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Somewhere under the Rainbow

Weihnachtschallenge 2013

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Informationen

 

Das >>Rainbow<< gab es schon seit einigen Jahren. Fritz hatte es mit seinem Freund Jörg ins Leben gerufen. Als Fritz damals sein Abitur machte, lernte er Christoph kennen und lieben. Ende der 1970er Jahre lebte man seine ‘Neigungen‘ noch eher versteckt aus, vermied Berührungen und andere Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit. Während Fritz mit der Situation relativ gut zu Recht kam, war Christoph sehr ängstlich, was seine Eltern und die Menschen um ihn herum betraf. Christoph wollte Maschinenbau studieren und büffelte viel fürs Abi. Fritz hatte vor, nach der Bundeswehr Pädagogik oder Geschichte und Sport auf Lehramt zu studieren. Treffen fanden oft heimlich statt, meistens unter dem Deckmantel, gemeinsam lernen zu wollen. Trotz aller Vorsicht wurde aber Christoph eines Tages, als er von der Schule nach Hause kam, von seiner Mutter zur Rede gestellt: Beim Saubermachen seines Zimmers hatte sie ein Pornomagazin unter seiner Matratze entdeckt. Christoph war schockiert. Seine Mutter sagte ihm auf dem Kopf zu, dass Fritz wohl nicht nur zum Lernen zu ihm kam. Am Abend wollte sie es dem Vater sagen. Christoph war sehr verzweifelt und flehte seine Mutter unter Tränen an, ihm nichts zu verraten. Doch es nützte alles nichts: seine Mutter ignorierte seine Bitte. Daraufhin verließ Christoph Hals über Kopf die elterliche Wohnung und stürmte die Straßen entlang. Erst vor der Wohnung von Fritz kam er zum Stehen. Als Fritz kurze Zeit später vom Einkaufen zurückkam, sah er ihn vor dem Grundstück an den Zaun gelehnt stehen. Er ging auf Christoph zu. Dieser bemerkte ihn erst, als er zärtlich seine Hand auf Christophs Schulter legte.

„Was ist denn mit Dir los? Und wie siehst Du überhaupt aus? Los, komm mit hoch.“

Christoph bewegte sich aber keinen Zentimeter und schniefte nur. Ohne den Kopf zu heben, flüsterte er nur „Es... es... ist aus. Alles ist aus. Ich kann nicht mehr.“

Fritz ließ seine Einkäufe fallen, stellte sich vor Christoph und packte ihn an den Schultern: „Was ist aus, Chrissi? Hey, Du bist ja völlig durch den Wind. Los, komm jetzt mit.“

Er schnappte sich seine Einkäufe und schubste Christoph vorsichtig, aber bestimmend zur Haustür. In der Wohnung legte er die Einkäufe in die Küche, bevor er Christoph in sein Zimmer schob. Nachdem sich Christoph auf Fritz Bett gesetzt hatte, kniete sich Fritz vor ihn und strich ihm über die Beine: „So, jetzt erzählst Du mir ganz in Ruhe, was passiert ist.“

„Mama weiß, dass ich schwul bin und dass wir nicht nur lernen. Sie will es heute Abend Papa erzählen. Ich... ich kann da nicht mehr hin zurück.“

Fritz setzte sich neben Christoph und nahm ihn in den Arm. Christoph weinte bitterlich. Fritz versuchte ihn ein wenig zu trösten, wusste aber nicht wie.

„Chrissi, das wird schon nicht so schlimm werden.“

„Du kennst meine Eltern nicht. Denen ist der Ruf wichtiger als ihr eigener Sohn. Und... und wenn die Nachbarn rauskriegen, dass ihr Sohn schwul ist...“

„Scheiß auf die Nachbarn. Deinen Eltern ist doch nicht das Gerede der Nachbarn wichtiger als ihr einziger Sohn.“

Lange saßen sie einfach nur da und hielten sich fest.

„Chrissi, Du musst jetzt nach Hause. Es wird schon nicht so schlimm werden. Glaub‘s mir. Und morgen in der Schule sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.“

Fritz küsste seinen Freund noch mal zu Abschied und ahnte nicht, dass es ein richtiger Abschiedskuss war.

In dieser Nacht nahm sich Christoph das Leben, nachdem sein Vater ihn erst anschrie und dann verprügelte. Christoph rannte hinaus in die Nacht, und an der Eisenbahnbrücke angekommen sprang er in den Tod.

Christophs Eltern zogen kurz nach dessen Tod fort. Es gab auch keine Beerdigung – man hatte ihn heimlich begraben. Doch auch das erfuhr Fritz erst einige Jahre später. Er brauchte lange, um über diesen Verlust hinweg zu kommen, und stürzte sich in die Arbeit. Das Abitur machte er mit Auszeichnung. Anschließend zog er in die Nachbarstadt, um dort zu studieren. Den Wehrdienst verweigerte Fritz und machte statt dessen Zivildienst in der Altenpflege. Er hatte nur noch ein Ziel. Er wollte dafür kämpfen, dass sich Schicksale wie das von Christoph nicht wiederholten.

In der Stadt lernte Fritz nach mehreren ONS und Partys in der Szene Jörg kennen. Erst sehr zögerlich ließ er sich auf ihn ein. Jörg musste lange um ihn kämpfen, und hat am Ende schließlich doch gewonnen. Sie studierten gemeinsam, und Jörg half Fritz beim Aufbau einer Anlaufstelle für Jugendliche und besonders für homosexuelle Jugendliche. Es war schwer: Oft hatten sie kein Geld, so dass der Jugendtreff in ihrer gemeinsamen Wohnung stattfand. Auch die Kirchen hatten ihre Vorurteile gegen den Treff, da Homosexualität als Sünde gilt, die sie natürlich nicht unterstützen können. Das Jugendamt griff ihnen mit Informationen unter die Armen und auch mit ein wenig Geld, das aber selten reichte. Fritz arbeitete manchmal tagsüber in einem Supermarkt, um wenigstens die Miete bezahlen zu können. Jörg steuerte einen Teil bei, den er aus einer Erbschaft erhalten hatte. So zog sich ihr Studium länger hin als gedacht. Doch nach einigen Jahren hatten sie es letztendlich geschafft. Eine ältere Nachbarin, die begeistert von Fritz und Jörgs Engagement für Jugendliche war, half oft aus, indem sie des Öfteren Kuchen buk, sich einfach mit den Jugendlichen unterhielt oder ihnen Geschichten von früher erzählte: Sie wurde von allen gemocht und liebevoll „Oma“ genannt. Als sie starb, vermachte sie Fritz und Jörg eine größere Summe Geld und das Haus, in dem sie wohnten.

So konnte der Jugendtreff geboren werden. Das Erdgeschoß wurde großzügig ausgebaut mit allem, was man so brauchte: Dusch- und Waschräume, Schlafplätze und drei große Aufenthaltsräume. Zur Straße hin wurde ein Café eingerichtet, in dem sich die Jugendlichen ganz ungezwungen in lockerer Atmosphäre mit dem Jugendtreff vertraut machen und gegebenenfalls einen Mitarbeiter ansprechen konnten.

Nach einigen Anlaufschwierigkeiten konnten sie sogar einen Praktikanten einstellen. Es war ein offenes Haus ohne feste Öffnungszeiten. Allerdings öffnete der Treff erst am Nachmittag, um die Jugendlichen nicht von der Schule fernzuhalten. Meistens waren nur Jungs anwesend. Einige waren sehr „pflegeleicht“, andere hingegen im Umgang recht schwierig. Es gab auch manchmal Streit unter den Jungs. Dann musste Fritz eingreifen und vermitteln. Er „regierte“ mit harter, aber herzlicher Hand. Nur sehr selten musste ein Junge des Jugendtreffs verwiesen werden. Fritz war zufrieden mit seinem Treff und dass er hin und wieder einem Jungen helfen konnte. Jörg konnte es sich sogar leisten, an Abenden noch ein BWL Studium dranzuhängen, um den Treff wirtschaftlich führen zu können.


Jonas war eigentlich zufrieden mit sich und der Welt. Er war gut in der Schule und hatte Freunde. Seine Eltern verdienten gut, was aber zur Folge hatte, dass sie wenig zu Hause waren. Er hatte noch einen 5 Jahre älteren Bruder, den er abgöttisch liebte. Mit all seinen Problemen ging er immer zuerst zu ihm. Mit 16 bemerkte Jonas, dass er sich mehr für Jungs als für Mädchen zu interessieren begann. Sein Bruder meinte, dass das eventuell nur eine Phase sei, weil, wenn sich der eigene Körper verändere, möchte man gerne wissen, ob das bei den anderen genauso wäre. Natürlich fragt man nicht, sondern schaut nach dem Sportunterricht unter der Dusche schon mal genauer hin. Und wenn er aber tatsächlich schwul wäre, hätte er als sein Bruder auch kein Problem damit. Jonas wollte seinen Eltern vorerst nichts von seinen Gefühlen erzählen.

Eines Tages, als Jonas aus der Schule kam, waren seine Eltern zu Hause. Das war schon sehr ungewöhnlich. Irgendwie war eine komische Stimmung. Er wurde kaum begrüßt und seine Mutter rannte aufgeregt mit dem Telefon durch die Wohnung.

„Papa, was macht ihr denn um diese Zeit hier? Ist was passiert?“

„Später mein Junge, ich muss noch ein paar Sachen für deinen Bruder zusammen packen.“

„Was ist denn mit Robby?“

„Er liegt im Krankenhaus.“

Jonas war schockiert. Er fing an zu zittern. „Was... was hat er denn?“

„Keine Ahnung ,Jonas. Die Uni hat angerufen, dass er im Unterricht zusammen gebrochen ist und bewusstlos ins Krankenhaus eingeliefert wurde.“

„Papa, ich komme mit ins Krankenhaus.“

Jonas war sehr aufgewühlt und hatte Angst um seinen Bruder. Im Krankenhaus angekommen wurde man erst mal vertröstet, da der Arzt noch beschäftigt war. Sie setzten sich auf die seitlich angebrachten Plastikstühle.

Nach einer gefühlten Ewigkeit kam dann der behandelnde Arzt durch die große Schiebetür.

"Guten Tag, mein Name ist Dr. Schulz. Sind Sie die Familie von Robin Baal?"

Jonas' Mutter sprang auf, rannte auf den Arzt zu und fragte mit belegter Stimme:

"Was ist mit meinem Sohn? Bitte sagen Sie mir, dass nichts Schlimmes passiert ist. Ja,... ja wir sind die Baals. Herr Doktor, bitte."

Frau Baal schluchzte wieder. Ihr Mann trat hinter sie und legte seine Hände auf ihre Schultern.

"Beruhige Dich, meine Liebe. Lass den Doktor erzählen."

"Wir haben gerade ein CT gemacht. Robin hat einen Tumor im Kopf. Der drückt auf das Hirn, so dass ihr Sohn einfach das Bewusstsein verloren hat. Wir werden ihn operieren müssen. Tut mir leid, dass ich ihnen keine bessere Mitteilung machen kann."

Jonas stand die ganze Zeit an die Wand gelehnt und starrte vor sich hin. Das Gesprochene hörte er nur wie durch Watte. Langsam liefen ihm die Tränen.

"Nein", flüsterte Jonas vor sich hin. "Nein", jetzt ein wenig lauter. "Nein! Das stimmt nicht. Mein Bruder darf keinen Tumor haben", schrie er jetzt und glitt langsam an der Wand, an der er immer noch mit dem Rücken lehnte, hinunter. Jonas vergrub das Gesicht in seine Hände und schluchzte nur noch.

"Ich brauche Ihr Einverständnis für die OP." Herr Baal sah zum Arzt und fragte:

"Wie groß sind die Chancen, dass Robin wieder gesund wird?"

