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Trost 2

Kapitel 155-158

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Inhaltsverzeichnis

155

Der Stress begann bereits eine Sekunde, nachdem Carl die Teller abgeräumt hatte. Er machte eine legere Handbewegung und schob an Bardos Schulter, um vom Balkon in den Flur zu gelangen. "Ich komme nach, ihr Lieben. Bin noch nicht ganz so weit und will hier auch etwas am Geschirr arbeiten. Bei der Hitze gibt es sonst ein unappetitliches Erwachen morgen früh."

Henrike, ihrerseits als Einzige gut drauf, lachte fröhlich und nahm ihm die Salatschale ab: "Ich hasse das auch immer so, wenn ich von den Tellern aus der Spüle mit Jubel begrüßt werde."

Lolli erhob sich und sagte, dank Abwesenheit des mysteriösen Lovers, wieder etwas fröhlicher: "Carla, wir müssen auch noch ganz dringend an deinem Outfit arbeiten. So kannst du heute doch wirklich nicht auf die Straße gehen!" Carl trug eine graue Hose und ein kurzarmiges Hemd, ebenfalls in grau, und wirkte tatsächlich eher, als wollte er auf eine Beerdigung denn auf eine Regenbogenparade.

"Ich wollte eigentlich heute nicht so... auffallen."

Lolli nahm diese Antwort zum Anlass für eine gepflegte und überaus besorgte Hysterie. Lukas ergriff, samt Noppi, äußerst reaktionsschnell die Flucht. Er nahm den Ersatzschlüssel der Meierschen, sehr nebensächlich und gut informiert, vom Haken neben der Wohnungstür, winkte einmal und ward nicht mehr gesehen. Damit ließen die beiden miesen Nichtfreunde Kai und Bardo einfach stehen mit einem hysterischen Lolli, mies drauf wie ein brütender Schwan und ebenso schön anzusehen, mittlerweile nämlich in einem weißen Hosenanzug mit Rüschen an den Ärmeln, mit einer Meierschen, die besorgt das Handy angaffte wie eine Kuh die Melkmaschine am Morgen, und mit der Fraktion platonisch liebender Lesben und Bisexuelle. Sauer starrte Kai aus dem Fenster den beiden Männern nach, die unten auf der Straße, Arm in Arm, davon gingen.

Bardo hatte sich ein frisches T-Shirt angezogen. Schwarz, aber, in weiser Rücksicht auf Kais Magen, ohne ekelige blutige Schädel darauf. Kai dankte es ihm mit einem Lächeln, bevor er sich samt der Mädchen von Carl und Lolli vertreiben ließ.

Dann wurde es für Kai persönlich stressig. Es begann auf dem Weg durch die Stadt mit einem erneuten Aufnehmen der Diskussion um platonische Liebe. Angeheizt durch Lena, die Hand in Hand mit Henrike ging. Sie trug ein T-Shirt, das sehr eng auf ihr klebte und keine Zweifel über ihre Unterwäsche ließ. Vorn über den Busen geschrieben stand 'Boobitrap' mit kleinen Explosionen darum.

Henrike hatte sich, zu ihren blondierten Haaren und dem dunklen Teint, ausnahmsweise einmal recht geschmackvoll für ein rotes T-Shirt mit goldenem Spruch vorn entschieden. Leider war der Spruch aus der Nähe betrachtet total prollig und verglich die Vorzüge von Schneewittchen mit denen der sieben Zwerge. Kai hatte wirklich noch nie über Zwergenschwänze nachdenken wollen und noch weniger über Brüste von Märchenprinzessinnen. Grollend fiel er mit Bardo hinter den beiden etwas zurück. Beide trugen nahezu identische, etwas zerrissene, Jeansshorts und sahen von hinten betrachtet recht ähnlich aus, von der sehr unterschiedlichen Größe einmal abgesehen.

Gereizt von der Fahrt und dem Essen, mit Lollis Anfällen, und seiner Sehnsucht nach Jan tippte Kai seinem Freund einige Nachrichten über den Stand der Dinge und fiel Lenas Spruch total zum Opfer. "Na, was habt ihr zwei Süßen denn jetzt wirklich geplant?"

"Geplant?" Kai schickte die Nachricht und erhielt fast zugleich ein Bild von einem riesengroßen Stapel Butterkuchen als Antwort. Er grinste und erwiderte abgelenkt: "Ich hab nix geplant, als mir ein paar bunte Wagen anzusehen: Wenn ich Glück hab, krieg ich keinen Sonnenbrand."

