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Trost 2

Kapitel 173-176

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Inhaltsverzeichnis

173

Die Tage der schriftlichen Prüfung flossen an Kai vorüber wie Sirup. Alles schien ihn zu umgeben, er fühlte sich hilflos, ausgeliefert, aber auf träge, gefangene Art ganz und gar nicht unwohl. Er konnte nichts weiter tun, als sich mit allen Aderen treiben zu lassen und es ging ihm überraschend gut dabei.

Es waren verstörend heiße Tage und alle Studenten fanden sich mit reichlich Getränken und extrem spärlicher Bekleidung vor den schriftlich angewiesenen Räumen ein. Traubenzucker, Glücksbringer, gut versteckte Spicker mit unlogischen Formeln, alles war parat. Die Ausweise wurden gezeigt, die Tische zugewiesen. Die Prüfungsunterlagen wurden jedem sorgfältig ausgeteilt, dann gab es in ihrem Raum einen Tisch mit Wasserflaschen und den Hinweis, dass jeder wegen der Hitze wenigstens eine Flasche trinken sollte.

Was es nicht gab, war Klimaanlagen. Der Raum zeigte tropische dreißig Grad bei einer Kontrolle der Physiologieabteilung. Aber die Rückfrage, ob jeder sich der Anstrengung in dieser Klimalage gewachsen sah, nickten in Kais Raum alle ab. Zwei Mädchen packten ihre Miniventilatoren aus.

Die Sekretärin vom Meldebüro für die klinischen Kurse war in Kais Raum zur Überwachung eingeteilt. Sie hatte ihr Haar hochgesteckt und sich in ein eine Nummer zu knappes Sommerkleid gezwängt. Sie breitete nach der Temperaturmessung lieb lächelnd ihre vier Hochglanzzeitschriften vor sich aus, dann sah sie zur Uhr und erklärte kurz die Regeln zu Pausen und die notwendigen Hinweise zu den Prüfungszetteln. Sie zwang alle, zuerst ihren Namen vorn drauf zu schreiben und kontrollierte dies bei einem Rundgang, auf dem sie auch die Glücksbringer bewunderte. Dann ließ sie sich nieder und würdigte den Raum sehr betont keines Blickes mehr, sondern versank sonnig lächelnd in ihren Bildchen von Mode und schönen Stars. Die Spickzettel wurden großzügig geteilt. Kais Hintermann schrieb alle Ergebnisse zum Thema Histologie von ihm ab, indem er sich über den Tisch vorbeugte und störend laut flüsterte.

Kai hatte sich viel zu gut vorbereitet. Die ersten Seiten brauchte er kaum zu denken, sein Hirn erkannte die Aufgaben wieder, suchte nach Fangfragen, doppelten Verneinungen oder einer Umkehr der bekannten Frage. Dann schaute er in den Antwortmöglichkeiten schon automatisch nach der Lösung. Die markierte er und glitt weiter zur nächsten Aufgabe, alles lief reibungslos.

Er schaffte es, derart im Rhythmus zu sein, dass er erst nach gut drei Stunden eine Pause einlegte, als er schon den größten Teil der Prüfung überstanden hatte. In der Pause traf er niemanden, den er kannte. Er ging nur rasch zum Klo, schenkte Thilo im Vorbeigehen seinen Spicker mit besonders fiesen biochemischen Formeln und fühlte sich wohl.

Der Rest der Arbeit war schnell hinter ihm und er gab fast als Erster ab. Als er dann im Schatten vor dem Gebäude wartete, wurde ihm klar, dass er die Haupthürde überwunden hatte. Der erste Tag war der größte Teil. Es waren mehr als die Hälfte der Punkte. Allein mit einem guten ersten Tag konnte man bestehen und Kai hatte einen verdammt guten ersten Tag gehabt.

Nach und nach kamen die Anderen aus den Räumen. Buchstabenkombinationen wurden geteilt und diskutiert. Kai zog sich tiefer in den Schatten zurück und hielt sich raus. Endlich kamen Jan und Nadine gemeinsam von der anderen Seite und erzählten davon, wie sie einander in strategisch verteilten Pipipausen geholfen hatten. Ihr Aufpasser war leider weitaus strenger als die Sekretärin in Kais und Thilos Raum.

Sofort wurden die Antworten verglichen, aus dem Internet die ersten Hochrechnungen abgerufen und die ersten Leute berichteten sich gegenseitig mit sonnigem Grinsen, dass sie es geschafft haben müssten. Thilo wankte, dank Betablockerüberdosis vollkommen neben der Spur, mit Jan zum Auto, um sich nach Haus in sein Bett verfrachten zu lassen. Kai folgte den Beiden. Er fühlte sich erleichtert, dass es nur noch einen Tag dieses Wahnsinns geben würde.

Kai wollte nichts hören oder vergleichen und war froh, dass Jan ebenfalls den Kopf schüttelte, als Bianca nach einem Absacker fragte. Der Nachmittag und Abend ging mit einer großen Runde Nudeln und Schlaf für Kai und einem Waldlauf und Nudeln mit großem Bier für Jan vorüber. Sex wäre schön gewesen, schien aber unmöglich. Der Gedanke streifte Kais Hirn peripher, als Jan nackt nach der Dusche ins Schlafzimmer kam und Kai ihm, mit Blick auf die kleine Narbe am Penis, auf seinem Weg zwischen Schrank und Fernseher hin und her folgte. Aber genauso peripher blieben seine Gedanken auch. Alpträume von falsch verstandenen Fragen begleiteten Kai in ein wirres Traumland, während Jan sich eine Doku über Extremsportarten anschaute.

Am zweiten Tag war es noch leichter. Der Raum war bekannt, der abgeschabte Tisch, das Lächeln der Sekretärin, der mitgenommene kleine Affe, den seine Tischnachbarin als Glücksbringer vor sich sitzen hatte und das leise Summen der Neonröhre über ihnen. Das dringliche Flüstern vom Typen hinter ihm. Die verschwitzte Hitze, das lauwarme Wasser und das leichte Stöhnen ringsum. Kai fühlte sich zum Automaten mutieren. Die Aufgaben flogen an seinen Augen vorüber, er kreuzte mechanisch, dachte kaum wirklich nach.

Nach diesem zweiten Prüfungstag wollte Kai sich von der merkwürdigen Trance befreien, aber zugleich konnten weder sein Kopf noch sein Körper wirklich begreifen, dass es vorbei sein sollte. Der Überschall in seinem Hirn hörte nicht auf. Gedanken huschten durch seine Versuche, den Alltag zu meistern, wieder ins normale Leben zurück zu finden.

Kai half Thilo dabei, den Weg zu Jans Auto zu finden, wo dieser sofort auf der Rückbank einschlief. Vorsichtshalber ließ Kai die Wagenfenster offen, weil es trotz auffrischendem Wind noch immer sehr heiß und schwül war. Bianca war ihnen aus dem Prüfungsraum gefolgt, aber hatte ein Date..., eines ohne Thilo oder Jan, so dass Kai sie dankbar ignorierte, bis sie nach ein paar Fragen zu den Bildern im Test davon ging, um nicht zu spät zur Feier ihres Lebens zu kommen.

Dann hockte Kai mit leerem Gefühl im Magen und einer wirren Mischung aus Erleichterung und Frust, weil er sich nicht freuen konnte, auf Jans Motorhaube. Dort konnte er sitzen, weil Jan am Morgen einen der begehrten Schattenparkplätze ergattert hatte. Außerdem war der Wagen frisch gewaschen. Endlich kam Jan, ebenfalls erschöpft und schweigsam. Sie fuhren Thilo nach Hause und Jan brachte ihn ins Bett. Kai schickte Thilos Eltern eine Nachricht in seinem Namen, dass alles gut gelaufen war und er morgen anrufen würde und Jan stellte Thilo derweilen einen Wecker, damit er nicht den restlichen Tag durch schlief. Schweigend fuhren sie weiter.

Kai versuchte verzweifelt, die Nachwirkungen der Prüfung abzuschütteln, ein normales Gespräch mit Jan zu beginnen. Es war schwer 'Wir sollten den Geschirrspüler am Abend noch schnell ausräumen. Wer war noch mal damit dran?' überkreuzte sich mit Erinnerungen an die Fallberichte aus der Physiologie.

'Hat die Tippse vom Anwalt mir eben auf den Hintern gestarrt?' wurde unterbrochen von Fangfragen und falscher Verneinung im Sinne von 'Nein, sie hat mir nie nicht auf den Hintern gestarrt, oder doch?' Verwirrt schüttelte Kai den Kopf und sah sich nach Jan um.

Sie packten Zuhause die Pfandflaschen ein und gingen einkaufen. Jan schwieg noch immer, genau wie Kai, aber eher, weil er an jeder Ampel seine Nachrichten checkte, Kai schwieg zu seinen knappen Ansagen, wer ihn wohin einlud zum Feiern, weil er sein Hirn nicht stoppen konnte mit komischen Antworten im Format A, B oder C. A, ich will nicht. B, das ist nichts für mich. C, Fußballerparty, die mögen mich nicht. Oder D, ich werde gleich in ein Koma zusammen brechen, da kommen alle Antworten von oben nicht mehr in Betracht.

Der Supermarktbesuch war ungewohnt. Der normale Alltag war um sie her einfach so weiter gegangen. Kai fühlte sich, als sei er aus einem Koma erwacht und hätte Wochen des Lebens verpasst. Der letzte Kinofilm, der einfach nur Bombe war. Ein politischer Skandal, der das Sommerloch schon seit einigen Wochen zu füllen versuchte. Ein Attentat irgendwo, bei dem zum Glück niemand zu Schaden gekommen war. Die Welt hatte für seine Prüfungszeit nicht pausiert.

Aber auch in der Stadt war was los gewesen. Ein Sturm, der in der Woche zuvor nicht nur das Stadtfest am See empfindlich gestört hatte, sondern sogar zwei Todesopfer gefordert hatte, wurde am Fleischstand diskutiert. Unverschämte Benzinpreise zur besten Reisezeit waren das Thema zwischen Obst und Gemüse. Zwei bonbonfarben gekleidete Mädchen kicherten bei den Alkoholika mit Jan herum und luden ihn spontan zu einer Party in ein derzeit angesagtes Lokal ein. Sie versuchten Kai auch mit in die Unterhaltung einzubinden. Die eine erkannte ihn von den Cocktailkarten, aber er winkte rasch ab, senkte den Blick auf die Preise von zwei unterschiedlichen Dosen Thunfisch und ergriff die Flucht. Kai konnte sich nicht auf ein Leben ohne Fragebögen und Lehrbücher einlassen. Für Tussis mit hellrosa Shorts schon gerade nicht.

Sie waren in den großen Supermarkt weiter draußen gefahren, wegen der Getränke. Dort verharrte Kai erst einmal hilflos zwischen Regalen mit Überangebot. Sie brauchten mit einem Mal kein Aufputschessen mehr. Keine Schokolade, keinen Traubenzucker oder Chips für den Abend nach dem Lernen. Stattdessen kauften sie normale Sachen. Würstchen und zwei Steaks aus dem Angebot zum Grillen, Kartoffelsalat, Käse und neue Nutella, Nudeln, ohne Ende Nudeln, neuen Toast und Milch. Fertigpizza für alle Fälle. Fast an der Kasse musste Kai noch einmal ganz zurück nach vorn, um Obst zu kaufen.

Und sie brauchten keine Gummibärenbrause mehr zum Wachhalten. Stattdessen ein Kasten Bier, ein Kasten Hefe und zwei halbherzige Flaschen Prosecco aus dem Angebot seitens Jan und seitens Kai eine halbherzige Flasche Tonicwasser, zu der ihm später einfiel, dass der Gin seit Wochen alle war.

Der Gedanke: 'Hm, der neue Azubi hat ein total süßes Lächeln, hat der eben mich angeflirtet?' wurde gleich darauf empfindlich gestört durch Bilder von Zellhaufen aus dem histologischen Fragebogen, vertont von dem Flüstern von Kais Hintermann während der Prüfung.

Kai zwickte sich, kniff die Augen, trank einen bitteren Kaffee aus der Dose. Nichts brachte ihn aus der Alptraumnummer heraus. Jan konnte ihm leider auch nicht helfen, der war in sozialen Netzen gefangen, zappelte zunehmend fröhlicher, aber auch hilflos, unter dem Ansturm der tausenden Köder, die nach ihm ausgeworfen wurden.

Doch, Wunder über Wunder, Jan sagte allen ab. Es folgte ein vollkommen ruhiger Abend zu zweit. Jan kochte, schon wieder Nudeln, weil er bekanntlich nichts anderes hinbekam und beschloss, dass es Nudelsalat werden würde. Kai fabrizierte die Soße dazu. Jan grillte die Steaks und Würstchen und deckte draußen den Tisch. Kai sorgte mit Mückenkerzen für das Ambiente und hatte daran gedacht, Bier kalt zu stellen, was ihm ein gemein schönes Lächeln von Jan einbrachte.

Und da fiel es ihm auf. Jan war den Tag kaum fröhlich gewesen. Sein sonst unkompliziert sonniges Gemüt war erloschen. Im Supermarkt, beim Flirt mit den Mädchen, hatte er gezwungen lustig gewirkt, sonst eher stumpf, erschöpft, aber auch zurückgezogen. Das Lächeln, als Kai ihm zurief, dass er die Wahl habe zwischen Hefe und Bier, beides eiskalt, war endlich wieder echt.

Das Essen half ihnen Beiden ein wenig heraus aus der Starre. Über etwas zu gut durchgebratene Steaks und einem etwas zu laschen Nudelsalat, den sie beide abwechselnd so lang mit Salz und Pfeffer nachwürzten, bis sie lachen mussten, tauten sie auf.

Jan erzählte, dass Nadine erstaunlich viele Sachen nicht gewusst hatte. Es würde eine knappe Nummer werden für sie. Ganz wie befürchtet. Kai erzählte von dem doofen Typen, der laut flüsternd abgeschrieben hatte, und beide stimmten überein, dass der neue Azubi im Supermarkt niedlich sei, was Kai sofort eifersüchtig machte, bis er merkte, dass Jan ihn verarscht hatte. Der hatte den Jungen gar nicht bemerkt. Sie teilten sich das Hefeweizen aus der Flasche und hörten den Sommergeräuschen zu.

Allmählich wurde es umher dunkler, der Wind frischte auf und sie beobachteten von der Dachterrasse aus, wie es sich dumpf grummelnd zuzog. Erst als es halbherzig zu regnen begann, zogen sie sich in die Wohnung zurück, schafften alles von der Terrasse in Sicherheit, zogen an der kleinen Pumpe ihres Teichs in der Zinkwanne den Stecker, räumten gemeinsam die Spülmaschine aus und wieder ein und fanden sich nach getrennten Duschen mit dringend notwendiger Rasur für Jan auf dem Bett wieder.

Der Fernseher lief, Fußball natürlich, ein Freundschaftsspiel zum Saisonstart. Entspannt und Zufriedenheit ausstrahlend saß Jan davor und nippte noch sein zweites Bier. Kai kollabierte neben ihm und wollte gerade an seinen Freund heran robben, um zu schmusen, als Jan dann doch noch von Holger und Matze abgeholt wurde zu einem kleinen Absacker. Die Zwei kamen mit Fahrrädern vorbei, trampelten bis zu ihnen in das Schlafzimmer, was Kai peinlich war, weil er nur mit Shorts bekleidet rumgegammelt hatte und ließen sich ein 'Nein' nicht bieten.