"Wenn wir sofort operieren, bei 50 Prozent. Der Eingriff ist kompliziert. Ich habe auch schon das Spezialteam zusammen gerufen. Sollten Sie Ihr Einverständnis geben, können wir gleich mit der OP beginnen. Je schneller der Eingriff erfolgt, desto größer die Überlebenschance."

"OK, fangen sie an. Sie haben unser Einverständnis."

"Schwester Gisela wird gleich zu ihnen kommen, um den ganzen Schriftkram zu erledigen", sprach der Arzt und verschwand wieder durch die große Schiebetür.

Jonas und seine Eltern saßen schweigend da. Keiner sagte ein Wort. Jonas war verzweifelt, immer wieder sah er zu seinen Eltern: Seine Mutter weinte die ganze Zeit, der Vater strich sich immer wieder mit der Hand durch die schon schütteren Haare und blickte zu Boden.

"Jonas, geh bitte nach Hause. Das dauert hier noch und du musst doch morgen zur Schule", sagte seine Mutter plötzlich. Jonas schaute zu seinen Eltern - sie sahen um Jahre gealtert aus.

"Nein, ich geh hier nicht weg. Da drin... ", Jonas zeigt mit dem Finger auf die große Tür, "... kämpft mein Bruder um sein Leben. Da interessiert mich die Schule nicht. Ich muss hier bleiben. Er war auch immer für mich da."

Jonas fing an zu weinen und sagte dann nach einer langen Pause:

"Und Robby war für mich da, als ich verwirrt war. Ich... ich... bin schwul", stammelte Jonas.

"Jonas! Das ist nicht der richtige Ort für Scherze. Du musst dich nicht immer in den Mittelpunkt stellen. Ich glaube es ist besser du gehst jetzt nach Hause. Schwul, ich glaube du solltest mal zum Arzt gehen. Ich habe doch keinen schwulen Sohn."

Jonas Mutter wurde laut. Schwester Gisela schaute aus ihrem Zimmer und kam dann langsam auf sie zu.

"Darf ich ihnen was zu trinken anbieten? Kaffee? Tee? Wasser?"

"Kaffee. Schwarz." Frau Baal war wieder ein wenig ruhiger geworden, schaute ihren Sohn aber immer noch giftig an.

"Mir auch einen Kaffee. Mit Milch, bitte", fügte Herr Baal an.

Nach 3 Stunden ging die Tür wieder auf und der Arzt trat auf den Flur. Er trug eine durchschwitzte grüne Haube. Der Kittel war blutverschmiert. Er trat vor die verängstigt dreinschauenden Eltern und nahm dann nervös die Haube ab.

„Es tut mir leid. Wir haben alles versucht. Er hat es nicht geschafft."

Herr Baal griff die Hand seiner Frau und fing an zu weinen. Frau Baal starrte den Arzt nur fassungslos an. Der Arzt verabschiedete sich. Frau Baal stand auf drehte sich um und ging langsam zum Ausgang.

"Jetzt habe ich keine Söhne mehr."

"Mama! Ich lebe noch. Was soll das?" Jonas war geschockt und schaute zu seiner Mutter, die ihn keines Blickes würdigte und weiter dem Ausgang entgegen schritt.

"Herbert, komm. Hier können wir nichts mehr ausrichten."

"Monika, reiß dich zusammen. Es ist für uns alle schwer. Und wenn Jonas schwul ist, na und? Er ist und bleibt immer unser Sohn."

Frau Baal stand da mit dem Rücken zu ihrem Mann und Jonas. Sie schniefte, schüttelte den Kopf und ging weiter.

Jonas saß zusammen gekauert auf dem Flur des Krankenhauses und weinte bitterlich. Sein Vater setzte sich zu ihm auf den Boden und nahm ihn in den Arm. Lange saßen sie da und hielten sich nur fest.

"Komm, Jonas, lass uns nach Hause gehen."

Die Tage bis zur Beerdigung vergingen irgendwie. Herr Baal organisierte alles. Jonas half ihm so gut es ging.

"Seit wann weißt Du, dass Du schwul bist?", durchbrach Jonas' Vater den ruhigen Abend, den beide auf der Couch verbrachten.

"Seit circa zwei Jahren. Für mich akzeptiert habe ich es seit einem halben Jahr. Dann habe ich es auch Robby erzählt." Als Jonas den Namen seines Bruders erwähnte, brach er wieder in Tränen aus. Sein Vater nahm ihn in den Arm.

"Hast Du denn schon einen Freund?"

"Nein, soweit bin ich noch nicht. Außer mit Robby hatte ich noch mit niemandem darüber gesprochen."

"Jonas, egal was ist, Du kannst immer zu mir kommen. Wir müssen jetzt zusammen halten."

Im Gegensatz dazu ließ sich Jonas‘ Mutter die ganzen Tage nicht sehen und verkroch sich im Schlafzimmer.

"Ich komme nicht an sie ran. Sie ist völlig abwesend und reagiert nicht, wenn ich sie anspreche. Ich denke das ist ihre Art zu trauern. Ich hoffe nur, sie übersteht den morgigen Tag", sorgte sich Jonas‘ Vater.

Wie durch eine Nebelwand erlebte Jonas den Tag der Beerdigung. Traurig mit gesenktem Kopf folgte er mit seinen Eltern dem Sarg und spürte die Blicke von Freunden und Verwandten. Er sah niemanden an. Am offenen Grab warf er eine Sonnenblume auf den Sarg.

"Schlaf gut, Robby. Du bist immer in meinem Herzen. Wo auch immer Du jetzt bist, bitte pass auch weiterhin auf mich auf, wie Du es schon früher getan hast. Eines Tages werden wir uns wiedersehen.“

Jonas flüsterte die Worte nur, aber sein Vater hatte sie vernommen – er trat zu ihm, legte seine Hände auf Jonas Schultern und drückte sie sanft.

„Komm, lass uns gehen.“

Jonas blickte noch einmal in die Grube. „Tschüss, Robby.“

Die nächsten Tage zogen sich hin wie Kaugummi. Jonas ging nach 2 Tagen wieder zur Schule, da ihm zu Hause die Decke auf den Kopf zu fallen drohte. Seine Eltern waren zwar zu Hause, aber man hörte sie nicht. Jeder trauerte auf seine Art. Jonas Vater vergrub sich in seine Arbeit und verließ sein Büro nur zum Essen oder um kurz mal mit Jonas zu sprechen. Jonas Mutter dagegen war praktisch unsichtbar: Entweder verkroch sie sich im Schlafzimmer oder sie ging zum Friedhof. Abends verzog sie sich dann mit einer Flasche Wein und den Fotoalben wieder ins Schlafzimmer. Wenn sich beide mal zufällig in der Wohnung trafen, blickten sie sich nur kurz an und gingen weiter. Jonas litt sehr unter der Abweisung seiner Mutter. Er war froh, wenigstens durch den Schulbesuch ein wenig Ablenkung zu erfahren. Seine Klassenkameraden bauten ihn immer wieder auf, wenn er in Traurigkeit versinken wollte. Sie lenkten ihn mit Gesprächen immer wieder ab, um zu verhindern, dass er ins Grübeln kam.

So vergingen die Wochen. Bei Jonas' Mutter wurde eine schwere Depression festgestellt. Der Vater war mit der Situation überfordert. Er brachte sie, da seine Frau apathisch wirkte, in eine Spezialklinik. Jonas gab sich die Schuld daran, da er glaubte, mit seinem Coming out schuld an dem Zustand seiner Mutter zu sein.

Nach der Schule ging Jonas wieder mal zum Friedhof. Hier hielt er immer Zwiesprache mit seinem Bruder.

„Jonas?“

Dieser erschrak als, er seinen Namen vernahm. Er drehte sich um und sah in die Augen einer Frau.

„Ich weiß nicht, ob Du Dich am mich erinnerst. Ich bin Schwester Gisela aus dem Krankenhaus, in dem Dein Bruder stab.“

Jonas schaute sie nur traurig an, sagte aber nichts.

„Mein Mann liegt dort hinten. Er starb vor 2 Jahren an Krebs.“ Und nach einer kurzen Pause: „ Ich habe mitbekommen, wie du dich damals vor deinen Eltern geoutet hast. Haben sie es mittlerweile akzeptiert?“

„Papa ja, aber Mama ist mit der Situation überfordert gewesen. Sie ist jetzt in einer Spezialklinik.“

Jonas schaute traurig zu Boden. Ihm war das Gespräch unangenehm. Am liebsten wäre er weggelaufen.

„Das tut mir leid. Es ist immer schlimm, wenn Eltern ihr Kind verlieren. Du bist bestimmt nicht schuld an der Situation. Wenn Du mal mit jemandem reden willst, gebe ich Dir mal die Adresse von Fritz. Der leitet seit einigen Jahren einen Jugendtreff für homosexuelle Jungs und Mädchen. Der ist auch schwul. Ich bin mit ihm zur Schule gegangen. Hier die Telefonnummer und die Adresse. Ab 15 Uhr ist er immer erreichbar.“

Jonas schaute auf den Zettel.

„Rainbow? Danke für den Tipp. Ich werde es mir mal überlegen. Danke nochmals.“

Jonas verabschiedete sich von Schwester Gisela und stand noch kurz an Robbys Grab, dann ging auch er.

Zu Hause angekommen schnappte Jonas sich den Stadtplan, um zu sehen, wo dieser Jugendtreff zu finden war: „Gar nicht mal so weit weg“, stellte Jonas fest. Und es musste sich was ändern, das stand für Jonas fest. Spontan nahm er sich vor, dem Jugendtreff einen Besuch abzustatten. Gesagt getan, machte sich Jonas, nachdem er noch geduscht und sich seine Lieblingsklamotten angezogen hatte, auf den Weg. Ein komisches Gefühl machte sich in seinem Bauch breit. Er spielte alle möglichen Situationen durch. Je näher er dem Treff kam, umso schwerer wurden seine Schritte. Er überlegte sogar wieder umzukehren. Um die nächste Ecke müsste es sein. Jonas lief auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf den Jugendtreff zu. Er schaute sich immer wieder um, fühlte sich irgendwie beobachtet, konnte aber niemanden erkennen. Jetzt schlich er langsam am Treff vorbei, wobei er sich die Einrichtung genau anschaute. Es war nichts Außergewöhnliches zu erkennen, nur ein dezenter Schriftzug über der Tür ließ erahnen, dass es sich um eine Jugendeinrichtung handelte. Jonas bemerkte, dass an einem Fenster sich die Gardine bewegte. An dem Nebenfenster erschien eine Gestalt, die ihn wohl beobachtete. Langsam ging Jonas weiter. Er war innerlich hin und her gerissen: Reingehen oder abhauen. Als Jonas noch mit sich kämpfte wurde ihm die Entscheidung abgenommen. Eine Person kam aus dem Haus und winkte zu Jonas.

„Hallo, willst Du zu uns?“

Jonas erschrak und zuckte zusammen. Er drehte sich zu dem Herrn, der jetzt langsam auf ihn zukam, um.


Moritz war ein glücklicher 17 Jähriger Junge. Er hatte verständnisvolle Eltern und einen kleinen Bruder, den er abgöttisch liebte. Seine schulischen Leistungen waren im grünen Bereich. Freunde hatte er auch. Zudem hatte man ihn zum Klassensprecher gewählt. Er war halt wie andere Jungs in seinem Alter, und wenn es mal Zoff gab, konnten seine Eltern auch streng sein. Aber eigentlich wurde immer alles ausdiskutiert.

