarrt, wundert mich nicht, aber dass Tobias sich anscheinend so von mir in die Enge getrieben fühlt.

Auch mit Mel ist nicht mehr als Smalltalk drin. Komischerweise scheint sich Lissi aber nicht dafür zu interessieren was gewesen ist. Sie grüßt mich zwar nicht, dennoch kann ich keinen Hass in ihren Augen erkennen bzw. noch sind keine Gerüchte, die meine Person betreffen an mein Ohr gelangt. Einige mutmaßen zwar immer noch, dass ich was mit dem Freund von Sandra hatte, aber das interessiert mich nur mäßig.

Als es schon dunkel draußen ist, mache ich mich auf den Weg zum Karatetraining. Der Umkleideraum ist verdammt kalt und ich habe es sehr eilig in die Halle zu kommen um mit den Aufwärmübungen beginnen zu können.

Außerordentlich gut gelaunt im Vergleich zur vergangenen Woche steuere ich auf die anderen Vereinsmitglieder zu.

„Ah, hallo Claudia!“, begrüßt mich ein schwarzhaariges Mädchen, „schon gesehen, wir haben Zuwachs bekommen!“

Neugierig lasse ich meinen Blick durch die Halle schweifen.

„Der Typ sieht so was von gut aus, von dem tät ich mir gerne was beibringen lassen“, kichert eine andere. Ich folge ihrem Blick und mir stockt der Atem. 10 Meter von mir entfernt, wärmt sich gerade ein großgewachsener, gutaussehender, dunkelhaariger Kerl auf. Mir wird schlecht. Die anderen scheinen mein Entsetzen nicht mitzubekommen und winken Manuel zu sich her. Dieser folgt den rufen der kichernden Meute.

Er schenkt ihnen ein verlegenes Lächeln und tritt sogleich auf mich zu. Ohne zu wissen, was mir geschieht drückt er mir sogleich einen Kuss auf die Wange.

„Hallo Claudia, lange nicht gesehen.“ Erstaunen und Neid machen sich auf den Gesichtern der anderen Mädchen breit, die nie zu Wettkämpfen mitfahren und ihn somit nicht kennen.

„Zu lange nicht“, wispert mir Manuel verführerisch ins Ohr. Meine Nackenhaare stellen sich auf und ich würde am liebsten schreiend aus der Halle laufen. Egal ob da draußen hoher Schnee liegt!

„Was machst du denn hier?“, zische ich durch die Zähne und ziehe ihn ein Stück von der Meute weg.

„Naja, du weißt ja, wo meine Wohnung ist und ich bin dieses Wochenende umgezogen.“ Er zuckt lässig mit den Schultern und ich ahne Schlimmes.

„Du willst doch nicht etwa in unseren Verein wechseln“, gifte ich ihn an und weiß eigentlich, dass er genau das getan hat. Mein Trainer hatte sich schon immer nach ihm die Finger geleckt, da er in Wettkämpfen einfach beneidenswerte Leistungen erzielt hat.

„Doch, das will ich. Und du wirst mir nach dem Training noch Rede und Antwort stehen.“ Mit diesem Satz lässt er mich völlig verdattert stehen und übt ein paar Fußtechniken an einer blauen Sportmatte, die gegen die Wand der Turnhalle gelehnt ist.

Während des kompletten Trainings spüre ich seine stechenden Blicke, die ich ebenfalls mit garstigen Gesten entgegne.

Das Training ist viel zu schnell vorbei und ich haste zur Umkleidekabine, um vor ihm fertig umgezogen zu sein und nach Hause verschwinden zu können. Denn auf das Gespräch 'danach' habe ich sehr wenig Lust, vor allem da die Sache ja auch schon wieder über eine Woche her ist.

Doch leider geht mein mehr oder weniger gut durchdachter Plan nicht auf und als ich durch die Tür der Umkleide komme, steht vor der Tür die nach draußen führt ein großer Kerl der mich mit wachen Augen mustert. Mein Magen verkrampft sich und ich gehe zähneknirschend auf ihn zu.

„Soll ich dich vielleicht nach Hause fahren?“, fragt er grinsend und entblößt dabei seine weißen Zähne.

„Nein danke, ich mag es durch den Schnee zu laufen.“ Unglücklicherweise schneit es schon wieder.

„Gut, dann werde ich dich nach Hause begleiten.“ antwortet er fast beiläufig und schultert seine rote Sporttasche.

Wütend stapfe ich in den Schnee.

Er will mich tatsächlich nach Hause bringen, denke ich wütend. Was fällt dem Kerl eigentlich ein. Nach 10 Minuten Schweigen ergreift er plötzlich das Wort.

„Du hast es nicht ernst gemeint, nicht wahr?“ etwas sehr trauriges liegt in seiner sonst so selbstsicheren Stimme. Plötzlich steigen Schuldgefühle über mein schlechtes Verhalten ihm gegenüber in mir auf. Verschämt senke ich den Kopf.

„Ich weiß nicht, was es war.“ versuche ich mich aus der Affäre zu ziehen. Abrupt bleibt er stehen und mustert mich. Auch ich bleibe stehen.

„Aber du warst Jungfrau. Das schenkt man doch nicht so einfach her?“, fragt er fast verzweifelt. Sein Blick bricht mir fast das Herz. Was ist das auf einmal? Was will er damit bezwecken? Er hat sich doch nicht etwa in mich verliebt?

„Ja, das war ich.“

Unbeholfen lege ich ihm eine Hand auf die Schulter, was ziemlich dämlich wirken muss, da ich um ein Vielfaches kleiner bin als er.

„Und warum hast du dann mit mir...?“

Ich lasse meine Hand von seiner Schulter gleiten und betrachte die Spuren von unseren Schuhen im Schnee.

„Ich wollte vergessen. Verzeih mir.“, seine schmalen Augen fixieren mein Gesicht und in ihnen spiegelt sich etwas wieder, was ich selten bei einem Menschen gesehen hatte. Etwas so Aufrichtiges, das mich in seinen Bann zieht wie selten etwas zuvor. Überrumpelt von meinem plötzlichen Gefühlsausbruch reiße ich mich von seinem Blick los und mache mich weiter auf den Heimweg. Immer noch getroffen von seinem Blick komme ich fröstelnd zu Hause an. Er ist mir nicht mehr gefolgt und ich bin auch froh drum.

20. Dezember, Donnerstag

Das geschäftige vorweihnachtliche Treiben auf Gladbachs Straßen geht seinem unvermeidbaren Höhepunkt entgegen. Weihnachten, ein Fest der Liebe und der Freude. Doch von Freude und schon gar nicht von Liebe ist in mir nichts zu spüren. Mühselig schleppe ich mich jeden Tag in die Schule und hoffe, dass der Schmerz irgendwann nachlässt. Die kurze gemeinsame Zeit mit Sandra kommt mir nur noch wie eine entfernte schmerzliche Erinnerung vor, obwohl erst 3 Wochen vergangen sind. Auch Tobias wirkt lange nicht mehr so entspannt und locker wie früher. Ein Schatten hat sich über sein sonst so sonniges Gemüt gelegt.

Sandra scheint die ganze Sache nur noch distanziert wahrzunehmen, ich bin ihr noch nicht mal mehr einen hasserfüllten Blick wert. Das heißt wohl, dass sie mit der Sache nun endgültig abgeschlossen hat. Carsten wird vermutlich morgen bei ihr eintreffen und sie werden zusammen Weihnachten verbringen. Das Fest der Liebe für ein junges Pärchen. Mit Mühe verdränge ich die Vorstellung an das traute Beisammensein der beiden und kämpfe unwillkürlich mit den Tränen.

