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This Friday Night

Teil 2

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Inhaltsverzeichnis

3. Lost

Eigentlich bin ich nicht der Typ, der Geheimnisse vor seinen Freunden hat. Und schon gar nicht vor einer Person: Caro. Seit wir uns in Indien kennengelernt hatten, sind wir im Grunde unzertrennlich. Und ich finde, es sagt schon eine Menge über sie aus, dass ich meine Freunde und meine Familie in England verlassen habe, um bei ihr in Schweden zu leben und hier zu studieren. Einen größeren Liebesbeweis gibt es ja vermutlich kaum. Aber gerade weil ich sie so sehr liebe, fiel es mir in den folgenden Tagen schwer, vor ihr zu verbergen, wie sehr die Knutschgeschichte mich doch noch beschäftigte. Sie hatte die Knutschflecke in den folgenden Tagen natürlich gesehen, aber nichts dazu gesagt – vermutlich ging sie, wie ich, davon aus, dass sie dafür verantwortlich war. Vielleicht hielt sie die Flecken auch einfach für eine heftige Folge meines Suffs und ging, wie auch ich zuerst, davon aus, dass es sich um fiese blaue Flecke handeln müsse. Ich traute mich jedenfalls nicht, sie zu fragen.

Am Samstag selbst hatte ich es erfolgreich vermieden, bei facebook online zu sein und deswegen keine Gelegenheit gehabt, mehr über den unbekannten Deutschen herauszufinden. Auch als ich dann Sonntag ins Internet ging, war ich mir immer noch nicht schlüssig, wie ich weiter vorgehen sollte. Oder ob ich weiter vorgehen sollte. Denn, anders als ich gegenüber Evita und Robin behauptet hatte, war ich natürlich weiterhin neugierig. Man knutschte ja nicht jeden Tag mit einem Kerl, vor allem, wenn man eine Freundin hatte. Und da interessierte mich schon, wer dieser Kerl war. So rein vorsorglich. Immerhin das hatte ich mir bis dato erfolgreich eingestanden.

Wobei: Auf der anderen Seite gab es für mich überhaupt keinen echten Grund, in dieser Angelegenheit etwas zu unternehmen. Ich könnte mir genauso gut einen Porno anschauen und wichsen. Oder auf Caro warten und dann könnten wir...wie auch immer. Oder ich könnte für die Uni lernen. Oder einen Freund anrufen. Aber das alles erschien mir, zu Recht, wie eine ziemlich lächerliche Ablenkung von etwas, das ich unbedingt tun sollte. Denn da war in mir zugleich diese unbegreifliche und unbändige Neugier auf den Typen, mit dem ich ja nun einmal rumgemacht hatte. Es war eigentlich alles ganz einfach: Ich musste nur meinen Computer einschalten, bei facebook seinen Vornamen eingeben – und dann würde das Internet vermutlich den Rest erledigen.

Ich musste nur noch wollen, dann würde ich wissen, wem ich diesen blöden Schlamassel zu verdanken hatte. Und vielleicht auch, was genau passiert war. Denn, ob ich das Ganze wirklich als Schlamassel einordnen sollte, wusste ich auch nicht so richtig. Wirklich schlimm fand ich nur, dass die Chance bestand, Caro betrogen zu haben. Seltsamerweise griff die Tatsache, dass ich das ausgerechnet mit einem Kerl getan hatte, mich überhaupt nicht an. Ich war betrunken gewesen. Und außerdem bin ich nicht schwul. Das machte es irgendwie einfacher, das alles als dämlichen Unfall abzutun.

Und doch war ich neugierig.

Nur: Wollte ich das überhaupt? Den Typen sehen, kennenlernen? Spielte er wirklich eine Rolle? Ich war, seitdem ich von der Angelegenheit erfahren hatte, im Grunde genommen keinen Schritt weiter gekommen.

