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Ich hab es mir nicht ausgesucht...

Wie alles begann...

Teil 14 - Die SMS, Geheimaktion, Schulklo und Lügen...

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Julian

Nachdem Tim gegangen war, räumte ich erstmal mein Zimmer wieder etwas auf. Die restlichen Eierkuchen und Würstchen landeten wieder im Kühlschrank, das Schminkzeug von Mama verstaute ich so gut es ging wieder in ihrem Badschränkchen. Gerade als ich die Stufen zu meinem Zimmer hinaufsteigen wollte, meldete sich mein Handy, Papa. „Hallo Paps, hier bin ich, was gibt es, wann kommst du?“ „Ja hallo Juli, lieber Schatz, grüß dich auch. Wie war dein Tag, erzähl mal.“ Ich berichtete das Wichtigste, das Alltägliche und was man so vom Montag in der Schule erzählen kann. „Du Großer, Mami und ich haben eine Bitte, wir haben alte Bekannte in der Stadt getroffen, die Meiers aus Marxhausen, das waren früher unsere Nachbarn, du warst damals noch sehr klein, bestimmt kannst du dich nicht mehr an sie erinnern. Sie haben uns zum Abendessen eingeladen, wir würden gerne zusagen, aber nur wenn du einverstanden bist. Wenn du magst und Zeit hast, kannst gern dazu kommen, sie würden dich auch gern kennenlernen. Den Bus um dreiviertel Sieben könntest du schaffen, dann bist du halb acht am Markt. Dort treffen wir uns dann, was meinst du dazu?“ „Oh Paps, das ist ganz lieb von euch, dass ihr an mich dabei denkt, aber seid nicht bös, ich bin etwas müde, muss noch meine Sachen packen und macht euch doch bitte einen schönen Abend, danke, ganz liebe Grüße an die Meiers, ja? Vielleicht bin ich noch wach wenn ihr kommt, schaut ihr nochmal bei mir ins Zimmer, bitte?“ „Na klar mein großer Spatz, wir kommen auch nicht so sehr spät nach Haus, danke.“ „Liebe Grüße an Mami, ja danke, tschüssi.“

In Gedanken war ich meinem Zimmer angekommen, was wollte ich eigentlich gerade machen, bevor Papa angerufen hatte? Ach ja, ich rief zum wiederholten Mal die Nachricht, die ich am Nachmittag erhalten hatte, auf. Dieser oder diese (?) „F“ hatte offensichtlich Tim in seinem Zustand gesehen, das konnten nicht so viele sein. Und - ich war erschrocken, diese Person hatte meine Handynummer, woher? Und wusste von Tim und mir, zumindest, dass wir Freunde waren. Und dieser „F“, ich war schon fast sicher, wollte er eine Antwort von mir? Ich beschloss, vorsichtig zu sein. Nicht, dass ich wie Tim auf irgendeine blöde Nachricht reagiere… Ich dachte nach, wer aus meinem Umkreis mit F beginnt, aber außer Franz und Friedrich, die beide in meiner Klasse waren, fiel mir niemand ein. Aber die beiden Nummern waren ja auch in meinem Handy abgespeichert, sie kamen also nicht in Frage. Ich überlegte, welchen Text ich schreiben könnte, ohne mein Interesse zu leicht zu verraten. Ich tippte folgendes ins Handy, „hey du, F, wer bist du und was willst du von mir? J!“ Vielleicht würde „F“ gar nicht antworten, umso besser… unentschlossen hielt ich das Telefon in der Hand… – soll ich? Ich drückte rasch die Sendetaste. Zu spät, die Nachricht war unterwegs. Aufgeregt wartete ich darauf, dass auf der anderen Seite die Häkchen erschienen, die die Übermittelung anzeigten, sichtbar wurden. Zack, da waren sie.

Ich hielt den Atem an, würde „F“ meine Nachricht lesen? Unmittelbar darauf färbte sich das Empfangssymbol blau, „gelesen“. Ich stieß die Luft zischend zwischen meinen Lippen hinaus… Was würde nun passieren?

Nichts geschah, auch nach einer halben, einer ganzen und auch nach zehn Minuten, nichts. Es kam einfach keine Antwort. Was hatte ich erwartet? War es nicht besser, wenn der oder die andere nicht antwortete? Wer steckte hinter dem „F“? Ich wurde den Gedanken nicht los. Allein im Haus überlegte ich einen Augenblick, ob ich meine Nachricht nochmal etwas freundlicher senden sollte, aber nee, wozu, wer weiß, welche Gemeinheit vielleicht dahinterstecken könnte. Am Nachmittag hatte ich schon vorsichtig Tim nach einem „F“ gefragt, mir war nur Falk aus der Nachbarklasse eingefallen, er könnte Tims Schrammen gesehen haben und er wusste ja auch, dass wir befreundet sind… Falk! Ja, das könnte passen, mir fuhr eine Gänsehaut über den Rücken, so, wie der mich heute Nachmittag beim Sport angestrahlt hatte. Mir kamen seine blauen Augen in Erinnerung und wie erstarrt ich war, als er mich mit beiden Armen fest umschlungen festhielt, um mich vor dem Absturz vom Barren zu bewahren… Mir fiel wieder ein, ich hatte vor lauter freudiger Erregung seine Hand viel zu lange festgehalten… Sollte Falk, ich wünschte es mir in diesem Moment, dass Falk mein „F“ wäre…. Aber konnte das sein oder bildete ich mir das bloß ein? Im gleichen Moment erschrak ich, ich schluckte, das würde ja bedeuten, dass ich, dass Falk mich und ich ihn auch, oh Scheiße, und Tim?