Kai wurde in der Einladung nicht erwähnt, was ihm gut gefiel. Auf andere Leute konnte er wirklich nicht mehr. Er hatte keine Möglichkeit oder Kraft mehr für Freude über die Prüfung. Sein Kopf war verwirrt, sein Körper erschöpft, aber zugleich rastlos. Aber er schlief rasch ein, endlich einmal traumlos und tief. Erholt wachte er am frühen Morgen auf, als die Müllabfuhr mit viel Radau auf der Straße unten ihren Job machte.

Kopf und Körper hatten natürlich Recht. Zum Freuen war es noch zu früh. Die mündliche Prüfung stand ihnen jetzt bevor. Jan schickte Kai gleich am Morgen, aus den Tiefen eines schrecklichen Katers für einen kurzen lichten Moment auftauchend, in die Uni zum Peilen der Lage.

Kai trabte, ganz wie früher, auf Zuruf in die Uni und schickte von dort Nachrichten an alle Anderen, die nach der Party noch nicht in der Lage waren, selbst auf die Listen zu sehen. Die Prüfungszuteilung war, wie angekündigt, am Sekretariat ausgehängt und Kai gab die Mitteilung an Tini heraus, dass sie mit ihrer Gruppe in einer recht giftigen Kombination aus Physiologie, Anatomie und Histologie, samt der bescheuertsten Assistenten in allen drei Fächern, leiden würden.

Jan hatte samt Holger und Nadine das Glück, dass sie in Neuroanatomie, Biologie und Biochemie dran waren. Glück insofern, als dass Jan in Neuroanatomie ungeschlagen gut war, und Biologie und Biochemie von sehr netten Assistenten geprüft werden würde, und diese beiden netten Assis beim Vorstelltermin, den sie alle in der Woche darauf vereinbarten, auch schon die möglichen Fragen stark eingegrenzt hatten, während die strengen Assistenten aus der Physiologie und Histologie Kai und Tini gegenüber lediglich lakonisch blinzelten und feststellten, dass es aus der schriftlichen Prüfung gut und gern klar sein dürfte, was zur Prüfung anstehen würde. Alles also.

Deprimiert von der Arroganz der Typen rief Kai noch von der Uni aus seine Mutter an und berichtete etwas verlogen, dass er ein gutes Gefühl habe und sagte dann zu, dass er am Tag der mündlichen Prüfung zum Feiern im Rahmen eines Kaffeetrinkens zu ihnen vorbei kommen würde. Da er dann erst einmal nach Spanien fliegen wollte, hatte er schon im Vorfeld mit seiner Mutter besprochen, dass er nur für den Nachmittag vorbei schauen würde und war erleichtert, dass es seinen Eltern wegen einer Einladung im Gartenverein am Abend auch gut passte.

An diesem Abend wollte Jan unbedingt Party machen, nachdem er bei Vergleichen der Ergebnisse vorausberechnet hatte, dass sie alle, auch Thilo, bestanden haben müssten.

Kai musste Jan einmal mehr hinterher sehen, als dieser zum Training und auf Partytour ging. Er wollte niemanden hören und um sich haben und sagte mit fester Stimme, dass er seine Lehrbücher zusammenräumen wollte, um dann einzuschlafen. Die nächsten Tage über wiederholte sich das Bild. Jan, der seinen Freund nach dem Lernen zur Party mitnehmen wollte, oder nur zum nächsten Biergarten, und Kai, der dazu nicht in der Lage war. Der seine asoziale Ader wieder voll und ganz für sich entdeckt hatte.

Jan war darüber nicht sonderlich froh und sagte das auch ziemlich laut. Es war nicht wirklich Streit, weil sie auf dem Parkplatz vor dem Haus darüber redeten und niemand schrie oder mit Sachen warf oder die Tür knallte. Aber Jan war sichtlich sauer und Kai blieb stur, ohne auch nur den geringsten Grund für seine Partyabneigung zu liefern. Endlich meinte er, dass Jan viel besser ohne ihn mit Thilo feiern könne, aber die Wahrheit war, dass Kai sich ausgehöhlt fühlte und keine Lust hatte, mit Alkohol. Lärm und Menschen, die er nicht mochte, seine innere Leere zu füllen.

Merkwürdigerweise fehlte auch Jan ihm an diesem Abend nicht. Er war erleichtert, als er die Wohnungstür hinter seinem Freund später zufallen hörte, obwohl sie sich noch nicht wieder richtig vertragen hatten. In aller Ruhe duschte und rasierte er sich und verbrauchte einige der Haarkur-, Bodylotion- und Aftershaveproben, die er über die letzten Wochen gesammelt hatte. Dann nahm er sich einen schwulen Krimi, den er schon kannte, las die unrealistische, heiße Sexszene zwischen den zwei Hauptfiguren. Er schlief mit dem Buch in der Hand ein, ohne selber auch nur in Stimmung für Sex gewesen zu sein.

Das Telefon weckte ihn eine gute Stunde später. Es war Bardo. Seine Eltern waren wieder da, die Malerarbeiten waren erfolgreich beendet und Bardo hatte mit Hilfe der Familie den Umzug in das große Dachzimmer hinter sich gebracht und darum ging es in dem Anruf.

Bardo hatte gänzlich vergessen, dass Kais schriftliche Prüfung gelaufen war und die mündlichen Prüfung kurz bevor stand. Er entschuldigte sich erst einmal für die Störung und dann typisch arglos und naiv auch dafür, dass er total vergessen hatte, Kai und Jan die Daumen zu halten, bevor er berichtete, dass sein Zimmer fertig sei. Zögerlich fragte er an, ob Kai nicht mal zur Einweihung vorbei kommen wolle. Mit üblicher Ehrlichkeit sagte Bardo, dass er mit seinen Freunden vom Chor schon gefeiert habe, aber mit Kai natürlich auch noch sein neues Domizil begehen wolle.

Kai streckte sich im Bett aus und gähnte. Nach einem Blick auf seinen neuen Wecker seufzte er und stimmte zu: "Ich kann auf jeden Fall nicht vor Ende der Prüfung. Da hab ich den Kopf nicht frei."

"Ich bin auch noch nicht ganz fertig. Dir zeige ich es erst, wenn es perfekt ist, ja? Wie wäre es nach eurem Urlaub?" Bardos neue dunkle Stimme überraschte Kai noch immer. Das alte Bambi schien allmählich zu verschwinden. Der junge Mann, der dahinter zum Vorschein kam, war erstaunlicherweise nicht nur mit einer göttlichen Stimme gesegnet, sondern weiterhin mit Bambis Sonar für Kais Stimmungen: "Was planst du denn zur Feier der Prüfung? Du klingst nicht glücklich."

"Meinen Eltern von Ari-Ding erzählen und mich danach so schnell ich kann nach Spanien absetzen, bevor sie mich umbringen." Kai gähnte noch einmal, dann erzählte er Bardo von der Prüfung, dann von den Flugzeiten und der Lage von Lukas‘ Haus. "Lukas‘ Freund Noppi und er selber sind irgendwann auch noch da. Außerdem will Carl vermutlich vorbei kommen und vielleicht auch Lena."

"Ich wünsche dir ganz viel Spaß und Sonne! Ich bring dir noch das Buch vorbei, von dem wir neulich im LPP geredet haben."

"Hm. Ich komm vor dem Urlaub nicht mehr ins LPP."

"Ich mein, ich bring es vielleicht irgendwann jetzt einfach mal nach Hause vorbei. Weiß noch nicht wann genau. Die Schule hat ja wieder angefangen und ich hab...". Bambi holte Luft, als ob er etwas Falsches gesagt hätte. "Nach der Schule. Ich stör dich auch nicht beim Lernen, ja?"

Kai runzelte die Stirn, dann nickte er: "Danke, Bambi. Ich leg jetzt besser auf, bevor ich noch einmal gähnen muss."

"Ist gut, Kai. Ich... ich meine, kann ich dir...". Er zögerte, dann fragte er abrupt: "Soll ich einmal kommen und eure Blumen gießen, wenn ihr weg seid?"

"Oh. Das wäre nett, danke. Willst du..., ehm..., hier rumhängen?" Das Misstrauen war eigentlich nicht angebracht. Das Bambi hatte sie noch nie hintergangen. In Wirklichkeit freute Kai sich, dass er ihnen nicht vollkommen entglitt.

"Kai. Ich hab jetzt ein tolles Zimmer oben unter dem Dach und voll die Ruhe hier. Ich brauche euch nicht mehr." Bardo lachte, die dunkle Stimme krabbelte Kai die Wirbelsäule hinunter.

"So so. Komm gern her, aber nicht mit Freunden. Und Sex in meinem Bett ist ein totales No-Go, nur damit das klar ist!"

"Das ist klar, Kai!" Bardo lachte auf.

Kai fühlte sich ausgelacht und rächte sich sofort. "Ich meinte auch Sex allein, Bambi!" Und gleich darauf musste Kai seinen Mutti-Modus runterfahren und sich von Bardo noch mehr auslachen lassen, auch wenn man Bardos roten Ohren durch das Telefon fast schon leuchten sehen konnte und sein Lachen eine leicht hysterische Note angenommen hatte.

Kai legte mit dem nagenden Gefühl auf, dass Bardo ihm etwas hatte sagen wollen und es nicht getan hatte. Irgendetwas stimmte nicht. Wieso hatte das Bambi die Prüfung vergessen? Das war nicht seine Art. Abrupt hob Kai den Kopf, hämmernde Kopfschmerzen begrüßten diese Idee als nicht so gut. Ein wenig schwindelig schüttelte Kai die Spannung aus seiner Nackenmuskulatur und blinzelte in das Halbdunkel des Zimmers umher.

Die mündliche Prüfung war etwas mehr als eine Woche hin, es gab aber nichts, von dem Kai wusste, dass er es noch lernen müsste. Er war überlernt. Sein Hirn war durch das viele Lernen vielleicht auch einfach zu überlastet für normale Tätigkeit. Die Kopfschmerzen waren sicherlich auch Ausdruck einer kleinen Rache wegen zuviel Koffein und zu wenig frischer Luft in den vergangenen Tagen. Kai blickte zum Spalt, der sich unter dem Dachfenster zeigte. Es sah grau in grau aus draußen, den Tag über war es grauenhaft schwül gewesen. Vielleicht kamen seine Kopfweh auch von der Gewitterstimmung.

Unruhig rollte er sich aus dem Bett und warf einen Blick auf den Wecker. Nach elf Uhr. Komisch, dass das Bambi ihn so spät noch angerufen hatte. Es war zwar Wochenende, aber die Eltern waren zurück und auf Hab Acht, oder?

Ächzend stand Kai auf und ging pinkeln. Mit kaltem Wasser kühlte er seine Handgelenke und den Hals. Schwülwarme Luft, von einem der vielen kleinen Gewitter der letzten Zeit ein wenig aufgefrischt, umstrich seine nackten Beine. Zurückrufen, um das Bambi zur Rede zu stellen, das war jetzt keine gute Idee, wenn er den Fröhlich-Haushalt nicht stören wollte. Das Handy versuchen wollte Kai auch nicht. Das wirkte vermutlich zu sehr wie im Mutti-Modus.

Nachdenklich warf Kai einen Blick auf sein Physiologiebuch auf Jans Schreibtisch. Die Physiologie der Leber lag aufgeschlagen da. Jan hatte nachgelesen, wieviel Alkohol toxisch wurde. Manche Dinge änderten sich nie. Mit Kopfschütteln tappte Kai ins Bett zurück, bemerkte sein dummes Grinsen, dann musste er lachen. Jan war so ein Idiot manchmal. Kai robbte rüber auf Jans Seite und zog sich das T-Shirt unter dem Kissen hervor, um in dem angenehmen Duft nach Jans Deo und seiner Haut zu versinken, bevor er wieder einnickte.

Das Telefon schreckte Kai erneut aus einem unruhigen Schlaf. Verschwitzt und zu rasch atmend kam er hoch, bereute es wegen der noch in seinem Kopf hausenden Schmerzen und griff sich das Telefon dann ohne auf das Display zu sehen.

Verschiedene Szenarien durchkreuzten sein umnebeltes Hirn in rascher Folge. Tini: 'Ich krieg das Dihiiiiing! Du musst sofort kommen!', Jan 'Binsovohollbaby dumusskommenundmischreeeeheettnnnn', Thilo 'Ich bin in der Notaufnahme, hatte Betablockerüberdosis. Holst du mich bitte ab? Jan ist zu voll.'. Lolli 'Huhu, Maus! Hab ich dich geweckt? Aber jetzt ja auch egal, du wir wollen...'. Blablabla hirnrissige Idee, auf die Kai nie Lust haben würde.

Er meldete sich knapp mit einem unpersönlichen 'Hallo'.

Am anderen Ende raspelte Lukas' Stimme ihm ans Ohr. Im Hintergrund waren dumpfe Beats zu hören, ein Stimmengewirr und Lachen. Er war in einem Club, vermutlich im Subzero. Kai linste auf seinen Wecker. Es war Freitag. Sicherlich Subzero. "Ich bin‘ s."

"Hm."

"Bist du da, Engelchen?"

"Nein."

Lukas lachte leise. "Ich bin im Subzero."

Richtig geraten. Kai drehte sich gemütlicher zu recht. "Hm. Hört man. Geh weg, ich bin im Bett."

"Das klingt einladend, Engelchen, aber mein Anruf ist sozusagen beruflich."

"Dein Beruf?"

"Nein, deiner. Als Erziehungsberechtigter."

"Was?" Kai gähnte derart umfangreich, dass er Lukas' nächsten Worte wie durch ein Vakuum hallen hörte.

"Dein Bambi ist gerade hereingehoppelt. Komm und bring es weg."

In Sekunden war Kai komplett wach und knipste das Licht an. "Was?! Scheiße! Geh du doch hin und sag ihm... irgendwas, sei macho und so, das kannst du doch so gut."

"No can do. Er ist mit dem Dealer reingehoppelt, den ich beschatte."

Kai blinzelte, dann noch einmal. "Scheiße!"

"Ja. Genau. Scheiße. Darum beeil dich. Er versaut mir ein halbes Jahr harte Arbeit."

"Scheiße, verdammte..."

"Kommst du?"

"Ja. Natürlich. Ich bin schon fast da. Dem verdammten Bambi werde ich den Kopf waschen, so dass er sich nicht mehr selber wieder erkennt."

"Bis gleich. Ach und Kai?"

"Ja?"

"Es ist Ledertag. Ich hol dich am Eingang ab, dann sparst du dir den Eintritt. Zieh dich sexy an, schreib mir eine Nachricht, wenn du da bist."

Kai fluchte sich durchs Jeansanziehen, T-Shirt raussuchen, ein enges, man hatte seinen Stolz und nahm seine Lederjacke aus dem Schrank, bevor er zum Fahrradschuppen stapfte. Er war fast dort, als er aus dem Augenwinkel sah, wie ein Schatten am Haus entlang huschte. Kai stockte und starrte ins Dunkel. Hier, hinter dem Haus, konnte man kaum die Hand vor Augen sehen.