Lissi hingegen huscht mit dicken Augenringen durch das Schulgebäude und blafft jeden an, der sie nur schief anstarrt. Ihr scheint die Sache doch mehr zu schaffen zu machen, als ich anfangs vermutet hatte. Schließlich hat auch sie ihre Liebe verloren. Michaela ist mir seit dem Zusammentreffen in der Bibliothek ebenfalls aus den Weg gegangen. Vermutlich hat sie Angst, dass ich nochmals versuchen würde, etwas aus ihr heraus zu bekommen. Aber da ich mir sicher bin, dass sie nicht viel mehr wissen kann, lass ich das Mädchen ihre Arbeit tun.

Physik, die dritte Stunde ist angebrochen und Herr Dünster wuselt wie immer verwirrt durch das große Klassenzimmer mit dem gefliesten Pult.

„So, wie sie wissen, meine Herrschaften, steht im Februar die Studienfahrt für den Physik LK an. Wir werden nach Paris fahren, mit dem Bus. Kostenpunkt 340 Euro für 4 Übernachtungen. Noch Fragen?“

Stimmt, die Studienreise steht ja bald an. Na das kann ja heiter werden, wenn ich mit Sandra, Tobias und Mandy 4 Nächte überstehen sollte. Skeptisch blicke ich auf den Zettel, den der verwirrte Physiker soeben durch die Reihen geben hat lassen.

Mittlerweile habe ich mich auch an Manuels Anwesenheit beim Training gewöhnt, obwohl jedes mal wieder die Erinnerung an diese eine Nacht in mir hoch steigt und die damit verbunden Schmerzen zurück kommen.

Heute würde das letzte Training sein und es war bei uns zum Brauch geworden, dass wir an diesem Tag alle gemeinsam Essen gingen. So ist es auch heute.

Wir sitzen bei einem guten Italiener, essen Pizza und lassen uns über alle möglichen Kämpfe aus.

Manuel sitzt neben mir und wird natürlich mal wieder von unzähligen Mädchen umschwärmt. Hin und wieder wirft er mir einen nervösen Blick aus dem Augenwinkel zu. Ich frage mich, was er wohl hat. Seit unserem 'Spaziergang' kam das Thema über unsere gemeinsame Nacht nie wieder auf und ich hatte einen Schlussstrich unter die Sache gesetzt.

Es ist kurz vor zwölf als die schwatzende Meute das Restaurant verlässt. Draußen herrschen Minusgrade und mir graust es davor, den Weg nach Hause zu laufen.

Jetzt schon fröstelnd mache ich mich auf den Weg in Richtung Heimat. In den letzten 3 Tagen hatte es glücklicherweise nicht mehr geschneit, sodass die Wege geräumt waren und die Gefahr auf dem Hintern zu landen geringer war als sonst.

Ein Auto nähert sich von hinten und fährt langsam neben mir her. Ich blicke nach links und sehe, wie das Fenster von der Beifahrertür herunter gelassen wird.

Da wird sich wohl mal wieder jemand verfahren haben und ich trete näher an den blauen Golf heran.

„Huch, Manuel“, stoße ich hervor, als ich den attraktiven Mann sehe.

„Steig ein, du holst dir noch den Tod.“

Normalerweise hätte ich sein Angebot nicht angenommen, aber die Temperaturen, die draußen herrschen, ziehe ich der Wärme des Autos doch nicht vor.

Dankend steige ich in das Auto ein und schnalle mich an. Die warme Luft, die aus den Luftschlitzen der Heizung dringt, jagt mir einen Schauer über die Haut.

„Da vorne links“, navigiere ich ihn.

Nach fünf Minuten Fahrt erreichen wir unser Haus. Ich schnalle mich ab und bedanke mich herzlich bei Manuel.

Dieser kaut immer noch nervös auf seiner Lippe herum. Verwundert mustere ich sein hübsches Gesicht.

„Was ist denn? Probleme?“

Er fasst durch sein Haar, wie es damals Tobias schon getan hat, als er sich unsicher fühlte.

„Los, raus mit der Sprache“, fordere ich ihn auf.

„Nun ja, ich hätte da was. Eine Kleinigkeit. Nichts Großes.“

Schüchtern reicht er mir ein kleines Päckchen. Verwirrt schaue ich auf das rote Geschenkpapier auf dem kleine Schneemänner zu sehen sind.

„Danke“, stoße ich heraus und will ihn höflichkeitshalber umarmen. Meine Arme schließen sich um seinen Hals und wieder erscheinen die Bilder seines nackten Körpers vor meinem geistigen Auge. Verlegen lasse ich von ihm ab und meine Hand wandert zum Türöffner.

Doch ehe die Tür öffnen kann, greifen mich zwei Hände und ziehen mich an einen warmen Körper.

„Wa...“, weiter komme ich nicht. Seine kalten Lippen pressen sich auf die meinen. Ich versuche mich nicht zu wehren und genieße die Zuneigung, die mir zuteil wird. Mein Herz schmerzt. Urplötzlich rauschen Gefühle auf mich zu, die all das aufwirbeln, was ich versucht hatte, die ganze Zeit zu vergraben. Da ist diese unerfüllte Liebe zu Sandra, diese Intrige, die sich um mich gesponnen hat und all die Sorgen, die sich meine Mutter um mich macht. Verzweifelt kralle ich mich in die dunkelblaue Jacke von Manuel und erwidere scheu seinen leidenschaftlichen Kuss, in der Hoffnung wieder einmal vergessen zu können und einfach nur den Moment auszukosten.

Nach gefühlten Stunden lösen wir uns atemlos voneinander.

„Gute Nacht“, hauche ich und stürze aus dem Auto.

Völlig verwirrt und überrumpelt von der geballten Gefühlsgewalt sinke ich neben meinem Bett nieder und starre an die Decke.

24. Dezember, Montag

Noch nie in meinem ganzen Leben habe ich mich zu Weihnachten so einsam gefühlt. Es ist kurz vor 6, als wir im Wohnzimmer sitzen und der bunt geschmückte Weihnachtsbaum vor der Glasfront in voller Pracht erleuchtet. Draußen schneit es wieder einmal und das Haus ist vom Duft frischer Plätzchen erfüllt. Eigentlich eine Atmosphäre, in der man sich wohl fühlen sollte, doch meine Gedanken schweifen immer wieder zwischen Sandra und Manuel hin und her. Zu allem Übel hatte durch einen dummen Zufall meine Mutter auch noch den Kuss im Auto gesehen und machte sich unweigerlich Hoffnungen, dass ich mich letztendlich doch noch in den jungen Mann verlieben würde.

31. Dezember, Montag

Silvester. Schon den ganzen Tag kracht und raucht es in den Straßen. Wie jedes Jahr werden die Raketen, die eigentlich das neue Jahr begrüßen sollen vor ihrer Zeit gezündet und treiben Satan in den Wahnsinn. Satan ist über die Feiertage noch fetter geworden und meine Mutter behauptet immer noch felsenfest, dass es sich dabei um das Winterfell handele.