Schon früh begann Moritz, in den Ferien sein eigenes Geld zu verdienen. Es machte ihm sogar Spaß, Zeitungen und Prospekte auszutragen, denn er sparte auf ein BMX Rad. Moritz hatte da ein bestimmtes Rad vor Augen. Seine Eltern waren nicht arm, aber sie erzogen ihn so, dass er das Geld zu würdigen wusste. Ganz im Gegensatz zu seiner Tante: die verwöhnte ihren Sohn nach Strich und Faden und kaufte ihm alles, was er so haben wollte. Bei Familienfeiern prahlte Moritz Cousin Rudolf immer damit, was er in der Zwischenzeit neues bekommen hatte. Moritz nervte das, weil Rudolf dann immer so von oben herab mit ihm sprach. Er war froh, dass der nervende Cousin mit seinen Eltern in einer anderen Stadt wohnte, so dass sie diese Familie nicht oft ertragen mussten.

„Moritz, versprich mir, dass Du nicht so wirst wie Rudolf“ meinte seine Mutter manchmal genervt, als die Verwandtschaft endlich wieder abgereist war.

„Keine Angst, Mama. Ihr habt bei Eurer Erziehung alles richtig gemacht.“ grinste Moritz und nahm seine Mutter in den Arm.

Als sein kleiner Bruder Benny mal schlimm erkältet war, saß Moritz lange an dessen Bett und las ihm aus dem Märchenbuch vor. Zwischendurch tupfte er seinem Bruder mit einem Tuch vorsichtig den Schweiß von der Stirn. Moritz Eltern waren mächtig stolz auf ihren ‚Großen‘. Hin und wieder bemerkte er auch mal einen nachdenklichen Gesichtsausdruck auf ihren Gesichtern, aber er dachte sich nichts weiter dabei.

In der Schule wurde ein mehrtägiger Schulausflug geplant. Man hatte sich für Paris entschieden, und für die Vorbereitungen benötigte man von den Schülern eine Kopie des Personalausweises. Alle waren ziemlich aufgeregt, und so wollte sich Moritz direkt nach Schulschluss darum kümmern. Da seine Mutter noch nicht zu Hause war, suchte Moritz im Schrank nach der Dokumentenmappe. Er hatte noch seinen Kinderausweis, den er schon längst gegen einen richtigen Ausweis austauschen wollte. Manchmal war Moritz einfach nur faul. Seine Mutter ermahnte ihn immer wieder, doch endlich mal Passfotos machen zu lassen. Aber die Ausreden waren immer dieselben. ‚Nicht mit der Frisur‘ oder ‚der Pullover sieht nicht gut aus‘. Moritz' Mutter verdrehte dann immer nur kopfschüttelnd die Augen.

Also nahm sich Moritz die Mappe und setzte sich an den Wohnzimmertisch. Dort schlug er die Mappe auf. Schnell war der Kinderausweis gefunden. Daneben war das Hochzeitsfoto seiner Eltern. Er sah es sich an und schmunzelte. Die Mode damals war schon sehr gewöhnungsbedürftig. Obwohl auf dem Bild die Beine nicht zu sehen waren, konnte sich Moritz lebhaft vorstellen, dass sein Vater wohl diese sehr unbequemen Plateauschuhe trug. Grinsend blätterte Moritz weiter.

‚Adoptionsunterlagen‘ prangte auf einem A5 Umschlag. Moritz zuckte zusammen und nahm mit zitternden Händen den Umschlag aus der Sichthülle. Was hatte das zu bedeuten? War sein Bruder oder gar er selbst adoptiert? Langsam öffnete er den Umschlag und las den Brief.

... Knabe... 24.06.1981… Findelkind...

Weiter las Moritz nicht mehr. Tränen verschleierten seine Augen. Mama und Papa waren nicht seine richtigen Eltern? Und der geliebte kleine Bruder nicht SEIN Bruder? Was passierte hier gerade? Für Moritz brach eine Welt zusammen. Plötzlich fühlte er sich alleine. Moritz sprang auf, ließ den Brief fallen und rannte aus dem Wohnzimmer. Er stand in seinem Zimmer und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Sein Blick fiel auf das Polaroid Bild neben der Tür. Es zeigte die Familie auf dem Jahrmarkt beim Fotoschießen. Es war sein Lieblingsbild. Benny saß auf dem Tresen mit einem großen Teddy im Arm, den Moritz kurz zuvor an einer Losbude gewonnen und ihn dann seinem kleinen Bruder geschenkt hatte. Er blickte so erwartungsvoll Richtung Kamera. Die Eltern standen hinter Moritz. Mutter lächelnd mit einer Hand auf Bennys Schulter und der Vater grinste über Moritz Schulter, wartend auf den Treffer und das anschließende Blitzlicht. So sieht eine Familie aus. Alle waren sie glücklich... und jetzt? Moritz rutschte an der Wand hinunter und weinte bitterlich. Alles verloren. Alles gelogen. Warum? Er musste weg hier. Jetzt hatte alles keinen Sinn mehr. Moritz war endlich mit sich im Reinen. Hatte nach langem innerem Kampf akzeptiert, dass er schwul war und wollte es seinen Eltern erzählen.

Aber jetzt? Er glaubte nicht mehr an das Gute. Sie würden ihn rauswerfen, wenn er ihnen das erzählen würde. ‚Schwul? Nein, du bist sowieso nicht unser richtiger Sohn. Also, hau ab!‘ ging es ihm immer wieder durch den Kopf. Wie in Trance stand Moritz auf und verließ sein Zimmer. Er blickte nochmals in Bennys offenes Zimmer: Auf dem Bett saß der Teddy vom Jahrmarkt, auf dem Boden waren überall Legosteine verteilt. Trotz seiner Tränen musste Moritz kurz schmunzeln. Er musste weg hier - das war nicht mehr sein Zuhause, nicht seine Familie. Mit dem Hemdsärmel wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht drehte sich um und verließ die Wohnung.

Moritz Mutter kam nach Hause und entdeckte die Dokumentenmappe auf dem Wohnzimmertisch. Auf dem Boden davor lag ein Blatt Papier: Es war der Brief, den die Eltern ihrem Sohn lange vorenthalten hatten.

„Moritz? ... Moritz! ... “ Die Mutter stürmte in Moritz' Zimmer, sie durchsuchte die ganze Wohnung: kein Moritz. Mit tränenerstickter Stimme und zitternden Händen rief sie ihren Mann im Büro an. „Rolf, Moritz hat seine Adoptionsunterlagen gefunden und ist verschwunden!“

„Maria, bleib bitte ruhig. Er ist bestimmt zum Fußballtraining.“

„Nein, seine Sporttasche steht noch in seinem Zimmer.“

„OK, ich bin in einer halben Stunde bei Dir. Bis gleich.“

Moritz kam erst auf der Eisenbahnbrücke zu stehen. Die ganze Zeit war er gerannt. Er lehnte sich ans Geländer und schaute in den Himmel. Unaufhörlich liefen die Tränen. Warum? Warum war er adoptiert? Nichts war mehr wie bisher. Wussten alle Bescheid?

Moritz dachte an die schöne Zeit zurück. Wie sein Vater ihm das Fahrradfahren beigebracht hatte. Wie er ihm das aufgeschlagene Knie wieder „heil pustete“, er dann nicht mehr weinte und ein Eis als Medizin bekam. Seine Einschulung mit einer riesigen Schultüte, die so unheimlich schwer war, weil Moritz darauf bestanden hatte, dass die ganzen Süßigkeiten in die Tüte gehörten und nicht nur Papier. Er trug sie tapfer und ‚verteidigte‘ sie gegen seine Eltern, die ihm die schwere Schultüte immer wieder abnehmen wollten, weil er sie kaum noch halten konnte. Die Geburt seines Bruders: Er war mächtig stolz endlich ‚Großer Bruder‘ zu sein. Er half seiner Mutter beim Füttern und Wickeln. Nur wenn die Windeln arg rochen, durfte seine Mutter das allein übernehmen. Die Fußballabende mit seinem Vater, entweder vorm Fernseher oder live im Stadion. Und dann Weltmeister 1990! Moritz hüpfte vor Freude auf der Couch, feierte dann mit Papa und Mama und einem winzigen Schluck Sekt. Moritz verzog dabei sein Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen.

Und dann war da noch das Kochen mit seiner Mutter. Er durfte die Kartoffeln schälen. Ok, dabei schrumpften die Knollen zwar um mehr als die Hälfte, aber sie schmeckten natürlich viel besser, eben weil Moritz sie geschält hatte. Kuchen backen war auch so sein Ding: Obwohl er lieber die Rührstäbe und die Schüssel ausleckte weil, so meinte Moritz, das sehr wichtig sei; und wenn die Mutter mal nicht guckte, schnell mal mit dem Finger im Teig. „Hast du wieder genascht, Moritz?“ - „Iiiich? Neeee!“ - „Dann bekommst du nachher ein Stück Kuchen weniger.“ - „Och menno. Dann bekommt Benny ein Stück weniger, der ist eh noch so klein. Ich muss ja schließlich noch wachsen.“ - „Und Benny nicht?“ - „Doch, aber erst später. Dann können wir ja noch ein Kuchen backen.“…. Moritz Mutter musste lachen. Er hatte eben immer eine Ausrede parat.

Moritz war rundum glücklich. War? Ja, war! Er stand nach wie vor ans Geländer gelehnt. Jetzt fing es auch noch an zu regnen. Moritz schaute in den Himmel.

„Das passt ja jetzt.“

„Was passt?“

Erschrocken drehte Moritz sich um. Vor ihm stand ein Mann so um die 30. Er hatte eine Rose in der Hand.

„Was ist denn mit dir los? Du siehst ja aus, als hättest du geweint“ sprach der Mann.

„Der Regen.“ meinte Moritz nur knapp.

„Ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber du hattest hoffentlich nicht die Absicht, dort runter zu springen?“, fragte der Mann und zeigte in die Tiefe.

Moritz folgte seinem Finger und sah in die gezeigte Richtung. Er zuckte nur mit den Schultern. Der fremde Mann trat zu Moritz ans Geländer.

„Hast du Probleme? Du kannst es mir erzählen. Das hilft, und die Welt sieht dann wieder ein wenig rosiger aus.“ sprach der Mann und hielt sich die Rose an die Nase, um daran zu riechen.

„Ich kenne Sie doch gar nicht. Außerdem haben mir meine Eltern... “ Moritz brach mitten im Satz ab und fing wieder an zu weinen. Der Mann legte seine Hand auf Moritz' Schulter.

„Nun erzähl schon.“

„Ich... ich... meine Eltern haben mich adoptiert... “

„Und du hast es zufällig rausbekommen und bist dann abgehauen, stimmt’s?“

Moritz nickte nur.

„Das ist schwer. Für alle.“

Moritz schaute ihn nur fragend an.

„Tja, wann sagt man es seinem Kind? Schon recht früh? Wenn es 18 wird? Oder besser gar nicht? Deine Eltern haben es sich bestimmt auch nicht leicht gemacht. Lieben sie dich? Oder hast du mal gespürt, dass du irgendwie nicht dazu gehörst?“

Moritz schüttelte seinen Kopf.

„Es war alles so perfekt. Sie haben mir alle Wünsche erfüllt, waren immer für mich da.“

„Dann solltest du unbedingt mit deinen Eltern darüber reden. Sie machen sich bestimmt schon sorgen. Erzähl mal ein wenig von dir und deinen Eltern.“

Moritz fing an zu erzählen, und je mehr er erzählte, umso stärker wurde sein Lächeln. Der Mann hörte ihm aufmerksam zu, ohne ihn zu unterbrechen.

„So, wie du von deinen Eltern und deinem Bruder schwärmst, kann ich mir nicht vorstellen, dass deine Eltern dich plötzlich nicht mehr lieben würden.“

Moritz wurde wieder traurig.

