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This Friday Night

Teil 1

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Die Geschichte, die ich euch nun erzählen werde, ist meine Geschichte. Ich habe sie aufgeschrieben, weil ich mich ordnen wollte. Nein, weil ich mich ordnen musste. Außerdem hat Christer gesagt, es würde mir bestimmt gut tun. Weggelassen habe ich nichts, Namen habe ich nicht verändert. Alles, was ich aufgeschrieben habe, ist so passiert. Aber wenn ich an der einen oder anderen Stelle abgeschweift bin oder die Gedanken anderer Leute in meine Erzählung einbinde, dann tue ich das, weil diese Leute mir dazu geraten habe. Auch die ein oder andere Beschreibung habe ich aus meiner Erinnerung hinzugefügt, sie dienen vor allem dazu, die ganze Geschichte anschaulicher zu machen. Euch verstehen zu lassen, damit auch ich verstehe.

Willkommen in meiner Welt,

Liam

Waking up in Malmö

Die helle Sonne dieses für einen Tag im schwedischen Herbst ungewöhnlich schönen Samstags verfehlte ihre Wirkung nicht. Ich erinnere mich, dass ich müde mit den letzten Zipfeln der Bettdecke kämpfte.

Wo war ich?

Ich öffnete mein linkes Auge und stellte, neben der Tatsache, dass mir die Sonne in den Augen wehtat, fest, dass ich zu Hause war. Gut! Und durch sanftes Befühlen der anderen Seite des Bettes stellte ich schnell fest, dass auch meine Freundin zu Hause war und schlafend neben mir lag. Ich wusste zwar nicht mehr, wie ich in mein Bett gekommen war, aber immerhin war ich dort. Das war schonmal gut. Woran ich mich sonst noch erinnern konnte?

An nicht besonders viel.

Klassischer Filmriss.

In der Sekunde, als ich beide Augen öffnete, sprang mich der Kopfschmerz wie ein hungriger Tiger von der Seite an. Als ich versuchte, mich aufzusetzen, fiel mir zudem auf, dass ich einen höllischen Durst hatte und mich fühlte, als hätte ich mich übergeben.

„Heilige Scheiße“, fluchte ich und zuckte beim Klang meiner eigenen Stimme gleich nochmal zusammen. Ich klang wie ein sehr, sehr alter Mann.

Leise, um meine Freundin nicht zu wecken, schlich ich mich ins Badezimmer. Dort angekommen, glotzten mich meine meerblauen Augen leidend im Spiegel an und meine sonst ziemlich glatten schwarzen Haare standen wirr um meinen Kopf. Mein Gesicht, das ich normalerweise ganz gut aussehend fand, sah genauso beschissen aus, wie ich mich fühlte. Nachdem ich mir das dritte Mal kaltes Wasser über das Gesicht hatte laufen lassen, fiel mir zudem auf, dass es im Bad ziemlich penetrant nach Kotze stank. Einen Teil des Abends musste ich wohl über der Kloschüssel verbracht haben, folgerte ich messerscharf. Immerhin das gelang mir noch.

Ich, das ist Liam Kennedy – und meine Freundin, das ist Caroline Straberga. Ich bin vor gut anderthalb Jahren aus Yorkshire nach Schweden gezogen, nachdem ich Caro während meines Backpacker-Urlaubs in Indien kennengelernt hatte. Sie ist Schwedin, ich bin Engländer. Wir beide sind zwanzig Jahre alt. Also, jeder von uns ist zwanzig Jahre alt, natürlich. Wir hatten uns schnell eingelebt, und nach kurzer Zeit war es kein Problem für uns, auf den circa vierzig Quadratmetern zusammen zu leben, die wir uns gerade so leisten konnten. Ich hatte schnell ein paar Leute kennengelernt. Auch wenn es mit der Sprache noch ein wenig haperte, so konnte ich mich immerhin verständlich machen – und in Schweden spricht ja sowieso jeder Englisch.

Wo war ich doch gleich nochmal gewesen? Ich versuchte, mich an die Einzelheiten des vergangenen Abends zu erinnern, während ich mir weiter in schnellen Abständen kaltes Wasser ins Gesicht spritzte.