Denn ich konnte mir nicht helfen, aber natürlich spielte es eine Rolle. Wollte nicht jeder wissen, was er an einem Abend, an den er keine Erinnerung hatte, wirklich getan hatte? Auch wenn ich mich eigentlich nicht wirklich zu den Personen zählte, die man normalerweise als Kontrollfreak bezeichnen würde, so fand ich einen Filmriss diesen Ausmaßes schon einigermaßen beunruhigend.

Aber nein, schwul war ich deswegen selbstverständlich lange nicht. In der Woche vor der Party hatte ich mir und Caroline gleich mehrfach bewiesen, dass ich mich für Frauen interessierte. Sehr für Frauen interessierte. Ich liebte Brüste. Und zwar die weibliche Variante. Schon der Gedanke an die nackte Variante erregte mich. Normalerweise. Aktuell war ich jedoch selbst zum wichsen zu unkonzentriert.

Es gab also keinen Grund zur Beunruhigung, sagte ich mir. Mal wieder. Und ich würde mir vermutlich auch keine weiteren Gedanken machen, wenn diese Knutschflecke nicht wären! Ich hatte die letzten Tage mehrere Male minutenlang nackt vor dem Spiegel gestanden und versucht, mir einzureden, dass es sich um merkwürdig gefährlich aussehende blaue Flecken oder gefährlich aussehende, im Entstehen befindliche Pickel handeln müsse. Aber im mich selbst belügen war ich leider noch nie besonders gut gewesen. Die Dinger blieben Knutschflecke, egal, in welchem Licht oder in welchem Winkel ich sie mir anschaute.

In der Wohnung auf und abgehend versuchte ich mir, bevor ich am Ende irgendetwas dämliches tat, nochmals mit aller Gewalt die Einzelheiten des Partyabends aus dem Nebel meines Gehirns nach vorne zu zerren.

Alles vergeblich. Da war nichts, rein gar nichts. So, als hätte man auf einem Computer die „Delete-Taste“ gedrückt. Fuck.

Aber, mal im Ernst, was sollte schon passieren, wenn ich den Typen wirklich bei facebook fand? Schlimmstenfalls würde ich mit dem ein wenig reden müssen – oder können. Und schlimmstenfalls würde herauskommen, dass der Typ für die Knutschflecke verantwortlich war, die meinen Körper zierten. Ich war besoffen gewesen und ich war definitiv nicht schwul.

Gab es also einen Grund, sich überhaupt den Kopf darüber zu zerbrechen?

Nein.

Einen Grund, irgendetwas zu überstürzen?

Keinesfalls.

Gab es einen Grund, zu warten?

Erst recht nicht.

Und so kam es, dass ich an diesem Sonntag im Herbst meinen Computer anschaltete und damit eine Reise begann, die fast alles, was ich über mich und die Welt zu wissen glaubte, verändern würde.

4. Thinking of you

Es war wesentlich einfacher gewesen ihn zu finden, als ich zunächst gedacht hatte. Immerhin kannte ich nur seinen Vornamen. Aber, kaum, dass ich facebook geöffnet hatte, sprang mir eine neue Freundschaftsanfrage ins Auge.

Jonathan Meier.

Ein Deutscher in Malmö mit Namen Jonathan, der auch noch studierte. Das konnte kein Zufall sein. Leider wäre ich gezwungen gewesen, die Anfrage zu akzeptieren, um mehr über den Typen herauszufinden. Das, was ich sonst von ihm sehen konnte, war so wenig aussagekräftig, dass es nicht annähernd ausreichte, um meine Neugier zu befriedigen. Was ich jedoch sehen konnte, war ein offenbar mittelgroßer, dunkelblonder Typ, der auf seinem Profilbild eine mittelmäßig gut aussehende Brünette mit großen Muttermal herzte. Soso.

Mehr konnte ich in der Tat nicht denken: Soso.