„Da gibt es noch ein Problem“

„Und?“

„Na ja, ich... ich... bin schwul.“ flüsterte Moritz nur und hatte ein wenig Angst vor der Reaktion des Mannes.

„Und?“

Moritz zuckte nur mit der Schulter.

„Was und?“

„Meinst du wirklich, sie würden dich nicht mehr lieben, nur weil du schwul bist? Also, so wie du mir von deinen Eltern geredet hast, glaube ich das nicht. Eher im Gegenteil: sie werden dir helfen. Glaub es mir! Du hast großes Glück mit deinen Eltern..... mein Freund hatte dieses Glück damals leider nicht... er hat sich an dieser Stelle vor einigen Jahren das Leben genommen.“

Moritz lief es bei diesen Worten kalt den Rücken herunter. Er sah zu dem Mann der jetzt Tränen in den Augen hatte. Dieser blickte in den Abgrund nahm die Rose küsste sie kurz und warf sie dann über das Geländer.

Eine Zeitlang schwiegen beide.

„Tut mir leid.“ flüsterte Moritz nach einer Ewigkeit.

„Danke. Denk immer an deinen Bruder. Er braucht dich und du musst schließlich auf ihn aufpassen. Und deine Eltern lieben dich wie ein eigenes Kind.“

„Sag mal, bist du auch schwul?“

Der Mann grinste Moritz an.

„Ja.“

„Magst du mir von deinem Freund erzählen? Aber nur wenn du willst.“

„Gerne.“

Der Mann fing an und erzählte alles über sich und seinen Freund. Moritz hörte interessiert zu. Er nickte nur an einigen Stellen, aber schwieg sonst.

„...... tja, und als er mir dann alles erzählt hatte, nahm ich ihn in den Arm. Später als ich ihn dann nach Hause schickte, damit er nicht noch mehr Ärger bekam, gab ich ihm noch einen Kuss. Ich... ich wusste nicht, dass es unser letzter sein sollte.... Christoph hat sich noch in derselben Nacht hier von dieser Brücke gestürzt...“

Beide schauten sie sehnsüchtig in die Ferne.

„Ach ja, mein Name ist Fritz“, fügte der Mann noch an.

„Moritz.“

Es war schon sehr spät geworden. Der Regen hatte sich wieder verzogen und die Sonne ging gerade unter. Sie hatten sich noch lange unterhalten gehabt. Moritz erfuhr, dass Fritz mit seinem jetzigen Freund ein Jugendzentrum leitete.

„So, wir sollten langsam nach Hause gehen. Es wird bald dunkel. Hier... “

Fritz überreichte Moritz eine Visitenkarte, von denen er immer ein paar bei sich hatte.

„ ...findest du meine Telefonnummer und die Adresse vom Rainbow. Komm einfach mal vorbei. Es sind viele in deinem Alter dort. Wir führen auch Gruppengespräche über das ‚Coming out‘. Wir kochen auch zusammen. Es ist halt wie in jedem anderen Jugendzentrum auch, mit allem Drum und Dran.“

„Danke Fritz. Auch dafür, dass Du mir zugehört hast und mir von Dir erzählt hast.“

Sie nahmen sich beide in den Arm. Moritz versprach noch am Abend mit seinen Eltern zu sprechen und ihn in den nächsten Tagen im ‚Rainbow‘ besuchen zu kommen.

Moritz stand vor dem Haus. Es war hell erleuchtet. Durch das Fenster konnte er seine Mutter unruhig durch die Wohnung laufen sehen. Einmal tief durchatmend nahm der seinen Schlüssel und öffnete die Haustür.

„Moritz? ... Moritz! ... Da bist du ja endlich. Wir haben uns solche Sorgen gemacht.“

Seine Mutter kam weinend auf ihn zugestürmt und fiel ihm schluchzend um den Hals.

„Es tut mir so leid, Moritz. Wir... wir wollten es dir sagen, aber wussten nicht wann und wie. Du bist doch unser Sohn.“

„Tut mir leid, dass ich euch Kummer gemacht habe. Ich hätte nicht an eurer Liebe zweifeln dürfen.“

„Alles wird wieder gut.“

Moritz schaute auf. Sein Vater stand neben ihm und legte seine Hand auf seine Schulter. Auch er musste geweint haben. Moritz fiel auch ihn in die Arme.

„Lass uns ins Wohnzimmer gehen. Moritz, soll ich Dir noch schnell was zu essen machen? Du hast doch bestimmt Hunger, oder?“

Moritz nickte nur lächelnd seiner Mutter zu.

„Ich hab dich auch vermisst.“

Moritz drehte sich um. Auf der Treppe stand sein kleiner Bruder in seinem Pokémon-Schlafanzug. Moritz kullerten die Tränen die Wange runter – er stürmte auf seinen Bruder zu, nahm ihn in den Arm und schniefte.

„Ich dich auch mein Kleiner, ... ich dich auch.“

Die Familie saß noch lange im Wohnzimmer und Moritz erfuhr alle Einzelheiten seiner Adoption. Es war mittlerweile eine angenehme Stimmung.

„Und weil du die Dokumente entdeckt hast, bist Du dann weggelaufen?“

„Nicht nur, da gibt es noch was, was ich euch erzählen muss. Ich... ich bin schwul. Als ich es endlich für mich akzeptiert hatte und dann die Adoptionspapiere fand, ist bei mir eine Sicherung durchgebrannt. Gott-sei-Dank hat Fritz mir dann den Kopf gewaschen.“

„Fritz?“, kam es von seinen Eltern.

Moritz erzählte alles, was er am Nachmittag erlebt hatte.

„... und du wolltest dich da wirklich runter stürzen?“

„Ich weiß es nicht, Papa... plötzlich stand ich auf dieser Brücke... “

Moritz weinte und sein Vater nahm ihn in den Arm.

„Versprich mir bitte, dass du immer zuerst zu uns kommst, wenn du ein Problem hast... oder zu Fritz. Ich würde ihn gerne mal kennen lernen. Schließlich hat er dich wahrscheinlich vor einer großen Dummheit bewahrt.“

„Und was dein Schwulsein betrifft, es ist uns egal, wen du liebst, solange du dabei glücklich bist. Wir haben es uns schon gedacht und wollten warten, bis du uns das von selbst erzählst“, fügte Moritz' Mutter noch an.

„Hab ich mich irgendwie verraten?“

„Mütter haben ein gewisses Gespür dafür. Ich kenne Dich jetzt seit über 16 Jahren, da merkt man so was.“

„Ja, ja... Frauen merken immer sofort wenn was ist“, seufzte Moritz' Vater, was ihm postwendend den Ellenbogen seiner Frau in die Seite einbrachte. Alle fingen sie an zu lachen.

In den nächsten Tagen besuchte Moritz das Rainbow. Fritz freute sich, Moritz wiederzusehen. Es liefen gerade die Vorbereitungen fürs Halloween-Fest. Fritz führte Moritz durch die Räume, die waren wirklich gemütlich eingerichtet. Aus der Küche waren Stimmen von Jungs zu hören, die offensichtlich stritten. Genervt ging Fritz zielstrebig in den angrenzenden Raum.

„Hallo! Ist es vielleicht möglich, dass ihr euch in Zimmerlautstärke unterhaltet? Ich habe gerade Besuch und möchte nur sehr ungern, dass er gleich ‘nen negativen Eindruck von euch bekommt.“

Moritz stand hinter Fritz und schaute ihm über die Schulter. Spontan erstarb jedes Geräusch und alle drehten sich zu Fritz um. Moritz musste grinsen. Dort standen fünf Jungs mit Küchenschürze und Messern in der Hand, um große Kürbisse aus zu höhlen. Der Boden war schon mit orangefarbenem Kürbismatsch übersät.

„Schaut euch mal den Boden an. Wir wollten eigentlich Kürbiscremesuppe machen. Das Fleisch sollte in die Schüssel. Und wer macht den Dreck wieder weg?“

„Du?“

„Vergiss es, Max. Ach übrigens, das hier ist Moritz. Wenn Ihr ihn nicht gerade vergrault habt, kommt er uns jetzt öfter mal besuchen.“

Großes Gelächter. Auch Fritz fing plötzlich an zu lachen, als er die Namenskonstellation bemerkte. Moritz verstand nicht sofort und wurde nur rot.

„Hahahahaha, Max bekommt endlich seinen Moritz. Hihihihihihi...“

„Bert! Aber erst wenn du uns deinen Ernie präsentierst.“

Noch mehr Gelächter, und jetzt musste auch Moritz lachen. Er fühlte sich sofort wohl im Jugendzentrum. Fritz lud Moritz spontan zur Kürbiscremesuppe ein. Nach Ende der Hausführung gesellte sich Moritz zu den anderen, half beim Aufräumen und dem Zubereiten der Suppe. Er wurde von allen anderen mit den unterschiedlichsten Fragen gelöchert, war aber auch selbst neugierig und fragte die anderen aus.

Am folgenden Samstag war dann die Halloween Party. Vor dem Jugendtreff waren die ausgehölten Kürbisse aufgestellt, innen mit Kerzen versehen boten sie einen leicht gruseligen Anblick. Drinnen waren ebenfalls Kürbisse in allen Größen und Formen verteilt. An der Decke waren Girlanden in Kürbis- und Gespensterformen aufgehängt. Moritz kannte Halloween nur aus den Peanuts Comics und war leicht verwirrt, dass alle in irgendwelchen Kostümen unterwegs waren.

„Hallo Moritz, schön, dass du gekommen bist. Hast du kein Kostüm dabei?“ Fritz war als Graf Dracula zurechtgemacht.

„Hallo Fritz. Sorry, ich hab nicht gewusst, dass es eine Kostümparty ist.“

Moritz grinste, als Fritz ihn spaßeshalber mal beißen wollte.

„Ich hab noch ein altes Bettlaken. Dann machen wir aus Dir schnell ein Gespenst.“

Moritz stand ein wenig unschlüssig als Gespenst herum. „Süßes oder Saures?“ – Moritz drehte sich um und sah Max als Kürbis verkleidet vor sich stehen. Verdattert sagte er nur „Süßes“, und ehe er sich besann, bekam er schon einen feuchten Schmatzer verpasst. Max ging zu den Anderen und drehte sich nochmal grinsend zu Moritz um. Der war völlig perplex.

„Hey, was guckst du denn so komisch? Hast du ein Gespenst gesehen?“ lachte Fritz ihn an.

„Ich BIN das Gespenst!!!“

Es wurde viel getanzt und ordentlich Kürbisbowle getrunken – natürlich alkoholfrei. Moritz unterhielt sich lange mit Max. Der freute sich riesig, dass Moritz gekommen war. Mit leuchtenden Augen erzählte er Moritz, wie er seiner Mutter von seinem Schwul sein berichtet und wie die es positiv aufgenommen hatte. Moritz wiederum erzählte Max von seinen Erlebnissen wie der zufällig entdeckten Adoption und seinem Treffen mit Fritz auf der Brücke.

„Der Fritz ist schon was Besonderes. Ich weiß echt nicht, wo er immer wieder die Energie hernimmt.“

Die nächsten Wochen vergingen wie im Fluge. Moritz dachte viel über Max nach. Er spürte, dass Max ihn sehr mochte, aber Moritz konnte dieses Gefühl nicht richtig erwidern. Er wollte mal mit Fritz darüber reden.

