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Frisch verliebt

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Frisch verliebt

Es ist unangefochten, dass sowohl Mann als auch Frau, insbesondere Mann mit Frau, sich über den Musikgeschmack streiten können. Ein solcher Streit beginnt alltäglich mit kleinen Scharmützeln über den Lieblingsradiosender, setzt sich in einer Phase des Kalten Krieges mit der Aufrüstung der Stereoanlage fort und kann gar in einem Glaubenskrieg enden, in dem jede Platte verbrannt wird, die nicht das eigene Idol verherrlicht.

Ein wichtiges Mittel zur schnellen Identifizierung des Feindes stellen dabei Uniformen dar. So ist es kaum verwunderlich, dass es Leute gibt, denen man ansieht, welche Musik sie hören. Seien dafür nun die Gene oder die soziale Prägung verantwortlich, es sind die Kugelschreiber im Revers, die rosaroten Plüschherzchen oder das Nietenhalsband, die eindeutiger sind als volle Noten im Viervierteltakt. Ob diese Leute nun die Musikrichtung vertreten oder die Musikrichtung ihre Einstellung, sei dahin gestellt.

Entscheidend ist: Was macht man, wenn man nicht dazu gehört? Wenn man scheinbar als einziger nicht die richtige Frisur hat und die falschen Klamotten trägt? Was wenn man keine kurzen Haare, keine Lederhosen und keine weißen Leinenhemden trägt und letztendlich gar männlich ist?

Man kann sich sicher sein, dass man auf der falschen Party ist und man sich höchstwahrscheinlich nicht gleich auf den ersten Blick in die Musik verlieben wird.

Man kann sich zudem sicher sein, dass man sich auch auf dem zweiten Blick in gar niemannden verlieben wird, denn man befindet sich auf einer Lesben-Party.

So geschah es mir vor kurzem. Eigentlich war es gar keine reine Lesben-Party, sondern eine Schwul-Lesbische, doch wurde die Musik von einer Lesbe gemacht und emanzipierte sich als ausschließlich für Lesben, anders formuliert: Sisters of Mercy by the Sister without Mercy.

Das war zu hart für manche zarte Seele und zu schwer für manch flottes Tanzbein. Damit konnte ich auf dieser Party schon mal nicht tanzen und da zusätzlich auch niemand Bekanntes zum Reden in der Nähe war, konnte man sich nur noch auf die einzig eindeutig männliche Bastion zurückziehen und sich mit Weißwein besaufen.

Deshalb ging ich zur Bar, um mir etwas zum Trinken zu holen. Doch überraschender Weise teilten auch noch ein paar andere Schwestern meine Meinung über die Musik und zogen im gleichen Takt bzw. bereits einen früher, den gleichen Schluss und somit zur Bar. Dort bildete sich eine Schlange beachtlicher Länge und purem Männeranteil leider nur von mir, frei nach Murphy. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu warten.

In solch bedrückender Stimmung sucht sich mein Blick ganz von allein die dunklen Ecken des Raumes und landete letztendlich in der Sofa-Ecke. Und was musste dort mein verkorkstes Herz entdecken?

Ein schnuckeliges Pärchen: frisch verliebt und männlich. Sie waren deutlich daran zu erkennen, dass sie sich unsterblich innig in die Augen blickten und trotzdem ihre Hände nicht von einander lassen konnten. Mit einem neidischen Kribbeln in der Magengegend beginnend, schlich sich bei mir ein Lächeln auf die Lippen.

Zu meinem neid- und genussvollen Übel, küssten sie sich. Erst nippten sie ganz sacht an den Lippen, einfach mal, um auszuprobieren, wie das ist und dann verschlungen sie sich stürmisch und kullerten fast unter den Tisch. Die nächsten Minuten lebten sie ohne Atempause von dem Oxygen des anderen. Sogar noch, als ich endlich an der Bar mein Getränk erstanden hatte, inhalierten sie einander oder waren sie bereits ins Koma gefallen?

Ungläubig schüttelte ich mit den Kopf und kam nicht obhin zuzugeben, dass Liebe etwas schönes ist.

Doch wollte ich die beiden mit meinen Blicken nicht weiter stören, auch wenn sie diese nicht registrieren und ging zurück zur Tanzfläche. Dort tobten sich die Mädels — bzw. die Vertreter des weiblichen Geschlechts — immer noch voll aus. Es war eindeutig ihre Musik, denn sie waren noch immer die einzigen auf der Tanzfläche. Für einen kurzen Augenblick fühlte ich mich zurück versetzt in meine alte heterosexuelle Diskophase, in der auch nur die Mädels in der Mitte tanzten und die Jungs cool am Rande bewerteten, doch dann fiel mir auf, dass sich niemand für die Mädels interessierte. Es gab sie noch: die heile Welt.