Das war doch alles völlig absurd! Ich war gerade dabei, einen Typen darauf abzuklopfen, ob er auch am nächsten Tag noch einigermaßen akzeptabel zu sein schien, ob ich ihn für einen guten Fang hielt oder ob ich mich meiner Eroberung zu schämen brauchte. Dabei war hier doch eines völlig klar: Völlig unabhängig davon, wie ich den Typen nun fand, wenn ich ihm mal über den Weg laufen würde, ob er nun hässlich oder schön, cool oder uncool oder sonst etwas Besonderes war, er würde nie etwas anderes sein, als eine amüsante Jugendsünde. Oder eine peinliche Jugendsünde, von der es ein Foto gab, das man seinen Enkelkindern später lieber nicht zeigen wollte. Es gab überhaupt keinen Grund für irgendeine Art von besonderer Aufmerksamkeit für diesen Menschen!

Warum betrachtete ich mir das Bild also? Warum musterte ich diesen Kerl? Eigentlich wollte ich nicht einmal mit ihm reden. Kurzentschlossen verließ ich sowohl facebook als auch das Internet, ließ die Freundschaftsanfrage unbeantwortet und beschloss, den Tag irgendwo anders zu verbringen.

Was ich dann auch tat. Am Strand, genauer gesagt. Volleyball mit Freunden.

Die Freundschaftsanfrage entschwand in den nächsten Tagen unbeantwortet irgendwo in den Windungen des sozialen Netzwerkes und auch der Vorfall selbst verschwand, wegen einiger nervigen Uni-Hausaufgaben und diverser anderer Verpflichtungen ein wenig von meinem Radar, was jetzt sicherlich komisch klingt, wenn man überlegt, welchen Aufstand ich darum gemacht habe. Aber es war so: Wenn man einen Studiengang zu bewältigen und eine Freundin zufrieden zu stellen hat, dann kann einen das ganz gut vom Nachdenken abhalten. Vorausgesetzt, man will sich davon abhalten lassen. Und ich hatte nichts anderes vor.

Das klappte auch ganz gut, wie gesagt. Jedenfalls bis eine Woche später wieder eine Studentenparty anstand. Dieses mal nicht in Rönnen, sondern in Celsiusgarden, was gleich daneben liegt, aber aus irgendwelchen Gründen als deutlich komfortabler gilt. Ich war noch nie zuvor dort gewesen und daher irgendwie gespannt darauf, was mich erwarten würde.

Die Party im Celsiusgarten hatte das reichlich dämliche Motto „Mafia“ und mir war nichts intelligenteres eingefallen, als mich in meinen schwarzen Anzug zu werfen, meine Haare mit reichlich Gel in eine ziemlich schmierig aussehende Form zu bringen und mir eine Sonnenbrille aufzusetzen. Caro indes hatte beschlossen, sie wolle als Mafialuder gehen und machte ihrem Motto alle Ehre: Im kurzen Rock und tief ausgeschnittenen Top mit viel Goldschmuck am Körper sah sie wirklich aus wie eine dieser Frauen, die man aus den Mafiafilmen kennt. Und sexy war sie. Am liebsten hätte ich sie direkt vernascht, aber dazu blieb keine Zeit.

„Wir müssen los“, drängte sie, „wir sind sowieso schon zu spät.“

Widerwillig nickte ich und ließ mich von ihr aus der Tür schieben. Celsiusgarden entpuppte sich als Uraltgemäuer, das innen und außen ein wenig den Charme von Hogwarts versprühte. Nur ohne die Hexen und die Zauberer, dafür mit viel zu vielen nackten Steinen und einigen ehemals offenen Kaminen, in denen sich heute Heizkörper befanden. Alles in allem deutlich netter als Rönnen.

Caro und ich hatten nicht allzu viel Alkohol dabei, weil Evita und Robin, die ein wenig später nachkommen wollten, versprochen hatten, uns etwas mitzubringen. Und bei den Preisen hier in Schweden lässt man sich so etwas nicht zweimal anbieten. Wir verstauten also die mitgebrachten acht Bierdosen im Kühlschrank und stürzten uns ins Getümmel.