Inzwischen war es schon recht spät geworden, gegen zweiundzwanzig Uhr dreißig hörte ich, dass meine Eltern die Haustür aufschlossen. Ich sprang schnell im Schlafzeug die Treppe hinunter, um sie zu begrüßen. Mama und Papa freuten sich sehr, dass ich noch wach war. Gemeinsam erzählten sie mir vom Treffen mit den alten Nachbarn, auch, dass diese traurig waren, mich nicht kennengelernt zu haben. Aber sie hatten natürlich Verständnis, da ja morgen wieder Schule war. Eine Weile erzählten wir noch, dann aber war es auch für meine Eltern Zeit, schlafen zugehen. Nach einem lieben Gute Nacht Küsschen von Mama und Papa verzog ich mich in mein Zimmer. Mein Blick fiel sofort auf mein Telefon, das blinkend auf meinem Kopfkissen lag. Ich erschrak, hatte „F“ mir geantwortet? Eilig öffnete ich das Display, es waren zwei verpasste Anrufe von Tim. Na, auf den hatte ich gerade keinen Bock, nachdem er mir erzählt hatte, dass er das „Abenteuer“ mit… den Namen verkneif ich mir, also, dass er das schon geil fand und auch beim Wichsen kurz an sie gedacht hatte, ich war sackig. Aber auch, wie er den ganzen Nachmittag drauf war, hatte mich eher nachdenklich gemacht. Irgendetwas war anders geworden zwischen uns. Ich löschte die Infos auf dem Handy. Eigentlich hatte ich die ganze Zeit auf eine Nachricht von „F“ gewartet, hatte ich das wirklich? Ja, ich gestand es mir ein, ich hatte gehofft, dass sich Falk dahinter verbergen würde. Nichts, der ominöse „F“ hatte meine Nachricht gelesen, antwortete aber nicht. Enttäuscht schaltete ich das Handy aus und machte ich mich bettfertig. Ich nahm noch einmal die Spanischvokabeln in die Hand. Dabei muss ich dann eingeschlafen sein.

Am nächsten Morgen weckte mich wie immer der Radiowecker pünktlich um halb sieben, automatisch schaltete ich das Handy ein und ging ins Bad, um zu duschen. Ich hatte einen wirren Traum gehabt an dessen Inhalt ich mich aber nicht mehr wirklich erinnern konnte. Mit Hilfe des kalten Duschwassers gelang es mir, einigermaßen wach zu werden. Nachdem ich mich angezogen hatte, schnappte ich meine Sachen und stieg zum Frühstück hinunter in die Küche. Mama und Papa erwarteten mich schon gut gelaunt, schnell waren ein paar Worte über den kommenden Tag gewechselt, er würde ziemlich lang werden. Dienstag war Training, ich starrte kurz auf meine Tasse mit Kakao vor mir, Tim wird in der Schule wieder neben mir sitzen und auch beim Trainieren werde ich mit ihm zusammen sein. Warum bereitete mir der Gedanke daran Unbehagen? Mama schaute mich aufmerksam an, „Juli, alles in Ordnung?“ Ich schrak auf, „was, ach ja, klar…“ Zufällig fiel gerade in diesem Moment mein Blick aufs Handy, das auf dem Fensterbrett lag, ich erstarrte. Der Eingang einer Nachricht von der unbekannten Nummer von gestern wurde angezeigt. Ich sprang überrascht auf, meine Tasse kippte um, der restliche Kakao verteilte sich über den Tisch. Mein Frühstücksteller zersprang mit lautem Klirren auf den Fußbodenfliesen in tausend Stücke. Mama und Papa sahen erschrocken auf, „Juli, was ist passiert?“ „Entschuldige bitte Mami, ich war in Gedanken, ich...“ ich stammelte, was sollte ich auch sagen? Nur ganz selten hatte ich meine Eltern angelogen, jetzt war ein solcher Moment, in dem mir zum Glück schnell eine Notlüge einfiel, „mir fällt gerade noch ein, dass ich Therese versprochen hatte, ihr ein bestimmtes Buch mitzubringen, es ist ganz wichtig für sie. Fast hätte ich das vergessen, ich muss noch mal ganz schnell nach oben.“ „Und das ist ein Grund, den Frühstückstisch umzuwerfen?“ Papa lachte, er übertrieb mal wieder. Ich antwortete nicht darauf, sauste in mein Zimmer und überlegte, welches Buch wohl so wichtig für Therese sein könnte. Schließlich griff ich ein Buch über physikalische Experimente, das ich schon vor langer Zeit von meinen Eltern geschenkt bekommen hatte. Zurück in der Küche sammelte ich hastig meine Sachen zusammen, Mama hatte schon die Scherben beseitigt, eine neue Tischdecke lag auf dem Tisch. „Mami, entschuldige bitte nochmals meine Ungeschicktheit“, bat ich, sie nickte nur schmunzelnd, wies mit dem Kinn auf mein Handy, das ich vorhin auf der Fensterbank liegen gelassen hatte und meinte, „du Juli, dein Handy blinkt die ganze Zeit sch…“ Ich fauchte dazwischen, „ich weiß es…“ Jetzt wurde Papa ein wenig ungeduldig, „Julian, bitte nicht in diesem Ton, bitte denk daran, wir können über alles reden.“ Sofort tat es mir leid. „Ja Papa, du hast recht, ich werde euch mehr erzählen, wenn ich selber mehr weiß, ja? Jetzt muss ich aber zum Bus, danke und tschüss.“

Meine Luftküsschen flogen zu Mama und Papa und weg war ich. Sicher ließ ich meine Eltern an diesem Morgen etwas ratlos zurück, aber wusste ich denn selber mehr, vor allem, was ich wollte? Oder noch besser, was mich heute noch erwartete? Auf dem Weg zum Bus kam ich endlich dazu, die Mitteilung der unbekannten Telefonnummer zu öffnen. Gerade als ich beginnen wollte zu lesen, kam der Bus, überrascht schaut ich hoch, wo blieb Tim? Wollte er heute wirklich kneifen, oh Mann, so ein Feigling. Im Bus setzte ich mich nach vorn hinter den Fahrer, ich wollte in Ruhe endlich die Message lesen. Wieder holte ich den Text auf das Display, mit großen Augen las ich, „hi Julian, freue mich, dass du mir geschrieben hast, wenn du wirklich etwas von mir wissen möchtest, dann sei bitte morgen in der großen Pause am alten Brunnen hinter der Sporthalle, ich warte auf dich! F.“ Erstaunt lehnte ich mich zurück und las die Sendezeit der Botschaft, sie war um dreiundzwanzig Uhr siebenunddreißig gesendet worden… mitten in der Nacht. Ich war unsicher, war das eine Falle? Wollte mich jemand dorthin locken, so wie es mit Tim geschehen war, mich veralbern und vielleicht irgendwie bloßstellen? Wer steckte dahinter? Der Bus fuhr an die nächste Haltestelle heran, schnell steckte ich mein Handy weg und ging nach hinten zum Stammplatz von Lukas und Franz. Sie tobten wie immer herein, hinter ihnen stieg Therese in den Bus. Suchend sah sie sich um, bemerkte mich hinten. Ihre Augen und Lippen formten eine lautlose Frage, „Tim?“ Ich zuckte ratlos mit den Schultern, sofort bekam ich ein schlechtes Gefühl, sollte ich ihr von Tims Erlebnis erzählen, wie würde er darauf reagieren? Aber nee, das sollte er ihr mal schön selbst erzählen, was ging mich das eigentlich an? Demonstrativ drehte Resi sich um und setzte sich auf den Platz, den sonst immer Tim und ich hatten. Sollte ich mich zu ihr setzten? Nein lieber nicht, wie ein Feigling saß ich bei den beiden Jungs hinten und schwieg. Franz stieß mir mit dem Ellenbogen in die Seite, „was’n los Juli, heute alleine und Resi hat auch keinen Bock auf dich.“ „Ach halt die Klappe, lass mich einfach in Ruhe, okay?“ „Boah“, jetzt feixte Lukas, „lass ihn einfach…“