Durch eine glückliche Fügung waren Mels Eltern über Silvester nicht zu Hause und so hatte sich die mittlerweile Blauhaarige kurzerhand dazu entschlossen, eine Party zu geben. Ihr Freund würde auch anwesend sein und ich hatte auch das dumpfe Gefühl, dass ich dort noch jemanden treffen würde, den ich lieber nicht treffen wollte, wenn diese Mengen an Alkohol in der Nähe waren.

In meinen blauen Rucksack stopfe ich allerlei Zeug. Wodka, Energiedrink, Bacardi, Martini und noch einen Rest seltsam aussehenden Kräuterlikörs. Durch Weihnachten und Neujahr hatte mein Vater wieder unzählige hochprozentige Präsente von seinen Klienten bekommen und er war glücklich, mir diese zur Verfügung zu stellen, da die Hausbar längst übervoll ist. Meine Mutter hat sich dazu bereit erklärt eine großzügige Essensspende an die Partygesellschaft zu stiften. Mit gemischten Gefühlen hocke ich mich in unseren Van und starte den Motor. Meine Mutter sitzt neben mir und strahlt, da sie der Meinung ist, dass ich jetzt endlich kein Trübsal mehr blase. Während der Feiertage muss ich wohl unausstehlich gewesen sein.

„Vielleicht kommt ja auch dieser hübsche junge Mann“, säuselt sie vor sich hin.

Bloß nicht, das könnte böse enden, so elendig wie ich mich fühle. Ich parke schief auf der Straße und Mel begrüßt uns freudig an der Haustüre. Es ist zwar erst fünf, aber ich habe mich dazu bereit erklärt, ihr dabei zu helfen, das Haus noch etwas herzurichten und andere partynotwendige Vorkehrungen zu treffen.

Wortreich bedankt sich Mel bei meiner Mutter für das gebrachte Essen.

Wir stehen in der Küche und kosten schon einmal von den Platten, ob das Essen überhaupt gut genug ist.

„Und wie läuft es mit deinem Schatzi?“, frage ich kauend.

„Super. Könnte nicht besser laufen.“

Verwunderlicherweise hat mich Mel seit der Sache von der Party nicht mehr gefragt, wie es um mein Leben steht und ich habe es ihr auch nicht aus freien Stücken erzählt. Aber jetzt bin ich der Meinung, dass ich sie vielleicht doch über den neuesten Stand der Dinge unterrichten sollte. Möglicherweise hilft es mir ja über den Kummer hinweg, wenn ich mit ihr darüber reden kann.

„Weißt du“, will ich das Gespräch beginnen und wärme meine Hände an einer Tasse Tee, „es ist so viel schief gelaufen die letzten Wochen.“

Mel wendet sich von mir ab und geht zum Kühlschrank um einige Getränke kalt zu stellen. Nachdem sie unzählige Flaschen im Kühlschrank gestapelt hat, dreht sie sich wieder zu mir herum.

„Nicht heute“, sagt sie schlicht. Völlig perplex starre ich das zierliche Mädchen an. Ich bin ihre beste Freundin, da habe ich doch das Recht, ihr von meinem Leid zu berichten, oder?

Sie scheint meinen Gedankengang zu erraten lehnt sich lässig gegen die Arbeitsplatte der Küchentheke.

„Das können wir noch ein anderes Mal besprechen. Du solltest heute vergessen und einfach nur die Party genießen.“

Als würde sie über das Wetter reden, nimmt sie auch ihren Tee in die Hand und nippt zweimal an dem heißen Getränk.

„Und noch was. Denk dir jetzt schon mal ein paar gute Vorsätze für dieses Jahr aus. Kann bei dir echt nicht schaden.“

Wütend stelle ich meine Tasse wieder zurück auf die Theke, denn sie war kurz davor mir die Haut auf den Händen weg zu brennen, so fühlte es sich jedenfalls an.

Enttäuscht und auf irgendeine Art und Weise auch ziemlich verletzt mache ich mich auf den Weg ins Wohnzimmer, wo ich einige Kissen und den kleinen Teppich in Sicherheit bringe.

Immer noch mies gelaunt hocke ich auf einem großen Sitzsack und beobachte die Gäste die nach und nach eintrudeln. Viele Leute kenne ich vom sehen her. Auch Mels neuer Lover befindet sich darunter. Er scheint ebenfalls nur wenige von den Leuten zu kennen und gesellt sich sogleich zu mir.

„Hi Claudia, und, bereit das alte Jahr hinter dir zu lassen?“

Er lächelt charmant.

Mehr als du vielleicht denkst, fährt es mir durch den Kopf.

„Bereit auf jeden Fall.“ zwinge ich mich zu einem schiefen Grinsen.

Er beginnt mir irgendetwas über seinen Job bei der Bank zu erzählen und seine tiefe Stimme wiegt mich langsam in eine Art Trance, dass das Geschehen um mich herum einfach verschwimmen zu scheint.

„Manuel“, schlagartig bin ich wieder im hier und jetzt.

„Was?“, bringe ich entsetzt hervor.

„Manuel kommt heute auch. Mel hat ihn eingeladen.“

Mel, dieses Biest. Was hat die nur vor, so kenne ich sie gar nicht. Hat ihr neuer Freund ihr etwa schon so den Kopf verdreht?

Wütend starre ich zu ihr herüber. Sie lässt es über sich ergehen und lächelt nur verliebt ihrem Freund zu. Die benimmt sich ja fast schon wie eine gewisse Frau Klinger.

Noch bevor ich in meinen Gedanken weiter auf sie schimpfen kann, taucht auch schon ein dunkelhaariger Kerl im Türrahmen auf und begrüßt einige von den Leuten herzlich. Dass er schon so viele Leute hier kennt? Vielleicht durch seinen Cousin, der immer noch neben mir sitzt und ihm nur freudig zuwinkt.

Manuel begrüßt mich distanziert mit einem Handschlag und lässt sich neben Mels Freund nieder, dessen Name ich schon wieder vergessen habe. Am liebsten würde ich jetzt wieder nach Hause gehen oder von diesem Sitzsack gefressen werden. Vielleicht hab ich mit Zweiterem ja Glück, denn bekannter weise leben in solchen Dingern ja massig Milben. Ob die es wohl schaffen einen Menschen zu fressen und das auch noch binnen weniger Minuten?

Meine absurden Gedanken spüle ich mit einem Radler herunter. Heute werde ich mich definitiv nicht betrinken.

„Hat es dir gefallen?“ ertönt Manuels Stimme. Ach, der wird sicherlich gerade mit seinem Cousin sprechen.

„Hallo, hörst du mich?“, vorsichtig drehe ich meinen Kopf zur Seite. Verdammt, sein Cousin sitzt ja gar nicht mehr neben mir. Stattdessen ist da jetzt Manuel selber der mich mit erwartungsvollem Blick ansieht.

„Was gefallen?“, frage ich mürrisch und nippe erneut an meinem Pseudobier.

„Na, das Geschenk“, spielt er den Entrüsteten und fährt sich mit seinen schlanken Fingern durch das dichte Haar.

Äh, verdammt. Das Teil liegt immer noch auf meiner Kommode und ich habe es noch nicht ausgepackt. Nervös spiele ich am Etikett meiner Flasche.

„Ja, danke! Ist echt toll!“ lüge ich wie gedruckt.

„Das freut mich, hoffe du kannst es auch gebrauchen!“

„Ja klar!“ Verdammt, wenn ich doch nur wüsste was es ist.