„Hej Liam“, hörte ich auf einmal eine Stimme von hinten und fuhr herum. Dort stand Anders, ein Freund aus meinem Semester, und grinste. Ich gab Caroline, die mich fragend anschaute, zu verstehen, dass ich gleich nachkommen würde und wandte mich endgültig um, um meinen Gesprächspartner mit einem Handschlag zu begrüßen.

„Hur är läget?“, fragte er mich auf Schwedisch. Wir hatten das Abkommen geschlossen, uns nur auf schwedisch zu unterhalten, damit ich meine Sprachkenntnisse verbessern konnte.

„Det är bra, tack. Och själv?“, antwortete ich also und ein Gespräch über die stressige Uniwoche und unseren wirklich dämlichen Professor entspann sich. Nach einer Weile stellte ich fest, dass ich Caro schäbig im Stich gelassen hatte und verabschiedete mich mit dem Hinweis, sie suchen zu müssen.

„Har de bra!“, rief er mir nach und prostete mir zum Abschied zu.

Als ich sie nach kurzem Suchen fand, musste ich jedoch feststellen, dass sie sich ganz gut alleine beschäftigen konnte:

Jonathan Meier, in grauem Pullover und roter Hose, stand lässig gegen einen Türrahmen gelehnt und unterhielt sich anscheinend blendend mit meiner Freundin, die sich mehrfach abwandte, um lauthals zu lachen. Das machte sie immer, wenn sie etwas besonders komisch fand.

Bevor ich wirklich verstand, was ich dort sah, hatte sie mich bereits entdeckt und winkte mich heran. Jetzt konnte ich schlecht weggehen, ohne eine mittelschwere Beziehungskrise zu provozieren. Auch wenn sich alles in mir sträubte, denn ich wollte nicht mit Jonathan reden. Koste es, was es wolle. Mit einem Mal war die ganze Unsicherheit, die ich in der Woche zuvor so erfolgreich verdrängt hatte wieder da. Die Freundschaftsanfrage. Der Kuss, über den ich noch immer nicht alles wusste. Und das alles gepaart mit einer noch drängenderen Frage: Hatte er es ihr erzählt? Und überhaupt! Woher kannten die sich überhaupt? In meine Unsicherheit mischte sich ein klein wenig Eifersucht, denn ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, ich würde den Gedanken, dass meine Freundin sich hinter meinem Rücken mit einem Typen trifft, besonders gut finden.

Dennoch konnte ich nicht einfach gehen. Langsam und in der Hoffnung, möglichst relaxed zu wirken, schlenderte ich die paar Meter zu ihnen hinüber. Und seufzte in mich hinein. Ich legte meine linke Hand um Carolines Taille.

„Hej“, sagte ich und küsste sie auf die Wange. „Entschuldige. Hat irgendwie länger gedauert.“

„Kein Problem“, sagte sie und lächelte. „Ich hatte währenddessen ja nette Gesellschaft. Das“, sie deutete auf Jonathan, „ist übrigens Jonathan, ein Studienkollege von mir. Jonathan, das ist mein Freund, Liam.“

Ich reichte ihm die Hand. „Hej“, quetschte ich heraus und hoffte, er würde meinen erhöhten Pulsschlag nicht durch meinen Händedruck spüren.

Sollte Jonathan nervös sein, so ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. „Hallo Liam, schön, dich kennenzulernen. Ich hab schon viel von dir gehört“, sagte er in einer angenehm samtigen Stimme in perfektem Englisch. Und ich meinte, in seinen Augen ein Zwinkern zu erkennen. Außerdem lispelte er nicht und hatte blaue Augen.

„Wie geht’s?“, sagte ich auf deutsch, weil ich zeigen wollte, dass ich seine Landessprache vor tausend Jahren mal in der Schule gelernt hatte. Ich fand, das könnte er cool finden. Und Caroline auch.

„Gut, danke. Und dir?“, antwortete Jonathan in akzentfreiem Schwedisch und lachte jetzt noch ein wenig freundlicher, wobei er eine Reihe weißer Zähne entblößte und erneut nicht nuschelte.