In den Stunden bis zur großen Pause war ich nicht wirklich bei der Sache, in Spanisch schrammte ich knapp an einer Blamage vorbei, Chantal grinste mich schadenfroh an. Hatte sie mich doch noch vor der ersten Stunde abgepasst und scheinheilig gefragt, „sag mal Juli“, die blöde Kuh hat sonst nie Juli gesagt, „sag mal, wo ist denn heute dein Freund, der Timmi?“ Ich hatte mit den Schultern gezuckt und sie stehen gelassen. Ich überlegte während der ganzen Zeit, was ich tun sollte, gerade die blöde Frage von Chantal ließ mich noch misstrauischer werden, sollte sie hinter den Nachrichten von F stecken? Sie hatte meine Nummer aus dem Klassenchat, aber nee, ihre Nummer war ja auch in meinem Gerät gespeichert, auch wenn sie noch nie eine Nachricht im Klassenchat gesendet hatte. Oder hatte der Macker meine Nummer von ihr und wartete dort auf mich, aber warum? Oh Mann, ich wurde fast verrückt. Was tun?

Jetzt noch ein Stunde Mathe, ich musste mich zusammenreißen, das konnte ich nicht versemmeln. Frau Winkler hatte heute ein besonders straffes Tempo, immer wieder schaute sie in meine Richtung, merkte man mir etwa an, dass ich heute nicht so gut drauf war? Endlich ertönte der Gong zur großen Pause, schnell raffte ich meine Sachen zusammen, ich wollte nur noch schnell das Zimmer verlassen. Chantal wartete, bis fast alle Mitschüler gegangen waren, drehte sich nochmal extra auffällig um und glotzte mich blöde an. „Julian, was ist los mit dir, wenn du Sorgen hast und ich kann dich unterstützen…?“ Entsetzt schüttelte ich den Kopf, „lass mich einfach in Ruhe, ja!“ Ich sauste los in Richtung Sporthalle, kurz davor verlangsamte ich mein Tempo und überlegte. Wenn ich erstmal in die Sporthallentoilette gehen würde, von dort konnte ich eventuell aus dem kleinen Klofenster etwas in die Richtung des alten Brunnens schauen, vielleicht konnte ich jemanden erkennen, bevor ich mich blamierte. Hastig riegelte ich die Kabine hinter mir zu und stieg auf die Klobrille. Ich konnte den Brunnen und die Büsche darum ganz gut sehen. Niemand war dort zu sehen, ich beugte mich weit nach vorn und versuchte, weiter nach links zum großen Baum zu schauen, es gelang mir nicht richtig. Ich konnte geradeso den unteren Teil des Stamms erkennen. Wieder beugte ich mich in die andere Richtung aber auch rechts vom Brunnen war niemand. Ich wartete. Vielleicht hatte er sich ja verspätet oder war ich zu spät? Innerlich verfluchte ich Chantal, wenn sie mich nicht aufgehalten hätte… Langsam wurde es ungemütlich auf der Klobrille, mein Füße rutschten immer wieder ab, ich musste mich an der Fensterkante festhalten, um nicht ganz hinunter zu rutschen. Die Pausenzeit neigte sich dem Ende zu, ich wurde mir sicher, dass mich hier jemand reinlegen wollte. Einmal noch wendete ich meinen Blick zum Brunnen, in diesem Moment rutschte mein rechter Fuß von der Klobrille ab, eben konnte ich mich noch am Fensterbrett festhalten, als am Brunnen ein Junge aus dem Gebüsch trat, er hatte seinen Jackenkragen weit nach oben gezogen und das Cape tief im Gesicht. Suchend sah er sich um, zog dann wie enttäuscht seine Schultern hoch. Unter der Mütze schauten frech ein paar rotblonde Locken hervor!?

Genau jetzt rutschte ich ganz vom Klobecken ab, mein rechtes Schienbein krachte gegen das Becken, ich stöhnte vor Schmerzen auf, fluchte unterdrückt und humpelte aus dem Toilettenbereich. Draußen leerte sich inzwischen rasch der Schulhof, von dem Jungen keine Spur. Jetzt fluchte ich richtig laut, „verdammter Mist.“ Ich könnte mich ohrfeigen. Aber konnte das wirklich sein, dass ein anderer Junge, dass gerade Falk sich treffen wollte, mit mir…? Trotz meiner Zweifel hämmerte es in mir immer wieder… Was war mal wieder los mit mir? Was wollte er von mir, war er es wirklich oder hatte ich mich geirrt? Hatte er dort auf mich gewartet oder war er zufällig am Brunnen…? Eigentlich war der Bereich am alten Brunnen verbotenes Gebiet und lag außerhalb des Schulgeländes, das wusste jeder von uns, also?