„Hallo Moritz, was ist los?“

„Ich... ich muss mal mit dir reden.“

„Komm, wir gehen in mein Büro. Na, dann erzähl mal. Gibt’s Probleme mit deinen Eltern?“

„Nein, zuhause ist alles OK. Es... es ist wegen Max.“

„Ich habe schon bemerkt, dass er sich anscheinend ein wenig in dich verliebt hat. Stimmt‘s?“

„Ja, aber ich liebe ihn nicht. Er ist nett, aber ich empfinde nicht dasselbe für ihn. Kommt das noch? Ich habe da keine Erfahrung. Ich will ihn nicht enttäuschen.“

„Geh nach deinen Gefühlen. Lass dir Zeit. Am besten redest du mal mit ihm. Er wird’s verstehen. Er ist schon ein paar Mal schwer enttäuscht worden. Wenn du dich mit ihm einlässt, Moritz, dann darfst du nicht mit seinen Gefühlen spielen. Er ist sehr labil und hatte damals versucht, sich das Leben zu nehmen... “

Fritz stand auf und ging ans Fenster.

„... Moritz, das muss aber unter uns bleiben.“

„Selbstverständlich.“

Fritz schaute aus dem Fenster, was auch Moritz neugierig machte. Er stand ebenfalls auf und ging zum Fenster. Auf der gegenüber liegenden Straßenseite lief ein Junge mit den Händen tief in seinen Taschen vergraben langsam die Straße entlang. Er blickte dabei immer wieder zum Jugendtreff herüber.

„Kennst du den Jungen, Fritz?“

„Nein, den habe ich hier noch nie gesehen. Der traut sich wohl nicht hier rein. Ich gehe mal zu ihm nach draußen.“

Moritz zog die Gardine ein wenig zur Seite, um den Jungen besser erkennen zu können. In diesem Augenblick sah der Junge direkt zu Moritz. Ein Kribbeln stellte sich bei Moritz ein. Ein Gefühl, das er Max gegenüber nicht verspürte. Er sah Fritz langsam auf den Jungen zugehen. Der Junge drehte sich zu Fritz um und blieb stehen. Dann blickte er wieder zum Fenster hinter dem Moritz stand. Langsam ging er dann auf Fritz zu. Sie unterhielten sich kurz. Der Junge sah nicht glücklich aus. Moritz sah jetzt Tränen in dessen Augen. Fritz legte seine Hand auf die Schulter des Jungen und schob ihn sachte zum Eingang. Moritz beobachtete sie bis sie aus seinem Blickfeld verschwanden. Erst die Schritte auf dem Flur ließ ihn aus seiner Starre hochschrecken.

„Moritz, ist bei Dir alles geklärt?“

„Äh, was?... Ja, ja, alles klar“ stotterte Moritz als Fritz mit dem Jungen im Büro auftauchte. Moritz verstand und wollte das Büro verlassen.

„Ach ja, das ist übrigens Jonas. Jonas, das ist Moritz“, stellte Fritz noch schnell die beiden Jungs vor. Beide begrüßten sich per Handschlag. Moritz verspürte wieder dieses prickeln im Bauch und lächelte Jonas schüchtern an.

„Hi, Jonas.“

„Hi, Moritz.“

„Ich geh dann mal wieder nach Hause. Bis Morgen dann. Tschüss, Fritz. Tschüss, Jonas.“

Moritz verließ das Büro und zog die Tür hinter sich zu.


Jonas ging langsam auf den Mann zu, der ihn gerade angesprochen hatte.

„Hallo, wolltest du zu uns ins Jugendzentrum? Mein Name ist Fritz, ich leite den Laden. Hast du Lust, auf einen Kaffee mit rein zu kommen? Vielleicht möchtest du ja etwas reden. Musst du aber nicht, wenn du nicht willst.“

„Habt ihr auch heißen Kakao? Mir ist nämlich kalt.“

"Klar, haben Kakao. Komm mit."

Jonas folgte Fritz ins Jugendzentrum. Vor dem Büro blieb dieser kurz stehen.

„Moritz, ist bei dir alles geklärt?“

„Äh, was? ... Ja, ja, alles klar.“

Jonas schaute in das Zimmer und sah den Jungen, der ihn zuvor schon aus dem Fenster beobachtet hatte. Er wirkte leicht erschrocken und lächelte schüchtern in Jonas Richtung. Moritz wollte gerade das Büro verlassen, als Fritz noch schnell anfügte:

„Ach ja, das ist übrigens Jonas. Jonas, das ist Moritz.“

Beide gaben sich die Hand.

„Hi Jonas“

„Hi Moritz“

„Ich geh dann mal wieder nach Hause. Bis Morgen dann. Tschüss, Fritz. Tschüss, Jonas.“

Jonas sah Moritz noch hinterher bis er die Tür hinter sich zuzog.

„Jonas?“

Jonas zuckte leicht zusammen als Fritz ihn ansprach und drehte sich wieder zu seinem Gesprächspartner um.

„Setz dich doch, ich geh mal kurz in die Küche und hol uns was zu Trinken.“

„Und, wie geht’s Dir?“, sprach Fritz als er mit einem Kakao für Jonas und einen Kaffee für sich selbst wieder im Büro ankam und sich zu Jonas setzte.

„Beschissen..., dass ich schwul bin, kannst du dir ja schon denken. Habe von einer Gisela, die Krankenschwester ist, eine Visitenkarte von Dir bekommen“

„Ah, die Gisi. Bin mit ihr zur Schule gegangen. Warum warst Du im Krankenhaus? Hatte das was mit deinem Schwul sein zu tun?“

Jonas schüttelte nur den Kopf und rührte gedankenversunken in seinem Kakao. Fritz bemerkte wie einzelne Tränen seine Wangen hinunter liefen.

„Wenn es zu schlimm ist, so dass du nicht darüber reden möchtest, ist es auch in Ordnung. Lass dich von mir nicht unter Druck setzen. Wir haben alle Zeit der Welt.“

„Geht schon. Mein Bruder... ist vor einigen Monaten gestorben... ich...“

Fritz setzte sich direkt neben Jonas und legte seine Hand vorsichtig auf Jonas Schulter. In dem Moment brach es aus ihm heraus: Jonas fing an zu weinen und warf sich Fritz in die Arme.

„Das tut mir leid.“

Lange saßen beide auf der Couch und mit der Zeit wurde Jonas immer ruhiger. Fritz strich ihm immer wieder über den Rücken. Es klopfte an der Tür. Jörg schaute zur Tür hinein.

„Wollt Ihr beide auch mit Abendbrot essen? Die Jungs haben Spaghetti mit Tomatensoße gemacht.“

Fritz sah zu Jörg und schüttelte mit dem Kopf. Jörg verstand und schloss leise wieder die Tür.

Jonas hob langsam seinen Kopf und schaute Fritz mit seinen verheulten Augen an.

„Ein klein bisschen Hunger hätte ich schon.“

„OK, soll ich dir eine Portion mitbringen oder möchtest du mit den anderen Jungs essen?“

„Mit den andren Jungs, dann lern ich sie auch ein wenig kennen.“

„So gefällst du mir schon besser. Geh aber vorher noch ins Bad und mach dich ein wenig frisch. Ich sag den anderen schon mal Bescheid, dass sie für uns beide noch was übrig lassen.“

Später saßen Jonas und Fritz wieder in seinem Büro und unterhielten sich weiter. Fritz erfuhr alles, was bei Jonas in den letzten Jahren so passiert war.

„Das mit Deiner Mutter tut mir sehr leid. Ich glaube, sie ist mit der Situation ein wenig überfordert gewesen. Wenn der eigene Sohn stirbt, dann kann es schon zu solchen Reaktionen kommen. Da sendet der Körper Signale aus, und man sagt dann schon mal was, was man eigentlich nicht so meint. Sie ist in der Einrichtung bestimmt gut aufgehoben. Und braucht ein wenig Zeit. So was steckt man nicht so einfach weg. Und es ist gut, dass du zu uns gekommen bist. So hast du immer jemanden, mit dem du über deine Gefühle und Ängste reden kannst.“

„Danke Fritz, dass du mir zugehört hast. Ich werde jetzt mal wieder nach Hause gehen. Mein Vater müsste auch schon Feierabend haben. Kann ich morgen nach der Schule wieder vorbei kommen? Und ist der Moritz dann auch da?“

Jonas wurde rot und Fritz musste grinsen. „Ich denke schon. Wir wollen morgen Plätzchen backen und Moritz wollte ein paar Rezepte mitbringen. Komm morgen einfach ab 15 Uhr vorbei. Moritz freut sich bestimmt auch.“

Zum Abschied nahm Fritz Jonas noch mal in den Arm.

Zuhause angekommen war noch alles dunkel. Jonas Vater machte mal wieder Überstunden. Er ging ins Wohnzimmer und zappte sich durch die TV Kanäle. Nach einiger Zeit ging die Haustür.

„Jonas? Ich bin’s. Hattest du einen schönen Tag?“

Jonas erzählte seinem Vater vom Jugendtreff und was er dort erlebte.

„Das ist doch gut. Dann bist du nicht so viel alleine und kommst auf andere Gedanken. Wer weiß, vielleicht lernst du dort ja jemanden kennen.“

Jonas' Vater wuschelte seinem Sohn dabei durch die Haare.

„Ich muss Dir auch noch was sagen. In den nächsten Wochen muss ich mehr arbeiten und auch an den Weihnachtstagen werde ich kaum zu Hause sein. Tut mir leid, aber wir haben einen wichtigen Auftrag rein bekommen, der bis Ende des Jahres noch erledigt werden muss. Und da das Geld deiner Mutter fehlt und unser Haus noch abbezahlt werden muss, konnte ich nicht nein sagen.“

„Ist schon gut Papa, mir ist eh nicht nach Weihnachten feiern. Ich würde sogar für immer auf Weihnachten verzichten, wenn Robby dafür wieder da wäre.“

Jonas hatte den Satz kaum zu Ende gesprochen, als er einen Weinkrampf bekam. Sein Vater lief zu Jonas nahm ihn in den Arm und weinte ebenfalls.

„Geht mir genauso, mein Kleiner. Und deine Mutter wird auch nicht da sein. Ich habe heute mit dem Arzt gesprochen. Sie wird noch länger in der Klinik bleiben müssen.“

„Aber... sie wird doch wieder gesund, oder?“

„Ja, natürlich, sie braucht nur ein wenig Zeit.“

Am nächsten Tag war Jonas wieder auf dem Weg zum Jugendzentrum. Er machte sich Gedanken, wie er wohl am besten mit Moritz ins Gespräch kommen könnte. Der gefiel ihm auf Anhieb. Ob Moritz wohl genauso für ihn empfand? Im Jugendzentrum angekommen, roch Jonas schon diesen lieblichen Weihnachtsduft. Fritz kam ihm auf dem Flur entgegen

„Hallo Jonas, schön dass du wieder da bist. Wie geht’s dir? Moritz ist mit den anderen in der Küche. Immer den Stimmen und dem Duft folgen. Muss noch schnell ein paar Anrufe tätigen. Wir sehen uns.“

Jonas konnte nicht mal antworten, schon war Fritz in seinem Büro verschwunden. Die Küchentür stand halb offen, so konnte Jonas das hektische Treiben in der Küche beobachten. Jonas klopfte an die Tür - alle drehten sich zur Tür. Lediglich ein schüchternes „Hallo“ brachte Jonas über seine Lippen. Moritz lächelte ihn an.

„Hallo Jonas, schön dass du da bist. Hast du Lust, mit uns Kekse zu backen?“

„Klar, gerne.“

„Ok, Jacke kannst du auf den Flur hängen, und das Bad ist am Ende des Ganges.“

„Alles klar, danke.“

„Warum schickst du ihn nach Indien?“

„Mahaax, manchmal bist du richtig lustig.“

Kommentierte Moritz und grinste ihn dabei mit rollenden Augen an. Moritz spürte wieder dieses Kribbeln im Bauch. Nicht wegen Max, es war Jonas, der ihn so fühlen ließ. Etwas leiser und unsicher sprach Moritz dann:

„Max, können wir uns nachher mal Unterhalten. Ich meine so unter vier Augen?“

Max strahlte. Machte er sich wieder Hoffnungen?