„Hatte schon befürchtet du würdest mir deswegen Eine knallen.“

„Ach, aber warum denn?“, lache ich künstlich.

Jetzt ist meine Neugier geweckt. Sollte ich vielleicht kurz meine Mutter anrufen und sie bitten, das Geschenk auszupacken? Mh, schlechte Idee, falls es was Peinliches sein sollte.

Es ist zehn Uhr als einige prollig aussehende Kerle anfangen Trichter-Saufen zu machen. Meinen Sitzsack verteidige ich eisern und Manuel hat sich auch schon ziemlich bald von mir entfernt, als er gemerkt hat, dass ich heute zu keinen großen Gesprächen bereit bin.

Mel meinte ich solle mir Vorsätze machen. Vielleicht den Vorsatz diese ganze Geschichte aufzuklären, noch bevor das Schuljahr endet?

Eigentlich müsste doch Tobias das Reden anfangen, sobald wir mit dem Abitur fertig sind, oder? Weil offensichtlich schützt er ja jemanden, der bei uns auf der Schule ist und es ist ja gar nicht so unwahrscheinlich, dass diese Person auch nächstes Jahr ihr Abitur machen wird.

Aber wenn ich nicht mehr in der Schule bin, ist das ran kommen an Sandra schwer. Gut, ich weiß wo sie wohnt, aber erstmal in ihr Zimmer zu kommen, ist eine ganz andere Sache.

„Wenn man dich so sieht, könnte man meinen jemand hätte dir die Butter vom Brot geklaut.“

Mel hat sich mit auf den Sitzsack gequetscht und sieht mich strafend an. Ich murmele etwas Unverständliches in meine Flasche hinein, die mittlerweile nur noch ein warmes Bier-Limo-Gemisch beinhaltet.

„Komm, genieß' den Abend. Nächstes Jahr wird vielleicht alles anders.“ Ich pfeife verächtlich in die Flaschenöffnung und entlocke ihr einen dumpfen Ton. Da taucht auch schon wieder Manuel an meiner Seite auf. Na klasse, der Abend kann ja kaum noch besser werden, denke ich verächtlich. Doch ein kurzer Blick zur Tür belehrt mich sogleich eines Besseren.

Die Uhr schlägt 22:10 Uhr als ein wunderschönes Mädchen mit schlanken Beinen, dezenten schwarzen Absatzschuhen und in einem braunen eng anliegenden Rock, der ihren perfekt geformten Hintern zur Geltung bringt den Raum betritt.

Ihr zierlicher Oberkörper wird von einem schwarzen Wollpullover bedeckt und um den schlanken blassen Hals liegt ein großmaschig gestrickter Schal. Ihr wachsamer Blick streift durch den Raum und bleibt schließlich auf meiner besten Freundin hängen. Mit sanftem Lächeln, das trotz allem vor Selbstsicherheit nur so strotzt geht sie auf die Gastgeberin der Party zu. Mein Körper wird von blankem Entsetzen gepackt. Unfähig zu denken starre ich die Schöne an, die sich zielsicher in meine Richtung bewegt.

„Hallo Mel, danke für die Einladung.“ sagt Sandra freundlich.

Mein Mund steht offen und starrt ihre engelsgleiche Erscheinung an.

„Guten Abend Claudia“, haucht sie kaum hörbar und meine Finger krallen sich in den festen Stoff des Sitzsacks. Unfähig, ihr nur ein Wort zu erwidern. Mir bricht der Schweiß aus und ein beengendes Gefühl macht sich in meiner Lunge breit. Kaum dass ich es noch wage zu Atmen. Doch Sandra scheint keine Antwort meinerseits erwartet zu haben und ihr Blick streift Manuel.

„Du bist also Manuel. Ich bin Sandra. Ich habe schon sehr viel von dir gehört.“ Ein umwerfendes Lächeln ziert ihr Gesicht und mit einer gekonnten Bewegung wirft sie ihr feuerrotes Haar nach hinten.

Schlagartig kralle ich mich in Mels Arm, auf deren Gesicht sich weder Verwunderung noch sonst etwas anderes widerspiegeln.

„Was geht hier vor“, keuche ich kaum hörbar. Ich habe immer noch Angst, dass meine Lunge jeden Moment kollabieren könnte.

„Hast du doch gehört. Hab sie eingeladen.“ Mit diesen Worten steht sie auf und mischt sich wieder unter ihre Partygäste, die gerade dabei sind, Star Wars mit Strohhalmen nach zuspielen.

Mit einem kurzen verächtlichen Blick auf mich, macht Sandra kehrt und folgt.

Langsam füllen sich meine Lungen wieder mit der üblichen Menge Sauerstoff und ein gewaltiger Schauer jagt mir durch den Körper. Meine Hände krallen sich in meine Oberarme, sodass sich an den Fingerknöcheln weiße Stellen bilden. Doch es geht nicht anders. Anders könnte ich das Zittern, das meinen Körper nun fest im Griff hat, nicht kontrollieren.

„Hey, alles in Ordnung. Du bist bleich wie der Tod.“

Manuel hockt sich besorgt neben mich auf den gefliesten Boden.

Nichts. Nichts ist in Ordnung. Mel, was hast du mir angetan?

Warum ist sie hier? Warum gerade sie? Meine Gedanken überschlagen sich immer weiter und mein Magen krampft sich schmerzhaft zusammen. Ich kenne dieses Gefühl. Hastig drücke ich Manuel mein Bier in die Hand und sprinte zum Klo.

Immer noch weiß wie eine Wand und mit wahnsinnigen Magenschmerzen starre ich mein eigenes Spiegelbild an. Ich halt es nicht aus. Ich kann hier nicht bleiben.

Ich wanke zurück in den Gang und lasse mich auf die Treppe fallen, die nach oben führt. Mit zitternden Händen versuche ich die Bänder meiner Schuhe zu binden. Doch ich habe kaum Kraft den Knoten fest zu ziehen, als plötzlich ein Schatten meine Sicht verdunkelt.

Ich will weiter meine Bänder binden, als die Person plötzlich zu mir nieder kniet und meine Hand festhält. Mein Blick wandert über die schwarzen Schuhe und den braunen Rock, bis ich ihr direkt in das Gesicht schaue.

Meine Hände fangen an der Stelle an zu brennen an der sie mich berührt. Am liebsten würde ich mich losreißen und hinaus rennen. Weg von ihr. Weit weg. Doch ihr Blick hält mich fest im Bann.

„Du bleibst schön hier. Und zwar bis zum Ende der Party.“ sagt sie schlicht.

Ich mustere ihre Augen, die mich wie ein Raubvogel taxieren, dann ihre roten Locken die über ihre Schulter hängen.

„Ich bin krank. Ich geh nach Hause.“ versuche ich so fest wie möglich zu ihr zu sagen, doch ich bringe nur ein erbärmliches Krächzen hervor. Abermals beginnen meine Hände zu zittern und sie spürt es.

„Du bist nicht krank. Körperlich zumindest nicht.“ mit einer graziösen Bewegung steht sie wieder auf und lehnt sich lässig gegen die Haustür. Ein Zeichen dafür, dass sie mich da nicht mehr so schnell raus lassen wird.

Ich werfe meine Schuhe zurück in den Flur und schlurfe in die Küche. Meine Knie sind immer noch wie Pudding und ich will nicht zurück zu der fröhlichen und feiernden Meute.