Es klapperte, dann fluchte jemand leise und Kai prischte sich noch einen Schritt dichter. "Hallo?"

Im nächsten Moment flackerte das Sicherheitslicht im Fahrradschuppen an und Kai schrie auf, zugleich hörte er ein gepeinigtes Stöhnen. Gleich drauf blinzelte ihn Jan blöde an.

"Kai?"

"Oh Gott, Jan!"

"Baby, du hast mich vielleicht erschreckt."

"Scheiße! Du hast mich halb zu Tode erschreckt!"

"Das Licht war ausgestellt. Warst du das?"

Kai schüttelte den Kopf. Jan rieb sich das Schienenbein. "Der Gärtner vermutlich", murmelte er unbestimmt und schob seinem Fahrrad durch die Schuppentür. "Was machst du hier?"

"Bambi ist im Subzero, ich hol ihn da besser mal raus."

"Woher weißt du das?" Neugierig blinzelte Jan ihn an.

"Lukas. Irgendwie ist Bambi mit einem Dealer da, dem er folgt."

Jan machte ein dummes Gesicht und schüttelte den Kopf, als wollte er die Gedanken zu recht rücken. "Was?"

"Lukas. Er arbeitet, verfolgt einen Dealer. Der hat wohl das Bambi angebaggert und ausgerechnet ins Subzero mitgenommen." Kai holte Luft und wedelte mit der Lederjacke. "Ich fahr hin und hol ihn da raus. Dann mach ich Hack aus ihm, dann komm ich zurück ins Bett." Er machte sein pissiges 'was dagegen?'-Gesicht.

Es war komisch, aber Jan runzelte nur die Stirn und rieb sich sein Schienbein. Dann nickte er die Sache ab und holte ihre Fahrräder aus dem Schuppen. "Ich bring dich, aber rein gehe ich da nicht." Das stur gehobene Kinn, als hätte Kai von ihm verlangt, einen Abend lang im Subzero rumzumachen.

"Was?"

Jan lächelte nachsichtig. "Baby. Es ist dunkel, es ist Sommer und die Stadt ist voller Motorräder. Schon vergessen?"

"Scheiße." Das hatte Kai in der Tat. Er hatte es komplett vergessen. Und im Subzero war Ledertag, sozusagen der Tag der Motorräder. Scheiße! Er atmete einmal durch, schloss die Augen und machte noch eine Atemübung, dann war sein Puls wieder stabil. "Okay. Danke. Lass uns bloß losfahren. Lukas schien total angespannt, es schien ihm wichtig zu sein, das Bambi los zu werden."

Als Jan etwas von 'blöder Bulle' murrte, erinnerte Kai ihn, spitzer als notwendig, daran, dass dieser blöde Bulle ihnen in knapp drei Wochen die Bleibe in Spanien stellte.

Sie radelten schweigend durch die schwülwarme Nacht bis kurz vor die Straße, in der das Subzero lag. Im Hintergrund grummelte ein noch nicht sonderlich bedrohliches Gewitter. An der Querstraße vor dem Subzero nickte Jan in Richtung eines Dönerstandes, vor dem auf der Straße vorn noch zwei Tische von Partytypen belegt wurden. "Ich warte dort." Die dunkelbraunen Augen strichen sein Gesicht forschend entlang. "Ich pass auf das Rad auf."

Kai fühlte sich komisch. Dankbar und zugleich etwas gereizt davon, dass er Jan in so eine Sache reinziehen musste: "Hey, Jan?" Er trat dichter zu seinem Freund und küsste ihn auf die Wange. "Danke." Ihre Blicke trafen sich und Kai sah, dass Jan an den kurzen Streit über das Ausgehen denken musste.

Im nächsten Moment meinte Jan auch passend mit einem seiner Killer-Lächeln "Baby, ich nehme dich nächstes Mal beim Wort, wenn du lieber mit mir im Bett bleiben willst. Der Abend war doof..., ohne dich."

Kai blinzelte. Die Einsicht war es gar nicht mal. Es war das leise 'Ohne dich', das ihm gefiel. Viel zu gut gefiel. Kai bemerkte sein dämliches Lächeln, als Jan mit einer rauen Fingerspitze über seine Lippen strich. Im nächsten Moment sehnte Kai sich nach einer Knutscherei, nach ihrem Bett, nach einer Tür, die sie schließen konnten und fest schließen würden.

Einen romantischen Moment hatte er nicht kommen sehen und musste sich etwas fangen, bevor er leichthin erwiderte. "Ein Abend im Bett mit mir ist besser als alles auf Welt, Jan, das weißt du doch."

Jan lachte und küsste Kai noch einmal sachte auf den Mundwinkel. "Hm. Ich weiß. Ich esse drüben was, lass dich nicht anbaggern." Mit einem Klaps auf den Po schickte Jan ihn auf den Weg.

174

Kai seufzte abgrundtief und zog sich die Lederjacke über, während er in Richtung der dumpfen Klänge aus dem Subzero wanderte. Lukas lehnte vor der Tür neben einer Galerie schwerer Motorräder und rauchte. Er trug eine Lederhose, schwere Stiefel und nichts als seinen geil trainierten Oberkörper dazu. Um den Hals trug er merkwürdigerweise ein eng geknotetes Halstuch. Das war sonst nicht sein Stil. Er nickte Kai knapp zu und winkte ihm. Kai seufzte und folgte seinem Ex, ohne Rückfragen. Sie sprachen kein Wort auf der Treppe. Es fühlte sich komisch an, so zu schweigen.

Mit einer Hand auf dem unteren Rücken schob Lukas Kai zur Kasse, bezahlte für ihn und wechselte mit dem Türsteher ein paar Worte zum Wetter, weil der Typ etwas Angst hatte, dass sein Motorrad vor der Tür nass werden könnte. Dank Lederjacke bekamen sie Rabatt, der Eintritt war dank Lukas' Mitgliedschaft auch nicht mehr der Rede wert, aber Kai musste dafür ohnehin nicht aufkommen.

Zwei ältere Männer mit gepflegten Bärten und beneidenswert trainierten Oberarmen, auf denen sie identische Tätowierungen von einer Heiligenfigur zur Schau stellten, schwitzten sich in Lederhosen vor ihnen in die Tiefen des Clubs hinunter. Beide kannten Lukas. Und das Geplänkel zwischen ihnen ersetzte eine erzwungene Unterhaltung mit Kai, für die er ohnehin zu müde gewesen wäre. Gähnend befreite er sich, unten angekommen, sofort von der Lederjacke und gab sie an der Garderobe ab, obwohl das preislich nicht ohne war und mit einem unerwünschten Getränkebon einher ging.

Er stellte auf dem Weg zur Bar, um den Bon sofort in Cola umzusetzen, seine Ohren auf Durchzug und Taubhei. Leider konnte er die Nase nicht abstellen. Überall nahm Kai diverse Dinge wahr, auf die er keinen Wert legte, teils immerhin angenehm. Das neue Aftershave von Lukas, war es ein Geschenk von Noppi gewesen? Gleich verbot Kai sich Gedanken über den Grund für das neue Aftershave. Das frische Pfefferminz vom Kaugummi des Barkeepers schien dasselbe zu sein wie das des Typen an der Garderobe, der ihm mit dem Abriss für die Jacke und dem Getränkebon noch ein Kondom zugeschoben hatte.

An der Bar nahm Kai auch den kitschig-süßen Geruch aus dem Glas des grenzlegal jungen Typen wahr, der ihn aus dunklen Augen unangenehm intensiv über den Barspiegel betrachtete, während er an der Bar lehnte und dank zu knappem Top sein Tattoo auf der Hüfte zeigte. Das Tattoo hatte Kais Blick auf ihn gelenkt und vielleicht auch das Blickduell ausgelöst. Es war eindeutig eine Arbeit von Tanja. Die Ornamente um das eigentliche Bild herum erkannte Kai sofort wieder. In dem recht hellen Licht hier oben konnte Kai den dunkelbraunen Drachen deutlich ausmachen, der sich über die fast weiße Haut am Rücken ausbreitete. Die Krallen waren beinahe plastisch, wirkten in die Haut gekrallt. Vielleicht sollte Lena sich diesen Drachen einmal näher ansehen.

Der Junge war hübsch, auf eine abgehobene Art, die vermutlich zu weiten Teilen daher stammte, dass er seine großen Augen sicherlich mit irgendwelcher Schminke betonte. Niemand konnte solche Wimpern haben. Außerdem strahlte er eine freche Schutzlosigkeit aus, die vielleicht auch daher rührte, dass er recht schmal gebaut und sogar kleiner noch als Kai war, aber zugleich keinem Blick auswich.

Aber es roch umher leider auch nach Schweiß und feuchtem Leder, viel davon. Angeekelt blickte Kai sich um. Lukas sprach noch immer nicht mit ihm, wartete nur mit suchend in die kleine tanzende Menge gerichtetem Blick, aber die dumpfe Musik umgab sie auch derart aggressiv, dass Kai ebenfalls nicht dagegen anschreien wollte.

Es war nicht nur warm im Club. Es war drückend heiß und schwül, wie in einem Regenwald. Obwohl neben dem DJ-Pult Ventilatoren den Disconebel durcheinander wirbelten, stand die Luft fast. Auf der etwas erhöhten Barebene war das mehr als unangenehm. Überall standen Männer in kleinen Gruppen zusammen. Man musste durch sie hindurch, wie durch einen Dschungel, um voran zu kommen. Kai kam sich schon nach wenigen Schritten wie in einer Dampfsauna voller Raubtiere vor. Erschaudernd begann er sich wie Beute zu fühlen, als ihm Blicke auffielen, zum Teil stumme Aufforderungen. Wie immer, wenn er in Discos oder auf Partys geriet, fühlte er sich belästigt.

Mit Zeichensprache navigierte Lukas Kai zur Tanzfläche, zwischen den wenigen Tanzenden hindurch, die Sitzgruppe dahinter verschwand fast im tropischen Nebel aus den Maschinen hinter dem DJ-Pult. Zwischen dem Pult und der Sitzgruppe ging es in den Darkroom. Im Spiegel an der Wand, der die Illusion eines deutlich größeren Raums erstellte, konnte Kai sehen, wie er sich versteifte, stockte. Er sah die Abneigung in seinem Gesichtsausdruck. Der Durchgang wirkte mit einem Mal wie ein bedrohlicher Rachen. Kai starrte, und wollte nicht hinein, auch für das Bambi nicht. Eine Hand an seinem Hintern ließ ihn zusammen zucken. Lukas nickte noch einmal in Richtung des Raums, dieses Mal mit deutlicher Ungeduld. Etwas stimmte nicht, es schien Kais Schuld zu sein, jedenfalls bekam er instinktiv ein schlechtes Gewissen.

Kai versuchte sich zusammen zu reißen und atmete tief durch, musste gleich darauf husten und ließ sich von Lukas auf den Rücken klopfen. Sie gingen rasch in Richtung des düsteren Raums. Die schwache Beleuchtung erhellte ausreichend Personen umher, die meisten schienen zugedröhnt zu dösen oder zu knutschen. Niemand war mit Schlimmerem beschäftigt. Für Sex war es vielleicht zu warm und stickig, vielleicht auch noch etwas früh.

Noch während Kai mit tränenden Augen hustete, entdeckte er die ihm bekannten Ökoschuhe in einer hinteren dunklen Ecke. Bardo schien halb auf einer Bank zu liegen. Kai sah unsicher zu Lukas rüber und der grinste wie ein Haifisch. Im nächsten Moment knutschte er Kai, kniff ihn derb in den Hintern und schob ihn rüber zur Sitzecke, bevor er wieder im Nebel verschwand.

Kai tappte in die Ecke hin, sah dass Bardo nicht allein war und wollte dann gleich seinen Muttimodus ausleben. Er holte schon Luft, aber die Worte kamen nicht, weil er erschrak, als er merkte, dass etwas nicht stimmte. Bardo lag in der Ecke, hatte einen Arm über das Gesicht gelegt und ein Typ fummelte an ihm rum. Aber Bardo reagierte nicht, schien zu schlafen oder zu dösen oder... Kai blinzelte mit schmalen Augen, dann trat er abrupt dichter und umfing Bardos Handgelenk.

Der Typ starrte ihn an und schob an seiner Schulter: "Hey! Gehts noch?! Such dir deinen eigenen Fick, du Arschloch!"

Kai blinzelte besorgt, beachtete den bescheuert motzenden Kerl nicht weiter, sondern schob sich zwischen ihn und Bardos Körper. Er fühlte nach dem Puls, dieses Mal an seinem Hals. Scheiße, der Puls schien voran zu stolpern, dann wieder zu pausieren, vielleicht lag es aber auch an Kais eigenem, ein wenig holperigen Herzschlag. "Scheiße!", Kai fuhr zu dem Mann herum.

Ein attraktiver Typ mit perfekt fallenden, nur wenig verschwitzten Haaren und einem weichen Mund, der fast gemalt aussah. Sein Körper war in Topform. Der Mann hatte kein Hemd an und konnte sich das heraus nehmen genau wie Lukas. Eine Kette aus Perlen und einem Kreuz baumelte schwarz auf der gebräunten Brust, ohne affektiert zu wirken.

Seine Überraschung ausnutzend, fuhr Kai ihn an: "Was hast du ihm gegeben?! Wieso ist er so daneben?!"

"Hey, chill mal, Püppi. Nix Dolles, nur ein wenig zum Spaß haben."

In diesem Moment bemerkte Kai, dass Bardos Jeans auf stand und er fuhr wieder herum. "Chill mal? Chill mal?! Das nennst du Spaß? Du Arschloch! Ist dir klar, dass der Junge gerade fünfzehn ist?! Fünf-zehn! Scheiße!" Kai kniete sich auf den ekelig klebrigen Boden. Seine Jeans würde er auf jeden Fall tüchtig bleichen, vielleicht aber auch einfach nur verbrennen, sobald er hier raus war. Das musste doch unhygienisch sein. Wie abturnend! "Bardo? Verdammt noch mal, Bardo!" Unsanft klopfte er ihm auf die Wange.

"Was hat er genommen, du Arschl...", Kai blinzelte umher, der Typ war verschwunden. Kai konnte ihn noch in ein wenig Entfernung mit dem Handy fummeln sehen, dann war er auch schon fort. Das war erstaunlich schnell gegangen. Verdächtig. Kai sollte lieber machen, dass er mit Bardo hier raus kam, bevor der Arsch mit Verstärkung zurückkehrte.

Zum Glück wachte das Bambi in diesem Moment halbwegs auf. Blinzelnd sah er Kai an und grinste dann blöde. "Kai? Wie kommscht dunhier heeer?"

Kai seufzte und verdrehte die Augen, schob an Bardos Schulter und sah sich noch einmal um. Niemand schien auf sie zu achten. "Bardo, was hast du genommen, verdammt?!"

Bardo kam unsicher blinzelnd hoch, sackte aber gegen die Lehne der Bank zurück und kichert. "Nühüscht, Kai. Isch nehm doch nüscht", brachte er zwischen den Zähnen hervor, dann kicherte er wieder, ein wenig irrsinnig.