Richtig. Wir waren bei Kami, einer gemeinsamen Freundin gewesen, die eine Warm-Up-Party für die Feier in Rönnen veranstaltet hatte. Und danach? Rönnen, klar. Die Party im Studentenwohnheim. Da waren wir alle zusammen hingefahren. Und danach? Filmriss. Verdammt.

Komischerweise war alles, woran ich dann noch denken konnte, die Frage, ob wir noch Milch im Haus hatten. Die trinke ich immer, wenn ich unsicher bin oder mich nicht gut fühle. Milch macht mich munter. Aus dem Nebenraum war leider immer noch kein Geräusch zu hören und ich wollte Caroline nicht wecken, so dass ich mich entschloss, erstmal im Bad zu bleiben und zu duschen. Also riss ich das Badezimmerfenster auf, um dem Geruch Herr zu werden und zog mich aus. Als ich meinen sportlichen Körper nackt im Spiegel betrachtete, fielen mir mehrere neu verschorfte Wunden an meinen Knien auf.

„Super, aufs Maul gelegt hab ich mich also auch noch“, fluchte ich – und bemerkte erst dann die fünf Knutschflecke, die meinen Hals, meinen Nacken und zu meinem ernsthaften Entsetzen auch meine Brust und die Gegend um meinen Bauchnabel zierten. Beim fünften Knutschfleck auf meiner linken Schulter hatte es sich allerdings auch um einen blauen Fleck handeln können. Dann aber um einen ziemlich fiesen.

„Fuck!“, fluchte ich. Hatten Caroline und ich...? Das wäre jetzt nicht ungewöhnlich für uns, denn wir liebten solche Spielchen, aber ich konnte mich partout an Nichts erinnern. Und fragen konnte ich sie schlecht, das wäre unhöflich und – im unwahrscheinlichen Falle des Falles – auch ziemlich dämlich gewesen. Aber erst einmal musste ich den Kopf klar bekommen.

Die abwechselnd kalte und warme Dusche half immerhin ein wenig. Ich fühlte mich zwar immer noch nicht besonders gut, aber dafür weniger dreckig und sogar mein Kopfweh hatte etwas nachgelassen. Meine Augen schmerzen immer noch ein wenig, aber das würde sich bald geben. Nur ein leichter Kater also. Hoffte ich. Aber sobald ich die Badezimmertür öffnete und in mein Zimmer hinaustrat, war das Kopfweh wieder da. Es half alles nichts: Ich würde wohl oder übel eine Aspirin nehmen müssen.

„Hey“, kam es müde aus der Richtung unseres Bettes, als ich mir gerade eine Hose und ein T-Shirt angezogen hatte und mich anschickte, die Aspirin aus dem Vorratsschrank zu holen.

„Hey“, grüsste ich zurück, trat an das Bett und küsste Caroline auf ihr blondes Haar. Wie immer in diesen Situationen fragte ich mich, wie sie es schaffte, zu riechen wie eine Sommerwiese, während ich das Gefühl hatte, nach einer durch gefeierten Nacht zu stinken wie eine Müllkippe. „Gut geschlafen?“

Sie nickte. „Ja, nachdem du mich endlich hast schlafen lassen!“ Sie wandte sich um und ihre braunen Augen streiften mich spöttisch.

„So schlimm?“, fragte ich schuldbewusst.

„Naja, du warst halt ziemlich betrunken, Li. Aber das is schon in Ordnung. Ich hätte halt doch mitkommen sollen. Alkohol und dich kann man halt nicht alleine lassen.“ Sie grinste, so dass ich wusste, dass ich ihren Tadel nicht allzu ernst nehmen musste. „Mitleid kannste dir aber abschminken.“

Ich grinste und setze eine übertriebene Leidensmiene auf. „Och komm, ich hab sooooooo Kopfweh.“

Sie grinste wieder, schwang sich aus dem Bett und sagte: „Weisst ja, wo die Pillen liegen. Ich geh mal duschen.“ Und nach einem Blick auf die Uhr fügte sie hinzu: „Gut, dass du schon wach bist, Wir sind bei Evita und Robin zum Brunchen eingeladen.“

Sprach's und verschwand.