"Du hast doch das Bambi nicht mitgenommen, um ihn am ausgestreckten Arm verhungern zu lassen, oder?"

Erschrocken hob Kai den Kopf und sah Lena an. Was konnte er denn dazu sagen? Er hatte diesen Ausflug als Geburtstagsgeschenk gemeint, aber war das jetzt wirklich kein Geschenk für Bardo sondern Quälerei? Nachdenklich ließ Kai den beiden Mädchen den Vortritt und beobachtete, wie sie, Hand in Hand, die Straße entlang gingen. Und was machte denn dann Lena mit Henrike bitte sehr? War das nicht viel mehr Quälerei? Sie stoppten bei einer Eisbude, die sich tatsächlich zur Feier des Tages mit kleinen Regenbogenfähnchen dekoriert hatte und honorierten diese Mühe, indem sie jeder einen Eisbecher holten. Kai gab Bardo dieses Eis aus. Doch auch das wurde ihm schlecht ausgeleg: "Willste dich jetzt per Essen bei dem Kleinen entschuldigen, weil du ihn zwar mitschleppst, aber nicht ernsthaft was willst?"

Kai holte Luft, wusste nichts zu seiner Verteidigung zu sagen, weil Lena irgendwie Recht hatte und starrte sein Eis an. Unsicher blickte er zu Bardo, der mit roten Ohren neben ihm stand. Doch dann sagte Bardo sehr fest und sicher und mit einem von diesen niedlichen Lächeln: "Kai will doch was Ernsthaftes, Lena. Er will ernsthaft mein Freund sein."

"Und du lässt das ernsthaft mit dir machen, obwohl du mehr willst?"

"Nein. Ich will nicht mehr. Und so sicher kann Henrike sich bei dir auch nicht sein, was du willst, oder?"

"Au." Lena grinste zu Henrike und wandte sich ihr zu. Mit einer lockeren Bemerkung ging Lena zum Thema Musik über und die Stimmung entspannte sich. Bardos Spruch hatte aber gesessen, die zwei Mädels hielten die Klappe und nicht mehr Händchen, als sie weiter gingen.

Nachdenklich folgte Kai den Dreien, einen Schritt langsamer, und schwieg hinter dem Vorwand, dass er sein Eis sonst nicht essen könne. Bardo legte mal wieder ein Rekordtempo vor und kriegte von Kai sogar noch einen Rest ab, bevor sie an der, von Carl vorgeschlagenen, Ecke in eine dichte Menge fröhlicher Leute gerieten.

Die Parade erfüllte Kais Vorahnungen voll und ganz. Die Wagen waren lustig, aber im Prinzip mit denen jeder anderen Parade austauschbar. Es waren wirklich viele kreative Ideen und Banner, lustige Anspielungen, ernstgemeinte und notwendige Forderungen und auch interessante Gruppen dabei, die sich zum Teil auch kreativ, meist mit hübschen Menschen oder wenigstens einheitlichen T-Shirts in Erinnerung bringen wollten. Laute Musik, dank der Hitze total viel nackte Haut, Glitter und Friede, Freude, Eierkuchen überall. Es war nett, machte ihn aber nicht an. Er hatte gar keine Lust, sich in den Lärm zu begeben, um in eine Gruppe einzutauchen, so wie Lena und Henrike das alsbald taten.

Bardo ging es ähnlich. Er lehnte, recht unbeteiligt, an einer Laterne und lachte über lustige Kostüme oder winkte auch mal jemandem zurück, machte ein paar Fotos. Aber er ging nicht richtig mit, schien in Gedanken irgendwie wo anders zu sein.

Endlich stupste Kai ihn an, als der Zug nach einer guten Stunde einmal wieder ins Stocken geriet. "Wollen wir dort in das Café an der Ecke gehen und was trinken?" Der Laden sah nett und nicht absolut unbezahlbar teuer aus. Eine Gruppe fröhlicher Leute winkte von den Tischen auch in Richtung der Wagen und es gab Schatten, weiter hinten wiesen einige Tische leere Stühle auf.

Bardo folgte Kais Blick, erriet seine Gedanken und nickte: "Schatten ist gut. Ich glaube, dass ich schon wieder so eine Art Sonnenbrand auf der Nase habe. Krass die Sonne heute."