"Komm jetzt. Wenn du hier gefunden wirst, gibt es einen riesenhaften Ärger. Komm schon, Bambi, hoch mit dir!"

Bardo lachte leise und ließ sich auf die Bank zurück sinken. Kai zerrte an seinem Arm, aber Bardo war einfach zu schwer und unhandlich, er bekam ihn nicht einmal auf die Füße. Fluchend überlegte Kai, ob er Lukas wiederfinden konnte, oder einfach einen der Typen im Raum um Hilfe bitten sollte. Bardo rutschte in die halb liegende Position zurück.

Ein unbekannter Retter half Kai im nächsten Augenblick ungefragt. Ein für den Lederabend unglaublich unpassend gekleideter Mann tauchte aus dem Nebel auf und nickte Kai knapp zu, dann half er ihm wortlos, dafür aber ungemein routiniert dabei, Bardo aufzusetzen und gleich darauf in die Senkrechte zu bringen.

Kai warf einen kleinen Seitenblick, während er Bardos Hosenknopf schloss. Ihr Retter war etwas kleiner als Bardo, aber natürlich noch immer größer als er selber, ziemlich stabil gebaut. Sein hellblondes Haar war sehr kurz geraspelt, das Gesicht ließ sich in den Schatten kaum ausmachen. Aber er war kräftig und kannte sich mit dem Bewegen von Menschen aus, vor allem von nahe an bewusstlosen Menschen. Mit anscheinend spielerischer Mühelosigkeit brachte er Bardo dazu, sich hinzustellen und stabilisierte ihn mit einem Arm um die Hüfte. Kai übernahm die andere Seite. Gemeinsam asteten sie den eher unwilligen Jungen aus dem Raum in Richtung Tanzfläche.

Sie kamen am DJ-Pult vorbei und Kai warf im Licht der Scheinwerfer noch einen kurzen Seitenblick. Der Mann sah unheimlich jung aus, aber das konnte täuschen. Die Sicherheit seiner Bewegungen passte nicht zu Einem, der noch minderjährig war und nicht hier sein durfte. Außerdem passte es nicht zu der Sicherheit, mit der er zum Lederabend vollkommen untaugliche Klamotten trug. Ein verschwitztes T-Shirt, mit Lego-Bild als Aufdruck, und eine schmale Brille, die Kai erst auffiel, als sie mit Bardo in ihrer Mitte zur Tanzfläche kamen und die Gläser kurz einen Lichtstrahl reflektierten.

An der Treppe zur Bar rauf schob der Retter den taumeligen, aber nun immerhin wachen Bardo zu Kai in den Arm und nickte ihm noch einmal zu.

Kai lehnte sich dichter:"Danke. Allein hätte ich das nicht geschafft."

Der Typ nickte und betrachtete Bardo schweigend, dann lehnte er sich noch einmal dichter: "Ich kann nicht mit rauskommen. Gib ihm viel Wasser, dann wird das wieder." Er sprach flach, desinteressiert, wartete keine Antwort ab, sondern wandte sich fort und verschwand im Nebel. Breite Schultern und helles Haar tauchten unter und weg war der Retter. Weg war auch Bardo, nämlich in die Mitte der Tanzfläche getaumelt, wo er entzückt herum wippte, mit seinen langen Armen um sich wedelte und lachte.

Kai stapfte schimpfend zurück und zerrte experimentell an seinem Arm. Bardo zerrte zurück, wie ein schlecht erzogener Hund an der Leine. Und so begann eine pausenlose, teils unverständliche Diskussion von Bardo mit Kai, der sich erst mit seinen langen Beinen überall hin sperrte, dann zugedröhnt kaum die Treppen bis zur Bar schaffen konnte und anschließend nur im Schneckentempo weiter ging, so dass Kai, weiter vorn an seinem Arm zerrend, nur hin und wieder verstand, was das Bambi da lamentierte, und noch seltener antwortete.

Das einzig gute am Subzero war der Umstand, dass der Laden kaum mehr als die Größe eines ambitionierten Wohnzimmers hatte. Kai schleifte Bardo am Handgelenk zerrend, teils an den Schultern schiebend, weiter durch den Raum. Die Menge anderer Typen waberte um sie herum, der Schweiß der nackten Körper mischte sich mit ihrem eigenen und Kai ekelte sich. Mal wieder war er sich sicher, dass er nie wieder ins Subzero gehen wollte. Das musste doch unhygienisch sein, allein hier einzuatmen!

Bardo konnte gehen, aber es war mühsam, ihn zu navigieren. Dauernd blieb er stehen und kicherte, oder sah sich fasziniert um. Der Beat umwaberte Kai, der Nebel machte ihm Kratzen im Hals und die Hitze hatte seine Schweißdrüsen derart animiert, dass er sein T-Shirt würde auswringen können. Lukas war schlau genug gewesen, einfach darauf zu verzichten.

Mühsam brachte Kai Bardo zur Garderobe rüber und verhandelte mit dem Typen dort, um seine Jacke zurück zu bekommen, obwohl er den Bon nicht mehr wieder fand. Es dauerte eine Weile, weil schwarze Lederjacken trotz der Hitze reichlich abgegeben worden waren. Bardo zerrte derweilen an seinem Handgelenk, drehte sich zum Raum zurück und verharrte an der Treppe. Er begann ein wenig taumelig im Rhythmus mit zu wippen. Ungeduldig schob Kai ihn wieder ein Stück vor sich her. Um sie her lachten einige Typen mitleidslos. Ein älterer Mann half Kai mit Bardo für die paar Schritte zur Garderobe zurück, aber verschwand dann wieder, am weiteren Schicksal uninteressiert.

Mit dem Bambi an der Hand, hin und wieder den Puls tastend, strebte Kai mehr oder weniger erfolgreich auf den Ausgang zu und zerrte Bardo dann mit mehr und mehr Schwung weiter die Treppen hinauf auf die Straße raus. Doch dort bockte Bardo mit einem Mal herum, gerade als Kai sein Handy zückte, um Jan anzulocken.

Bardo blieb stehen, den aus der wilden Anfangszeit noch bekannt sturen Ausdruck im Gesicht: "Ich... ich bin nicht allein hier, ich will wieder rein."

"Eben gerade warst du allein. Dein Typ hat dich sitzen lassen, weil du zu jung bist."

"Was, aber wo ist er hin?"

"Abgehauen. Ein Fremder hat uns eben geholfen."

"Was?"

"Komm, Bambi. Ich bring dich nach Hause."

"Nein! Ich..."

"Scheiße, Bardo! Was hast du denn genommen?! Das ist doch gar nicht deine Art, so einen Mist zu machen!"

"Genommen?" Leicht schwankend dachte Bardo nach. Dann sah er auf ihre Hände hinunter und grinste freudig. "Du bist... gekommen."

"Ja. Aus dem Bett, du völlig verblödeter Teenager! Um dich zu retten!"

"Retten? Wovor? Andi wollte doch nur mit mir...". Er sah sich um.

"Mit dir ficken wollte der. In der Disko! Dein Andi ist ein Dealer. Er hat dir was gegeben. Weißt du, was es war? Erinnere dich, verdammt!"

Bardo stockte. "Was? Nein. Ich bin nur... Alkohol nicht gewohnt", murmelte er unsicherer werdend und blickte sich wieder um.

Ihre Hände wurde schweißig und unangenehm, es wurde ekelig, sich zu berühren. Kai wollte Bardos Hand aber zugleich nicht los lassen, weil er fürchtete, dass der Junge dann sofort umdrehen und wieder ins Subzero traben könnte. Aber auch Bardo war vom Händchen halten mit einem Mal genervt. Er befreite sich und verschränkte die Arme abwehrend.

"Kai! Ich bin kein Kleinkind, okay?!"

Eine Gruppe Männer kamen die Treppen herauf, in eine noch durch die Discolautstärke etwas zu laute Unterhaltung vertieft zogen sie ihre Lederjacken an. Sie traten zu schweren Motorrädern und setzten Helme auf. In der Unterhaltung ging es um das drohende Gewitter. Einer wollte noch eine rauchen, die anderen wollten lieber los. Wie sie es in den Ledersachen aushalten konnten, war Kai schleierhaft. Ihm lief der Schweiß über den Rücken und das Gesicht und er fühlte sich nahe am Gewitter einer ganz anderen Art. Betont ruhig drehte er sich wieder zu Bardo um.

Bardo holte Luft. "Du nimmst mich nie ernst, Kai. Wieso darf ich nicht, wie alle anderen auch weg gehen?"

"Weg gehen?! Du spinnst wohl! Geh verdammt noch mal in einen Laden, in den du auch rein darfst!"

Bardo hörte ihn nicht wirklich, sondern jammerte an seinem T-Shirt zerrend. "Wenn es dir egal ist, dass ich allein los muss, dann kann ich ja wohl auch...".

"Auf keinen Fall! Hörst du?! In deinem Alter geht man ins Kino, ins Eckchen oder so und nicht in das Subzero in den Darkroom!" Aufgebracht versuchte Kai Bardo mit sich zu schieben und ziehen.

Wie ein langbeiniger sturer Esel sperrte der Junge sich in alle Richtungen. "Du willst nur nicht, dass meine Mutter dir die Schuld gibt, wenn ich...".

"Bardo! Lass bloß deine Eltern da raus!" Kai sah sich um, ob er Jan entdeckte.

Die Typen auf den Motorrädern drehten sich zu Kai um und starrten interessiert. Vielleicht hofften sie auf ein wenig Drama zum Abschluss des Abends. Sie grinsten einander an und zogen sich ihre Schutzkleidung betont langsam über. Der Raucher hatte gewonnen und steckte sich eine selbstgedrehte Zigarette in den Mundwinkel. Sein Grinsen nervte Kai und er begann die Situation peinlich zu finden.

Er schloss kurz die Augen, dann holte er zugleich mit Bardo Luft. Bardo war schneller und jammerte "Ich will auch ein Leben, ich will nicht mehr allein sein!"

Und Kai zickte fast zugleich: "Du machst mein Leben zur Hölle, du scheiß Teenager!"

"Dann hau doch ab, Kai! Wenn ich dir so peinlich bin!"

"Ich sorg erst mal dafür, dass du nach Hause kommst!"

"Ich hab gesagt, dass ich bei dir übernachte."

"Ach!"

"Wenn du mich nicht willst, dann...".

"Gut, komm endlich mit, du Dramaqueen!"

"Nein! Jetzt will ich nicht mehr. Jetzt bist du sauer und ich bin...", Bardo versuchte Kai von sich zu schupsen. "... ich bin...". Die Unterlippe bebte und Bardos Rehaugen füllten sich mit teils trotzigen, teils überemotionalen Tränen.

Kai stellte fest, dass er dagegen noch immer nicht immun war. Er schloss die Augen, dann verschränkte auch er die Arme, aber sagte ruhiger: "Ich bin nicht sauer."

"Doch! Immer mach ich alles falsch!"

"Na ja, da ist grad was dran."

"Du kannst mich doch eh nicht mehr leiden. Wenn du jetzt immer nur sauer auf mich bist, dann...".

"Nein, ich bin nicht sauer, ich bin froh, Bambi. Ehrlich."

"Was?"

"Ich bin froh, dass ich dich rechtzeitig gefunden hab." Kai zog den Jungen am T-Shirt-Kragen mit einem kleinen Ruck zu sich runter und küsste ihn einmal schnell auf den zum weiteren Protest geöffneten Mund. "Komm jetzt. Peinlich diskutieren können wir auch bei uns in der Wohnung."

Bardos Augen wurden aufgerissen, dann blinzelte er unstet und sein Körper erschlaffte. Er sah Kai in die Augen und grinste blöde.

Mit einem leisen Seufzen ergab Kai sich dem Bettelblick und hob das Kinn etwas. Mit den Fingern in die verschwitzten Haare vom Bambi gegraben zog er ihn noch einmal zu sich herunter. Bardos Augen schlossen sich, als ihre Lippen sich berührten. Sie küssten sich nicht lang und auf keinen Fall war es romantisch, doch Bardo blinzelte Kai unsicher an und Kai sah, dass er gewonnen hatt:. "Ich mach das, weil ich dich mag. Schon vergessen, du kleiner Idiot? Komm. Endlich. Mit!"

Bardo blinzelte Kai in das erhitzte, wütende Gesicht, dann nickte er unstet und folgte ihm tatsächlich. Im Hintergrund murmelten die Motorradtypen ihre Zustimmung zu der Show. Im nächsten Moment grollten zugleich die Maschinen und das Gewitter am Himmel. Aber die Motorräder entfernten sich über die Hauptstraße und Kai hatte keine Angst. Er war zu erschöpft dafür, jedenfalls nahm er das an.

Jan hockte mit Blick auf ihre Fahrräder an einem der zwei Plastiktische des Kiosks und Dönerstandes und futterte Falafel und Salat, ein großes Wasser stand vor ihm, zur Hälfte geleert. Er grinste ihnen entgegen. "Na, Bambi?"

Bardo schmollte und schob die Finger in die Jeanstaschen, weil Kai ihn losgelassen hatte. "Ich bin kein Kleinkind", murrte er leise.

"Hm." Jan beobachtete ihn ein Weilchen, dann sah er zu Kai rüber. "Was hat er genommen?"

Kai zuckte mit den Schultern. "Er weiß von nix, muss im Getränk gewesen sein."

"Ich hab nix genommen!", protestierte Bardo reflektorisch und leerte das Wasser, das Jan ihm anbot, mit gierigen Schlucken, bevor er schwankend auf den leeren Stuhl plumpste.

Jan streckte sich und reichte Kai seinen Rest Essen. "Hier, beiß mal ab, da ist Knoblauch drin, dann kannste mich gleich besser aushalten."

Kai grinste und nahm das Angebot an. Mit einem Mal, vielleicht durch das Adrenalin, war er wach. Außerdem fühlte sich der auffrischende Wind auf seiner schwitzigen Haut herrlich an. Er spürte förmlich, wie er sich erholte.

Jan wandte sich an Bardo und stand auf: "Komm mit. Ich zeig dir mal was." Mit einer Hand zerrte er den Jungen hoch.

Bardo wankte hinter Jan her in die Tiefe des Imbisses. Kai sank in seinen Plastikstuhl, bewachte die Fahrräder und blickte hin und wieder in den schwärzer werdenden Himmel. Im Hintergrund dröhnten erneut Motorräder, aber fuhren erneut von ihnen fort, Kai entspannte sich nach dem Moment des Schrecks wieder und aß Jans restliches Essen vollständig auf.

Wenig später kehrte Bardo mit Jan zurück. Er hatte sein Gesicht gewaschen, die viel zu langen Haare lockten sich feucht um sein bleiches Gesicht. Er sank mit schockiertem Gesichtsausdruck auf den freien Stuhl, während Jan wieder im Imbiss verschwand, um, wenig später, mit noch einem großen Wasser und einer riesigen Portion Pommes zu erscheinen. Er zog Kai an den Händen hoch, ließ sich geschickt an ihm vorbei in den Plastikstuhl fallen und umfing dann seine Hüfte, um ihn zu sich auf den Schoß zu zerren.