„Gerne. Können wir aber auch hier.“

Moritz wurde ernst und schüttelte nur den Kopf. Jonas stand wieder in der Küche.

„So, wie kann ich helfen?“

Moritz gab Jonas das Nudelholz und erklärte ihm, wie er den fertigen Teig auf dem Tisch ausrollen sollte. Dann begannen sie mit den Stechformen die Sterne, Tannbäume, Halbmonde und Engel auszustechen.

„In der Weihnachtsbäckerei... lalalala...“, kam es vom Flur: Fritz sang, als er langsam in die Küche kam.

„Na Mädels. Das duftet ja richtig gut.“

Max nahm die Teigrolle und baute sich richtig gefährlich guckend vor Fritz auf. Verzweifelnd versuchte er dabei, sein Grinsen zu unterdrücken.

„Na, du Mutter aller Mädels. Naschen ist nicht, sonst gibt’s was mit dem Nudelholz auf die Finger!“

Fritz hob abwehrend seine Hände.

„Okay, okay. Keine Panik.“

Jonas grinste, stopfte sich dabei ein Stück Teig in den Mund und erschrak. Moritz, der neben ihn stand, griff ihm ans Ohr.

„Na, na, na, na... lass noch ein wenig für die Kekse übrig.“

Im nächsten Moment, als er das erschrockene Gesicht von Jonas vor sich sah, lief er rot an. Sie standen eine gefühlte Ewigkeit einfach nur da und starrten sich an.

„Moritz! Die Kekse im Ofen wollen raus. Sie klopfen schon an die Scheibe.“

Fritz bemerkte die Situation als erstes und grinste Moritz an.

„Oh.“

Moritz war froh über die Ablenkung, aber es hatte ihn erwischt.

„Autsch! Ist das heiß!“

„Soll ich pusten, Moritz?“, kam es wieder von Max.

„Nee, lass mal.“

Moritz wollte endlich Klarheit haben.

„So, die Kekse sind fertig und die Küche wieder sauber. Bloß gut, dass nur einmal im Jahr Weihnachten ist. Max, hast Du mal kurz Zeit?“

„Ok, lass uns ins Fernsehzimmer gehen. Dort haben wir Ruhe.“

Leicht fiel es Moritz nicht, mit Max zu reden.

„Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll... Max, du bist echt ein lieber Typ. Ich merke, dass du mehr von mir willst... “

„Komma, aber... ?“

„Mach es mir doch nicht so schwer. Also, ich... ich habe gemerkt, dass du dich wohl in mich verguckt hast, aber ich empfinde nicht dasselbe für dich.“

Max wurde blass und die eben noch freudigen Gesichtszüge waren schlagartig traurigen gewichen.

„Wir können uns doch Zeit lassen Moritz. Bitte.“

„Tut mir leid, aber ich empfinde nicht so für dich, wie es sein sollte, wenn man sich liebt. Ich kann nichts dafür. Max, du bist mir zu wichtig geworden, um mit deinen Gefühlen zu spielen. Ich will dich zum Freund, aber nicht beziehungstechnisch.“

Max sank ins sich zusammen und drehte sich von Moritz weg. Langsam ging er schniefend zum Fenster und strich sich mit dem Hemdsärmel Tränen aus dem Gesicht. Lange standen sie einfach nur da. Moritz durchbrach das Schweigen und ging auf Max zu.

„Max, bitte wein doch nicht. Ich kann doch nichts dafür.“

Vorsichtig legte Moritz seine Hände auf Max' Schultern und begann sie leicht zu massieren.

„Schade, ich hatte mich auf den ersten Blick in dich verliebt. Ach... was soll’s... bleib ich halt für immer alleine.“

Langsam drehte sich Max zu Moritz um. Moritz blickte in Max rot geweinte Augen.

„Ich werde drüber hinwegkommen. Ist ja nicht das erste Mal.“

„Max, du kannst immer zu mir kommen. Versprichst du mir das?“

Daraufhin schniefte er noch mal kräftig und nickte dann.

In den folgenden Tagen passierte nicht viel. Es war bereits Anfang Dezember. Moritz war mittlerweile täglich im ‚Rainbow‘. Er fühlte sich hier richtig wohl. Jonas war auch mal wieder da. Die Gruppe diskutierte an diesem Nachmittag darüber, ob über die Weihnachtfeiertage das Jugendzentrum geschlossen bleiben sollte oder nicht.

„Arne und Bert wollen dieses Mal nicht im Heim mitfeiern, weil sie dort von einigen Jungs wegen ihres Schwulseins gemobbt werden. Daher dachte ich mir, dass wir an Heilig Abend nachmittags hier ein wenig feiern. Ich werde mal mit ein paar anderen Jugendeinrichtungen Kontakt aufnehmen und fragen, was die so planen, dann könnte man sich eventuell zusammen tun.“

„Och nööö, Fritz. Dann lieber im kleinen Kreis feiern. Ist doch viel schöner als mit lauter fremden Leuten“, entgegnete Max dem Vorschlag von Fritz. Auch die anderen wollten lieber unter sich bleiben.

„Ok, dann machen wir einen Plan, wer alles zur Feier kommen will und wie die dann gestaltet werden soll. Jeder überlegt mal, was wir so brauchen für die Feier, und morgen treffen wir uns hier wieder. Ok?“

Moritz wollte nach Hause und zog seine Jacke an da es draußen schon mächtig kalt war.

„Willst du schon gehen?“

„Ja, Jonas, ich muss noch was für die Schule machen.“

„Wo wohnst du eigentlich?“

„Schlüterstraße, 15 Minuten zu Fuß.“

„Oh, genau meine Richtung, da können wir ein Stück gemeinsam gehen. Ich wohne in der Hauptstraße.“

Moritz und Jonas verabschiedeten sich und machten sich dann auf den Weg nach Hause. Moritz freute sich über seine Begleitung für den Heimweg.

Sie gingen gemeinsam die Straßen entlang ohne ein Wort zu reden.

„Was machst du denn heute noch, Jonas?“

„Nur nach Hause, ein wenig Fernsehen und auf meinen Vater warten.“

„Hast du noch Lust ein wenig mit zu mir zu kommen?“

„Weiß nicht, eigentlich bin ich ja müde. Ok, aber nur kurz.“

Moritz freute sich, dass er Jonas überreden konnte. Zu Hause angekommen, schloss Moritz die Haustür auf.

„Moritz, bist Du das?“, kam es aus der Küche. „In einer Stunde gibt’s Essen.“

„Alles klar, Mama. Ich habe Besuch mitgebracht. Wir gehen auf mein Zimmer.“

Jonas ging vorher noch schnell in die Küche und begrüßte Frau Schmidt.

„Hallo Jonas, schön dich kennen zu lernen“, antwortete Moritz' Mutter.

„Moritz, du musst mir mal bei Mathe helfen.“ Benny stand auf der Treppe und sah verzweifelt aus mit seinem Mathebuch in der Hand.

„Nee, Benny, Später vielleicht.“

„Na, wo hakt es denn?“, mischte sich Jonas aus der Küche kommend ein. Benny erklärte ihm sein Problem und Jonas ging mit ihm in dessen Zimmer. So hatte sich Moritz das erste Treffen mit Jonas nicht vorgestellt. Er ging an seine Stereoanlage und machte seine Lieblingsmusik an. Dann setzte er sich an seinen Schreibtisch, um den PC hoch zu fahren. Er checkte kurz seine E-Mails. Im Hintergrund lief derweil der Soundtrack von Titanic.

„Hey, Du hast ja eine Webcam“, flüsterte Jonas dicht hinter Moritz.

Moritz schreckte hoch, drehte sich um und blickte in das Gesicht von Jonas.

„Erschreck mich doch nicht so“, lächelte Moritz schüchtern zurück.

„Kennst Du eigentlich die Homepage von Nick?“, fragte Jonas.

„Wer ist Nick?“

„Nick hat eine Seite mit einigen Geschichten über ‚Coming out‘ und ‚Lovestorys‘ und einige Surftipps. Nichts großes, aber das wird bestimmt noch. Sie heißt Nick’s Stories.“

Moritz ließ Jonas an den Rechner und nach einigen Startschwierigkeiten hatte er endlich die Homepage auf dem Monitor. Moritz schaute interessiert, wie Jonas mit Leichtigkeit die Tastatur traktierte.

„So, das ist die Seite, habe sie auch erst vor kurzem entdeckt.“

„Ok, danke für den Tipp. Ich werde sie mal abspeichern und bei Gelegenheit die Geschichten lesen. Und, hast du meinem Brüderchen eine kostenlose Nachhilfestunde gegeben?“

„Ja, und zwar erfolgreich. Er scheint’s jetzt kapiert zu haben“

„Wow, da habe ich mir des Öfteren den Mund fusselig geredet. Du scheinst Talent zu haben. Hast du eigentlich auch Geschwister?“

Jonas verlor augenblicklich seine Gesichtsfarbe und sank langsam in den hinter ihm stehenden Sessel. Er schlug seine Hände vors Gesicht und fing an bitterlich zu weinen. Moritz schreckte hoch.

„Jonas was ist los? Habe ich irgendwas Falsches gesagt? Jonas, bitte“

Moritz stand von seinem PC auf und ging zu Jonas rüber und kniete sich neben den Sessel.

„Jonas, es tut mir leid, wenn ich dich irgendwie verletzt habe.“

Vorsichtig strich Moritz über Jonas Rücken und versuchte ihn zu beruhigen. Nach einiger Zeit beruhigte sich Jonas ein wenig. Moritz reichte ihm ein Taschentuch und sah ihn besorgt an.

„Möchtest du mir erzählen, was dich bedrückt?“

Nach mehreren Anläufen und nach den richtigen Worten ringend erzählte Jonas die Geschichte seines Bruders Robin. Moritz hörte ihm zu und streichelte ihm dabei mitfühlend die Hände.

„... wir saßen stundenlang im Krankenhaus... dann... dann kam der Arzt und sagte das Robby es nicht geschafft hatte...“

Wieder brach Jonas in Tränen aus. Moritz setzte sich zu ihm in den Sessel und nahm in tröstend in den Arm und streichelte ihn zärtlich über den Kopf. Jonas wurde immer ruhiger und dann bemerkte Moritz dass er eingeschlafen war. Moritz streichelte weiterhin liebevoll über Jonas Kopf als es an die Klopfte. Moritz Vater öffnete die Tür.

„Das Essen ist fertig, Moritz. Ähh... alles ok?“

Moritz schüttelte nur den Kopf und deutete mit dem Kopf zu Jonas und deutete mit den Lippen seinem Vater ein ‚Später‘. Dieser nickte nur und schloss die Tür wieder. Langsam wurde Jonas wieder wach. Als er die Situation bemerkte wollte er sich von Moritz lösen.

„Sorry... tut mir leid, dass ich dir hier was vorheule. Ich... ich... werde dann mal wieder gehen.“

„Nein Jonas, so lass ich dich nicht gehen. Das mit deinem Bruder tut mir sehr leid. Du musst ihn sehr geliebt haben. Ich wüsste nicht, ob ich die Kraft hätte, damit fertig zu werden. Aber ich werde dir helfen so gut ich kann.“

„Danke“ flüsterte Jonas nur und bemerkte dann peinlich berührt, dass sein Bauch laut zu grummeln begann.