Robin und Evita sind das Pärchen von schräg gegenüber, die in einer ganz ähnlichen Situation wie wir sind: Sie Schwedin und er Deutscher, seit einigen Jahren zusammen im Land und auch sie zusammen auf wenigen Quadratmetern. Wir hatten uns schnell angefreundet, wenn auch – wie typisch für Schweden – ich als Ausländer ein wenig mehr als Caroline, die Fremden außerhalb ihres althergebrachten Freundeskreises immer ein wenig kritisch gegenüber steht. Ich aber verstand mich mit ihnen richtig gut.

Mit diesen Gedanken beschäftigt, schluckte ich eine Aspirin und war gerade vom Balkon zurück, um mir ein wenig frische Luft um die Nase wehen zu lassen, als es an der Tür klopfte.

„Ja?“, fragte ich durch die Tür.

„Ich bins“, hörte ich Robins dunkle Stimme.

Ich öffnete die Tür. „Hej“, begrüßte ich ihn mit einem schiefen Lächeln. Robin lachte schallend. „Gott, siehst du scheiße aus! Aber immerhin bist du schon wach. Caro auch?“

Ich nickte.

„Super!“, freute er sich, „dann können wir ja wirklich zusammen frühstücken. Nach dem, was du gestern so veranstaltet hattest, hab ich eher gedacht, wir müssten dich heute morgen im Krankenhaus besuchen.“ Er schüttelte seine blonden Locken.

„Bitte?“, fragte ich mit gespielter Entrüstung, denn immerhin wusste ich ja nicht wirklich, was ich so angestellt hatte.

„Haha“, grinste mein Gegenüber, „ich erzähls dir später.“

„Vi ses snart“, sagte ich, nachdem ich bestätigt hatte, dass wir zu ihnen hinüber gehen würden, sobald Caroline fertig wäre.

Was er mir wohl zu berichten hatte?

I kissed a boy

Keine fünfzehn Minuten später saßen Caro, Evita, Robin und ich um den runden Tisch am Zimmerfenster von Robins Apartment und ich sah den anderen Dreien beim Essen zu. Mir wurde nämlich schon beim bloßen Gedanken an etwas Essbares ziemlich schlecht. Die fürsorgliche Evita hatte mir einen starken Kaffee aufgenötigt, an dem ich allerdings ebenfalls mehr nuckelte, als dass ich ihn trank. Auch wenn er das Einzige zu sein schien, das ich in diesem Stadium meines Katers zu mir nehmen konnte, ohne mich direkt wieder zu übergeben.

Nachdem eine gute Stunde mit Frotzeleien und Erinnerungen an die Party vergangen waren, ging es mir gut genug, um auch ein wenig zu essen. Die Kopfschmerztablette hatte ihre Wirkung nicht verfehlt und weil ich meinen Begleitern zugehört hatte, wusste ich nun, dass ich den gestrigen Abend auf einer ziemlich guten, aber doch anscheinend ziemlich gewöhnlichen Party verbracht hatte. Kein Grund zur Besorgnis, fand ich. Auch wenn ich jetzt erst recht nicht verstand, was Robin da angedeutet hatte. Irgendetwas musste er zu berichten haben, denn immer, wenn er von der Party sprach und mich anschaute, sah ich den Schalk in seinen Augen aufblitzen. Aber anscheinend wollte er es nicht in großer Runde ausbreiten, sonst hätte er es längst getan. Eine gute Pointe ließ er sich sonst selten entgehen. Ich war ratlos.

Eine weitere halbe Stunde später sah meine Freundin plötzlich auf die Uhr.

„Fuck!“, fluchte sie.

„Wasn?“, fragte Evita erschrocken, schließlich ist Caro eher für ihre Sanftheit und ihren Humor bekannt und weniger für plötzliche Schimpftiraden.

„Das Systemet macht gleich zu und ich muss für meinen Weiberabend heut abend noch Wein besorgen.“ Sie sprang auf. „Seid ihr mir böse, wenn ich mich eben schnell aufs Fahrrad schwinge?“ Systembolaget, kurz Systemet genannt, ist eine jener Besonderheiten, die man jedem Nicht-Schweden erst aufwändig erklären muss. Kurz gesagt: Es ist die einzige Möglichkeit, Alkohol zu kaufen und hat am Wochenende nur bis vierzehn Uhr geöffnet. Deswegen musste Caro sich enorm beeilen und deswegen hatte jeder im Raum Verständnis für ihre Eile.

„Klar, geh nur, Schatz“, sagte ich und lächelte sie sonnig an. „Ich kann ja wieder geradeaus laufen. Und denken.“ Und auch die beiden Gastgeber nickten verständnisvoll.