Kai nahm eine Pommes, ließ sie zischend wieder fallen, weil er sich fast die Finger daran verbrannte und fragte Jan, über seine Schulter zurück: "Was haste ihm gezeigt?"

Jan grinste ihn von der Seite her an: "Sein Gesicht, im Spiegel hinten."

Bardo starrte stumpf auf das Wasser vor sich. "Ich hab nix genommen."

"Nee. Freiwillig nicht, Bambi. Aber dieser Arsch hatte eben schon die Finger in deiner Hose. Willst du wirklich, dass dein erstes Mal so wird?!" Unbedacht setzte Kai hinzu: "Das ist ein scheiß Start, kann ich dir aus Erfahrung sagen!"

Bardo und Jan starrten ihn an: "Du hast im Subzero dein erstes Mal gehabt?"

Kai spürte eine unangenehme Hitze, dann schüttelte er den Kopf: "Nein! Aber betrunken nach der Disco, nicht wirklich dabei."

Jans Arm festigte sich um seine Schultern: "Iss, Baby. Wir nüchtern Bardo noch ein wenig aus, dann fahren wir nach Hause."

Und Kai konnte förmlich hören, wie Jan in Gedanken hinzu setzte: 'Und Zuhause besorgen wir dir eine bessere Erinnerung an Sex.'

Kai spürte wider Erwarten, wie ihn der Gedanke daran geil machte. Seufzend lehnte er sich an Jan, obwohl er sich dafür zu verschwitzt fand.

175

Zwei Punker mit wild-bunten Frisuren und zerrissenen Jeans zu Badelatschen kehrten in den Kiosk ein, nachdem sie ihre drei Hunde vor dem Laden angebunden hatten. Sie kamen mit einer Flasche Jägermeister und zwei Tüten Gummibärchen wieder und streiften die Drei mit einem kurzen Blick. Bardos Alter schien interessanter zu sein als der Umstand, dass Kai auf Jans Schoß hockte und mit ihm schmuste. Doch dann lehnte einer sich kurz dichter und meinte: "Is nur so 'ne Empfehlung, gleich kommen drei Glatzen hier lang."

Jan blinzelte in die lila-grüne Haarpracht des Redners, dann nickte er träge: "Hm."

Die Punker zogen, samt ihrer Hunde, von dannen. Jan gähnte, streckte sich und schob Kai von sich: "Ich geh pinkeln. Brauchst du noch was?"

Kai schüttelte den Kopf und machte ein Handyfoto von Bardo, der zugedröhnt am Tisch hockte und Schwierigkeiten hatte, nicht einzupennen. Kaum war Jan fort, als die drei erwähnten glatzköpfigen Männer tatsächlich aus Richtung der Tankstelle an der Kreuzung zu ihnen kamen. Sie trugen Tarnfleckhosen und ärmellose T-Shirts, auf den Oberarmen schlecht gemachte Tattoos. Ungemütlich versuchte Kai weiter in den Stuhl zu sinken, unauffälliger zu werden. Doch die Männer diskutierten nur vor sich hin, ob das Gewitter zuschlagen würde: Der Eine moserte, dass die Tanke schlecht sortiert sei. Sie beachteten Kai und Bardo nicht weiter, sondern kehrten in den Kiosk ein und kamen wenig drauf, ebenfalls mit Jägermeister, wieder raus.

Bardo brütete vor sich hin und Jan kam zurück, ließ sich wieder auf dem Stuhl nieder, zog Kai auf seinen Schoß und streichelte ihn unter dem T-Shirt über die Hüfte, während er auf seinem Handy herumtippte. Sachte, wie in Gedanken, aber es steigerte Kais Erregung rascher als angenehm.

Kai war sein Adrenalin aber nach einer kurzen Weile wieder los und spürte bleierne Müdigkeit, die ihn sogar frösteln ließ. Bardo hingegen sank immer tiefer in einen stumpfen Zustand, aus dem heraus er nicht selten angestupst werden musste, wenn er auf eine Frage antworten sollte. Die Fragen, das Verhör von Kai aus, richteten sich natürlich darauf, wo er diesen Dealer getroffen hatte.

Leider war die Auskunft dürftig. Bardo hatte ihn bei Leon getroffen, als dort eine Party am Start war, während Bardo seinen Küchenjob beendete. Eigentlich hatte Bardo schon längst Zuhause sein sollen, aber war dann mit diesem Kerl ins Gespräch gekommen. Der war Anfang Zwanzig, der Kumpel vom DJ für die Party gewesen und hatte Bardo, auf dessen Klagen zum mangelhaften Sozialleben hin, eingeladen, mit ihm in einen Club zu kommen.

"Ich... ich dachte, er meint Stroboskop oder so. Als wir hier angekommen sind, wollte ich keinen Rückzieher machen, aber..." Bardo schielte auf die leere Wasserflasche vor sich und verlor den Faden. Als Kai ihn nach dem DJ fragte, erzählte Bardo zunehmend müde und leicht lallend noch einmal die ganze Sache von vorn. Mit fast denselben Worten. Ermattet gab Kai auf und diskutierte stattdessen, wie sie Bardo nach Hause schaffen konnten.

"In seinem Zustand kann er sicherlich nicht auf dem Fahrrad bis zu uns, oder?" Unwillig blickte Kai von den Rädern zum Himmel hoch. "Länger warten sollten wir auch nicht, regnet sicher gleich wieder." Wie auf Kommando zuckte ein violetter Blitz über den dusteren Himmel.

"Hm. Nee. Besser, wir rufen ihm gleich mal ein Taxi. Ich hol uns aber erst noch einen Absacker." Jan verschwand wieder im Kiosk und laberte fröhlich mit den Betreibern drinnen. Dann kam er mit zwei Bier zurück, eins mit und eins ohne Alkohol, und einer kleinen Dose Prosecco.

Er stellte das Alkoholfreie vor Bardo hin: "Viele Elektrolyte und so. Hau rein, Bambi."

Die Dose Prosecco landete vor Kai, dann zog er ihn wieder auf seinen Schoß.

Kai hatte die Dose gerade etwas unvorsichtig schnell geöffnet und sog hastig den hervorquellenden Schaum vom Rand, als mit einem Mal ein Schatten auf ihren Tisch fiel. Erschrocken blinzelte Kai hoch, aber es war nur der Retter mit den blonden Haaren. Aus der Nähe betrachtet war er nicht gerade hässlich, nur nahezu perfekt hinter seinen Klamotten, dem düster ausdruckslosen Gesicht und der Brille versteckt. Die Klamotten waren wirklich absolut unmöglich. Cargo-Shorts, das peinliche T-Shirt und Wandersandalen. So ging der auf Piste? Kein Wunder, dass er sich die halbtoten Jungs abschleppen musste.

Einen Moment lang starrten sie alle sich schweigend an, dann nickte der Typ Kai zu und fragte an Bardo gerichtet: "Geht es wieder?"

Bardo blinzelte dumm, sah zu Kai und dann zu Jan. "Ja?"

Man konnte sehen, dass die Antwort mechanisch kam, und Bardos Hirn mit anderen Fragen befasst war. Als Muster der Diplomatie und des guten Anstands fragte er, sofort im Anschluss, an Kai gerichtet: "Ehm. Wer issn das?"

Die Frage wurde von dem Rettertypen mit düsterem Starren beantwortet. Kai fiel auf, dass der andere ein für düsteres Brüten nahezu perfektes Gesicht hatte. Ein harter Mund über einem eckigen Kinn, das direkt in Wangenknochen über zu gehen schien. Die Stirn war in Falten gezogen, die hellen Augenbrauen senkten sich tiefer über die schmalen Augen.

Hastig sprang Kai ein, bevor Jan noch etwas Peinliches zu sagen begann: "Bardo, ohne ihn da, hätte ich dich nicht aus dem Subzero schleifen können."

"Oh." Forschend blinzelte Bardo ihn an: "Danke." Er lächelte vorsichtig und noch immer etwas neben der Spur, das Lächeln wurde nicht beantwortet. Unsicher senkte Bardo den Kopf, bekam anscheinend leichtes Ungleichgewicht und sank ganz auf den Tisch nieder. Seine Augen flatterten zu.

Das beeindruckte den blonden Retter nicht sonderlich. Er beugte sich lediglich kurz dichter und sagte dann an Kai und Jan gewandt "Ich bin Jeremiah." Hinter den Gläsern der sportlichen Brille waren seine Augen derart blau, dass Kai unhöflich starrte, während sie einander die Hand reichten.

"So, Jeremiah. Lederabend im Subzero?" Jans Stimme trug eine merkwürdig aggressive Note, sein Blick glitt bedeutungsvoll über die Shorts und das T-Shirt.

Jeremiahs Augenbrauen senkten sich noch ein wenig mehr, dann entspannte er sich und hob die Schultern. "Bin heute der Aufpasser."

"Aha?" Jan angelte mit dem Fuß vom anderen Tisch einen Stuhl heran und reichte Jeremiah kommentarlos das alkoholfreie Bier, nachdem er es aus Bardos schlaffen Fingern hervor gezogen hatte. Bardo schlief, auf dem Tisch liegend, und wehrte sich nicht.

Schweigend rückte der Typ sich den Stuhl zurecht, so dass er nicht zu sehr kippelte, ließ sich kontrolliert darauf nieder und nahm das Bier, um prüfend das Etikett zu studieren. Er schien nichts unüberlegt oder hektisch zu tun. Aus der Nähe und bei Licht betrachtet war er außerdem absurd athletisch mit auffällig muskulösen Schultern und Unterarmen.

Jan hob sein Bier kurz an, sie nickten einander zu und tranken einen Schluck. Der ganze Vorgang schien den düsteren Typen zu entspannen, entspannt machte er Kai zumindest kein so sehr schlechtes Gewissen mehr.

Dann lächelte Jan und sagte: "Du hast unser dummes Bambi gerettet, ja?"

"Hm." Jeremiah nippte noch einmal von dem Bier, dann sah er zu Bardo rüber: "Ist noch nicht alt genug, was?"

"Fünfzehn", sufflierte Kai, als er sah, dass Jan grübelte.

Die Augenbrauen über den schmalen Augen hoben sich kurz, dann senkten sie sich noch eine Idee mehr. "Spinnt der?" Es klang verblüfft.

Bardo schnarchte leise und reagierte nicht. Kai trank hastig von seinem Prosecco, um sein Grinsen zu unterdrücken. Dann seufzte er und gab zu: "Das Bambi macht eben alles etwas extrem."

"Ah." Jeremiah nippte Bier und betrachtete sie. Dann glitt sein Blick zu den Rädern: "Hm. Ihr seid mit dem Fahrrad. Und er auch?"

"Keine Ahnung. Vermutlich nicht. Wir wollten ihn gleich in ein Taxi setzen."

Jeremiah trank noch einen Schluck und lehnte sich zurück: "Ich warte noch auf meine Begleitung. Er wird gleich raus kommen."

Jan blickte auf seine Armbanduhr: "Jetzt schon?"

"Hm. Die Musik ist unangenehm heute. Niemand, der sein Typ sein könnte, war zu entdecken. Das kann nicht mehr lang dauern." Jeremiah leerte das Bier in erstaunlichem Tempo. "Wo wohnt er denn?"

Kai setzte sich gerade hin. "Er kommt mit zu uns."

Jan lachte und nickte: "Besser ist das, sonst tickert seine Mutter vollkommen ab, was Baby?"

Jeremiah holte Luft, aber ein Johlen unterbrach ihn: "Woohooo, du Lattenkönig! Ein Dreier mit überirdisch niedlichem und nicht legal jungem Typen?! Und noch ein Bodyguard dabei, wie geil is das denn?! Du hast es in dir, großer Meister! Besser Novi kriegt das nicht mit, oder?"

Ein etwas zu dünner Mann mit längerem, schwarz gefärbtem Haar taumelte, offensichtlich angetrunken, samt sehr eng sitzender Lederhosen und Netzhemd, zu ihnen. Jeremiah gönnte ihm nicht einmal einen Blick, während er kommentarlos die Arme verschränkte.

"Oh, ein Absacker!" Der Typ kicherte, von Jeremiahs Düsternis unbeeindruckt. Dann zog er sich den letzten freien Stuhl heran und ließ sich darauf sinken. Kai blinzelte ihn etwas genervt an, aber schob reaktionsschnell seine Dose labberigen Proseccorest über den Tisch zu ihm rüber.

Das Angebot wurde angenommen, der Typ kippte die Labberbrause in sich hinein und zerknüllte die Dose in einer Hand. "Huah, das war ja ekelhaft. Gut, dass ich das nicht gekauft hab. Alter, ist das ekelig!"

"Das ist Karsten." Jeremiah rieb sich die Augen, dann fragte er nach kleinem Blick zurück: "Wo ist dein ... Freund?"

Karsten kicherte erneut, es klang böse: "Besoffen eingeschlafen. Wir lassen ihn hier."

"Ah. Ist es aus zwischen euch?" Es klang, als hätte er 'endlich' gesagt. Jeremiah sammelte die kaputte Dose und die leeren Bierflaschen ein und stand auf.

Karsten hob nebensächlich einmal die Schultern, dann meinte er: "Ich hab einen neuen aufgerissen, kommt morgen vorbei oder so."

"Wo ist Novi?" Der Tonfall legte dringend nahe, dass Kalle für sein eigenes Wohl besser mal wusste, wo dieser Novi sein konnte.

"Entspann dich, Jerry. Er hat nur seine Jacke vergessen."

Kommentarlos wandte Jeremiah sich ab und ging in den Kiosk, um die Flaschen zurück zu bringen. Karsten sah ihm kurz nach, dann blinzelte er Kai und Jan an: "Spielverderber, durch und durch spaßfrei." Er starrte wieder. Es dauerte einen kurzen Moment, dann sah Kai das Erkennen in den hellen, schwarzumrahmten Augen. "Ah!" Karsten blinzelte noch einmal: "Wie geil! Du bist er!" Hysterisches Lachen folgte.

Kai stöhnte leise auf und sah sich zu Jan um: "Lass uns fahren. Ruf das Taxi, dann können wir..."

"Nein. Ich rufe jemanden an, der ihn mitnehmen kann." Jeremiah war urplötzlich hinter ihnen aufgetaucht und starrte, gewohnt düster, auf das Bambi nieder.

Karsten sah zu ihm auf und zeigte auf Kai: "Jeremiah! Das ist er, oder?! Das ist er!"

Im nächsten Moment stand der grenzlegale, ziemlich niedliche Typ mit dem bauchfreien Hemd und dem braunen Drachentattoo von der Bar neben ihrem Tisch. Seine schwarze Hose aus Lederimitat war derart eng, dass Kai sehen konnte, dass er Linksträger war und aktuell eben nicht wenig angetörnt. Er hatte schwarzes, sehr dichtes Haar, das ihm etwas verschwitzt ins Gesicht fiel und seelenvolle große Kulleraugen. Faszinierender Weise hatte er sich nicht geschminkt, die Augen waren von natürlich dichten, schwarzen Wimpern umrahmt. Das Tattoo zeigte einen Drachen, der seine Krallen in die schmalen Hüften zu graben schien. Und zum ersten Mal wirkte Jeremiah nicht mehr düster. Er lächelte, allerdings nicht freundlich, eher erleichtert: "Na endlich."