Der Gong zum Stundenbeginn ertönte, ich würde zu spät zur Englischstunde kommen, auch das noch! Ich humpelte die Treppen zur vierten Etage hinauf, vor dem Englischzimmer holte ich noch einmal tief Luft, bevor ich klopfte. Ein deutliches „please come in“ war zu hören. Als ich ins Zimmer trat, war es total still, Mr. Fox sah mich fragend an, ich setzte zu einer Entschuldigung an, er hob nur die Hand, winkte ab und meinte ganz trocken, „later Mr. Kiefer, later, please sit down!“ Ich schlich humpelnd auf meinen Platz, den ich ja heute für mich allein hatte. Meinen Rucksack legte ich auf Tims Stuhl ab. Mr. Fox fuhr ungerührt mit dem Unterricht fort. Nach einer kurzen Zeit wendete ich meinen Blick zu Resi hinüber, die genau in diesem Augenblick auch zu mir sah, fragend hob sie ihre Augenbrauen. Ich winkte ab und formte mit den Lippen stumm „alles Mist…“ „Mr. Kiefer, Julian“, scharf traf mich die Anrede meines Lieblingslehrers, „würden Sie bitte mir Ihre Aufmerksamkeit schenken, anstatt jungen Damen schöne Augen zu machen?“ Ich fuhr herum, „sorry Mr. Fox, I… ich...“ Wenn der wüsste… Einige Idioten zerfetzten sich vor Lachen über mein Gestotter. „Wir sehen uns bitte im Anschluss an die Stunde!“ Ich nickte nur stumm. Streng wies er nun an „ladies and gentlemen, take out your workbooks, it’s time for an exercise.“ Sofort herrschte absolute Stille im Klassenzimmer. In schneller Reihenfolge fragte er englische und deutsche Vokabeln ab, ohne sie zu wiederholen, die zu übersetzen und zu notieren waren. Das war für mich eine leichte Übung. Ohne Schwierigkeiten konnte ich den Vorgaben und dem Tempo folgen, während einige Mitschüler schon nach den ersten Minuten zu stöhnen begannen. Erst kurz vor dem Stundenende erlöste uns „Foxi“ von der Anforderung. Ich hatte ja noch eine „Verabredung“ mit ihm, also beeilte ich mich nicht sonderlich beim Zusammenpacken meiner Sachen. Ich trat neben den Lehrertisch auf dem „Foxi“ in aller Ruhe den Stoß der vor ihm liegenden Kontrollzettel ordnete. Fast alle Mitschüler hatten bereits den Raum verlassen, ich schaute den letzten hinterher, als im Türrahmen ein rotlockiger Kopf auftauchte, ich sah in blitzende leuchtend blaue Augensterne, die kurz darauf erschrocken den Lehrer neben mir entdeckten und sofort verschwanden sie wieder aus meinem Blickfeld. Falk? Mein Magen krampfte sich zusammen, musste ich ausgerechnet jetzt… „Mr. Fox“, setzte ich an, um ihn an mich zu erinnern. „Ja Julian, ich höre…“, erwiderte er nur. Er wendete sich zu mir und sah mich freundlich fragend an. „Äh ich, ich sollte doch noch zu Ihnen kommen…“ „Julian, ich merke seit einigen Tagen, dass du irgendwie, nun sagen wir mal, unkonzentrierter bist als sonst. Ich möchte dir nur sagen, dass du immer meine Unterstützung hast, aber…“, er machte eine bedeutungsvolle Pause, „bitte achte darauf, dass du das nicht ausnutzt und wenn du verliebt bist, okay, aber verdirb dir nicht deine Leistungen.“ Überrascht schaute ich ihn an. „Aber, wie, warum, woher… wissen Sie?“, stotterte ich.

„Du hast mich also verstanden?“ Ich nickte stumm, sicher hatte er die falsche Vermutung. „Dann geh jetzt bitte…“ Ich zögerte, „Mr. Fox, äh, ich…“ „Geh schon…“ Er schob mich einfach sanft durch die Tür aus dem Klassenraum.

Da stand ich nun auf dem Gang im Schulhaus und wusste nicht recht, was ich davon halten sollte. Erst Falk, dann Foxi… Was war das nur für ein Tag? Noch die Biostunde, sie schleppte sich ziemlich lange hin. Dann endlich kam die Mittagspause. An unserem Tisch herrschte gute Stimmung, Clemens hatte Geburtstag und für alle am Tisch eine Cola ausgegeben und kleine süße Snacks mitgebracht. Therese stimmte leise ein „Happy Birthday, lieber Clemens“ an, in das wir nach und nach alle einfielen. Das Mittagsmenü schmeckte uns danach ausgesprochen lecker, suchend wanderte mein Blick beim Essen an den Nachbartisch, wo normalerweise die Mitschüler der 8d saßen. Der Tisch war bis auf zwei Jungs diesmal leer, einer stopfte sich seine Nudeln hemmungslos in den Mund, der andere hatte seinen Kopf in die Hände gestürzt und stierte auf den Tisch. Er hatte die Kapuze seines Hoodies über den Kopf gezogen. Ein paar kleine rötliche Locken quollen darunter zwischen seinen Fingern hervor. Die Figur, der Körperbau, war das Falk? Er erschien mir irgendwie traurig, ich traute mich nicht, zu ihm zu gehen und ihn direkt zu fragen, wieder hatte ich Angst, mich zu blamieren. Schon gar nicht im Beisein von anderen.