Sie grinste, hob den Daumen und lief aus dem Raum. Ich liebe meine Freundin.

Kurz nachdem meine Freundin den Raum verlassen hatte und ich mein mittlerweile drittes Croissant verdrückt hatte, begann Evita die Konversation: „Du könntest dich ruhig mal bedanken.“

„Wofür?“, fragte ich irritiert und zog fragend die Augenbrauen zusammen.

„Sag bloß, du hast wirklich keine Ahnung?“, fragte Robin und grinste über beide Ohren, „ich hab das vorhin für 'nen Gag gehalten.“

„Das würde in der Tat einiges erklären“, erwiderte Evita und biss in ihr Brötchen, während ihre Augen belustigt auf mir ruhten. Die Situation wurde mir allmählich unangenehm. „Wofür soll ich mich denn nun bedanken?“, hakte ich ungeduldig nach.

„Dafür, dass ich dich vorhin nach Hause gebracht habe, nachdem du vom Balkon aus in den Fahrradständer gekotzt hast, zum Beispiel. Das machen nur echte Freunde.“

Da musste ich ihr allerdings zustimmen.

„Danke“, sagte ich und meinte es dementsprechend sehr ernst. Ich lächelte Evita freundlich zu. „War's so schlimm?“

Robin lachte. „Naja, sagen wir, es war dieses Mal weniger spaßig als sonst, mit dir wegzugehen. Dieses Mal wars irgendwie eher stressig. Müssten wir vermutlich nicht noch einmal haben....“

„Verstehe. Tut mir leid“, antwortete ich zerknirscht. Ich hasse es, Freunde in unangenehme Situationen zu bringen. Ich hatte ja keine Ahnung.

„Naja, vielleicht solltest du erst mal die ganze Geschichte hören, bevor du dich jetzt schon entschuldigst“, sagte Evita und lächelte mild, „du hast nämlich geschlagene fünfzig Minuten über der Schüssel gehangen und gekotzt. Insofern müsstest du Caro in deine Entschuldigung einbeziehen.“ Sie machte eine Pause, um nochmals in ihr Brötchen zu beißen. „Wir haben schon überlegt, ob du nicht vielleicht einen Arzt brauchst. Nach allem, was du angestellt hast, haben wir gedacht, du hättest dir vielleicht eine Alkoholvergiftung eingefangen. Wär bei den Mengen an Gin und Wodka, die du in dich reingekippt hast, ja auch kein Wunder“, erläuterte Evita weiter..

Langsam reichte es mir. Dass ich gerne trank, das wussten sie und ich. Ich fand, die könnten mal zum Punkt kommen. „Was hab ich denn nun angestellt?“

„Willst du das wirklich wissen?“ Robins Miene schwankte zwischen Belustigung und Besorgnis.

„Das weiß ich vermutlich erst hinterher“, entgegnete ich zunehmend ungeduldig und rührte mit ziemlich bedrohlicher Frequenz in meiner Kaffeetasse herum.

„Stimmt“, nickte Robin und holte tief Luft. „Also, selbst wenn ich die Tatsache ignoriere, dass du zwei Studienkollegen den ganzen Abend über absichtlich die Tour bei ihren Eroberungen vermasselt hast, wäre da noch etwas, das ich nicht wissen will, dir aber erzählen sollte.“

„...wäre da noch die Tatsache, dass du jedem Mann, den wir getroffen haben, erzählt hast, wie sexy du ihn findest und dass er dich haben könnte, wenn er wollte“, ergänzte Evita.

Ich hätte meinen Kaffee fast auf den blütenweißen Tisch gespuckt. „Ich habe was?“ Das klang in etwa so wahrscheinlich, als hätte sie mir erklärt, ich hätte ein Pferd geheiratet.

„Kommt noch besser....dem einen Typen, diesem Iraner, der als Indianer verkleidet war, bist du direkt um den Hals gefallen und hast versucht, ihn zu küssen. Ein Glück, dass ich und dieser andere Deutsche da waren, der Indianer hätte dich sonst sicher ziemlich zugerichtet, so wie der dich in die Ecke geschubst und mit der Faust bedroht hat“, fuhr Evita fort und grinste bei der Erinnerung ziemlich amüsiert.