Der Junge blinzelte sie desorientiert an und fummelte an seinem Handy rum. Jeremiah nickte zu ihm rüber: "Das ist Novi. Karsten ist sein Mitbewohner." Es klang, als wollte er sich dafür entschuldigen, dass sie mit dem peinlichen Typen erwischt worden waren.

Novi lächelte, streckte sich gähnend und zeigte mehr von seinem flachen Bauch und dem Tattoo. Jeremiah sagte leise zu ihm: "Der Junge kann so nicht Fahrrad fahren, ein Taxi nimmt ihn vermutlich auch nicht mit. Ruf du bitte Thies an, der müsste noch auf sein. Auf dich wird er nicht sauer."

Novi blinzelte Jeremiah in die Augen, widerstand dem Laserblick mit beneidenswerter Mühelosigkeit, dann gähnte er noch einmal und lächelte: "Ist gut. Dann landen wir doch wieder bei ihm, was? Der gewinnt aber auch immer." Die beiden lachten leise, verwirrt starrte Kai von einem zum anderen.

Rasch war das Telefonat mit dem geheimnisvollen Thies beendet und Novi erklärte Jeremiah weiterhin gähnend: "Thies ist wirklich noch in der Werkstatt gewesen, er ist in ein paar Minuten da."

"Ist gut“, Jeremiah wandte sich an Kai und Jan: "Dann seid ihr uns los."

"Ich schulde dir", meinte Kai langsam: "Echt jetzt. Wenn ihr mal ins LPP kommt, dann geb ich euch einen aus."

Novi starrte sie aus großen Augen an, ließ das Handy sinken und fragte an Jeremiah gerichtet: "Wieso bist du eigentlich mit diesen Typen hier am Abhängen?"

Jeremiah seufzte abgrundtief und hievte, mit Karstens Hilfe, an Bambi herum. Es gelang ihnen nicht, ihn auch nur zu wecken. Während er den Stuhl mit dem schlafenden Bambi etwas herum zerrte, berichtete er in nüchternen Sätzen, dass er mit Kai zusammen dafür gesorgt hatte, dass der anwesende, aber schlafende, für das Subzero noch zu junge, Teenager nicht zu Schaden kam.

Karsten stand ihm dabei mehr im Weg, aber zerrte pflichtschuldig auch einmal hier, einmal dort, an Bardos Schultern oder Armen.

"Scheiße, ist der schwer!" Karsten lachte auf: "Komm, wir lassen ihn hier."

"Nein. Fahr du schon nach Hause, damit deine Eroberung nicht vor der Tür warten muss. Thies wird uns alle mitnehmen. Die zwei Freunde von dem Jungen fahren einfach mit dem Rad." So nüchtern aufgezählt machte alles Sinn, aber Kai fühlte sich dennoch, als müsste er etwas einwenden. Einfach der ruhigen Emotionslosigkeit in Jeremiahs Stimme wegen. Etwas daran reizte ihn.

"Hm., Novi holte Luft, aber entließ sie dann wieder. Seine schlanken Hände spielten unablässig mit dem Handy, dann blickte er Kai forschend an, blickte wieder auf sein Handy, dann wieder auf Kai. Endlich meinte er dumm an Karsten gewandt: "LPP sagst du? Jerry, ist das etwa...". Hilflos blickte er vom Düstertypen zum wieder so peinlich lachenden Karsten.

Gereizt verschränkte Kai die Arm.: "Ja. Bin ich. Außerdem sitze ich mit am Tisch, falls du es noch nicht bemerkt hast!"

"Novi! Das Glück ist dir hold, mein Süßer. Deine Wichsvorlage in Lebensgröße. Geil oder?" Kalle kicherte.

Kai spürte, dass er knallrot wurde, vor Wut und Scham zugleich.

Jan holte schon Luft, aber kam nicht dazu etwas zu sagen, denn Novi beugte sich dichter, blinzelte Kai direkt in die Augen und sagte seelenvoll: "Ich hab mich nicht getraut, dich im LPP anzusprechen, aber du bist so geil. Ehrlich."

Kai blinzelte dumm, konnte diesem Bambi-Blick nichts entgegensetzen. Er öffnete und schloss den Mund einmal, ohne zu wissen, was er sagen sollte. Tat auch nicht Not. Novi nahm Schwung auf und führte aus, dass er Kais Bild zum Anlass genommen habe, über sein Leben nachzudenken. Wie das gekommen sein mochte, war, nach langer Rede, weiterhin nicht klar. Novis Gründe für oder wider Gedanken um sein Leben waren sehr verworren. Es kam verdächtig oft Sex in den Ausführungen drin vor.

Am Ende verkündete er begeistert :"Jetzt kennen wir uns, da werde ich auf jeden Fall vorbei kommen, wenn du arbeitest. Jetzt darf ich mit dir mal reden, nicht wahr? Oder bist du da nicht mehr? Oh nein! Du bist nicht mehr da, oder? Ich hab dich schon länger nicht mehr gesehen. Du bist schon nicht mehr da!" Verzweiflung stand in seinem Gesicht geschrieben.

Es war so übermäßig dramatisch, dass Kai hastig erwiderte: "Doch, doch, doch. Ich hab nur Urlaub. Ich bin im Herbst wieder da."

Dies führte zur Begeisterung, die kaum angemessen erschien und Jan, der bislang eher amüsiert gegrinst hatte, agressiv stimmte. Seine Finger gruben sich fast schon schmerzhaft in Kais Hüfte, so dass er sich gerade heraus winden wollte, als Novi sagte: "Und dann hat so ein Traummann auch noch einen Freund." Er beugte sich an Kai vorbei und sah Jan an: "Biste doch, oder? Sein Freund? Du bist so... besitzergreifend."

Es klang, als hätte er etwas Erotisches gesagt und Kai wurde heiß und kalt.

Jeremiah rettete sie im nächsten Moment, indem er Novi am Handgelenk packte und zu sich herum zog. "Pax! Benimm dich gefälligst." Er sah über Novis schmale Schultern und sagte etwas abweisend: "Es tut mir leid." An Novi gewandt verkündete er düster: "Darüber reden wir morgen, klar?"

Leider antwortete Novi, lasziv zu ihm aufblickend: "Oh, ja. Oder schon heute? Lass uns darüber doch heute reden, Jerry!" Es klang schon wieder wie ein unmoralisches Angebot.

Karsten brach im nächsten Moment peinlich lachend am Tisch zusammen. Zu ihrer aller Glück hielt in diesem Moment ein schwarzer Lieferwagen mit goldener Aufschrift vor ihnen. Novi sprang auf und winkte begeister:t "Huhu, Thiehiiies!"

Ein kräftiger, wirklich großer Mann mit dunklem, kurzgeraspeltem Haar, das an den Schläfen schon leicht von Grau durchsetzt war, kletterte aus der Fahrertür. Er trug Arbeitskleidung aus schwarzem Cordstoff und ein T-Shirt. In den Beintaschen der Hose steckten ein paar Werkzeuge und ein Bleistift, so dass Kai annahm, dass er die Sachen nicht nur aus Macke trug. Sein Gesicht war offen, freundlich und zeigte um die Augen in Form reichlicher Lachfältchen, dass der Ausdruck von Fröhlichkeit nicht nur Show war. Ein gepflegter Bart umgab den Mund, betonte die kräftigen Lippen noch mehr, die sich nun zu einem breiten Lächeln verzogen.

"Na? Konntet ihr doch nicht einen Abend ohne mich auskommen?" Er blickte Novi in die Augen, man konnte deutlich sehen, dass die zwei was hatten. Im nächsten Moment warf Novi sich ihm in die Arme und kletterte schon fast an dem deutlich größeren Mann hoch, um ihn mit einer echt peinlichen Knutscherei zu verschlingen. Jeremiah verschränkte ablehnend die Arme und brütete düster. Kai und Jan blickten hilflos zu ihren Fahrrädern, zu Bardo und wieder zu den Fahrrädern. Kai wünschte sich in sein Bett zurück, oder zumindest weg von diesen peinlichen Typen.

Karsten verdrehte die Augen und schnarrte genervter als notwendig: "Natürlich musst du für Novi rackern, Thiesilein. Er und Jerry haben so einevollgepumptes Jungchen gefunden, schaff es weg." Mit einer Hand wedelte er leger herum und ruinierte die Stimmung.

Thies' offenes, eben noch glückliches, Gesicht verdüsterte sich. Nebensächlich stellte er Novi wieder auf die eigenen Füße: "Was?!"

Jeremiah trat zu dem schlafenden Bardo und legte mit einer fast beschützenden Geste eine Hand auf seine Schulter. "Nicht was du unter Umständen denkst. Er hat etwas in seine Cola bekommen, das hat ihn erst unzurechnungsfähig werden lassen und jetzt in einen ziemlich tiefen Schlaf versetzt. Wir haben ihn bis hierher bekommen, jetzt bekommen wir ihn nicht mehr wach."

"K.O.-Tropfen?"

"So etwas in der Art, das denke ich auch."

Thies fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über den Bart, eine Bewegung, die nach langjähriger Gewohnheit aussah. Dann nickte er und trat zum Tisch, um Jan und Kai die Hand zu reichen: "Thies von der Beek." Kai schüttelte mechanisch die angebotene Hand und murmelte ihre Namen, die Finger fühlten sich rau und kräftig an, der Händedruck unangenehm fest. Es war klar, dass Thies der richtige Mann für diese Nummer war. Dann schritt Jan zur Tat, gab dem Mann ihre Adresse, knipste den Lieferwagen, das Kennzeichen und Thies mit dem Handy und verkündete, dass sie fahren sollten, bevor das Gewitter loslegte.

Endlich traten Jeremiah und Thies zum pennenden Bardo, um den Transport zu planen. "Hm. Ist zwar nicht so sicher wie im Sitz und angegurtet, aber legen wir ihn doch hinten rein, oder?" Thies öffnete die Tür am Lieferwagen. Die Ladefläche war im Wesentlichen leer. "Ist ja nicht weit zum Wald rum und ich hab hier noch die Packdecken von der Kommode. Durch das Fenster kann Novi ihn im Blick behalten."

Jeremiah nickte das ab, ohne Kai zu fragen. Novi stand hilflos dekorativ daneben. Der peinliche Kalle verabschiedete sich, aber verharrte noch für die Show.

Thies wandte sich an Bardo, rüttelte ihn kurz, bekam ihn auch nicht wach und hob ihn dann einfach hoch. Er umfing ihn im Bereich der Hüfte und an einem Arm und warf ihn sich mit scheinbarer Mühelosigkeit über die Schulter, um ihn die wenigen Schritte zum Lieferwagen zu tragen, als hätte er einen Sack Kartoffeln aufzuladen. Beim Hinlegen ins Auto half Jeremiah ihm erneut mit fachmännischen Handgriffen. Kai erkannte eine perfekte stabile Seitenlage, als die zwei fertig waren. Jeremiah kannte sich auf jeden Fall aus mit der Ersten Hilfe. Novi hampelte neben ihnen von einem Bein aufs andere und meinte kichernd, dass Thies wirklich stark wie ein Bär sei.

Kai stand mit offenem Mund daneben und bewunderte ebenso, wie kräftig manche Leute waren. Er hätte Bardo im Leben nicht aus dem Stuhl hoch gebracht. Während Novi in den Wagen kletterte, wandten Jeremiah und Kalle sich ihren Fahrrädern zu. Kalle wurde kaltherzig mit einem: "Bis morgen oder so“, verabschiedet, dann rollte der Lieferwagen los und Jeremiah schob sein teuer wirkendes Rennrad neben Jans. "Ich komme noch mit zu euch. Es wird sonst nicht lustig mit dem Transport des Jungen in die Wohnung."

Jan nickte und führte aus, dass es noch drei Etagen waren, ohne Fahrstuhl. "Heute bereue ich das zum ersten Mal. Hätte das vielleicht doch einbauen lassen sollen."

Jeremiah winkte ab: "Thies ist sehr stark. Er schleppt oft Möbel in Wohnungen hoch. Er schafft das sicherlich." Dann schwang er sich auf sein Rennrad und ließ Jan und Kai im nächsten Moment stehen. Scheiße, war der fit!

Jan nahm die Herausforderung mit glühendem Blick sofort an und Kai versuchte halbwegs den Anschluss zu halten. Als er, keuchend und vollkommen verschwitzt, mit Frühmuskelkater, Zuhause angekommen war, schob Jan sein Fahrrad gerade in den Schuppen und nahm ihm seines auch ab.

Kai musste sich die Seiten halten und konnte nicht sprechen, war schweißgebadet und kurzatmig. Jeremiah tippte vollkommen ruhig und normal atmend Bardos Namen und Handynummer in sein Telefon ein und sah in Bardos Handy offenbar die Kontakte nach Überschneidungen mit seinen eigenen durch. Kais Beine brannten und er wusste schon jetzt, dass Bardo echt dafür würde zahlen müssen.

Vor dem Haus wartete Thies bereits mit dem noch immer tief schlafenden Bardo im Wagen und dem von einem Bein auf das andere tretenden Novi: "Ich müsste mal, darf ich euer Klo benutzten?"

Kai seufzte, schloss auf und keuchte noch: "Dritter Stock. Ich bin nicht so schnell, musste gerade ein Radrennen überleben", bevor er von Jan, Thies und Jeremiah mit dem schlafenden Bambi überholt wurde.

Novi kicherte: "Jeremiah kann nicht langsam machen. Wirklich schrecklich, dass der so fit ist." Gemeinsam tappten sie die Treppen in den dritten Stock hoch. Jan, Jeremiah und Thies trugen Bardo und unterhielten sich leise über Drogen in Discos und Bardos Art, alles extrem zu machen.

Als Bardo in Kais Zimmer abgeladen war und Novi gepinkelt hatte, ging Thies in den Flur raus und reckte sich.: "Jerry? Kommst du mit?"

Jeremiah stand im Flur und blickte zu Bardo rüber: "Hm." Er sah zu Kai, der das Nachtlicht angeknipst auf den Fußboden stellte und den Putzeimer zum Kotzen in Sichtweite daneben. "Ich schaue morgen hier vorbei, wie es ihm geht."

Misstrauisch begegnete Kai seinem Blick, dann nickte er und gähnte statt einer Antwort. Jan war im Hintergrund schon ins Bad verschwunden und schrubbte seine Zähne.

Nervig energiegeladen wirbelte Jeremiah herum und nickte Thies und Novi zu: "Ich komme natürlich mit. Ich habe morgen Vormittag einen Wettkampf, daher muss ich schon gegen halb acht los."

Novi kicherte und Thies stimmte leise lachend ein: "Wie immer, Jerry!"

Die drei gingen miteinander flüsternd nach unten. Sie waren so rücksichtsvoll, die Haustür leise zu öffnen und zu schließen.

Kai wollte eigentlich nur noch ins Bett, aber ein Blitz zuckte über den Himmel und erhellte den Balkon und dort auch die Liege mit darauf liegenden Kissen. "Och nee, Scheiße! Die sind doch bestimmt komplett durchgeregnet." Hastig trat Kai raus auf den Balkon. Zum Glück regnete es noch gar nicht richtig, die Sachen hatten nur ein paar Tropfen abbekommen. Rasch raffte er die Kissen zusammen und legte sie im Wohnzimmer auf den Fußboden.