Kai ergatterte einen Platz an einem Ecktischchen weiter hinten und war dankbar, dass es kühl und ruhig war: "Was möchtest du haben, Bardo? Ich gebe dir was aus." Resolut hielt Bardo Kai die Karte hin.

"Okay, danke." Der Kellner brauchte ziemlich lange und Kai und Bardo füllten einen Teil der Zeit mit etwas mühsamer Konversation über das, was sie gerade gesehen hatten. Kai wurde einmal locker im Vorbeigehen fotografiert, um seine Handynummer angebaggert und fühlte sich davon total gestört, reagierte gereizter als notwendig, bekam schlechte Laune und wünschte sich auf seinen Balkon zurück.

Mit Bardo fühlte es sich mit einem Mal an wie ein peinliches Schweigen, nur ohne Schweigen. Außerdem hatte Kai sehr deutlich das Gefühl, dass sie nicht über das redeten, was tatsächlich anstand. Jan hatte es begonnen, Lena fortgeführt und Lolli war ebenfalls mit daran beteiligt, dass Kai sich unwohl fühlte, wenn Bardos und sein eigener Arm sich aus Versehen berührten.

Ermüdet wartete Kai schließlich, in echtes und erholsames Schweigen gehüllt, bis die Gläser vor ihnen standen und Bardo, wegen des Gedränges und des Durcheinanders, auch gleich bezahlt hatte, dann fragte er leise: "Stimmt das, was Lena vorhin gesagt hat? Bin ich irgendwie unfair zu dir?"

"Womit?"

"Mit dem hier." Unsicher machte Kai eine Handbewegung im Kreis.

Bardo legte den Kopf schief. In den Fingern drehte er ein kleines Regenbogenfähnchen hin und her. "Nee. Für sie selber vielleicht, aber nicht für... uns."

"Aber, warum nicht? Macht dich das nicht irre? Oder gehen alle von etwas Falschem aus, wenn sie denken, dass du noch immer in mich verknallt bist?"

Bardo sah kurz überrascht zu Kai, senkte den Blick erneut auf seine Finger, drehte das Fähnchen und schwieg. Fast dachte Kai, dass er nicht antworten wollte, dass alles nun doch peinlich werden würde, aber dann sagte Bardo nachdenklich: "Das weiß ich nicht so richtig. Ich weiß nur, dass ich mich gut fühle, wenn wir zusammen sind. Sehr gut, sogar. Du nimmst mich als Einziger ernst und du weißt immer schon, bevor ich das weiß, was in mir vorgeht."

"Ich nehme dich nicht ernst, Bardo. Im Gegenteil. Ich war das doch, der dir am liebsten einen Chip hat einbauen wollen, falls du verloren gehst. Sorry deswegen noch mal."

Mit seinem schiefen Grinsen nippte Bardo an der Cola. "Nein, das ist vollkommen in Ordnung. Du hast die Verantwortung und da ist das ganz klar, dass du nervös bist. Ich bin aber brav, Kai. Keine Sorge."

"Ja. Ist mir aufgefallen. Warum eigentlich? Ich meine..., es ist doch nix dabei, wenn du dich mal umschauen wolltest, mal ein paar Jungs ausloten, einfach mal gaffen und mit denen feiern, statt mit mir hier so peinlich zu labern."

"Was? Um mit dir reden zu können, Kai, bin ich doch mit her! Die Parade ist nix für mich. Ich kenn mich nicht aus. Ich schäme mich dauernd, wenn die sich da auf den Wagen so... zeigen müssen. Ich mag das nicht. Die Musik ist auch nicht mein Ding, ich steh mehr so auf Rock, Metal und Indie-Sachen."

Kai blinzelte dumm. "Was?! Scheiße! Hättest du das nicht gleich sagen können?" Aufgebracht nuckelte er von seinem Tonicwasser und giftete von sich selber genervt: "Scheiße! Wir hätten voll nett auf der Dachterrasse bei uns Zuhause labern können, Bardo. Im Schatten! Und bei uns ist die Cola viel günstiger! Scheiße! Wir hätten uns diese scheiß peinliche Autofahrt mit einer Halblesbe und einem vollkommen durchgeknallten Lolli und Carls komische Depression sparen können. Und du sagst das erst jetzt?!"

Hilflos lachend zuckte Bardo mit den Schultern. "Na ja. Ich dachte, dass es die Chance ist, mit dir was zu machen. Etwas, an das wir uns noch erinnern werden, irgendwann."