Mit einem Mal war ich mir nicht mehr so sicher, ob ich das Ende der Geschichte wirklich hören wollte. Ich hatte....was? Versucht, einen Typen zu küssen. Und anscheinend war ich deswegen knapp einer Schlägerei entgangen. Obwohl ich jetzt nicht direkt was gegen Schwule habe, konnte ich mir nicht erklären, wie ich auf den schmalen Grat gekommen war, ausgerechnet mit einem Typen rumknutschen zu wollen. Oder einen sexy zu finden. Ich war immerhin seit fast zwei Jahren mit einem der schönsten Mädchen zusammen, das ich mir vorstellen konnte. Und ich sah keinen Anlass, etwas daran zu ändern.

Evita hatte indes schon weitergesprochen. Und was sie sagte, fand ich nicht weniger beunruhigend. „Ich kann ja verstehen, dass du dem dankbar warst. Also, dem Deutschen. Der hat dir nämlich echt den Arsch gerettet“, sie kicherte, „echt jetzt. Er hat dich vor ner Tracht Prügel bewahrt. Aber hätteste deswegen direkt mit dem rummachen müssen?“ Sie zog belustigt die Augenbrauen hoch.

Ich fühlte, wie mir kurzfristig mein Gesicht entgleiste. Rumgemacht? Mit nem Kerl? Ich?

Absurd!

„Hat da jemand eine bisexuelle Ader?“, schmunzelte Robin.

Entschlossen schüttelte ich den Kopf. Mir war gerade noch ein anderer Gedanke gekommen. Caroline! Die durfte das unter keinen Umständen erfahren. Jetzt hatte ich auch endlich verstanden, warum die Beiden so wenig Interesse daran hatten, diese Geschichte vor ihr auszubreiten, sondern warten wollten, bis sie weg war. Gott sei Dank! Ich hatte anscheinend echte Freunde, die mich nicht reinreißen wollten.

Dennoch erschien es mir ziemlich unwahrscheinlich, dass diese Geschichte überhaupt stimmte. Vermutlich hockte meine Freundin im Badezimmer, hörte sich die ganze Scharade an und in wenigen Minuten würden sich alle köstlich auf meine Kosten amüsieren. Ich und einen Kerl knutschen. Pffft! Trotzig schüttelte ich den Kopf. Das war völlig unmöglich und vollkommen unwahrscheinlich. „Du musst dich geirrt haben.“

Evita grinste: „Von dem Kuss existiert ein Foto. Kannste dir gerne angucken.“ Sie grinste und schien derweil mein Gesicht auf der Suche nach einer Reaktion zu studieren. Diese fand jedoch nicht statt. Ich wollte ihr den Gefallen nicht tun und griff, statt etwas zu sagen, nach einem Stück Toast und zerlegte es nervös in kleine Streifen. Ich und mit einem Typen herumknutschen. Das war und blieb völlig undenkbar!

Mit einem Mal verschwand das Lächeln aus dem Gesicht von Evita: „Hör mal, ich müsste das eigentlich alles auch Caro erzählen. Ich find nur, es ist eigentlich vermutlich zu unwichtig, um daraus nen Skandal zu konstruieren. Denn, also, im Ernst, ich gehe mal davon aus, dass dir das nix bedeutet hat?“

„Ich kann mich nicht mal dran erinnern, wie soll es mir da was bedeuten?“, knurrte ich.

„Stimmt. Aber ich wollte, dass du es weisst“, sagte Evita, „schon, damit du vorbereitet bist, wenn du den guten Jungen mal wieder siehst. So groß ist Malmö ja nun auch wieder nicht.“

Mir platzte der Kragen: „Ich bitte dich, du kannst mit dem Scheiß aufhören. Ich steh nicht auf Kerle. Entweder du hast dich verguckt, oder der Typ hat mich überrumpelt. Klar?“, schon als ich das gesagt hatte, war mir klar, dass mein Tonfall ein bisschen zu heftig ausgefallen war.

Mein Gegenüber liess sich nicht provozieren, sondern sagte nur: „Gib mir mal meine Handtasche.“

„Was?“

„Meine Handtasche. Steht da irgendwo unter dem Tisch.“

Stimmt, da stand sie wirklich. Seufzend reichte ich sie über den Tisch.