Und blaue Augen hatte. Deren Blick ich immer suchen wollte.

Was ich komisch fand und deswegen zeitgleich vermeiden wollte.

Um die Form zu wahren, nickte ich, tat freundlich, wollte jedoch im Grunde einfach nur weg und erwiderte irgendetwas davon, dass die Uni mich diese Woche total stresste und es mir sonst gut ginge. Auf Englisch. Und kaum, dass ich es gesagt hatte, fand ich, dass das irgendwie entschuldigend klang – und das hatte ich bei dem ja nun wirklich nicht nötig.

Mein Gegenüber nickte verständnisvoll und erklärte auf Schwedisch, dass es ihm ungefähr genauso ginge und fragte dann, ob ich den letzten Samstag gut überstanden hätte. Er hätte sich fast Sorgen gemacht. Und dann war da dieses Lächeln. Immer wieder dieses Lächeln. Freundlich. Sonnig. Offen. Einfach schön.

Einfach. Schön. Das Lächeln eines Typen war nicht einfach schön. Es hatte vorhanden zu sein und mich nicht zu interessieren. Punkt. Überhaupt fragte ich mich, wo meine Schlagfertigkeit hin war. Ich bemerkte, dass der Deutsche ein Stück größer war als ich. Und dass mir sein Lächeln wirklich gefiel.

Der Gedanke gefiel mir wiederum gar nicht.

Mit diesen Gedanken beschäftigt, hatte ich gar nicht bemerkt, dass Jonathan so nebenbei eine kleine Bombe hatte platzen lassen.

„Wie? Ihr kennt euch?“, fragte Caro und schaute mich verwundert an.

Schlagartig war ich aus meinen Gedanken zurück.

„Naja, kennen ist zuviel gesagt“, machte sich der Deutsche auf, mich aus dem Schlamassel zu retten, den er angerichtet hatte. „Wir haben uns letzten Freitag auf der Party kennengelernt. Aber ich glaub, wir waren einfach auch ziemlich betrunken.“ Er grinste. Erkannte ich da einen Hauch Verlegenheit in seiner Stimme?

Ich nutzte die Gelegenheit jedenfalls, um etwas klarzustellen.

„Sehr betrunken“, sagte ich und sah ihn an.

„Stimmt“, sagte er und lachte, „wir waren wirklich sehr betrunken.“

Wir unterhielten uns eine Weile über dieses und jenes und ich musste feststellen, dass Jonathan nicht nur nett zu sein schien, sondern auch noch einen ziemlich guten Humor besaß. Nach ungefähr einer Viertelstunde sagte der Deutsche dann:

„Entschuldigt mich, ich muss eben mal wohin“, und deutete in Richtung der WCs.

Caroline, die ich immer noch im Arm hielt, nickte ihm zu und ich hob mein Bier. „Bis später.“

Gemeinsam sahen wir ihm nach, wie er den Gang hinunterlief. Als er ein paar Meter weiter weg war, sagte sie: „Netter Kerl.“

Und während ich feststellte, dass seine Hose seinen Hintern fantastisch betonte, nickte ich und sagte: „Das ist er wirklich.“

Was zum Teufel war eigentlich mit mir los?

5. The one that got away

Ich weiß rückblickend nicht mehr genau, wie lange Jonathan nicht mehr bei uns war, auf jeden Fall muss eine Weile gewesen sein, weil zwischendurch sowohl Anders als auch Evita und Robin auftauchten und sich zu uns stellten. Außerdem bin ich mir sicher, mindestens zwei Bier getrunken zu haben, während er nicht da war.

Rückblickend ist mir auch bewusst, dass ich an diesem Abend begann, meine Tage danach zu sortieren, ob Jonathan da war oder nicht. Aber damals war das alles viel, viel und sowieso zu merkwürdig, als dass ich das bewusst hätte realisieren können.