Er wollte eigentlich nur noch einmal auf die Straße runter schauen, ob die drei Helfer schon fort waren, blieb aber dann erstaunt stehen. Novi war in den Wagen geklettert und hatte sein Handy in der Hand. Jeremiah und Thies hatten das Rennrad auf die Ladefläche geschoben und zogen Sicherungsgurte darum. Die zwei redeten noch immer leise miteinander. Ein neuer Blitz erhellte gerade den Himmel, als Thies sich vorbeugte, Jeremiahs Gesicht mit einer großen Hand umfing und ihn küsste. Die Geste, mit der Thies Jeremiahs Kinn hob, wirkte ganz und gar nicht steif oder wie ein Witz. Die Art, in der Jeremiahs Finger sich in seine Schulter gruben, hatte nichts von der sonst von ihm zur Schau gestellten Reserviertheit an sich. Stille Wasser waren ja tief, aber so tief, das hätte Kai im Leben nicht geglaubt.

Solche Leidenschaft hätte Kai den beiden zurückhaltenden Typen gar nicht zugetraut. Dieser Thies kam echt rum. Aber Jeremiah im nächsten Moment auch. Er trat zu Novi, der ihm etwas auf dem Handy zeigte. Sie redeten kurz, dann nahm Novi ihm mit spielerischer Leichtigkeit die Brille fort und küsste ihn auch, krabbelte auf seinen Schoß und ließ sich von Jeremiah über den Rücken streicheln, während Thies auf der anderen Seite in den Wagen einstieg. Weder der eine noch der andere Kuss sahen irgendwie nach Verarschung oder Show aus und keinen der Drei schien es zu stören, dass der jeweils andere mit mehr als einer Person knutschte. Verwirrt blinzelte Kai. Die drei waren ja erstaunlich, und er fragte sich, ob er Jeremiah tatsächlich am anderen Tag wiedersehen würde. Außerdem fragte er sich, eine Sekunde später, ob es wirklich so eine gute Idee war, wenn diese Typen Einfluss auf Bardo bekamen.

Aber er war zu müde und zu zerschlagen von der Radrenntour, um sich noch Gedanken zu machen, ob Jeremiah jetzt auch noch etwas von Bardo wollen könnte, oder doch nicht.

Im Bad fiel Kai seinem Freund anheim. Jan kam aus der Dusche, als Kai zum Zähneputzen ins Bad schwankte. In Sekunden fand Kai sich an den Türrahmen gepresst wieder, Jans Zähne gruben sich verspielt in seinen Halsansatz, während er Kai die Shorts samt Unterhose von den Hüften zerrte. Kai zappelte sich ganz heraus, während Jan ihm schon das T-Shirt über den Kopf riss. Jan ließ sich im nächsten Moment nach hinten gegen den anderen Türrahmen fallen und zog Kai mit und gegen sich. Mit einem Knie teilte er Kais Beine und strich mit den Fingern ohne Umwege zwischen seinen Beinen entlang.

Jan hatte die Attacke geplant, wie Kai anerkennend eingestehen musste. In der freien Hand hielt er das Gleitgel. In Sekunden hatte er Kai gründlich damit versorgt und drang mit einem Finger in ihn. Kai hörte das Aufstöhnen, bevor ihm klar wurde, dass es von ihm kam. Der Muskelkater, die Müdigkeit, seine wirren Gedanken zu Jeremiah, dem stillen Wasser, waren verschwunden, wurden abgelöst von wilden Gefühlen, denen es vollkommen egal war, ob Kai von Sex noch mehr Muskelkater bekam oder nicht. Er schob sich höher auf Jans Bein und nahm ihm das Gleitgel weg, um sie beide zu umfangen und schnell zu streicheln. Im Hintergrund begann mit Blitzen und fast zugleich eintretendem Donnergrollen das Gewitter, als Kai spürte, dass Jan kam. Rasch verstärkte er seine Bemühungen, um ihm zu folgen.

Jan hatte ihm im Eifer natürlich einen fiesen Knutschfleck verpasst und Kai spürte, dass der Sex seinen Muskelkater nicht würde verhindern können, aber alles in allem hatte der nächtliche Ausflug sich doch für ihn gelohnt.

Nach einer kurzen Dusche und einem eiligen Zähneputzen fiel er neben Jan ins Bett und nicht einmal Jans Finger auf seinem Hintern oder das Gewitter konnten ihn noch wach halten.

Das nächste, was Kai mitbekam, war der Lärm, den Bardo am nächsten Morgen beim Wachwerden veranstaltete.

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Es schepperte laut, dann fluchte jemand, ohne Worte wie 'Scheiße' oder dergleichen zu verwenden. Es kamen lauter Wendungen wie 'Oh, so ein Ärger', 'Nein, wie furchtbar' oder 'was für eine Enttäuschung' Ganz klar, das Bambi mit Riesenkater. Nur einer fluchte derart wohlerzogen.

Im Folgenden hörte Kai, dass Bardo ihr Bad für Partynachwehen verwendete. Das ganze Programm einschließlich Erbrechen, Rumstöhnen, Duschen, Zähneputzen und noch viel mehr Stöhnen und Ächzen. Dann war das Bambi wieder im Bett verschwunden.

Leider klingelte es als nächstes an der Tür. Jan neben ihm knurrte leise und zog sich die Decke über den Kopf. Kai selber stöhnte und ächzte auch beim Aufstehen. Aber ihm war nicht schlecht. Sein Körper protestierte nur und erinnerte daran, dass er nicht für Radrennen durch die nächtliche Stadt verwendet werden wollte.

Vor der Tür stand Lukas, neben ihm, widerlich fit und niedlich ohne Ende, grinste Noppi Kai an. Beide waren auf dem Weg zum Fitnessstudio und dann Mittagessen, bei Lukas' Eltern. Kai gab ihnen eine kurze Zusammenfassung der Lage und Lukas empfahl, dass Bardo eine Anzeige erwägen sollte.

Kai war sich sicher, dass Bardo das nicht tun würde, um seine Eltern nicht aufzuschrecken, aber dankte für die Nachfrage und Beratung. Er war erleichtert, dass die Zwei nicht auf längeren Besuch aus waren sondern gleich weiter zogen. Lukas ließ ihnen nur seinen Zweitschlüssel für die Ferienwohnung da, weil er selber, samt seinem Noppi, mit dem Bulli runter fahren würde und nicht wusste, wie schnell sie dort sein würden.

"Wir sehen uns dann im schönen Ferienparadies, Engelchen. Freu mich schon auf dich am FKK."

Sofort pissig gestimmt verschränkte Kai die Arme: "In deinen Träumen vielleicht!" Davon abgesehen, dass er gar nicht so viel Sonne abkonnte, war er sich sicher, dass sein Körper dank dauerhaftem Lernen und Rumhocken nicht in der Form war, die er nackt irgendwo präsentieren wollte. Da konnte Jan ihn noch so sexy finden, er selber verglich sich mittlerweile insgeheim mit einer unbeweglichen, weißen Made. Seufzend blickte er dem alles andere als madenweißen oder sonst madenähnlichen Lukas hinterher, bevor er für fünf Sekunden überlegte, einmal ein paar der Übungen vom Unisport in sein Leben einzubauen. Aber allein die Tür zu schließen und zum Badezimmer zurück zu gehen, verursachte ihm Muskelschmerzen, so dass er den Gedanken wieder verließ.

Kai setzte nach kurzer Pinkelaktion für sie alle Kaffee und Teewasser auf und legte die Aufbackbrötchen aus dem Gefrierschrank raus. Im Hintergrund taumelte das Bambi erneut zum Klo. Vorsichtig klopfte Kai an die Badezimmertür. Bardo öffnete ihm schweigend. Er war blass im Gesicht und unter seinen Augen lagen lila Schatten. In ihnen konnte Kai den Ausdruck milder Verwirrung und leichter Panik lesen. "Hm, du siehst total scheiße aus, Bambi."

Betreten starrte Bardo in den Spiegel: "Wie... warum...?" Er hustete.

"Wie du hierhergekommen bist? Warum du dich so scheiße fühlst?" Kai versteckte sein Mitleid gut, aber fühlte sich nicht gut bei dem Anblick des traurigen, verwirrten Gesichts von Bardo.

"Ich kann mich nicht erinnern." Tränen traten in die Bambiaugen.

"Du bist im Subzero aufgetaucht. Lukas hat mir Bescheid gesagt, und ich hab dich gemeinsam mit einem Typen namens Jeremiah rausgeschleift."

"Und Andi?"

"Keine Ahnung. War das dieser Flachwichser, der dir was ins Getränk getan hat, um mit dir rummachen zu können? Der ist weg, als ich ihm gesagt hab, wie alt du bist." Kai warf einen kühlen Blick in Richtung Bambi, der ihm per Funk mitteilen sollte, wie sehr ein 'Danke, du bist mein Held' gerade angesagt war.

"Oh." Bardo taumelte und plumpste auf den Badewannenrand.

Nachdenklich blickte Kai ihn an: "Ist schief gelaufen, Bambi. Du hast dem Falschen vertraut."

Es klang schonungslos, aber zugleich war es tröstlich gemeint. Bardo verstand Kai trotz der hilflosen Worte. Er verschränkten Arme und lächelte zögerlich. Leider begann er gleich darauf zu weinen. "Immer mache ich alles falsch!"

Kai seufzte und reichte ihm ein Stück Klopapier, dann ließ er sich vorsichtig auf dem Badewannenrand neben Bardo nieder. Sein Hintern meldete ihm sofort, dass er am Abend zuvor ein Radrennen gehabt hatte und jetzt nicht bereit war für auch nur die kleinsten Übungen. Verhalten ächzte Kai: "Falsch, falsch! Du machst Erfahrungen."

Bardo wischte sich über die Augen und ließ den Kopf hängen. "Nee", flüsterte er heiser: "Danke, aber ich glaub, ich geh nie wieder... ".

"Nein! Auf keinen Fall gibst du jetzt auf! Wenn man vom Fahrrad fällt, steigt man gleich wieder auf, Bambi! Wenn man beim Ausgehen auf die Nase fällt, dann muss man gleich wieder ausgehen. Kapiert?!"

Bambi blinzelte tränenverhangen und holte Luft, um etwas zu sagen, aber die Türklingel unterbrach sie. Es war Jeremiah. Er kam in knappen Shorts und einem T-Shirt mit Yoda darauf, das eng anlag und seinen trainierten Oberkörper zeigte, ansonsten war er, wie am Abend zuvor, samt sportlicher Brille mit blauen Laseraugen und humorlosem Gesichtsausdruck. Er kam nervig ausgeruht und fit rüber.

"Morgen. Hattest du nicht einen Wettkampf?"

"Ich hatte einen Wettkampf und bin jetzt fertig." Nachlässig hielt Jeremiah eine Medaille hoch, die er unter dem T-Shirt um den Hals getragen hatte, dann zeigte er Kai mit strafendem Blick seine Armbanduhr.

Kai blinzelte auf die Digitalanzeige, halb zwölf. Er trat von der Wohnungstür zurück und ließ Jeremiah ein. Nachlässig wedelte er dann mit einer Hand zwischen Bambi und Jeremiah hin und her und verkündete: "Bambi, Retter, Retter, Bambi. Ich geh ins Bad, duschen."

Kai ließ sich Zeit mit Duschen, Haarstyling, auch wenn es in dem schwülen Wetter überflüssig war und der Wahl der Klamotten, auch wenn er im Endeffekt nur eine alte Shorts und ein T-Shirt rauskramte. Alles in der Hoffnung, dass Jeremiah und Bardo ein wenig miteinander reden würden und Jeremiah dann verschwunden war, wenn er aus dem Bad kam. Als er ins Wohnzimmer kam, redeten leider Bardo und Jeremiah in aller Ruhe am Tisch sitzend, jeder einen Becher in den Händen. Bardo Milchkaffee, extra blond, Jeremiah offensichtlich selbst mitgebrachten Proteindrink, in ekelhaft grün.

Kai tappte müde weiter in Richtung lockendem Duft aus der Kaffeekanne. Doch dann blinzelte er nach den ersten Schritten in die Küche erst einmal verwirrt umher. Ihre Wohnung war ja doch meist recht aufgeräumt, weil Jan Unordnung nicht sonderlich mochte und Kai nicht mochte, wenn er mit Putzen dran war und Jan ihn dazu triezen musste. Aber so dermaßen sauber und geordnet hatte er die Küche noch nicht erlebt.

Misstrauisch blinzelte er den blankpolierten Herd und die strahlenden Fliesen an. Die Gewürzmühle war sauber und stand samt Salzstreuer in Reihe am Herd. Das Geschirr war aus dem Waschbecken verschwunden. Im Kühlschrank waren die Lebensmittel umsortiert, mit einem Mal konnte man alles viel besser erreichen.

Jeremiah fing seinen Blick auf und zuckte kurz mit den Schultern: "Ich hab eine Ordnungsneurose. Euer Kalkreiniger ist alle."

"Okay." Hilflos blinzelte Kai umher.

Bardo grinste und meinte sorglos: "Kai hat eine Unordnungsneurose, das passt sich gut."

Jeremiah hob die Brauen und meinte spaßbefreit um sich sehend: "Aha. Ja, das erklärt es."

Kai wollte sich erst entrüsten und mit der Prüfung rausreden, aber verwarf den Gedanken sofort wieder, als Jeremiah sich Bardo erneut zuwandte, um auf einem Handy herum zu tippen.

Kai schlich stattdessen um sie herum und braute sich einen Kaffee, außerdem warf er die mittlerweile getauten Brötchen in den Ofen. Dabei versuchte er zugleich diskret zu sein und Teile der Unterhaltung mitzubekommen. Es ging, nicht allzu überraschend, um Bardos coming out mit Polizei und Geschrei in ihrer Wohnung. Etwas schief grinsend berichtete Bardo, dass Kai tatsächlich Einiges von ihm gewohnt war, allein von der Aktion.

Jeremiah seufzte in seine grüne Pampe und versetzte tonlos: "Mich kann man nicht mehr irritieren. Du hast Karsten noch nicht richtig kennen gelernt. Meine Schwester ist auch sehr... abenteuerlustig."

"Karsten?" Verwirrt blinzelte Bardo von Jeremia zu Kai rüber.

"Hm. Karsten hat dich nicht gerettet, aber sich über dich lustig gemacht. Es ist nicht so schlimm, dass du den vergessen hast", beschied Kai ihm.

Bardo grinste mit einer Mischung aus erleichtert und schockiert darüber, was er alles nicht mehr wusste.

Jeremiah kippte den letzten Schluck Pampe runter und erhob sich ohne Zeremonie. "Ich bin froh, dass du es so gut überstanden hast. Wenn du einmal was unternehmen möchtest, ruf mich an. Ich bin in einer schwul-lesbischen Gruppe aktiv. Wir gehen an den Wochenenden im Sommer auch gern hin und wieder paddeln und baden. Da sind auch minderjährige Mitglieder willkommen." Es klang beleidigend, als sei die Gruppe Teenager eher was, das sonst keinen Zutritt hatte. Jeremiah ging an Kai vorbei, spülte seinen Becher vor und stellte ihn dann in die Spülmaschine, in der er nebenbei die anderen Becher umsortierte.