Und gleich darauf durchschritt Lolli, in seinem schreirosa Glitzerkleid, mit hellrosa auftuppierter Perücke, die Tür zum Café, im Gefolge die Meiersche und einige andere Leute, und es wurde ein Nachmittag, an den sich zumindest etliche andere Leute gut erinnern würden. Fotos wurden von Lolli zumindest genug geschossen, dafür hatte er gesorgt.

Bardo und Kai wurden gnadenlos darüber informiert, dass sie sich gefälligst nicht zu verkriechen hätten, erst mal, dass sie schweinelangweilig angezogen waren, dann, dass sie gefälligst die Lesben nicht aus den Augen zu verlieren hätten und außerdem nicht Lukas, den irgendwie einzig geilen Mann in Berlin..., so Lollis für seine Umgebung deprimierender Kommentar. Kai zickte sich einmal durch all diese Vorwürfe, indem er sie gnadenlos an Lolli zurückgab. Dann rückte Lolli mit seiner Gefolgschaft zu ihnen an den Tisch und sie mussten sich Stühle erbetteln und bei den genervten Kellnern entschuldigen.

Kai wurde sofort von einem Berliner Freund von Carl und Lolli angemacht und verkroch sich, hinter kühl und abweisend verschränkten Armen, und der recht monotonen Ansage, dass er einen Freund habe, was ihm ausreichend erschien. Er musste dann dennoch zu den üblichen Anbaggerfragen Rede und Antwort stehen, was ihn nervte. Da er bei keiner Internetseite angemeldet war, die gerade angesagt war, wurde er dann glücklicher Weise als retro und schräg abgestempelt und misstrauisch beäugt. Er musste sich von den anderen dumme Blicke und noch dümmere Sprüche wegen Bardo gefallen lassen, was ihm peinlich war.

Bardo selber lehnte unbesorgt peinlich Alkohol mit den Worten ab: „Das darf ich noch nicht“, was aus den unangenehmen Blicken ein dummes Starren machte, und Lolli stellte bei allen klar, dass Kai eine Art Glucke für den Teenager war, um seine Vatergefühle ausleben zu können und sie in der Clique ansonsten jeden Tag auf die Meldung warten würden, dass Kai und Bardo es endlich getan hatten.

Darauf war Kai derart sauer, dass er sich für eine Weile auf das Klo absetzte, um Jan eine wütende Nachricht zu tippen und ihm zu sagen, dass er jede Parade in Zukunft gegen ein Kaffeetrinken bei seinen plattdeutschen Verwandten eintauschen würde.

Carl trug immer noch keinen Fummel und seine Laune war derart mies, dass Kai sich nicht entsinnen konnte, ihn jemals auf einem solchen Level deprimiert gesehen zu haben. Man merkte es ihm nicht an, wenn man ihn nicht kannte, oder es nicht merken wollte. Aber Carl war still. Kein Spruch, kein Witz, kein Hinweis auf schöne Männer in der Umgebung. Sein gesamter Optimismus war erloschen. Er reagierte auch nicht auf Lollis Sticheleien oder den Titel 'Liebe dicke Tante', den er bei seinen Freunden zu haben schien.

Kai war sehr dankbar, als die Gruppe, nach einer guten halben Stunde im Café, wieder um Lena und Henrike reicher war, und sich in Richtung einer Feier absetzen wollte, die Lukas natürlich aufgerissen hatte. Kai schaltete in diesem Moment rasant und messerscharf und knöpfte der erschöpften Meierschen den Wohnungsschlüssel ab.

"Bardo hat einen Sonnenbrand und ich auch und wir beiden wollen lieber auf deinem Balkon sitzen und labern. Er mag die Musik nicht und ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn in die Party reinbekomme, die Lukas sich vorgestellt hat."

Zu ihrer aller Überraschung sagte Carl sofort:"Ich bringe euch rum." Auf Lollis entrüsteten Aufschrei, dass die Meiersche unbedingt dabei sein müsse, lenkte er ein und meinte: "Ich hab lieber einen Schlüssel auf Tasche für später. Wir treffen uns dann dort, Lolli." Er knutschte eine Runde herum alle auf die Wangen und entfleuchte dem Trubel, mit Kai und Bardo im Schlepp.