Jedenfalls beschlossen irgendwann alle, dass sie jetzt tanzen gehen müssten und zogen mich, den Nichttänzer, in den Raum hinter der Gemeinschaftsküche, der wohl als so eine Art erweiterte Tanzfläche dienen sollte. Dort lehnte ich mich an die Wand und schaute meinen Freunden dabei zu, wie sie ihre Körper zu der reichlich merkwürdigen Musik verbogen, die an diesem Abend auf der Party gespielt wurde. Überwiegend Bob Marley – auf jeden Fall nichts, wozu ich meinen vom Fussballtraining eher unbeweglich gewordenen Körper in irgendeiner ansehnlichen Art und Weise bewegen könnte. Und vor allem nichts, was wirklich zum Thema der Party passen wollte.

Mit einem Mal stand Jonathan neben mir und drückte mir ein Bier in die Hand.

„Hej“, sagte er.

„Hej“, erwiderte ich.

„Komische Musik hier. Irgendwie nicht meins“, sagte er nach einer Weile.

Ich nickte, es hätte bei dem Krach sowieso keinen Sinn gemacht, ihm meinen Musikgeschmack tiefgründiger auseinander zu setzen.

„Sollen wir hier rausgehen?“, fragte Jonathan und in mir schrillten die Alarmglocken. Ich fühlte mich nicht sonderlich bereit dazu, mit ihm irgendwo hinzugehen. Alleine zu sein. Andererseits: Wieso nicht? Er schien nett zu sein – sehr nett sogar – und würde mich wohl kaum auf dem Flur vergewaltigen.

Also nickte ich. Caroline gab ich durch eine Handbewegung zu verstehen, dass ich in den Flur zu gehen gedachte. Sie beachtete mich nicht oder hatte mich nicht gesehen. Tanzte ja schließlich. Sie würde mich schon finden, sagte ich mir.

Im Flur angekommen war es deutlich ruhiger.

„Bob Marley ist also auch nicht so deine Musik?“, begann Jonathan auf Englisch die Konversation.

„Nein“, sagte ich, „irgendwie hab ich's nicht so mit lateinamerikanischem Zeugs.“

Er grinste. „Also auch eher so der Mann für die von Hand gemachte Musik.“

Ich nickte. „Und Hip Hop und RnB. Zum Feiern auch gerne Drum'n'Bass oder Pop.“

„Gute Mischung“, sagte er und nahm einen Zug aus seinem Bier.

Wir schwiegen eine Weile, während ich ebenso angestrengt nach einem unverfänglichen Thema suchte, wie ich damit beschäftigt war, ihn nicht anzusehen. Ich jedoch konnte förmlich seinen Blick auf meinem Gesicht spüren.

Ich wollte ihn soviel fragen, unter anderem nach dem, was am letzten Freitag passiert war.

Sollte ich?

Immerhin hatte er Caro gegenüber bislang dicht gehalten, so verkehrt konnte er also nicht sein. Wenn überhaupt etwas passiert war. Das ahnte ich ja nur. Ich hatte kein gutes Gefühl dabei, aber ihm hier so gegenüber zu stehen, das veränderte irgendwie alles. Hatte ich es vorher nicht wissen wollen, so wollte ich es jetzt wissen. Von ihm ging eine merkwürdige Anziehungskraft aus, die ich damals nicht deuten konnte.

Auch wenn ich es so deutlich nicht begreifen wollte: Mit ihm geknutscht zu haben, das kam mir auf einmal nicht mehr so dramatisch vor. Weil es er war. Dennoch musste ich natürlich vorsichtig sein, weil ich unter keinen Umständen riskieren konnte, Caroline gegenüber irgendetwas davon zu erwähnen. Sie durfte nichts erfahren.

„Danke, dass du Caroline von letztem Freitag nichts erzählt hast“, sagte ich daher und lobte mich in Gedanken selbst. Sehr unverfänglich! Konnte immerhin auch ums Saufen gehen. Perfekt!