„Hihihi, da hat wohl jemand Hunger, wie?“

Jonas wurde rot und ein leichtes Lächeln huschte über sein verweintes Gesicht. Moritz stand vorsichtig auf und zog seinen Besucher gleich mit hoch.

„So gefällst Du mir schon wesentlich besser. Mach dich mal ein wenig im Bad frisch und komm dann runter in die Küche.“

Jonas nickte nur. Moritz lächelte Jonas nochmal an und streichelte ihm wieder über den Rücken. Moritz ging in die Küche und berichtete seinen Eltern kurz das Drama über Jonas Bruder, damit sie sich gleich nicht wunderten, warum Jonas so traurig drauf war.

„Das ist ja schrecklich. Hoffentlich kommt er da eines Tages drüber hinweg. Er ist so ein lieber Kerl.“ Moritz Mutter kämpfte mit den Tränen. Jonas kam in die Küche und alle schauten ihn traurig an.

„Komm Jonas, setz dich zu Moritz, Du hast doch bestimmt Hunger.“

„Danke Frau Schmidt. Guten Abend Herr Schmidt.“

„Guten Abend, Jonas. Lass es dir gut schmecken. Guten Appetit.“

„Danke gleichfalls.“

Nach dem Essen ging Moritz mit Jonas wieder auf sein Zimmer. Moritz schloss die Tür hinter sich und lehnte sich dagegen.

„Und wie geht’s dir?“

„Geht so. Ich werde mich dann mal auf den Heimweg machen.“

Jonas ging langsam auf Moritz zu. Moritz stand immer noch an die Tür gelehnt und spürte jetzt den Atem von Jonas in seinem Gesicht. Dann legte er seine Arme auf die Schultern von Moritz und sah ihm in seine funkelnden Augen.

„Danke, Moritz, danke, dass Du mir zugehört hast. Ich fühle mich richtig wohl in deiner Nähe. Moritz, ich... ich glaube...“

Ihre Lippen trafen sich zu einem Ersten Kuss. Zunächst nur sehr zaghaft und dann immer fordernder. Ihre Hände fingen an den Körper des Anderen zu erforschen. Moritz' Zunge fing an sich mit der von Jonas zu duellieren. Immer wilder küssten sich die beiden. Moritz schob Jonas langsam zu seinem Bett.

„Stopp Moritz... “, hauchte Jonas völlig außer Atem, „ ...lass es uns bitte langsam angehen, ich... “

Moritz strahlte Jonas an. „Ok, wir haben alle Zeit der Welt. Du küsst übrigens wie... ich kann’s nicht in Worte fassen, irgendwie war alles wie... elektrisiert. Ich weiß nicht, irgendwie, wie ein Erdbeben. Alles hat vibriert und gebebt. So was habe ich noch nie erlebt. Einfach nur... Wow .“

Moritz lächelte und schien irgendwie der Welt entrückt zu sein. Jonas sah nur Moritz' leuchtende Augen.

„Weißt Du eigentlich, wie schön deine Augen sind? So schön wasserblau. Man hört richtig das Meeresrauschen der Südsee darin. Moritz, ich liebe Dich.“

Dem Angesprochenen kamen die Tränen der Rührung.

„Ich liebe Dich auch, Jonas. Seit ich Dich vor dem ‚Rainbow‘ das erste Mal gesehen habe.“

Beide fielen sich in die Arme und hielten sich einfach nur fest.

Als Jonas nach Hause kam, war sein Vater bereits da. Er saß im Wohnzimmer vor dem Fernseher und schlief. Jonas holte eine Wolldecke um ihn damit zu zudecken. Dann schaute er seinen Vater an und musste schmunzeln. Jonas war stolz auf ihn. Ohne großes Aufhebens akzeptierte er, dass sein Sohn schwul war. Auch dachte Jonas darüber nach, wie er sich den Kopf darüber zerbrach, seinen Eltern beizubringen, dass er sie nie zu Großeltern machen würde. Jetzt wurde er doch traurig, weil er an seine Mutter denken musste. Hätte er doch mit seinem ‚Coming Out‘ warten sollen? War es zu viel für sie? Würde sie es irgendwann akzeptieren? Jonas machte sich wieder Vorwürfe ließ sich in den Sessel fallen und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Er schluchzte leise.

„Jonas, machst du dir schon wieder Vorwürfe?“

Jonas schaute zu seinem Vater und blickte ihn nur mit seinen feuchten Augen an.

„Ich mach mir Sorgen um Mama. Ich habe Angst, dass sie das Ganze nicht verkraftet.“

„Komm mal zu mir rüber, mein Kleiner.“

Jonas stand auf und setzte sich neben seinen Vater. Dieser nahm seinen Sohn in den Arm.

„Hör mal, sobald die Ärzte ‚grünes Licht‘ geben, gehen wir beide deine Mutter besuchen. Du wirst sehen, alles wird wieder gut. Hab ein wenig Geduld, Jonas.“

Am Tag vor Heilig Abend wurde schon viel gewerkelt und vorbereitet. Fritz konnte sich damit durchsetzen, dass am morgigen Abend auch ein wenig gesungen würde. Er freute sich sogar über die langen Gesichter seiner Jugendlichen, die nicht sonderlich begeistert waren. Moritz und Jonas waren für den Weihnachtsbaum zuständig. In der Nähe des Jugendzentrums gab es einen Verkaufsstand für Tannen und Fichten. Moritz wollte eine Nordmanntanne, Jonas lieber eine Blaufichte. Jeder suchte zunächst für sich nach dem schönsten Baum.

„Moritz, wo bist Du? Ich habe den perfekten Baum gefunden. Moritz?“

Moritz stand bereits hinter ihm und kicherte nur. Langsam legte er seine Arme um Jonas Hüften. Jonas zuckte zusammen und beide fingen dann an zu lachen.

„Das ist nicht Dein Ernst, oder? Der Baum hat ja überhaupt keine Spitze.“

„Aber dafür ist er schön dicht. Das kann man mit viel Lametta ausgleichen. Außerdem gehört oben dann der Engel drauf. Wirst schon sehen, der wird richtig schön.“

„So so, schön dicht, und oben ein Engel.“

Moritz sah Jonas streng an, konnte sein Pokerface aber nicht lange halten und lachte ihn dann strahlend an.

„Ok, auf Deine Verantwortung. Mir wird langsam kalt. Ich lad dich noch auf einen heißen Kakao ein. Den gibt’s vorn an der Kasse.“

Sie suchten den Verkäufer, der dem Baum dann ein Netz überstülpte, damit sie ihn besser tragen konnten.

Nach dem heißen Kakao machten sich dann beide auf den Weg zurück in den Jugendtreff.

„Sag mal Moritz, bist du morgen auch schon um 16 Uhr im ‚Rainbow‘“

„Nein, ich kann erst später. Zuerst Essen mit der Familie und dann Bescherung. Ich kann erst so gegen 20 Uhr. Feierst du nicht auch erst mit deinem Vater, bevor du ins ‚Rainbow‘ gehst?“

„Mein Vater muss arbeiten, ich weiß nicht wann er Feierabend macht.“

Endlich im Jugendtreff angekommen, lief ihnen auch schon Fritz über den Weg.

„Na? Wart Ihr erfolgreich? Bin ja mal gespannt, wie der Baum im Ständer aussieht. Bringt ihn am besten gleich in den Aufenthaltsraum und stellt ihn auf. Ich komme dann auch gleich zu Euch.“

Moritz und Jonas nickten nur und stiefelten mit der Konifere in den besagten Raum.

„So, erst mal raus aus den dicken Klamotten, einen heißen Tee und dann legen wir mit dem Baum los.“

Moritz gab gleich die Marschrichtung vor. Nach dem Tee wurde dann erst mal überlegt, wie man den viel zu dicken Baumstumpf in den viel zu kleinen Ständer bekommen sollte. Fritz kam mit einer Axt ins Zimmer, was Jonas mit einem gespielt erschrockenen „Ich bin unschuldig“ Gesicht kommentierte.

„Schafft Ihr beiden, ohne euch die Finger oder andere Gliedmaßen abzuhacken, den Baumstumpf ein wenig zu bearbeiten, damit er in den Ständer passt?“

„Wir können ja zunächst ein wenig an den Möbeln üben“, grinste Moritz.

„Wehe, sonst hol ich die Motorsäge...“

„Uuuuu, Fritz zeigt uns sein wahres Gesicht.“

Nach einer gefühlten Ewigkeit und viel Dreck war der Baum endlich im Ständer.

„Schief!“ Max war auch da.

„Mehr nach links.“ Eine unbekannte Stimme. Moritz und Jonas drehten sich zu Max um. Sie standen beide in der Tür und kicherten.

„Nee, mehr nach rechts.“

„Das war zu viel.“

„So ist es gut.“

„Jetzt ist er schon wieder schief.“

„Das kann man mit Lametta ausgleichen“, kam es jetzt genervt von Jonas.

„Gebt euch mal ein wenig Mühe, Mädels.“ Jetzt meldete sich auch Fritz wieder zu Wort.

„ ...und schief ist der ja auch noch. Wo habt ihr eigentlich die Spitze gelassen?“

„Da kommt doch Jonas‘ Engel hin“, sprach Moritz.

„Ich wusste gar nicht, dass Moritz auf dem Baum sitzen soll“, kam es lachender weise von Max.

„Max, Weihnachten ist eine ernste Sache.“ Jetzt mussten alle lachen.

„Sag mal Fritz, hast du dein Teil der Vorbereitung schon erledigt?“

Fritz zeigte mit einer übertrieben ausladenden Geste über die Tür, unter der sich immer noch Max und der Unbekannte befanden. Die beiden schauten hoch und erblickten den Mistelzweig, grinsten sich dann an, zuckten mit den Schultern und fingen an sich wie wild zu küssen.

„Stopp! Das reicht, sonst hol ich einen Eimer kaltes Wasser.“

„Spaßbremse“, war Max' knapper Kommentar.

Moritz kämpfte mit der Lichterkette, während Jonas sich mit den Kugeln beschäftigte. Langsam nahm der Baum Gestalt an. Immer wieder kam jemand vorbei, um den Baum zu bestaunen: Alles war in Silber gehalten, nur hier und dort wurde das Kunstwerk von Strohsternen oder Walnüssen aufgelockert. Zum Schluss noch das Lametta, und fertig.

„Da fehlt noch was“, kam es von Max.

Moritz sah sich den Baum an, konnte aber nichts entdecken.

„Was soll denn da noch fehlen?“

„Glitzerstaub, damit die Zweige ein wenig funkeln.“

„So was haben wir aber nicht.“

„Ich schon.“ Max zauberte eine Tüte mit dem silberfarbenen Staub aus seiner Tasche.

Moritz beäugte die Tüte kritisch.

„Und Du meinst, damit sieht der Baum noch besser aus?“

„Ja, als ich noch sehr klein war, kam zu uns immer der Weihnachtsmann, der hatte immer dieses Glitzerzeug dabei. Nachdem wir dann alle ein Gedicht aufsagen mussten und der Weihnachtsmann sehr geheimnisvoll mit seinem großen Sack im Wohnzimmer verschwand, öffnete er dann nach kurzer Zeit wieder die Tür und streute noch eine Handvoll von diesem Glitzer auf den festlich leuchtenden Weihnachtsbaum. Manchmal haben wir im Sommer noch Reste von dem Staub im Teppichboden gefunden.“

Max strahlte bei seinen Erzählungen, und gleichzeitig sah man eine gewisse Traurigkeit in seinen Augen.

„Macht Ihr dieses Ritual auch heute noch?“

„Nein, als vor 3 Jahren mein Vater bei einem Unfall ums Leben kam, haben wir zu Hause nicht mal mehr Weihnachten gefeiert.“

Max liefen jetzt doch die Tränen und dieser unbekannte Junge, der hinter ihm stand, legte seine Arme um dessen Hüften und gab ihm zärtlich einen Kuss in den Nacken.