„Was willstn damit?“

„Wirste gleich sehen“, antwortete sie knapp und suchte konzentriert nach etwas im Inneren der Tasche. Frauen und ihre Handtaschen! „Ah, hier.“ Sie zog eine in einer Hülle säuberlich verpackte Digitalkamera hervor, nahm die Kamera heraus, schaltete sie an und suchte offensichtlich nach etwas.

„Hier“, sagte Evita und grinste, als sie den Monitor betrachtete.

Dann reichte sie mir die Kamera. Und hätte ich wirklich geglaubt, es handele sich bei dieser ganzen Geschichte um einen blöden Witz oder ein Hirngespinst meiner Freunde, so hätte ich spätestens jetzt zugeben müssen, dass das völliger Blödsinn war. Das Bild auf dem Monitor zeigte zwei junge Männer, die ziemlich ineinander versunken miteinander herumknutschten. Und einer dieser Kerle, gut zu erkennen an den schwarzen Haaren und dem dunklen Teint, war eindeutig ich. An dieser Erkenntnis führte kein Weg dran vorbei. Es sei denn, man glaubte an Doppelgänger oder ans Klonen. Tue ich aber nicht. Ebenso konnte ich ausschließen, dass es sich bei dem Typen, den er da küsste, um eine kurzhaarige Frau handelte. Es sei denn, Koteletten sind plötzlich auch bei Frauen in Mode.

Der Typ auf dem Foto kam mir nicht im entferntesten bekannt vor.

„Hmmm“, machte ich, um Zeit für eine angemessene Reaktion zu gewinnen und sah dann unentschlossen vom Monitor der Kamera zu meinen Tischgenossen. „Sieht so aus, als wäre ich auf neuen Pfaden gewandelt.“ Ich versuchte ein Grinsen.

Robin lachte. „Naja, du warst ja schon immer ein wenig anhänglicher als andere Typen, wenn du betrunken warst. Sowas nennt man vermutlich partyschwul.“

„Ja, so kann man das vermutlich zusammenfassen. Wer hat das denn alles mitbekommen?“ Ich war in der Tat erleichtert. Auch wenn mir das so direkt noch niemand gesagt hatte, war da vermutlich etwas dran. Ich kuschelte halt gerne, wenn ich betrunken war. Und dann war mir sogar das Geschlecht egal. So war es! Jawohl!

Evita schmunzelte schon wieder. „Niemand. Nicht mal ich so richtig,“ antwortete sie. „Nach dem Foto bin ich ziemlich schnell abgezischt, wollte euch nicht stören.“ Sie grinste selbstgefällig, während ich mich immer noch fragte, wer der Typ war, den ich da augenscheinlich geküsst hatte. Doch so sehr ich mich auch anstrengte, mein Gehirn gab keine passenden Erinnerungsfetzen, keine Namen, einfach rein gar nichts Preis, was meine Neugier hätte dämpfen können. Fragen konnte ich die Beiden jetzt indes nicht. Das wäre zu auffällig gewesen, fand ich.

Und, fuck, warum machte ich da überhaupt so einen Aufstand drum? Warum war ich nur überhaupt neugierig? Ich hatte im Suff einen Typen geküsst. Fein. Dann war das eben so. Und das machte mich noch lange nicht schwul! Lange nicht schwul!

Dann fielen mir die Knutschflecke auf meinem Körper wieder ein und eine unbestimmte Ahnung befiel mich....was, wenn ich und der Typ...? Das konnte eigentlich nicht sein. Mit einem Mal fiel mir auf, wie wenig ich eigentlich darüber wusste, was Schwule so...also, mir war nicht klar, woran ich merken könnte, dass ich am Abend vorher was mit einem Kerl gehabt hatte. Würde mir der Arsch wehtun?

Über diesen Gedanken musste ich innerlich selbst umgehend den Kopf schütteln. Lang leben die Vorurteile!

„Also war ich mit dem Typen alleine?“, fragte ich dann und versuchte halbwegs erfolgreich, meine aufkeimende Panik aus meiner Stimme fern zu halten.

Robin wechselte einen Blick mit Evita, so als müsse er sich der Antwort erst noch vergewissern. „Nicht, dass ich wüsste.“

Auch wenn ich durch diese Antwort hätte erleichtert sein sollen, gingen mir die Knutschflecke doch nicht aus dem Kopf. Die befanden sich nun einmal an Stellen, an die man nicht gelangte, wenn man nicht miteinander alleine gewesen war. Jedenfalls nicht unter normalen Umständen.