Jonathan schenkte mir ein Lächeln, das mir die Knie weich werden ließ. „Ehrensache. Ich meine, sie hat mir immer erzählt, wie glücklich sie ist und so. Das wollte ich ihr nicht wegen ein paar Bier zu viel kaputt machen. Wenn du verstehst.“ Und nachdem er mir in die Augen geschaut hatte, fügte er hinzu: „Aber wenn du darüber reden willst, musst du bei facebook nur meine Freundschaftsanfrage annehmen.“ Er schmunzelte.

Ich hingegen fand seine Bemerkung weder charmant noch geistreich, sondern vor allem sehr ärgerlich. „Worüber denn reden?“ Es war doch gar nichts passiert. Oder? Seine Anziehung auf mich hatte sich innerhalb von Sekunden verflüchtigt.

Entweder er war arglos oder er war ein guter Schauspieler: „Über das, was du mir Freitag erzählt hast?“

„Und was soll das sein?“, fragte ich zurück.

„Wow, dann hast du Caroline also nicht angelogen?“, er wirkte wirklich erstaunt. Und: Anscheinend hatte er mit Caroline doch bereits über Freitag gesprochen. Doppelte Panik stieg in mir hoch: Was hatte ich erzählt. Und: Was hatte er erzählt. Denn, auch wenn er behauptet hatte, nichts gesagt zu haben: Wieso sollte ich ihm glauben? Was sollte ich ihm glauben?

„Ich...was?“

„Na, als du gesagt hast, du hättest nen Filmriss?!“, er wirkte immer noch erstaunt und irgendwie irritiert.

„Nein, das ist die volle Wahrheit!“, entgegnete ich entrüstet und wurde, noch während ich das sagte, von den Knutschflecken auf meinem Körper wieder eingeholt, die inzwischen eindeutig schwächer geworden waren und die Caroline so selbstverständlich als von ihr stammend hingenommen hatte, dass ich nicht einmal mehr darüber hatte nachdenken müssen, ob sie von jemand anderem stammen könnten. Sie konnten von jemand anderem stammen, natürlich.

Nein. Konnten sie nicht. Ich schlafe nicht mit Typen. Und ich würde Caroline niemals betrügen.

„Okay“, sagte Jonathan daraufhin lapidar und ich war drauf und dran, ihm in reichlich unfreundlichem Ton zu sagen, dass er doch bitte endlich mit der Sprache herausrücken möge. Doch dann bemerkte ich das, was er längst gesehen haben musste.

Caroline stand hinter mir. Wortlos drehte ich mich um und küsste sie. Als ich mich umdrehte, zeigte Jonathan wieder ein perfekt freundliches Lächeln und sagte: „Ach, schon fertig mit tanzen?“

„Nein“, sagte Caroline, „ich wollt nur schauen, wo ihr so seid. Nicht, dass ihr Dummheiten macht!“

„Dummheiten? Wir?“, fragte ich ein wenig zu schnell dazwischen.

Caroline zog die Augenbrauen zusammen. „War natürlich nur ein Scherz, also, denke ich mal!“ Sie wischte sich den Schweiß aus der Stirn. „Man, da ists vielleicht warm drin.“

„Deswegen sind wir abgehauen,“ sagte Jonathan, „war ja zum Unterhalten eh viel zu laut.“

Ich konnte mich nicht richtig auf das Gespräch konzentrieren, weil ich damit beschäftigt war, mir selbst bei zu bringen, dass ich tatsächlich und wirklich garantiert mit Jonathan rumgeknutscht hatte. Dass die Knutschflecke vermutlich von ihm waren.

Ich hatte es mir selbstverständlich denken können, aber die Konsequenzen aus dieser Wahrheit erreichten mein Hirn irgendwie erst jetzt. Und ich müsste lügen, wenn ich behaupten würde, ich wäre begeistert gewesen.

„Männergespräche“, murmelte ich und handelte mir einen missbilligenden Blick meiner Freundin ein. Die verstand alles und doch nichts. „Ich wollt eh gerade wieder gehen. Drinnen ist jetzt Trashpop angesagt,“ informierte sie uns. „Du hast nicht zufällig Lust zu tanzen? Meinen Freund muss ich ja gar nicht erst fragen“, fuhr sie an Jonathan gewandt fort.