„Tut mir leid, die Sache mit deinem Vater.“

Moritz wurde ein wenig Nachdenklich und musste an seine Eltern denken, die ja nicht seine wirklichen Eltern waren. Ihm wurde mal wieder bewusst, wie sehr er sie liebte und wie schnell alles vorbei sein kann. Gerade zu Weihnachten wird einem immer wieder sehr schmerzlich bewusst, wie sehr man doch die Menschen vermisst, die nicht mehr da sind. Kurz gingen seine Gedanken zu seinen leiblichen Eltern, wer sie wohl waren, welche Eigenschaften er von der Mutter und welche wohl von dem Vater hatte und ob sie überhaupt noch lebten.

Später, als alle Vorbereitungen erledigt waren, standen Moritz und Jonas nochmals vor ihrem Baum.

„Fürs erste Mal ist der uns doch ganz gut gelungen, oder Jonas?“

„Ja, das ist er, und ich hoffe, wir wiederholen das noch viele Male.“

Jonas sah Moritz in seine schönen blauen Augen und gab ihm dann einen langen Kuss.

Fritz hatte für den heutigen Heiligen Abend das Essen bei einem Caterer bestellt. Er wollte sich das mit dem Kochen mit seinen Jungs nicht mehr antun, obwohl es immer Spaß machte und sehr lustig zuging. Jörg war heute ebenfalls ab Mittag im Jugendtreff zu finden. Sie überlegten gemeinsam, welche Lieder sie mit den Jungs singen könnten. Fritz hatte extra seine alte Bontempi-Orgel von seinen Eltern geholt. Während Jörg noch die letzten Handgriffe an den Tischen anlegte, übte Fritz ein wenig Weihnachtslieder.

„Ich hab ewig nicht mehr auf diesem Ding gespielt. Ich dachte, meine Eltern hätten sie längst verkauft. Die Jungs werden vielleicht Augen machen, dass wir es ernst meinen mit dem singen.“

Um 16 Uhr kamen dann die Ersten. Max hatte wieder seinen unbekannten Freund dabei. Jonas ging auf beide zu und begrüßte Max.

„Tschuldigung, aber ich weiß überhaupt nicht wie du heißt. Ich bin Jonas.“

„Hallo Jonas, ich bin der Martin. Sorry, dass ich mich nicht vorgestellt habe.“

„Kein Problem Martin. Wie und wo habt ihr euch eigentlich kennen gelernt?“

Max grinste. „Martin geht in meine Klasse. Ich hatte mich verplappert, als ich erzählt habe, dass ich hier in den Jugendtreff gehe. Martin wusste, um was für einen Jugendtreff es sich handelte. Er fragte mich dann direkt, ob ich ihn mitnehmen würde ins ‚Rainbow‘. Dabei lächelte er mich wissend an und wurde dunkelrot dabei.“

„Stimmt ja gar nicht.“

„Doch Martin, wie eine Tomate“, schmunzelte Max in Martins Richtung.

„Du spinnst ja.“

„Ne-ne-ne, rot wie eine Ampel, mein Kleiner.“

Beide fingen an sich zu kabbeln. Jonas schüttelte lächelnd den Kopf und ging zu Fritz.

„Hallo Fritz, ich habe den Engel für den Weihnachtsbaum dabei. Er ist zwar nicht schön, dafür aber sehr alt. Meine Oma hat ihn im Krieg für meinen Vater selbst gebastelt weil sie sonst nichts mehr hatten.“

Jonas holte den Engel aus seiner Tasche und zeigte ihn Fritz. Der Engel war aus Stroh gebunden mit alten Hosenknöpfen als Augen. Die Flügel waren ebenfalls aus Stroh und mit Bindedraht auf dem Rücken verschnürt. Die weißen Haare waren aus dem Fell des Kaninchens gemacht, das es damals zum Heilig Abend als Festessen gab.

„Der Engel hat so was Besonderes. Lass ihn uns auf die Spitze setzen damit der Baum perfekt wird.“

Zur Einstimmung auf den heutigen Abend wurde gemeinsam zunächst ‚Der Zauberer von Oz‘ und dann noch ‚Die Muppets Weihnachtgeschichte‘ geschaut.

Es klingelte. Das Essen wurde vom Caterer angeliefert. Alle packten mit an, und allmählich stellte sich eine festliche Stimmung ein.

„So Mädels, bevor wir essen, würde ich gerne ein Lied mit Euch singen. Macht mal ein paar Vorschläge.“

Jörg musste lachen über die Reaktionen der Jungs, warum das nun gerade ausgerechnet heute nicht ging. Sie reichte von Halsentzündungen, Zahnspange über Stimmbruch bis hin zu Zahnschmerzen. Wohl wissend, dass die Jungs nicht textsicher waren, hatten Jörg und Fritz einige Texte aufgeschrieben und verteilt. Als Fritz an seiner Heimorgel ‚Jingle Bells‘ anstimmte, sangen dann aber tatsächlich einige der Jungs mit. Und weil es besser ging als gedacht, wurde gleich noch ‚Rockin´ around the christmas tree‘ nachgelegt. Fritz hielt zu guter Letzt noch eine kleine Ansprache. Das Essen lief dann eher ruhig ab, da mit vollem Mund ein angeregtes Gespräch kaum möglich war. Anschließend war dann Bescherung angesagt: Fritz und Jörg hatten es sich nicht nehmen lassen, allen Jungs ein kleines Geschenk zu machen, und die reichten von DVDs über Bücher bis hin zu Parfum und jede Menge Kondome und Gleitcreme. Das war auch der größte Lacherfolg. Später kam dann noch Moritz, der von Jonas stürmisch begrüßt wurde. Unter dem Mistelzweig wurde dann natürlich unter den Augen der anderen ausgiebigst geknutscht.

„Moritz, wenn Du Hunger hast, es ist noch was zu essen da. Dann brauchst du Jonas nicht auffressen.“

„Max, hast Du wieder einen Clown gefrühstückt?“

Dieser streckte Moritz als Antwort nur die Zunge heraus. Sie setzten sich dann zu den anderen an den festlichen Tisch.

„Und, Moritz, was hast du zu Weihnachten bekommen?“

„Einen neuen PC, ein paar CDs und DVDs sowie die üblichen Klamotten. Ach ja, bevor ich es vergesse, ich hab auch was für dich.“

„Für mich?“

Moritz kramte aus seiner Tasche ein kleines, bunt verpacktes Geschenk und übergab es an Jonas. Dieser bekam feuchte Augen.

„Frohe Weihnachten, Jonas.“

Jonas packte es sofort aus. In der Hand hielt er dann ein Bild von Moritz.

„Danke, Moritz“ flüsterte Jonas nur mit Tränen erstickter Stimme. Dann nahm er Moritz in den Arm.

„Moritz, ich liebe Dich.“

„Jonas, ich liebe Dich auch.“

Moritz stand auf und räusperte sich.

„Ich möchte kurz was sagen, und zwar ‚Danke‘. Danke an Fritz und Jörg, dass sie diesen wunderbaren Jugendtreff „Rainbow“ ins Leben gerufen haben. Mir ist dieser Treff mittlerweile zu einem zweiten Zuhause geworden. Bei manchen von uns sogar zu einem richtigen Zuhause. Hier habe ich auch meine große Liebe gefunden, Jonas. Ich wünsche mir dass wir hier noch oft Weihnachten zusammen feiern können. Frohe Weihnachten euch allen.“

Für diese kurze Ansprache erhielt Moritz viel Applaus.

„So, meine Lieben, ich würde gerne noch ein, zwei Weihnachtslieder mit Euch singen.“

Fritz meldete sich nochmals zu Wort. Er setzte sich an seine Orgel und fing an zu spielen.

„Süßer die Glocken nie klingen…“ DING DONG. DING DONG.

Alles lachte, als im richtigen Moment die Türglocke ertönte. Fritz schaute auf seine Uhr und dann zu Jörg. Beide zuckten mit den Schultern. Fritz stand auf, um zu schauen, wer an der Tür war. Auf dem Flur hörte man nur ein Stimmengewirr, und nach einiger Zeit kam Fritz wieder herein.

„Jonas, für dich.“

Alle drehten sich neugierig zur Tür und Fritz ging ein wenig zur Seite um den Besuch rein zu lassen.

„Mama!“

Jonas sprang so schnell von seinem Stuhl auf, dass dieser polternd nach hinten umfiel. Dann rannte er auf seine Mutter zu und fiel ihr weinend, aber glücklich um den Hals. Im Raum war es still. Alle blickten ergriffen zu Jonas und seiner Mutter.

„Mama, ich bin so froh das du da bist. Ich habe dich so vermisst.“

„Ich dich auch mein Kleiner. Es tut mir so leid, was ich dir angetan habe. Ich hoffe, du kannst mir verzeihen.“

„Uns beiden ging es nicht gut nach Robbys Tod. Ich kann dich verstehen. Wie geht es dir, Mama?“

„Jetzt schon viel besser. Ich muss noch ein wenig in der Klinik bleiben und dann noch zur Kur.“

„Hallo Papa.“

„Hallo mein Sohn.“

„Darf ich Euch meinen Freund vorstellen? Moritz, kommst du mal bitte?“

Wie einige andere hatte auch Moritz Tränen der Rührung in den Augen. Er stand auf und ging langsam auf Jonas und seinen Eltern zu.

„Guten Abend Frau Baal. Guten Abend Herr Baal. Und Frohe Weihnachten.“

Moritz gab beiden schüchtern die Hand. Jonas Eltern erwiderten die Grüße. Die anderen Anwesenden wurden auch noch begrüßt. Dann setzte man sich mit an den Tisch und es wurde viel erzählt.

„So Jonas, leider müssen wir wieder los. Der Arzt hat deiner Mutter nur eine Stunde Besuchszeit erlaubt.“

Jonas begleitete seine Eltern noch zur Tür. Sie verabschiedeten sich voneinander. Beim Gehen drehte sich seine Mutter noch einmal zu ihm um.

„Jonas, den guten Geschmack, was Männer angeht, hast du eindeutig von mir.“

Sie lächelte und wuschelte ihrem Sohn durch die Haare.

„Danke Mama, danke, dass Ihr hier wart. Ich bin so glücklich, dass nichts mehr zwischen uns steht. Ich komme Dich besuchen, sobald es geht. Gute Fahrt.“

Fritz saß neben Jörg und beide schauten sich ihre Schützlinge an. Im Hintergrund sang gerade Judy Garland ihr ‚Somewhere over the Rainbow‘.

„Wenn ich mich so umschaue, was wir hier auf die Beine gestellt haben, dann war Christophs Tod nicht so ganz umsonst. Wir können zwar nicht allen helfen, aber wenn ich die glücklichen Gesichter hier sehe, weiß ich, dass wir alles richtig gemacht haben.“

Jörg nickte Fritz zu, nahm ihn in den Arm und gab ihm einen Kuss und sagte dann: „Du bist das Beste, was mir je passiert ist.“

Im Gemeinschaftsraum war jetzt Partystimmung ausgebrochen. Max hatte seine neue CD von den ‚Roten Rosen‘ mitgebracht und spielte zur Belustigung aller total schräge Weihnachtslieder. Es wurde noch ein schöner Heilig Abend, zum Schluss wurde sogar getanzt. Als jemand Celine Dions ‚My Heart will go on‘ auflegte, schnappte sich Moritz seinen Jonas, nahm ihn ganz fest in den Arm, wiegte sich nach den Klängen des Liedes und flüsterte ihm zärtlich ins Ohr:

„Dich lass ich nie wieder los.“

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