„Ey Juli, hörst du überhaupt zu?“ Clemens hatte meinen Blick zum Nachbartisch wohl bemerkt, tippte mir sachte auf die Schulter, „kommst du nachher noch mit zum Italiener an der Ecke, wir legen alle zusammen und holen uns noch ein Eis?“ Verdattert, wie ertappt schaute ich in die Runde, alle Blicke waren auf mich gerichtet. „Nee, ich kann nicht mit, ich hab dann gleich Training, leider, nee…“ Lärmend zogen die anderen aus dem Speiseraum ab. Ich war überrascht von Clemens Gesichtsausdruck, er schluckte, sein Blick blieb wie bittend an meinen Augen hängen, ich konnte darin lesen, wie enttäuscht er anscheinend von meiner Antwort war. Er schlug die Augen nieder, er flüsterte, „na dann, tschau, bis morgen.“ Er erhob sich langsam, räumte sein Geschirr weg und schlich aus der Cafeteria. Etwas bedrückt schaute ich ihm nach, einen Augenblick später, wendete ich meinen Blick wieder zum Nachbartisch, er war leer. „Mist“, dachte ich wieder bei mir. Falk weg, Clemens sauer… Nachdem ich mein Geschirr auch abgeräumt hatte, ging ich hinüber zur Trainingshalle, ich humpelte etwas, denn mein rechtes Bein schmerzte immer noch vom Sturz von der Klobrille. Herr Kusche wartete bereits im Umkleideraum, erstaunt fragte er „nanu, Julian, allein. Wo ist Tim?“ Ich hob nur die Schultern, „weiß nicht.“ „Sag mal was ist los mit dem, er sah gestern ziemlich demoliert aus. Weißt du wirklich nicht was war?“ Ich schüttelte nur wieder mit dem Kopf, „nein, er war heue Morgen nicht am Bus, er hat sich auch nicht nochmal bei mir gemeldet.“ Schon wieder musste ich wegen Tim einen Menschen anlügen, den ich sehr mochte. In diesem Moment wusste ich gar nicht mehr so genau, warum ich Tim eigentlich verteidigte. Herr Kusche schaute mich etwas ungläubig an, „na dann mal los, kannst dich schon umziehen.“ Er wendete sich ab, um ein paar Papiere zu sortieren, sicher einige Wettkampflisten für die nächste Zeit. Als ich meine Hose über meine Beine streifen wollte, stöhnte ich vor Schmerz kurz, aber vernehmlich auf. Mein rechtes Hosenbein klebte an der blutverkrusteten Stelle, an der ich mich vorhin gestoßen hatte. Aufmerksam geworden schaute der Sportlehrer zu mir. „Was ist denn das?“ Er wurde richtig laut, „sag mal, was ist mit euch los? Der eine prügelt sich, der andere kommt mit aufgeschlagenen Knochen zum Training, habt ihr sie noch alle? Ich fass es nicht!“ Sofort entschuldigte er sich, „Julian, was ist passiert, magst du mir was dazu sagen.“

Ich wusste, ich konnte ihm bedenkenlos vertrauen, aber ich konnte ihm doch nicht sagen, dass ich von der Klobrille abgerutscht war als ich nach einem Jungen Ausschau gehalten habe, nee, das konnte ich nicht…Mir fiel in dem Moment nicht anderes ein, „ich bin vorhin beim Hochrennen zum Unterricht an der Treppe gestürzt und gegen die Kante geknallt.“ Schon wieder log ich, was war nur los mit mir? „Setz dich mal auf den Stuhl, ich schau mir das mal an, kannst du die Hose ausziehen?“ „Nein, sie klebt am Bein fest.“ Ich schob die Hose so weit wie möglich nach unten. „Du sagst eine Treppenstufe?“ Mit Tränen in den Augen nickte ich nur. „Das sieht eher nach einer scharfen Kante aus“, stellte er mit fragendem Unterton fest, ich antwortete nicht. Vorsichtig löste er die blutverkrustete Verklebung mit etwas Mull und warmem Wasser, zischend zog ich die Luft durch die Zähne und hielt die Luft an. „Halt still, gleich geschafft.“ Ich konnte die Hose nun ganz ausziehen, nur noch in der Boxershorts saß ich vor ihm. Gefühlvoll betupfte er die Wundränder mit einem Desinfektionsmittel, wieder atmete ich tief ein. Tröstend strich er mir kurz mit einer Hand übers Knie, „das wird wieder, ist doch nicht ganz so tief, nur ne ordentliche Schramme.“ Anschließend strich er die Umgebung der Wunde noch vorsichtig mit einer kühlenden Salbe ein. Ich fühlte eine aufkommende leichte Unruhe in mir. Bewegte sich da etwas in meiner Boxershorts? Ich hielt die Luft an. Eine immer stärker werdende Gänsehaut wanderte von meinem Nacken über den Rücken bis auf meine Oberschenkel. Die kleinen leichten Härchen an meinen Schienbeinen stellten sich auf. Ein unklarer Schauer durchfuhr mich.

Herr Kusche, der das wohl registrierte, schaute mir in die Augen, „Julian, alles in Ordnung?“ Ich nickte verwirrt, in meiner Boxer spürte ich meinen steifer werdenden Penis. Herr Kusche richtete sich auf, als wenn er nichts bemerkt hätte, drehte er mir den Rücken zu und säuberte sich am Waschbecken die Hände. Über die Schulter hinweg meinte er nur, „Das Training fällt für dich heute aus, so kannst du nicht laufen.“ Als er sich wieder mir zuwendete, saß ich immer noch stocksteif da, ich nickte. „Und du willst mir nicht sagen, was wirklich passiert ist“, fragte er nochmal. Ich schüttelte nur den Kopf, ich saß unbeweglich da. „Schade“, aus seiner Stimme hörte ich die Enttäuschung heraus. Er verließ die Umkleide, „alles Gute Julian.“ Mann, jetzt wurde ich schon unruhig, wenn mein Sportlehrer mich berührte, nun war ich erst recht durcheinander. Eben hatte ich meinen Lieblingslehrer angelogen und enttäuscht, jetzt hatte ich eine Latte in der Hose wegen ihm, wegen ihm – einem Mann? Ja, seine Berührungen hatten sich mega gut angefühlt, ob er das bemerkt oder gar…? Nein, das war totaler Quatsch, er ist der beliebteste Lehrer an unserer Schule, mein heimlicher Liebling sowieso. Aber mit einer Frau hatte ich ihn auch noch nicht gesehen. Langsam kam ich wieder zu mir, zog mich an und packte meine Sporttasche ein.

Immer noch total durcheinander wusste ich nicht mehr so genau, wie ich zur Bushaltestelle kam, der Busfahrer betätigte beim Einfahren in die Haltestelle die Lichthupe, ich winkte lasch zurück. Im Bus sprach er mich an, „hey Julian, heute so früh, fällt dein Training aus und wo ist dein Freund heute, Tim heißt er, nicht wahr?“ Der Bus war fast leer, ich stellte mich nach vorne zu ihm und erzählte ihm, während er fuhr, von meinem missglückten Tag. Erst war Tim nicht gekommen, dann war ich noch gestürzt, Englisch hätte ich beinahe vergeigt und schließlich war mein Sportlehrer noch sauer auf mich. „Ein Scheißtag, wissen Sie?“ Er nickte bloß, „ach Julian, es gibt solche Tage, die kann man glatt vergessen.“ An meiner Haltestelle angekommen, hielt er mir die Hand hin, „Kopf hoch Großer, morgen ist ein neuer Tag, mach’s gut bis morgen früh.“ Schon wieder etwas besser gelaunt schlug ich in seine hingehaltene Hand ein. „Bis morgen!“

Auf dem Weg zu unserem Haus fiel mir Tim wieder ein, was hat der wohl den ganzen Tag gemacht? Ob ich mal bei ihm vorbeischaue oder ihn wenigstens anrufe. Aber ich schüttelte für mich den Kopf, ich dachte, er sollte von sich aus auf mich zukommen, schließlich hatte er mit der Heimlichtuerei angefangen.