Misstrauisch beäugte Kai ihren Gastgeber. Carl sah müde aus und irgendwie nicht gut. Dafür, dass er ihnen den neuen Freund hatte vorstellen wollen, sah er sogar sehr schlecht aus. Die Mutmaßung, dass was mit dem Boytoy schief gelaufen sein mochte, lag derart nahe, dass Kai sich darüber stolpern fühlte. Sauer überlegte er, samt der Abteilung demokratisches Diskutieren, wie man taktvoll auf Dergleichen ansprechen konnte. Bardo, sonst recht gut in diesen Dingen, schwieg und tippte auf seinem Handy rum. Endlich, als das Schweigen schon viel zu lang gewesen war und Kai Luft holte, um was Unverfängliches zu sagen, unterbrach Carl ihn.

Er blieb an einer Ampel stehen, obwohl sie da nicht rüber mussten und zupfte unruhig an seinem T-Shirt. "Schau nicht so, Kaichen. Es war alles anders geplant, das kannst du mir glauben." Kai blickte unsicher zur Ampel, aber Carl wandte sich ab und ging die Straße weiter rauf. "Es war so geplant, dass er sich an dem letzten Wochenende endlich outet, zuhause, mit mir dabei. Es war so gedacht, dass ich es Lolli stolz verkünden kann, wenn wir uns heute hier treffen. Dass mein Freund dann dabei sein kann, endlich von dieser Bürde befreit und sich sicher..., sicher genug, um nicht nur zu sich selber zu stehen..." Carl senkte den Kopf und zupfte wieder an dem Shirt. "… auch zu mir."

Bardos Verstand war scharf und nicht von der Peinlichkeit der aktuellen Situation umnebelt wie Kais. Anstelle rot im Gesicht zu schweigen fragte er leise: "Ist er so auf Äußerlichkeiten fixiert?"

Erstaunt hob Carl den Blick, als hätte er Bardo gänzlich vergessen, dann nickte er: "Total besessen vom eigenen Körper. Er rennt dauernd in Fitnessstudios und passt auf, was er isst..., und das mir! Ein Kerl auf Diät, versteht ihr? Er schaut natürlich zum Abschlabbern aus, denkt selber leider nicht sonderlich viel von sich selber. Traurig ist das. Was soll ich gegen so jemanden schon sagen, mit meinem Übergewicht?"

"Aber," Bardo schob sich dichter an Carl und verdrängte Kai ein wenig: "… Solltest nicht gerade du ihm helfen können?"

"Warum?"

"Weil ich dich immer so vor Augen hatte als jemanden, der krass seiner selbst sicher ist. Ich meine, es ist nicht einmal überzogen oder schwierig für dich. Du bist einfach total toll."

Zweifelnd blinzelte Carl Bardo in die Augen. "Eher nicht, oder?"

"Du weißt das doch selber." Bardo blieb eisern und blickte ihn von dem Selbstmitleid wohl auch etwas genervt an.

Kai hob die Schultern. Es war schon richtig. Er stand nicht darauf, wenn ein Mann irgendwie zu moppelig zu werden drohte, nicht umsonst ging er mit einem übertrainierten Fußballer ins Bett. Aber andererseits hatte er Carl auch nie unter diesem Aspekt betrachtet und er fand ihn toll. Er schätzte Carls gute Laune, die leichte Art, mit der dieser sich selber, seine Situation im Leben und auch sonst alles nicht so schrecklich schwer nahm. Er mochte Carls tollen Sonar in Sachen Stimmungen, seine warme Art. Die hübschen blauen Augen konnten unheimlich ausdrucksvoll sein, und viel mehr sagen als Worte. Er mochte mit Carl zusammen sein, vertraute ihm. Mit nur einem Blick gab Carl ihm oft das Gefühl, vollkommen verstanden zu werden. Außerdem konnte man sich auf Carl verlassen.

Unsicher hob er an, etwas zu sagen, als Carl ihn schon wieder unterbrach: "Ich krieg das immer so hin, dass diese dummen Jungs mich als Kuscheltante wollen, um mir das Herz auszuschütten. Ist ja auch richtig. Ich tröste gern und ich mach das gut. Ich fühl mich auch nicht ausgenutzt, wenn jemand mich braucht. Es tut mir auch gut. Und ich kuschel für mein Leben gern... vor allem mit so süßen Schnittchen. Und, wenn sie dann erst mal mit mir im Bett waren, dann sind sie oft überzeugt, das darf ich durchaus mit Stolz verkünden, nicht wahr, Kai?"