Kurze Zeit später taucht auch schon wieder Manuel auf, der mir brav meine Bierflasche hinterher trägt. Ich nehme ihm das Gesöff ab und kippe es leicht hin in den Abfluss. Trinken werde ich definitiv heute nur noch Tee.

„Soll ich dich vielleicht nach Hause bringen, du siehst nicht gut aus?“

Klar, wenn du dich an dem Tiger vorbei wagst, gerne.

„Geht schon.“ antworte ich geistesabwesend und starre aus dem Fenster hinaus. Draußen ist es ziemlich still geworden und leichte weiße Flocken fallen auf die dicke Schneedecke im Vorgarten.

Manuel weicht mir kaum noch von der Seite. Entweder macht er sich Hoffnungen, dass ich mich gnadenlos betrinken werde und dann, weil es sich natürlich anbietet, mit zu ihm nach Hause gehen oder er macht sich Sorgen, dass ich jeden Moment umkippen könnte. Ihm scheint es auch wenig auszumachen, die komplette Silvesterparty in der Küche zu verbringen. Mich würde mal interessieren ob Sandra immer noch die Haustür bewacht oder sich mittlerweile wieder unter die Gäste gemischt hat? Wenn ja, lässt sie die Türe sicherlich nicht unbeobachtet.

Hat die echt nichts Besseres zu tun, als auf die gleiche Party wie ich zu gehen? Vor allem was ist mit Carsten? Der wollte doch über Weihnachten hier her kommen, oder ist er etwa schon wieder gefahren?

„Das ist ja Wahnsinn was Mel alles für Leute kennt.“ versucht Manuel erneut ein Gespräch zu beginnen und reicht mir die Tasse Tee, die er für mich zubereitet hat.

„Nun, sie kennt jedenfalls eine Person nicht.“

Manuel wirft mir einen fragenden Blick zu.

„Wen denn?“

Schlagartig fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, woher Sandra denn von der Nacht mit Manuel wissen konnte. Ich habe mich immer noch in der Hoffnung gewiegt, dass wohl einer der Gäste zufällig mit Sandra befreundet sein könnte und dass da irgendwas durchgesickert wäre. Aber besteht nicht die Möglichkeit, dass es Mel höchst persönlich war, die zu ihr gerannt ist und gepetzt hat? Das würde auch Sandras auftauchen in gewisser Weise erklären? Aber wozu das alles? Was geht in meiner besten Freundin vor, die ich glaube zu kennen?

Eine halbe Stunde vor Mitternacht verschwindet Manuel ins Wohnzimmer um sich etwas Neues zu Trinken zu holen. Mehrere Versuche mich ins Wohnzimmer zu schleifen, schlugen fehl. Ein Hoch auf meine Willensstärke – zumindest ihm gegenüber.

Wieder starre ich aus dem Fenster und sehe den schwach beleuchteten Vorgarten. Die blätterlose Hecke hat einen weißen Überzug und der kleine ovale Buchsbaum trägt eine Kappe aus weißem Schnee. Wahrscheinlich werden in einer halben Stunde die ersten Kracher diese friedliche Pracht zerstören und dreckige Löcher zurück lassen.

„Also eins muss man dir ja lassen Claudia, ein Talent gut aussehende Leute ins Bett zu kriegen hast du ja zweifellos.“

Eine Person mit eisiger Stimme ist hinter mir aufgetaucht. Das Klacken der Tür verrät mir, dass diese soeben geschlossen worden ist und ein Glas wird auf den Tresen gestellt.

Schwer atmend drehe ich mich zu Sandra um, die lässig gegen den Kühlschrank lehnt. Natürlich hat sie längst durchschaut, dass ich mich hier vor ihr verstecke und nutzt die Gelegenheit, mich weiter in die Enge zu treiben. Was soll dieses Spielchen Sandra, du hast selbst gesagt, dass ich dir mittlerweile egal bin. Also kannst du dir das jetzt auch sparen.

Ich schweige.

„Ach, das muss dir doch nicht peinlich sein. Würde ich mich für andere Männer interessieren, würde er sicherlich auch in mein Beuteschema fallen.“ Wie eine Katze schleicht sie durch die Küche und lässt mich keine Sekunde aus den Augen, obgleich sie Angst hätte, irgendeine Regung von mir zu verpassen.

„Was soll das? Wir sind kein Paar mehr, beziehungsweise waren wir ja nie eins. Also mach jetzt hier auch keinen Aufstand, nur weil ich mit ihm im Bett war.“

Ihre schmalen Lippen kräuseln sich.

„Ob Paar oder nicht, wäre damals eine durchaus interessante Frage gewesen. Aber wie du schon sagst, es ist ja jetzt völlig hinfällig und du hast Spaß mit deinem Schätzchen, nachdem dir die werte Elisabeth ja offenbar zu langweilig war.“

Die Kreise die sie um mich zieht werden immer enger. Ehe ich mich versehe steht sie nur noch wenige Zentimeter von mir entfernt und ich spüre ihren warmen Atem auf meinem Gesicht. Sie atmet schneller als normal. Ihre rosigen Lippen öffnen sich und schließen sich sogleich wieder. Völlig befangen, merke ich nicht wie die Tür aufgerissen wird.

„Hey, die anderen wollen schon ...“ Manuel verstummt.

Mit einem triumphierenden Lächeln dreht mir Sandra den Rücken zu und geht mit wackelnden Hüften Richtung Tür. Auf Manuels Höhe fasst ihre schlanke Hand nach seinem ausgeprägten Kinn und umfasst es sanft.

„Hübscher Kerl“, haucht sie und verschwindet zur Tür hinaus.

Mein Blut brodelt. Lass die Finger von ihm, schießt es mir durch den Kopf. Sie soll seine Haut nicht berühren. Niemals.

Verwundert zieht Manuel seine für einen Mann recht schmalen Augenbrauen nach oben und geht weiter auf mich zu.

„Die anderen wollen schon raus gehen. Kommst du mit? Wir haben zwar noch 20 Minuten, aber das Spektakel um 12 Uhr möchte ich mir eigentlich nicht entgehen lassen.“

Immer noch verwirrt stimme ich stumm seinem Vorschlag zu, nippe an meinem Tee und quetsche mich hinaus in den Flur, wo schon mehrere Leute verzweifelt nach ihren Schuhen und Jacken suchen, die quer in dem ganzen schmalen Raum verteilt liegen.

Jetzt komme ich doch noch eher aus diesem Haus raus, als Sandra gedacht hat. Eigentlich könnte ich doch klammheimlich abhauen, denke ich gehässig.

Der Geruch von Schwarzpulver hat sich mit dem Geruch des frischen Schnees vermischt. Eine durchaus eigensinnige Mischung. Mein Blick wandert hinauf in den Himmel, wo tausende von kleinen Sternen zu sehen sind. Es hat aufgehört zu schneien. Ein paar Korken von Sektflaschen knallen und zwei kreischende Mädchenstimmen verraten mir, dass das Gesöff ihnen wahrscheinlich gerade über die Hände läuft, weil sie den Druck in der Flasche durch schütteln oder andere schnelle Bewegungen erhöht haben. Warum gibt es zu Silvester eigentlich immer Sekt? Glühwein wäre bei den Temperaturen doch angebrachter.