Sollte ich die Beiden gezielter danach fragen? Ich zögerte, wusste nicht warum, aber ich war mir sicher, dass ich es besser dabei bewenden lassen sollte. Weder Evita noch Robin sahen so aus, als wollten sie der Angelegenheit irgendwas hinzufügen. Im Gegenteil: Wäre ich mit dem Typen wirklich vor ihren Augen in irgendeinem der Zimmer verschwunden, dann wäre das ein gefundenes Fressen gewesen und ich wüsste es spätestens jetzt.

Ich warf noch einen Blick auf den Monitor.

„Wer ist der Typ?“, fragte ich mehr mich selbst als meine Tischnachbarn.

„Ich hab ehrlich keine Ahnung wie der hieß. Hab den noch nie zuvor gesehen. Aber ich glaub, er ist n Kumpel von Daniel. Deutscher oder Österreicher oder so. Und noch nicht so lange hier.“ Evita zog die Stirn in Falten, als müsse sie scharf nachdenken. „Ich glaub, der heisst Johan. Oder Julian. Oder Jonathan. Irgendwie sowas. Er war ja nun auch nicht mehr besonders nüchtern und hat ziemlich genuschelt.“

„Ich glaube, er heisst tatsächlich Jonathan“, ergänzte Robin, der die letzten Minuten mit seinem Brötchen zugebracht hatte.

Oh fantastisch! Der Typ hatte mir also anscheinend nicht nur seine Zunge in den Hals gesteckt, sondern war auch noch mit nem uncoolen Sprachfehler ausgestattet. Ich hatte das große Los gezogen.

„Aber, wenn's dich beruhigt“, erzählte Robin breit lächelnd, „er ist n guter Typ. Wir haben uns großartig unterhalten auf der Party bei Kami.“

„Bei Kami?“, fragte ich überrascht, „Der war auch zum Vorglühen bei Kami?“

„Ja“, nickte Robin.

So langsam dämmerte es mir. Ganz langsam allerdings nur. Ich schaute mir das Bild nochmal genauer an. Und so langsam meinte ich, mich zu erinnern. Nicht an den Kuss, natürlich. Aber immerhin daran, dass ich den Typen, der wohl vermutlich wirklich Jonathan hieß und allgemein nur Jona genannt wurde, wirklich auf Kamis Party kennengelernt hatte. Wir hatten uns ziemlich gut unterhalten, wenn ich mich nicht täuschte – und ein ziemlich widerliches Gemisch aus Gin und Whiskey getrunken, das irgendwer an diesem Abend als Hausdrink bezeichnet und allen aufgenötigt hatte.

Aus irgendeinem Grund beruhigte mich diese Erkenntnis ungemein. Es bedeutete immerhin, dass der Typ annähernd so besoffen gewesen war, wie ich selbst. Und das wiederum hieß, dass ich diese Angelegenheit getrost als Suffgeschichte zu den Akten legen konnte. Zumal wir ja anscheinend nicht mal miteinander alleine waren – die Knutschflecke mussten also irgendwo anders herkommen.

„Vielleicht sollteste dem bei facebook mal schreiben“, unterbrach Robin meine Gedanken.

„Wie, bei facebook?“, fragte ich, in meinen Gedanken unterbrochen, ziemlich barsch zurück.

„Na, wir beide wissen, dass du weisst, wie man da Nachrichten schreibt“, zwinkerte Robin mir zu, „aber der is auch da. Zumindest meine ich mich daran zu erinnern, dass facebook ihn mir permanent als Freund vorschlägt.“

Ja. Das war vermutlich eine gute Idee. Fand ich. Eine Sache war dann doch noch zu klären, bevor wir zur Tagesordnung übergehen konnten:

„Ich wäre euch echt dankbar, wenn ihr das Caro nicht erzählen würdet. Ich würd sie da ungerne reinziehen. Ich meine, ich war besoffen und es ist echt nix passiert!“

Evita nickte, sah aber nicht besonders glücklich aus. Und Robin zuckte mit den Achseln.

„Klar. Von mir aus muss das niemand erfahren. Gehen wir also zur Tagesordnung über.“

Von wegen.

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