Beim Aufschließen der Haustür summte mein Handy in der Hosentasche. In der einen Hand den Schlüssel, in der anderen den Schulrucksack konnte ich das Teil nicht gleich aus der Tasche herausbekommen. Im Flur ließ ich den Rucksack fallen, fuhr aus meinen Schuhen und schleuderte sie in Richtung Garderobe. Beim ersten Blick auf das Display erkannte ich die Nummer - F. Grübelnd stieg ich die Stufen zu meinem Zimmer hinauf. Ich wollte wissen, ob meine Vermutung stimmte. Meine Beobachtungen am alten Brunnen, der Junge in der Tür von Foxis Zimmer, dann später in der Cafeteria, verdammt, F konnte eigentlich nur Falk sein. Die rötlichen Locken, die blitzenden blauen Augen und auch die Statur des Jungen am Brunnen. Ich öffnete die Nachricht und las die wenigen Zeilen,

Lieber Julian, ich hatte auf dich gewartet, schade, dass du nicht gekommen bist, ich wollte dir so viel sagen, sicher hab ich mich geirrt, ich werde dich nie vergessen! F! PS, bitte lösche meine Nummer und alle meine Nachrichten an dich, mach’s gut.“

Wie erstarrt hing mein Blick auf dem Display, was war das? Einfach wütend auf mich, auf Tim, ach auf die ganze Welt warf ich das Handy auf das Bett. Umso länger ich grübelte, umso sicherer wurde ich mir, dass ich ihm antworten wollte. Aber was und wie? Ich nahm das Handy wieder in die Hand, in seinem Status sah ich, dass die angezeigte Nummer noch online war. Zögernd tippte ich ein paar Worte in das Antwortfeld, „hallo F… wer bist du, ich… bist du Falk?“, und drückte auf „senden“. Die Nachricht kam auf dem anderen Gerät an, ich erhielt sofort die Lesebestätigung in Form der blauen Häkchen, er hatte scheinbar direkt darauf gewartet. Enttäuscht sah ich aber, dass unmittelbar nach dem Lesen das andere Gerät offline ging. Es wurde einfach ausgeschaltet! Wieder feuerte ich das Telefon auf das Bett. „Scheiße, Scheiße, Scheiße…“

Ohne viel Lust machte ich mich an die Hausaufgaben, vor lauter Frust erledigte ich gleich alles, was für die Woche anstand. Ob ich dabei alle Aufgaben richtig und sorgfältig erledigte, ich wusste es nicht. Es war mir auch egal. Durch das ausgefallene Training war ich ja recht früh zu Hause, ich beschloss, gegen meine Wut und Traurigkeit eine Runde um den See zu gehen, laufen oder rennen war mit dem Bein heute nicht gut möglich, aber ich musste raus an die frische Luft. Mein Telefon meldete sich. „Falk?“

Wie von einer Tarantel gestochen sprang ich auf und suchte danach, es war vorhin in meinem Wutanfall weit nach hinten unter das Bett gerutscht. Als ich es endlich in der Hand hatte, erkannte ich, Markus, mein Cousin hatte versucht, mich anzurufen. Ich drückte augenblicklich auf die Rückruftaste und im nächsten Moment ging Markus ran. „Hi Markus, ich freu mich so, dass du dich meldest, es ist alles Mist hier, wann können wir uns wieder treffen?“ „Hi Juli. Oh, das klingt ja nicht so besonders, was ist denn los? Hörst dich ja etwas jämmerlich an, Stress mit deinen Eltern, kann ich mir nicht vorstellen, also?“ „Nee, im Gegenteil, eigentlich alles viel zu easy, ich kann dir das gar nicht alles am Telefon erzählen, Schule, Sport, Freunde?“ Ich setzte mit meiner Betonung ein Fragezeichen hinter das Wort „Freunde“, Markus registrierte meinen Frust und hakte sofort ein „Tim?“, fragte er. Ich war baff, „woher, wieso…?“ „Ach Juli, so wie du letztens von ihm geschwärmt hattest und jetzt sauer bist, brauch ich doch nur eins und eins zusammen zählen… Wie geht es übrigens Therese?“ Wieder schnaufte ich, „ach ich weiß auch nicht, seit Tim hier ist, ist sie irgendwie anders…“ „Läuft was zwischen Tim und…“ Ich ließ ihn nicht aussprechen, ich brüllte fast ins Telefon „spinnst du?“ „Hey beruhige dich“, er machte eine Pause, „also, ja?“ „Ich weiß es nicht, ist mir auch egal, ist sowieso im Moment alles scheißegal.“ „Oh je, Juli ist echt verliebt… in Resi???“ „Quatsch nicht, du spinnst doch…“

Er ging gar nicht darauf ein, „du aber weswegen ich eigentlich anrufe, am übernächsten Wochenende ist Trainingslager Turnen, du wolltest doch mitkommen. Aber unser Trainer hat gemeint, es ist kein Platz, ist alles ausgebucht, du könntest vielleicht ein anderes Mal mitmachen. Also wenn du kannst und magst. Er weiß Bescheid.“ Ich war total überrascht, „so schnell, na ja macht nichts…“ Ich ließ den Satz unvollendet. Entschlossen meinte ich, ich würde es aber mal mit den Eltern besprechen und mich bei ihm melden. „Geht das auch später noch?“ „Ja klar, wenn er es gesagt hat. Also, ich muss zum Training, also tschüss bis heute Abend!“ Mit etwas besserer Laune zog ich mich im Hausflur wieder an und stapfte über die Wiese zum Loch im Zaun, am Geheimversteck blieb ich ein paar Minuten stehen, wie wohl hatte ich mich hier noch in der vergangenen Woche gefühlt. Heute blickte ich mich traurig um, Tim hatte gestern das Versteck allein gefunden, war es noch unser geheimer Ort oder würde er bald mit…? Ich vernahm auf dem Kiesweg in unmittelbarer Nähe zum Versteck Laufschritte, die kurz vor meinem Versteck langsamer wurden. Dann hörte es sich so an, als ob jemand dort stehenblieb. Das Laufgeräusch begann wieder und entfernte sich rasch. Ich trat vorsichtig aus dem Unterholz. Etwa fünfzig Meter vor mir trabte Tim in Richtung Parkplatz, er hatte ein lockeres Tempo drauf, scheinbar ging es ihm wieder ganz gut. Langsam ging ich ebenfalls in diese Richtung, schon bald war er hinter der nächsten Biegung verschwunden. Als ich an der Stelle vorbeikam, an der ich letztens gestürzt war, griff ich automatisch an meinen Hals, ja meine Kette war da. Tief holte ich Luft und ging dann auf dem kürzesten Weg nach Hause.