Bardo erhob sich auch und lehnte sich über den Tresen, um sich noch etwas mehr Milch zum Kaffee zu kippen. Er grinste Jeremiah blöde froh an: "Ich komme sehr gern mit! Aber ich bin nicht sportlich."

Humorlos blickte Jeremiah zu Bardo rüber: "Sieht man. Bis dann." Er nickte zum Abschied auch Kai zu, aber der Blick aus den blauen Laseraugen schien ihn stumm aufzufordern.

Kai gab sich seufzend einen Ruck und folgte den kräftigen Schultern und dem sein Hirn verwirrenden strammen Hintern in verwirrend knappen Shorts den Flur runter, bis Jeremiah an ihrer Wohnungstür bremste und sich derart rasch umdrehte, dass Kais Blick vom Hintern noch nicht schnell genug ins Gesicht hoch gefunden hatte und ihm daher ziemlich dreist in den Schritt gaffte.

"Ich misch mich nicht mehr ein", verkündete Jeremiah von Kais Blick auf das nicht gerade kleine Ausstellungsstück in der Shorts unbeeindruckt.

"Oh?"

"Ich... habe genug auf dem Teller, auch ohne Teenager." Die Laseraugen brannten sich in Kais Blick, dann den Flur hinunter. "Ihr habt das im Griff, aber ich habe meine Nummer in dein Handy eingespeichert und die von Thies, falls ihr uns braucht."

"Mein Handy?" Kai blinzelte dumm. Das lag neben dem Bett und Jeremiah hatte es nie in der Hand gehabt, oder?

"Ich kann gut mit Computern jeder Art umgehen."

Kai zögerte. "Sag mal, du und der Tischler...

"Tischler ist nicht sein Beruf, nur sein Hobby."

"Was auch immer und dieser Dings... ähm...". Jeremiah ließ ihn hängen und starrte nur. Kai seufzte: "Der mit dem Drachentattoo."

"Novi? Was ist mit uns?"

"Ihr seid zusammen?"

"Hm." Jeremiah senkte den Blick, aber nicht peinlich berührt, eher nachdenklich. Dann bückte er sich, nahm seinen schwarzen Fahrradhelm auf und stülpte ihn sich auf den Kopf. Die sportliche Brille dazu ließ ihn irgendwie fies aussehen, wie einen Androiden mit Mordgelüsten. Aber er sagte mit neutraler Stimme "Das ist zu kompliziert für eine Unterhaltung auf dem Flur."

Das fand Kai auch. Nachdenklich folgte er Jeremiah mit Blicken, bis die kräftigen Schultern die letzte Treppe unten erreicht hatten. Dann schob er die Tür ins Schloss und verkündete dem aus dem Schlafzimmer und Wohnzimmer zugleich aufgetauchten Jan und Bambi: "Die drei Typen waren schräg. Ich will nicht, dass du was mit denen machst, Bambi."

"Was? Jerry ist doch total..."

"Er ist in einer Beziehung mit zwei Männern, Bambi. Einer von den anderen beiden scheint Drogen zu nehmen." Zumindest hatte Novi einen total verpeilten Eindruck hinterlassen: "Wir fangen klein an. Ausgehen mit einem Mann und ohne Drogen!"

Mürrisch starrte Bardo in seinen Becher: "Einem Mann... haha. Wer will denn mit mir...".

Kai seufzte und drehte die Augen zum Himmel. Es war seine Chance. Die Chance aus der Nummer mit Bardo heraus zu kommen. Aber mit einem Mal wollte er das nicht. "Oh. Ich spreche von mir und ich weiß, was ich will. Nächstes Mal, Bambi, gehst du nicht allein weg. Wir gehen zusammen aus, okay? Aber nicht ins Subzero, das ist sowas von nicht meine Szene. Ich will, dass du eine gute Erinnerung behältst und die werden wir dir besorgen."

"Baby", warf Jan aus dem Flur kommend ein: „Besorgs ihm nicht zu sehr, okay? Sonst werd ich eifersüchtig." Albern kicherte er und küsste Kai auf den Knutschfleck am Hals. War ja klar, dass der Arsch all die Arbeit Kai überlassen hatte.

Bardo kicherte mit und hielt sich zugleich den Kopf, aber seine Augen leuchteten.

Zickig starrte Kai die Zwei an, dann rettete er die Brötchen und damit ihr Frühstück. Erst später fragte Kai sich, wie Jeremiah es eigentlich geschafft hatte, seine Nummer in ein Handy einzutragen, das mit Passwort geschützt war. Es war ein Rätsel, aber Kai wandte sich lieber dem Lernen zu, als sein Hirn noch mehr mit Blödsinn zu verbiegen.

Bevor Kai mit dem Bambi ausgehen konnte, stand ihm erst die Prüfung ins Haus. Die mündliche Prüfung. Nur eine halbe bis dreiviertel Stunde. Es wurde oft lockeres Gespräch genannt, aber für viele war es der Horrortag. Kai sah der Prüfung eher gelassen entgegen. Selbst mit Nervosität würde er die Fragen beantworten können, sehr wahrscheinlich gab es keine Frage, die ihn aus dem Konzept bringen konnte.

Aber eine andere mündliche Prüfung machte ihm da viel mehr Sorgen. Auch eher eine lockere Unterhaltung, wenn man es genau nahm. Das Thema war außerdem genau wie beim Physikum festgelegt. Kai konnte sich vorbereiten und hatte in den letzten Wochen recht häufig Dialoge im Kopf abgespielt. Ideen, wie sie reagieren mochten, wie er dem begegnen konnte, wie er besser nicht reagieren sollte. Aber seine Verzweiflung und Angst vor dieser Unterhaltung, dem Geständnis an seine Eltern, dass es das Ding geben würde, überstieg jedes Gefühl für die Prüfung in seinem Studium. Das war eine mündliche Prüfung, durch die er doch nur durchfallen konnte. Und zwar gleich wie sehr er sich vorbereitete.

Der Tag der mündlichen Prüfung begann sehr entspannend damit, dass Kai die Oberhemden für sich und Jan bügelte und auch gleich noch die Ausgehhosen von Jan. Sie hatten einen späten Prüfungstermin und konnten ausführlich frühstücken und in letzter Sekunde irgendwelchen Irrsinn lernen. Jan nippte seinen Tee, streichelte Kai und ließ sich von ihm die Hirnnerven abfragen. Kai ließ sich streicheln, fragte sich, ob sie noch Sex haben sollten, bevor er zur Selbstmord-Fahrt in Richtung Heimat aufbrach und wollte nie wieder in seinem Leben irgendetwas lernen.

Nach dem Aufräumen standen sie erst im Bad vor dem Spiegel und rasierten sich, mussten zugleich grinsen, knutschten spontan rum und mussten dann den Rasierschaum abduschen gehen, was sich herrlich für eine Runde Sex unter der Dusche eignete. Kais Favorit, weil es keine Sauerei gab und Jan ihn mit seinen kräftigen rauen Fingern genau auf die Art berührte, die er selber so nie hinbekommen würde. Danach durfte er sich in Ruhe eincremen und fönen.

Die Stimmung war besser als Kai gedacht hätte. Als sie sich im Schlafzimmer die frischen Hemden und Ausgehosen überzogen, alles nach Bügelhilfe duftete und er Jan den linken Hemdärmel zuknöpfte, dachte Kai sich wieder einmal, dass es viel zu schön war, ängstigend perfekt.

Es ging so harmonisch weiter. Gemeinsam holten sie Thilo ab, der in einem schmalen, hellgrauen Sommeranzug unglaublich gut aussah. Sein bleiches Gesicht zeugte aber von Prüfungsstress und schlaflosen Nächten. Er gähnte auf besorgte Fragen nach dem aktuellen Betablocker-Verbrauch nur abwinkend und gestand weder, dass er Einiges intus hatte noch stritt er es ab.

Kai traf erst kurz vor der Prüfung auf Tini und Ding. Beide waren offensichtlich fit für die Prüfung. Sie trug ein rot-geringeltes Sommerkleid mit passender Strickjacke und Ding boxte gegen den Bauch, dass man es tatsächlich wackeln sehen konnte. Tini und Ding waren also beide auch super gut drauf. Die gute Laune war durch und durch berechtigt.

Kais erste Frage war zur Leber, die zweite zur Physiologie der Leber und die dritte und letzte kam von der histologischen Seite auch noch einmal zum Aufbau der Leber, dann war er mit einer Eins mit Sternchen entlassen. Tini wurde zu Embryologie gefragt und machte auch eine glatte Eins. Die Prüfer waren als streng bekannt, das konnte Kai nicht nachvollziehen. Die Fragen waren fair und in vollkommen deutlicher Art und Weise gestellt worden, verständlich, nicht über das Maß des Prüfungswissens vom schriftliche Teil hinaus, deutlich unter dem Maß seines durch den reichlichen Nachhilfeunterricht angeeigneten Wissens zur Leber. Tini und er bekamen einen Händedruck, dann bereiteten sich die Assistenten auf die nächste Gruppe vor.

Kai hatte erlauscht, dass es um die Niere gehen würde, sagte der Folgegruppe das unauffällig im Vorbeigehen und stellte sein Handy wieder an, während Tini der Gruppe nach ihnen auch noch letzte Tipps gab. Entspannt, und noch viel mehr gut drauf, traten sie in die Sonne vor dem Gebäude.

Tini lächelte Kai an, dann sah sie zum anderen Gebäude rüber. Eine Gruppe Prüflinge in Anzügen stand noch dort, zwei Jungs, die Kai nicht kannte, rauchten nervös. "Holger und Jan leiden noch. Na, das war für uns beide doch locker. Ich kann nicht glauben, dass wir jetzt durch sind." Sie faltete die Hände vor dem Bauch. "Ich kann nicht glauben, dass ich ein Semester Pause einlegen soll. Ich schreib jetzt einfach meine Zwischenarbeit in Psychologie, glaube ich. Hab schon angefangen."

"Mach doch mal richtig Pause. Ding wird schon stressig genug." Genervt richtete Kai einige Haare und blickte sein Spiegelbild in der Durchgangstür kritisch an.

"Selber. Was machst du denn jetzt? Pause?"

Sie hatte ihn da. "Na ja, ich fahr jetzt gleich zu meinen Eltern rüber, um ihnen Ding zu beichten, aber morgen fahren Jan und ich in den Urlaub!"

"Spanien! Stimmt ja. Mein Neid ist dir gewiss, auch wenn ich jetzt nicht mehr fliegen würde." Sie streckte sich, dann hob sie den Kopf und zog mit einer ihm schon bekannten Geste das Handy hervor, um es einzuschalten: "Du! Das hab ich vollkommen vergessen, Kai!" Sie zeigte ihm Bilder von einem etwas heruntergekommenen Haus. "Das ist das Jagdhaus im Wald hinter dem Zoo."

"Aha." Kais Blick glitt erneut zur Eingangstür vom Chemiegebäude. Die Raucher waren fort, aber weder Jan noch sonst irgendwer waren zu sehen.

"Nein. Schau hin! Das Haus werden Holger und ich mieten!" Sie hopste einmal kurz und quietschte freudig. "Ist das nicht geiheil?!"

"Eh? Das ganze Haus? Wie groß ist das überhaupt?"

"Ach. Nur das Erdgeschoss wird vermietet. Oben wohnt zwar niemand, aber da haben die Besitzer ihren Schrott rumliegen. Dann gibt es noch das Nebenhaus, das ist auch voller Müll. Aber ist es nicht toll? Mit Garten." Sie zeigte ein Bild von einem verwilderten Stück Wiese, auf dem zwei krüppelige Apfelbäume um ihre Existenz kämpften.

"Tini, das ist kein Garten, das ist ein Dschungel! Wenn Ding da verloren geht, findest du ihn vor dem Abitur nicht mehr wieder! Und was ist das da für ein Teil?!"

"Ein Brunnen." Sie blinzelte ihn verzweifelt an. "Ich weiß. Ich weiß! Der muss unbedingt gesichert werden. Das Dach ist auch nicht ganz dicht, aber wir dürfen für lau wohnen, so lange wir renovieren und die Vermieter machen das Dach in diesem Herbst noch."

"Renovieren? Dach kaputt?!", Kai verschränkte die Arme: "Spinnst du total? Weiß Holger schon davon?!"

Tini hopste erneut: "Du, das ist das geilste! Er renoviert voll gern und freut sich auch voll. Hat schon so eine Fachzeitung abonniert." Sie schabte sich mit einem Finger über den Nasenrücken: "Kann auch sein, dass es am Geschenk lag, das dazu kam. Irgend so ein Werkzeug."

Deprimiert starrte Kai auf die Bilder des romantisch verwilderten Fachwerkhauses am Wald. In seinem Geiste umtanzten ihn beim Dinghüten für die nächsten Jahre Mücken während er sich vor Brennnesseln rettete.

"Und Jan hat gesagt, dass ihr natürlich total gern mithelfen werdet", gab ihm Tini im nächsten Moment den Todesstoß.

Kai kam nicht mehr dazu, seine Meinung über diese sicherlich vollkommen falsche Annahme zu kreischen. Jan und Nadine kamen samt Holger aus dem Gebäude. Jan sah sich suchend um, dann grinste er Kai an und zeigte ihm ein Victory-Zeichen.

Erleichtert atmete Kai aus. Sicherlich nur knapp bestanden, aber immerhin. Gleich drauf umarmte Jan ihn und lachte: "Die haben mich Embryologie gefragt, Kai! In allen drei Fächern. Geil! Ich hab eine Eins gemacht. Zusammen mit der schriftlichen Vier komm ich jetzt doch ganz gut aus dieser Nummer raus."

Kai schüttelte den Kopf und stöhnte. "Nicht auszuhalten!"

Holger grinste gemütlich und knutschte Tini, dann verkündete er: "Ein Glück ist meine Freundin schwanger, bei mir haben sie auch Embryo hören wollen. Komisch, das setzen doch fast alle auf Lücke."

Nadine wirkte sehr unglücklich und kämpfte mit den Tränen. Bei ihr hatte es auch mit der guten mündlichen Note sehr wahrscheinlich nicht mehr gereicht. Sie würde die Prüfung wiederholen müssen. Ungemütlich sah Kai zu, wie Tini sie zu trösten versuchte und die zwei sich über die Alternativen Auszeit, Umsatteln und Weiterkämpfen unterhielten.

Da alle abgelenkt waren, stupste Kai Jan an: "Kann ich den Autoschlüssel haben? Ich fahr jetzt schon zu meinen Eltern und bin heute Abend wieder da."

Jan sah ihn warm an.:"Soll ich mitkommen, Baby?" Seine Finger gruben sich in Kais Schulter. Neben ihnen hob jemand den Kopf und starrte sie auf die üblich perplexe Art an.

Ablehnend machte Kai sich frei: "Nein. Ich zieh das allein durch. Wir sehen uns nachher Zuhause." Spröde nickte er seinem Freund nur noch einmal zu, dann flüchtete er sich in die Seekuh, lüftete großzügig eine Weile aus und ließ sich samt seinem schicken Anzug am Steuer nieder.

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