Unter dem gelangweilten Volke entdeckte ich zum Glück Martin & Steffan. Die beiden hatten die gleiche Meinung über die Musik wie ich. So verfielen wir, es fiel uns nicht schwer, auch gleich einem leidteilendem Ablästern, das Steffan galant auf den Punkt brachte.

»chach mein klück, tass ich keine lespe pin! ich bin tswar etwas, naja…«, er wedelte übertrieben mit dem linken Händchen und führte die Rechte an die Stirn, einen Ohnmachtsanfall antäuschend, »… aber tass ist tausentmal pesser, als eine lespe zu tsein.«

Ich konnte ihm nur Recht geben, auch wenn ich es nicht so überzeugend darstellen kann. Deshalb möchte ich unsere Argumentation hier noch einmal zusammenfassen:

  1. Lesben haben keinen Musikgeschmack.
    Ich gebe zu, damit sind sie nicht die einzigen, aber es war ein spürbarer Tatbestand.
  2. Lesben haben keinen Frauengeschmack.
    Denn wenn sie auf Frauen stehen, was technisch sicherlich schwierig ist, warum versuchen sie dann auszusehen wie Männer?
  3. Lesben haben eigentlich generell keinen Geschmack.
    Immerhin halten sie nichts von Männern.

Dies mag jetzt verurteilend und gemein klingeln, entsprach aber der episodischen Wahrheit und wurde im Laufe des Abends nicht widerlegt, so dass gegen zwei Uhr kaum noch Männer da waren, Lesben dafür umso mehr. Sie mochten zwar versuchen den nicht vorhandenen Männeranteil aufgrund ihres Aussehens nachahmen zu wollen, konnten mich aber nicht täuschen. Auch nicht, als sie anfingen lauthals zu grölen, zu pfeifen und mit jedem Lied mitzusingen, also sich zu benehmen wie betrunkene Männer.

Vielmehr zerbrach in den falschen Tönen meine letzte Hoffnung auf ein einziges tanzbares Stück und ich beschloss zu gehen. Da meine Straßenbahn sowieso gleich fuhr, machte ich mich auf den Weg zur Haltestelle.

Und wen traf ich dort? Unseren beiden Turtel-Täubchen.

Scheinbar hatten sie sich von ihrem gemeinschaftlichen Koma erholt und die Musik konnte sogar zu ihnen durchdringen. Entsprechend hatten sie sich überraschend entschlossen die Location zu wechseln, irgendwohin wo es vor allem viel kuscheliger ist und man sich besser nonverbal verständigen kann. Wahrscheinlich war dies der einzige Grund, weshalb die beiden gingen, denn die Musik hatte sie vorhin ja auch nicht gestört.

Die Bahn war außer uns Schwestern völlig leer und überraschender Weise war nicht eine einzige Lesbe unter ihnen. Die beiden frisch Verliebten gönnten sich einen Doppelsitz und hielten Händchen. Ich stellte mich in den Gang, denn ich musste an der nächsten Haltestelle schon wieder umsteigen. Mit einem letzten Blick verabschiedete ich mich von den beiden Zuckerschnecken und stieg um.

Die andere Bahn war voll pubertierender Jugendlicher, wahrscheinlich gerade auf dem Wege aus einer jugendfreien Prolldisse ins Bettchen. Die Jungs grölten und sangen noch immer die vermeintlichen Hits und hatten offensichtlich Spaß dabei; zumindest einen entsprechend hohen Alkoholspiegel. Mir stach ihre Gemeinsamkeit mit den Lesben ins Auch, auch wenn ihre Mode unterschiedlich war. Das lässt zwar auf einen anderen Musikgeschmack schließen, aber im Kern waren sie genauso männlich wie Lesben. Davon etwas verunsichert, wollte ich schon in meinem Inneren nach meiner weiblichen Seele lauschen, als … unser Pärchen einstieg.

Sie betraten die Bahn durch verschiedene Türen; setzten sich auf getrennte Plätze; sahen sich nicht an; hielten die Arme verschränkt. Keiner kannte den anderen.

Aus war es mit der Romantik, mit tiefen Blicken, verspielten Berührungen und lustvollen Küssen. Zwei Fremde hatten die gleiche Bahn betreten.

Und das nur, weil die Bahn voll Jugendlicher war?

Ist das wirklich notwendig?

Ist das Angst?

Bedeutet schwul zu sein, Angst zu haben?

Angst vor Berührung in der Öffentlichkeit?

Man sah genau, wie die beiden sich zwangen; wie sie verzweifelt aus dem Fenster blickten; auf ihren Lippen kauten; die Arme verschränk hielten, damit sie nicht ungehörige Sachen taten.

Ungehörige Sachen?

Kann denn Liebe Sünde sein?

Kann denn Liebe Angst sein?

Ich möchte keine Angst haben!

und doch habe ich welche.

Ich kann beide nur zu gut verstehen.

Jean-Pierre, 16. Juli 2000; 3:56

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