Mamas kleiner Wagen stand bereits vor der Tür, es dämmerte schon langsam. Sie hantierte in der Küche und war bei der Vorbereitung des Abendessens. Verwundert kam sie in den Flur, „Juli mein Schatz, du bist schon da? Ist dein Training ausgefallen?“ Ich nickte, zog wortlos mein rechtes Hosenbein hoch, sie erschrak, „was ist passiert?“ Rasch erzählte ich ihr die gleiche Lüge, die auch schon Herr Kusche zu hören bekommen hatte. Aber sie wäre nicht meine Mama, wenn sie meine Gefühle beim Erzählen nicht gespürt hätte. Sie fragte nicht sondern zog nur in der ihr eigenen Art die Augenbrauen hoch, natürlich bemerkte ich das und „ach Mami, heute war ein missglückter Tag. Therese hat keine Zeit mehr, die muss immer knutschen gehen, ich bin gestürzt und Tim war heute auch nicht in der Schule.“ Tim, da war er wieder der Gedanke, „aber laufen konnte er vorhin am See.“

„Ach ja?“ Sie machte ein verwundertes Gesicht, „das ist aber komisch, seine Mutti hat mir heute beim Dienst erzählt, dass er starke Halsschmerzen hat und im Bett bleiben wollte.“ Ich schaute sie überrascht an, dann musste ich grinsen, die Halsschmerzen von Tim kannte ich. Ich wusste nur nicht, dass ein Knutschfleck weh tut… Wie um mich abzulenken, wechselte sie das Thema. „Du Juli, ich hab‘ heute Morgen meine Augenschminke gesucht, sie lag nicht am richtigen Platz, weißt du da was?“ Ich erschrak, „nee, vielleicht hat Papa…?“ Mama schmunzelte, sie wusste genug. Vor dem Haus knirschten die Reifen von Papas Auto auf dem Kiesweg, ich nutzte die Gelegenheit und flitzte zur Haustür, er wunderte sich über die stürmische Begrüßung. Ich bekam mit, wie er Mama fragend ansah, die zuckte die Schultern und meinte nur, „vielleicht später?“ Beim Abendbrot fragte Mama Papa doch direkt noch einmal nach dem Schminkkästchen und ob er es jetzt neuerdings benutzen würde, wenn ja, dann sollte er es wieder dahin stellen, wo er es weggenommen hatte. Papa bekam große Augen, „hä, was ist… was hab‘ ich?“ Mama aber lachte nur laut los und sah mich schmunzelnd an.

Schnell begann ich, meinen Eltern von Markus‘ Anruf und der Idee mit dem Trainingslager zu berichten. Verwundert sagten sie zunächst nichts dazu, Papa meinte, „lass uns dann später nochmal gemeinsam drüber nachdenken. Hast du schon deine Aufgaben für morgen fertig und die Schultasche gepackt?“ Ich nickte eifrig, „ja und die Aufgaben schon für die ganze Woche.“ Papa fragte nach, „war denn heute kein Training?“ Mama erzählte ihm kurz von meinem Malheur, „Na, dass schau ich mir dann gleich noch mal an.“ Nach dem Abräumen bat er mich in sein Arbeitszimmer, er wollte sich die Wunde einmal ansehen. „Komm Juli, zeig mal dein Bein, wie ist das denn genau passiert?“ Zum wiederholten Mal an diesem Tag erzählte ich einem lieben Menschen eine Lüge. Ich stotterte nicht mal mehr dabei, oh Mann, war ich ein Feigling. Wenigstens Papa hätte ich die Wahrheit sagen können, er hätte mich bestimmt verstanden, aber ich schämte mich zu sehr. Ich streifte das Hosenbein hoch, er zog die Schreibtischlampe ein Stück näher, um besser sehen zu können. „Oh, der Verband sieht echt professionell aus, warst du beim Arzt damit?“ Ich schüttelte den Kopf, „nein unser Sportlehrer, Herr Kusche, hat mir den Verband angelegt, er hat auch gemeint, es ist nicht ganz so schlimm.“ „Ah, ist das der nette Typ, der euch auch trainiert?“ „Ja, der, ihr habt auch schon öfter mit ihm gesprochen bei Wettkämpfen.“ „Ja, ich erinnere mich, na gut.“ Er machte eine längere Pause und schien zu überlegen. „Juli, wenn du ein Wochenende mit Markus ins Trainingslager fahren möchtest, lass uns darüber sprechen, wenn du genaueres weißt. Gibt es sonst was Neues bei Tim, ihr hattet euch doch vorgenommen, viel Zeit bei uns zu verbringen und dass ihr abwechselnd bei dem anderen übernachtet, stimmt‘s?“ Ich hatte genau diese Frage von Papa voller Angst erwartet, nun brach es aus mir raus. Mit Tränen in den Augen schluchzte ich, „Papa, das ist ja gerade das Problem… ich weiß gar nicht mehr, was ich von ihm halten soll. Er war gestern so komisch, hat mit einem Mädchen aus unserer Klasse, na, sie haben rumgeknutscht. Er hat zwar gesagt, dass er das nicht wollte aber dann…“, ich schluchzte, „dann hat es ihm so gut gefallen, dass er, naja, du weißt schon.“ „Nein Juli, ich weiß nicht…“ Er ließ die eigentliche Frage offen, „was hat er?“ „Na, es hat ihm so gut gefallen, dass er, ach Mensch Papa… dass er sich von allein in die Hose gespritzt hat.“