„Ich muss dich enttäuschen“, sagte der und schenkte ihr ein Lächeln, bei dem mein Magen mir befahl, gefälligst umgehend dahin zu schmelzen.

„Okay, okay“, grinste Caroline, schüttelte mit gespielter Empörung ihren Kopf und verschwand wieder.

Jonathan rollte mit den Augen. „Das war knapp“, sagte er, „vielleicht sollten wir uns doch lieber auf nen Kaffee treffen, dann können wir in Ruhe reden. Ohne, dass Caro uns zwischen den Füßen herumrennt.“

Ich wurde genauso schnell genervt von dem, was ich als unverschämten Anmachversuch interpretierte, wie ich vorher dahingeschmolzen war. „Was gibt es da zu bereden? Es ist mir egal, weil es nix bedeutet!“ Außerdem sprach er über meine Freundin – und die rennt nie zwischen den Füßen herum. Wenn, dann schwebt sie.

Jonathan wurde genauso schnell ernst, wie er vorhin fröhlich geworden war. „Hör zu, ich hab kein Problem damit, dass dir das, was wir hatten, nichts bedeutet. Aber es wäre gut, wenn du wenigstens wüsstest, was dir nix bedeutet!“

Ich verstand nur noch Bratkartoffeln. Aber soweit ich ihm folgen konnte, hatte er Recht. Wenn er damit andeuten wollte, dass wir tatsächlich Sex hatten, an jenem Abend, dann musste ich das wissen. Oder doch nicht? Da war es wieder, mein Dilemma.

„Wie meinst du das?“ Diese Frage begann, meine Standardausweichmethode zu werden, wenn ich mal wieder Zeit gewinnen wollte, um meine Gedanken zu ordnen.

Jonathan wurde ungeduldig. Seine Augen funkelten ungewöhnlich aggressiv, was ihn für mich nur noch attraktiver werden ließ. „Hör zu“, presste er zwischen den Zähnen hervor, „ich versuche gerade wirklich, dir zu helfen, mit den Problemen, die du damals bei mir abgeladen hast. Aber ein bisschen Hilfe deinerseits kann ich ja wohl erwarten.“

Ich rollte mit den Augen. „Reg dich ab. Aber wie gesagt, ich habe wirklich keine Ahnung, was passiert ist.“

„Willst du ein Stück laufen?“, fragte Jonathan mich plötzlich.

„Wieso?“

„Weil dann deine werte Freundin nicht ständig in die Quere kommt?“

„Wieso?“, fragte ich doof zurück, während mir schwante, was er mir erzählen wollte. Nur: Ich hatte soeben meine Entscheidung gefällt. Ich wollte es doch nicht wissen. Er konnte seine Wahrheit behalten!

„Das ist mir gerade ernsthaft zu doof, sorry!“, sagte er und wollte sich an mir vorbei in die Gegend der Tanzfläche zurück bewegen, aber ich hielt ihn, irgendeinem mir unerklärlichen Impuls folgend, zurück.

„Tut mir leid“, sagte ich und meinte das in der Sekunde tatsächlich ernst, „ich bin mir nur ehrlich gesagt nicht sicher, ob ich das wirklich wissen möchte.“

Ich sah Verständnis in seinem Blick aufkeimen. Er nickte, lächelte schon wieder und sah mich eine Weile lang undurchdringlich an. Ich versuchte seinem Blick stand zu halten, aber es gelang mir nicht.

„Was?“, fauchte ich daher nach einer Weile, weil ich nicht mehr wusste, wie ich mit der Situation umzugehen hatte.

Auch Jonathan schien unsicher, jedenfalls wirkte er ein wenig mehr so. Er schien mit sich zu ringen. „Bei unserer letzten Begegnung“, begann er und machte eine längere Pause, „....ist mehr passiert zwischen uns.“

Ich schluckte.

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