Sandra steht 5 Meter von mir entfernt in einen dicken schwarzen Mantel gehüllt und sie versinkt fast bis zu den Knöcheln im Schnee, der selbst auf der Straße geschätzte zehn Zentimeter hoch liegt. Sie zittert am ganzen Leib. Tja, das kommt davon wenn man bei diesen Temperaturen mit Rock losstöckelt. Gleichzeitig muss ich den starken Drang unterdrücken zu ihr hinüber zu gehen und sie mit meinem Körper zu wärmen.

„Sag mal, in welcher Beziehung stehst du eigentlich zu ihr?“, fragt Manuel fast beiläufig und deutet mit seiner Flasche in Sandras Richtung, die uns soeben den Rücken zugewandt hat.

„Kenne sie von der Schule.“

„Ach...“

Er glaubt mir nicht. Hat Mel jetzt etwa auch noch bei ihm gepetzt und ihn dazu verpflichtet sich um die arme verzweifelte Claudia zu kümmern. Mel scheint sich wenig aus ihrem Verrat zu machen und geht ganz in ihren Pflichten als Gastgeber auf, indem sie die eh schon recht betrunkenen Gäste immer weiter mit alkoholischen Getränken versorgt. Immer an ihrer Seite ihr neuer Freund, dessen Name mir immer noch nicht eingefallen ist. Fragen wäre schließlich viel zu einfach und zu dieser späten Stunde wahrscheinlich auch irgendwie peinlich.

„FÜNF, VIER, DREI“, jetzt geht gleich die Knuddelorgie los, „ZWEI“ und tschüss du wunderbares Jahr, „EINS ... NULL“.

Oh Freude, ein neues Jahr. Das Pfeifen von Raketen ist von allen Seiten zu hören. Munter stoßen alle an und begießen das neue Jahr. Von weiter entfernt proste ich der Meute mit meinem Kamillentee zu. Jetzt gehen gleich die Glückwünsche und die Umarmungen los. Oh wie ich mich ja jetzt nach Nähe sehne, denke ich finster. Und meine Vorsätze habe ich auch nicht richtig ausformulieren können.

„Ich wünsch dir alles Gute für das neue Jahr!“

zwei kräftige Arme umschließen mich und drücken mich an eine dunkelgraue Jacke. Der Geruch von Aftershave dringt in meine Nase und zaghaft erwidere ich die Glückwünsche und die Umarmung. Ich halte mich nicht länger als nötig an ihm fest und sehe in seine strahlenden Augen. Er hat sich wohl sehr nach Nähe gesehnt. Verschämt richte ich meinen Blick auf die Leute, denen ich der Höflichkeit wegen auch ein gesundes Neues wünschen sollte.

Ich arbeite mich mehr oder weniger systematisch durch die Leute durch, bis ich schließlich bei Mel ankomme. Der Himmel ist erfüllt von vielen bunten Lichtspielen und das Pfeifen der Raketen will kein Ende nehmen. Über den verschneiten Straßen hängt mittlerweile ein dichter Rauch und von dem Geruch des Schnees ist nicht mehr viel übrig. Zwei betrunkene Partygäste hantieren ziemlich ungeschickt mit Chinaböllern.

„Ein gesundes Neues wünsch ich dir!“, raune ich Mel ins Ohr, „das heute wird noch ein Nachspiel haben.“ und drücke sie fester als sonst an mich.

„Danke, das wünsch ich dir auch!“, erwidert sie lachend.

„Und vergiss ja nicht, einer ganz besonderen Person deine Glückwünsche zu überbringen. Du wurdest ja schließlich gut erzogen.“

Sie hat ja recht. Ich sollte mir nicht die Blöße geben und sie völlig ignorieren. Am Ende kommt sie wieder an und stellt mich als absoluten Idioten hin.

Meine Schritte knarren unter den fest getrampelten Schnee. Sie steht abseits der Menge und starrt in den Himmel, der in den prächtigsten Farben erstrahlt. Der Himmel ist nichts gegen dich.

„Sandra“, sie senkt ihren Kopf und blickt mich erwartungsvoll an. Unsicher breite ich meine Arme aus. Ich habe heute schon jeden Idioten umarmt, warum soll ich sie dann auslassen. Es würde ihr eher einen Grund zum meckern geben, wenn ich es nicht tun würde. Unsicher blickt sie mich und geht einen Schritt auf mich zu. Vorsichtig legt sie ihre Hände auf meinen Rücken und sinkt sanft in meine Arme.

„Ich wünsche dir ein gesundes neues Jahr“. Zaghaft berühren meine Hände ihren Rücken, der immer noch vor Kälte zittert. Das Gefühl, jeden Moment in Tränen auszubrechen steigt meinen Hals empor und am liebsten würde ich sie noch viel fester an mich drücken. Doch es geht nicht. Es ist vorbei. Aber das will ich nicht wahr haben, nicht jetzt. Nicht in diesem Moment, in dem ich mit ihr allein auf der Welt zu sein scheine.

„Danke Claudia, dir auch.“ wispert sie in mein Ohr. Sanft lehne ich mich wieder zurück und kann ihr das erste Mal seit langen wieder geradlinig in ihre wunderschönen Augen blicken. Mir kommt es so vor, als würde sich der Himmel in ihnen widerspiegeln. Ihr Mund ist leicht geöffnet und ihre Lippen beben. Sie sollte wieder rein gehen, wenn sie sich hier draußen nicht den Tod holen will.

„Also dann“, ich drehe mich um wieder Richtung Manuel zu steuern. Plötzlich wird meine Hand gepackt und ich reiße den Kopf in ihre Richtung herum. Sie steht immer noch mit geöffnetem Mund da und starrt mich mit großen Augen an. Will sie etwas sagen?

Aber was.

Die Minuten verstreichen und das Krachen um uns herum verstummt allmählich. Das Knallzeug scheint alle zu sein und niemand hat sich die Hand abgefackelt, jedenfalls nicht von uns. Ein guter Schnitt bei diesem Alkoholpegel. Stattdessen haben die Jugendlichen jetzt mit einer wilden Schneeballschlacht angefangen und Manuel ist mitten drin. Doch das interessiert mich nicht. Das was mir jetzt wichtig ist, steht vor mir und starrt mich mit unentschlossenem Blick an.

„Wie stehst du zu ihm?“, flüstert sie in die Kälte.

Es ist nicht schwer zu erraten wen sie mit „ihm“ meint. Noch bevor ich eine Antwort auf die Frage finden kann, stürze ich mich auf sie und packe ihren Oberkörper und drücke diesen nach unten.

Im nächsten Moment fliegt ein Schnellball dicht über unseren Köpfen vorbei.

„Was...?“ keucht sie. Doch das Klatschen des aufschlagenden Schneeballs gegen eine Mauer, gibt ihr die Antwort.

Ich knie mit meinen Jeans im Schnee, sie ist auf mich gestützt und mein Griff hält sie fest an mich gebunden. Ihr warmer Atem streift meinen Hals und sie zittert immer noch.

Selbstzufrieden drehe ich meinen Kopf in ihre Richtung.

„Das war knapp.“

Ihre Augen sind geschlossen und ihre Lippen beben. Nach wenigen Sekunden helfe ich ihr auf. Sie schaut mir nicht in die Augen, sondern bedankt sich nur kurz und macht sich auf den Weg ins Haus.

Benommen streiche ich über die Stelle an meinem Hals, die vorher noch von ihrem Atem berührt worden ist. Ich bin ein Idiot.

Klatsch.