Ich hatte einen hochroten Kopf und konnte Papa nicht mehr in die Augen sehen. Er schwieg. „Und woher weißt du das?“ „Na, er hat es mir selber erzählt und dann ist er auch ganz komisch geworden… aber plötzlich wollte er wieder zu mir, ich sollte ihm helfen, ach Mensch, alles Scheiße. In der Schule ist er heute auch nicht gewesen, hat sich auch nicht nochmal gemeldet. Vorhin hab‘ ich ihn aber gesehen, als er um den See gerannt ist.“

Wieder schwieg Papa lange, „und jetzt bist du unsicher, was du davon halten sollst, was du für ihn fühlst und ob er dich als Freund noch braucht?“ Erstaunt hob ich meinen Kopf und schaute Papa an, „genau, das ist, was mich verrückt macht.“ Ich machte eine lange Pause, in der auch Papa nichts sagte oder fragte, sollte ich mich ihm noch weiter öffnen? Aber es musste wohl aus mir heraus, „und da ist noch was Papi, da ist jemand, ich weiß nicht genau, wer, der mich na ja verfolgt, mich immer wieder anschreibt auf dem Handy.“

Papa wurde aufmerksam, „was sind das für Nachrichten, von wem?“ „Ich schluckte, „ich weiß nicht, woher er meine Nummer hat, ich kannte seine bisher auch nicht, aber er schreibt immer ganz liebe Nachrichten, so als ob er… als ob er mich gern hat.“ „Woher weißt du, dass es ein er ist?“ Ich zuckte die Schultern, war ich mir denn wirklich sicher, dass sich Falk hinter dem F verbarg. „ich weiß es nicht, aber ich fühle es und wenn er der ist, was ich denke, dann mag ich ihn auch, ja schon aber… Es ist ein Junge aus unserer Nachbarklasse, er heißt Falk.“ Unsicher und erwartungsvoll schaute ich zu Papa auf. „Hast du ihm denn zurückgeschrieben und gesagt, dass du, dass du ihn vielleicht auch magst, du magst ihn doch?“ „Ja, schon, aber nee… geschrieben hab‘ ich es ihm noch nicht. Vielleicht will mich ja auch nur jemand reinlegen, ich weiß es doch selbst nicht genau. Und was wird Tim dazu sagen, wo wir doch am Wochenende…“ „Also Juli, das ist ganz schön kompliziert, egal, was Tim dazu sagen wird, viel wichtiger ist, was sagt dein Herz zu Tim und zu dem anderen Jungen. Du wirst es nie herausbekommen, wenn ihr nicht miteinander darüber sprecht.“ „Werden Tims Eltern nicht sehr enttäuscht sein, wenn unsere Freundschaft so schnell zu Ende geht?“ Papa strich mir über den Kopf, „das kann ich mir nicht vorstellen. Ich bin mir sicher, sie finden eure Freundschaft bestimmt genauso wichtig, wie Mama und ich. Auch wenn Tim dann ein Mädchen als Freundin hat, müsst ihr doch eure Jungsfreundschaft nicht aufgeben. Und du, was ist mit dir und Therese, ist Tim da neidisch?“ „Das ist doch was ganz anderes, die kenn ich doch seit der Grundschule…“ „Überlege bitte, was ist dir an Tim wichtig? Was ist wichtig für euch, warum ihr Freunde seid. Sprecht darüber. Doch nicht nur wegen eurem gemeinsamen Sport, den Experimenten und anderen schönen Sachen, die ihr miteinander ausprobiert habt, oder?“ Ich nickte, „ja stimmt…“ Nach einer kurzen Pause ergänzte er, „und wenn dieser Falk es ehrlich meint und du magst ihn auch, dann sei mutig, geh auf ihn zu und sag es ihm. Es hängt von euren eigenen Empfindungen füreinander ab, auch für Falk und Tim, wie ihr euch zueinander hingezogen fühlt. Es ist wichtig, ehrlich zu dir selbst zu sein und dir Zeit zu nehmen, um herauszufinden, was du fühlst. Es gibt kein richtig oder falsch und es ist okay, Fragen zu haben. Beide werden es verstehen.“

Ich war ganz still geworden, mein Papa war der beste der Welt, er hat mir in unserem Gespräch Mut gemacht, zu meiner Freundschaft mit Tim zu stehen und auch offen und unvoreingenommen auf Falk zuzugehen. Ich nahm mir hier und jetzt vor, mit jedem von ihnen über uns zu reden. Ich würde Falk nachher gleich nochmal anfunken, bestimmt ist sein Handy wieder an. „Paps ich hab dich lieb, ganz doll.“ Er lachte, „das weiß ich doch, aber ich dich noch viel mehr. Du Juli, darf ich mit Mama darüber reden, sie macht sich sicher auch ein paar Sorgen, weil du heute Abend so still warst.“ Ich nickte, gab Papa mit einem lieben Kuss auf die Wange das okay dazu, „ich geh gleich selber nochmal zu ihr und sag ihr schon mal gute Nacht.“ Er nickte, „auch dir eine gute Nacht Juli, wir, du schaffst das.“

Es war spät geworden, Papa nahm sich noch eine Zeitung, ich huschte schnell nochmal ins Schlafzimmer meiner Eltern. Mama las noch in einem Buch, sorgenvoll hob sie den Kopf schaute mir entgegen, ich krabbelte zu ihr auf das Bett, kuschelte mich an sie. „Mami ich hab‘ euch dolle lieb.“ Sie lächelte und schaute mich fragend an, „Papa wird dir alles berichten, ich glaub, ich bin müde. Gute Nacht Mami.“ Auch sie bekam einen zärtlichen Kuss auf die Wange, „gute Nacht, mein Schatz, schlaf gut.“ Leise schloss ich die Tür hinter mir.

Ich ließ mich auf mein Bett fallen, das Handy in der Hand überlegte ich lange. Einmal holte ich noch tief Luft, dann ich wählte entschlossen die mir eigentlich fremde Nummer, es klingelte auf der anderen Seite nur einmal, unmittelbar darauf wurde das Gespräch angenommen, ein leicht verschlafenes „ja?“ geflüstert. Mein Herz machte einen Hopser, diese leicht brüchige, noch etwas kieksende hohe Stimme kannte ich doch, sie drang wohlig in meine Brust. „Hallo F, bist du Falk? Ich bin’s, Julian, entschuldige bitte, dass ich so spät…“ Auf der anderen Seite hörte ich wie jemand ganz tief einatmete, dann leise die überraschte, ungläubige Frage, „Juli, du…?“

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