Ein Schneeball trifft mich mit voller Wucht am Hinterkopf und ich komme ins taumeln. Wütend drehe ich mich um und brülle, wer das war. Kurzerhand schnappe ich mir eine Hand voll Schnee und forme diesen zu einer Kugel. Wild brüllend stürze ich mich ins Geschehen und sogleich fliegen noch mehr Bälle auf mich.

Zwei Hände packen mich von hinten und drücken mir eine Hand voll Schnee ins Gesicht. Ich will schreien, aber mein Mund ist sogleich voller weißem Pulver.

Durchgefroren, aber dennoch glücklich machen wir uns nach einer halben Stunde wieder zurück ins warme Haus. Meinem Magen geht es auch wieder besser und ich habe beschlossen noch ein Bier zu trinken um dann später langsam Richtung Heimat zu laufen. Meine Wangen brennen von der Kälte, als ich mich auf der älteren grünen Couch nieder lasse und eine Bierflasche mit dem Feuerzeug öffne. Der Kronkorken fliegt quer durch den Raum und landet mit einem Klimpern auf den Fliesen. Mel wird das morgen schon aufräumen. Mit klappernden Zähnen gesellt sich wie zu erwarten Manuel wieder zu mir.

„Brrr, ist das kalt.“ er reibt seine Hände.

„Dir scheint es ja wieder besser zu gehen.“, stellt er mit einen Blick auf die Flasche in meiner Hand fest. Verträumt nippe ich an meinem Getränk.

„Wie lange hast du noch vor zu bleiben?“

Das sprudelnde Getränk gelangt in meine Luftröhre. Unter kräftigen Husten stelle ich die Flasche auf den Tisch und schlage mir mit der Faust gegen den Brustkorb.

Es dauert bis ich wieder richtig atmen kann. Mit hoch rotem Kopf entgegne ich ihm, dass ich eigentlich nur noch austrinken wollte und mich dann langsam auf den Heimweg machen werde.

„Das trifft sich gut. Ich bring dich noch nach Hause.“

Argwöhnisch drehe ich den Kopf in seine Richtung.

„Du wohnst doch in die entgegensetzte Richtung.“

Lässig zuckt er mit den Schultern und führt einen Plastikbecher, der mit einem undefinierbaren Getränk gefüllt ist zum Mund.

„Mach dir mal keinen Stress. Ich find' schon alleine heim.“ versuche ich ihn von seinen Vorhaben abzubringen. Am Ende bringt der mich womöglich noch mal dazu, mit ihm in die Kiste zu springen und darauf kann ich gut und gerne verzichten. Es reicht schon, dass ich mich seit meiner missglückten Entjungferung noch unsicherer als zuvor fühle.

„Nein, ich fühle mich wohler, wenn ich weiß, dass du sicher in deinem Bett gelandet bist.“

Sollte ich vielleicht doch lieber hier schlafen? Vielleicht in einem von den Betten die in dem Zimmer stehen, wo vorhin Franziska und Peter verschwunden sind. Wäre mir sicherlich lieber, als dass sich Manuel versichert, dass ich in meinem Bett liege. Aber womöglich würde er sich dann auch noch zu mir gesellen, wenn ich hier schlafen würde.

„Warum gehst du eigentlich heim. Du hättest doch sicherlich auch hier pennen können. Dann würdest dir eine Stunde laufen sparen.“ Beziehungsweise würdest du dir 1 ½ Stunden laufen sparen, weil du mich dann sicherlich nicht nach Hause bringen dürftest.

„Ach, ich hatte einfach keine Lust hier zu schlafen. Die eine Stunde macht schon nichts. Kann ja notfalls auch joggen, wenn es schneller gehen soll.“ Er lehnt sich zurück in die Kissen und ich beschließe doch etwas länger zu bleiben in der Hoffnung, dass er dann doch zu müde wird um mich heim zu bringen.

Es ist zwei Uhr, als auf vielen Gesichtern die ersten Müdigkeitserscheinungen zu sehen sind. Nur Manuel ist zu meinem Bedauern noch top fit und labert auf mich ein. Wenn das so weiter geht, komme ich hier nie weg. Entnervt gehe ich in die Küche um mir einen Kaffee zu kochen. Vielleicht kann ich so länger durchhalten. Hatte Mels Mutter nicht immer Schlaftabletten im Schrank die ich ihm unter mischen könnte? Mit einem teuflischen Grinsen betrete ich die kleine Küche. Zu meiner Überraschung ist Sandra doch noch auf der Party und sitzt auf der hölzernen Arbeitsplatte.

„Huch, wusste gar nicht, dass du noch da bist.“ Ich gebe zwei gehäufte Löffel Kaffee in den Filter der Maschine.

„Konnte mich noch nicht dazu durchringen heim zu gehen.“ Fast beiläufig streicht sie ihren Rock glatt.

„Gefällt dir die Party etwa so gut?“ Ich fülle einen halben Liter Wasser in das Behältnis der Kaffeemaschine und schalte sie an.

„Könnte besser sein, habe ja nicht so einen aufmerksamen Anhang wie du.“

Die Maschine gluckst munter vor sich hin und die ersten Tropfen fallen in die Plastikkanne.

„Hättest ja Carsten mitnehmen können oder hast du ihn schon wieder heim geschickt?“

Ich lehne mich gegen die Arbeitsplatte und beobachte den Sekundenzeiger der kuhförmigen Küchenuhr. Mit ihren weißen Zähnen beißt sie sich auf die Lippen und streicht eine rote Locke zurück, die ihr ins Gesicht gefallen ist.

„Er war gar nicht da.“

Oho, interessant. Was das wohl heißen mag? Meine Gedanken beginnen sogleich wieder die wildesten Auswüchse anzunehmen und ich wage mich noch ein wenig weiter nach vorne.

„Also was meine Begleitung angeht, so bin ich eigentlich nicht sonderlich scharf drauf. Ich meine, wie du schon so treffend festgestellt hast, ist er eine gute Partie, aber mehr ist da nicht.“

Verdammt, ich könnte mich ja eigentlich gleich nackt vor sie stellen und mir ein „Nimm mich“ Schild um den Hals hängen, das wäre wahrscheinlich unauffälliger.

Das Brodeln der Kaffeemaschine. Das Ticken des Sekundenzeigers. Nervös verfolge ich seine Bahnen.

„Das wird ihn nicht freuen zu hören. Er scheint wirklich in dich verliebt zu sein. Wie er dich ansieht und dann bleibt ihm natürlich nur noch die Erinnerung daran, dass du ihm deine Unschuld geschenkt hast. Der arme Kerl.“

Ja, das ist wieder eine Seite an Sandra die nur selten zum Vorschein kommt. Wenn sich der Vorhang hebt und all die Arroganz und die Feindseligkeit davon geschwemmt werden. Ich lächele in mich hinein.

„Ich denke er weiß längst, dass ich nicht so für ihn empfinde. Aber wahrscheinlich will er es einfach nicht wahr haben, so wie ich viele Dinge einfach nicht wahr haben will.“

Wieder herrscht Schweigen. Ich mache mich auf die Suche nach den Schlaftabletten und finde sie sogleich im Notfallkästchen in einem Hängeschrank. Eine sollte vorerst reichen. Ich nehme zwei Tassen aus dem Schrank und gebe in die Tasse mit dem Hundebaby drauf, die Tablette. Der Kaffee ist mittlerweile auch fertig und ich bin gerade dabei, das braune Gebräu in die Tassen zu gießen.

„Was tust du da?“, fragt Sandra total entsetzt und springt von der Küchenplatte um meine Hand mit dem Kaffee festzuhalten.

Verwundert blicke ich sie an.

„Manuel eine leichte Schlafdosis verpassen, damit er mich nicht nach Hause bringen will.“

Ihre Hand hält meine fest umklammert.

„Meinst du, er will dich wieder ins Bett kriegen?“, flüstert sie kaum hörbar.

Was ist das für eine Atmosphäre zwischen uns? Diese Frau hat mich noch vor ein paar Wochen um Schlaf und Verstand gebracht und mich vor der kompletten Schule als Hure bezeichnet und mir vor allem noch eine gescheuert, die sich echt gewaschen hat. Und jetzt, diese Zärtlichkeit in ihrer Stimme und dieser besorgte Blick. Mein Herz fängt an zu rasen. Ich will sie umarmen, wie vorhin im Schnee und vor allem küssen. Ihre sanften Lippen wieder auf meinen schmecken.

Ihre Hand umgreift immer noch mein Handgelenk. Ich nehme die Kanne in die andere Hand und stelle sie ab.

Ruckartig ziehe ich sie ein Stück zu mir her und flüstere in ihr Ohr, das meinem Mund jetzt ganz nahe ist.

„Ja, ich denke er will mit mir nochmal ins Bett.“

Erschrocken tritt sie einen Schritt zurück.

„Dann solltest du aber Schlaftabletten nicht mit Kaffee mischen.“ Langsam lässt sie meine Hand wieder los. Nein, ich will, dass sie mich wieder berührt. Egal wie.

„Warum hast du mich damals als Hure bezeichnet?“, bricht es aus mir heraus. Sie scheint absolut nicht mit dieser Frage gerechnet zu haben und ringt mit den Worten. Sie ist sprachlos. Absolut sprachlos.

Sie weiß sicher, warum sie so reagiert hat, doch sie kann es mir nicht sagen und will es sich auch nicht selber eingestehen. Ich bedeute ihr mehr, als ihr vielleicht bewusst ist. Das ist mir jetzt klar. Ein sanftes Lächeln huscht über meine Lippen und ihre Reaktion ist mir Triumph genug für diesen Abend.

Ich drehe mich wieder zu meinen Tassen herum und hole die Tablette aus der Hundetasse heraus. In diesem Moment schlingen sich zwei dünne Arme um meinen Hals und ein zitternder Körper presst sich an meinen. Völlig perplex lasse ich die Tasse fallen, die sofort auf dem Boden zerschellt. Ihr Atem geht schneller und unsere Gesichter sind sich ganz nah. Es gab viele solcher Momente in der Vergangenheit, aber da waren wir am Anfang. Da gab es noch nicht diesen ganzen Zweifel und diese ganzen Missverständnisse, die jetzt immer noch im Verborgenen liegen, denke ich bitter. Ihre zarten Lippen beben und ihre Augen sind geschlossen. Sie will mich. Jetzt.

Sanft lege ich meine trockenen Lippen auf ihre und mein Herz ist kurz davor in tausend Teile zu zerspringen. Ihre Wärme, ihr Geschmack. Wie habe ich das vermisst, so muss sich ein Kuss anfühlen. Das ist die Erfüllung, nicht irgendwelcher emotionsloser Sex der im Suff vollzogen wird und bei dem man sich am nächsten Morgen aus dem Haus schleichen muss. Meine Hände krallen sich in ihre weichen Haare und ein Seufzer entfährt ihr. Sandra beißt gierig in meine Lippen und bewegt die ihren heftig und verlangend. Fast atemlos erwidere ich ihren Kuss immer mehr. Mir ist es vollkommen egal ob jetzt irgendjemand in die Küche spaziert kommt. Schlagartig stößt sie sich von mir weg und mein Blick wandert zum Türrahmen. Mel lehnt gegen den dunklen Holzrahmen und grinst. Als sie meinen Blick bemerkt, macht sie die Tür hinter sich zu. Sogleich kreisen meine Gedanken wieder um Sandra die mit glänzenden Augen vor mir steht und meine gerade noch euphorischen Gedanken schlagen um in tiefste Trauer.

„Warum?“, eine Träne die über ihre Wange rinnt, wische ich mit meinem Daumen weg.

„Was warum?“, frage ich zaghaft. Warum ich dich geküsst habe?

„Warum hast du sie so nah an dich heran gelassen und warum bist du auch noch mit diesem Schönling in die Kiste gesprungen?“

Ich keuche. Warum? Die Antwort würdest du mir nicht glauben.

Seufzend drehe ich mich von ihr weg und starre auf den Boden, wo mehrere große Scherben liegen. Abermals kommt sie einen Schritt auf mich zu und packt mich mit ihren dünnen Fingern an den Oberarmen.

„Warum?“, wiederholt sie leise.

„Würdest du denn die Wahrheit glauben, wenn ich sie dir sagen würde?“

Ihre grünen Augen blitzen und nervös streicht sie wieder die eine Strähne hinter das Ohr.

„Ich will mir zumindest anhören was du zu sagen hast.“ antwortet sie nach längerem überlegen schließlich. Ich muss grinsen. Ja, jetzt weiß ich es ganz sicher. Ich bin ihr wichtig.

Vorsichtig nehme ich sie in den Arm und drücke meinen Kopf gegen den ihren.

„Wir hatten uns damals gestritten und du hast meine Gedanken so vereinnahmt, dass ich nichts mehr mitbekommen habe.“ Nervös streiche ich meine schwarzen Haare glatt. „Lissi hat diese Situation ausgenutzt und noch bevor ich realisieren konnte das du in der Tür stehst, hatte sie schon wieder ganz andere Sachen im Sinn.“ Sandra macht eine verneinende Kopfbewegung doch ich lege ihr den Zeigefinger auf die Lippen um ihr die Worte abzuschneiden.

„Hör mir bitte weiter zu. Zu Manuel, wo soll ich da nur anfangen. Es war einige Wochen später. Mel hat mich dazu gezwungen mit auf diese Party zu gehen. Ich war so gefrustet, weil ich glaubte, dass du mich hasst, dass ich mich maßlos betrunken habe. Nun, Manuel kenne ich schon ziemlich lange. Er hat mich mal aus der Halle getragen, als ich bei dem einen Wettkampf ein K.O. einstecken musste. Es war die Party von seinem Cousin, Mels Freund und er war da eben auch anwesend. Nun, ich wollte nur noch vergessen und dann war ich im Laufe des Abends der Meinung, dass ich das am besten tun könnte, wenn ich mit einem Kerl schlafe. Ich weiß, es war eine wahnsinnig blöde Idee und es tat auch höllisch weh, aber ...“ Unbeholfen zucke ich mit den Achseln.

Sandra ist aschfahl im Gesicht.

„Aber was soll ich sagen, selbst als er mit mir geschlafen hat und ich wahnsinnige Schmerzen hatte habe ich...“, ich merke wie mir das Blut in den Schädel schießt,“... nur an dich denken können.“

Sandras Kopf legt sich gegen meine Schulter und ihre Hände streichen meine Oberarme entlang.

„Für heute ist genug geredet. Lass uns nach Hause gehen.“

Die Party ist beendet. Ohne ein Wort zu Mel oder Manuel verschwinden wir fast geräuschlos aus dem Haus.

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