Kai nickte unvorsichtig, weil er sich an Hanno erinnerte und sagte hastig, um Bardo nicht auf falsche Gedanken kommen zu lassen: "Lukas hat mal so etwas erzählt."

Carl blinzelte und meinte unsicher: "Aber der auf keinen Fall aus eigener Erfahrung!"

"Wie das allein klingt."

"Na ja. Lukas und ich passen nicht. Ich mag es nicht, wenn ein Mann so... so..."

"So geil ist?" Kai kicherte etwas und schaffte es, die Stimmung zu wandeln.

Carl lachte ein wenig mit: "Hm. Genau. Aber vor allen Dingen geil auf andere Männer. Das kann ich nicht vertragen. Ich mag meine Männer, wie meine Mahlzeiten. Geregelt und sicher, und… und ich mag es, wenn sie mir allein gehören und nicht andere darin herumpfuschen." Nachdrücklich rührte er mit den Fingern in der Luft umher.

"Ja, kann ich nachvollziehen. Und jetzt?"

"Na, es kam, wie es immer kommen muss. Meine Süßen müssen ja irgendwann auch mal aus dem Bett und sogar aus der Wohnung. Mit mir. Zusammen mit mir. Und da geht es nicht selten los. Bei Hanno nicht, nein. Der war total cool und ist noch heute so. Wenn der nicht so bescheuert auf Drogen wäre... Aber ach, dann wäre er immer noch untreu, stimmt auch wieder. Aber bei meinem aktuellen Freund ist das genau das Problem. In der Wohnung geht es super, vor der Haustür wird er verklemmt und gehemmt und ist peinlich berührt, gleich was ich tu oder sage oder..." Carl stöhnte gereizt auf: "mit meinen Freunden hier ist es dann endgültig aus, da ist er kaum noch wieder zu erkennen. Heute sollte er sich zusammenreißen und mir wenigstens die Chance geben, sich bei euch zu zeigen. Meine Güte, das gab ein noch schlimmeres Drama als bei der Sache mit den Eltern. Selbstzweifel und Zweifel an mir. Diskussionen um Klamotten, um das Essen, um... alles einfach! Grauenhaft nervig war es, weil er sich, erst nach endlosen Diskussionen und Versprechungen, voller Freude aufgemacht hat, mir dann eine Nachricht nach der Anderen geschickt hat, dass er seine Zweifel bekommt und umdreht. Und dann doch wieder kommen wollte, dann doch nicht, und am Ende hab ich ihm geschrieben, dass ich mit euch in die Stadt gehe und er mich mal kreuzweise kann."

"Und jetzt traut er sich nicht mehr?"

Carl warf die Hände hoch. "Nein! Im Gegenteil! Jetzt kommt er doch, und ich bin noch wütend. Da kriegen wir uns nachher gleich erst mal in die Wolle. So ein Mist! Da wird doch aber auch das Huhn in der Pfanne verrückt, oder nicht?! Wieso immer ich?! Wieso muss immer ich diese vollkommen Verrückten abbekommen, die im Bett die absoluten Karnickel sind und im Hirn aber leider irgendwie auch? Ich will das nicht mehr!"

Und mit diesem Lamenti bogen sie in Carls Straße ein. Er wohnte nahe der Ecke und blieb derart abrupt stehen, dass Kai gegen ihn lief und Bardo gleich darauf sie alle beide über den Haufen rannte.

Während Carl mit gesenktem Kopf wortlos weiter lief, sortierten Bardo und Kai sich wieder und folgten ihm verwundert. Es war nichts Verdächtiges am Haus zu sehen, aber als sie in den Hauseingang einbogen, saß auf der Treppe Pascal, die Knie mit einem Arm angezogen und das Kinn auf die Knie gestützt. Und verspätet fiel Kai sein kleiner Sportwagen weiter oben in der Straße auf.

"Auch das noch." Kai dachte eine kleine Kaskade Flüche. Scheiß Passi, den hatte er vollkommen verdrängt. Zusätzlich, zu einem miesgelaunten Carl und dessen durchgeknalltem Boytoy, auch noch ein deprimierter Pascal. Blieb ihm an diesem Tag aber auch gar nichts mehr erspart, oder was? Bardo sagte, passend zu seinem Wissen um diesen Freund von Kai, gerade recht tonlos: „Oh“. Und rechnete sich offenkundig einen ungemütlichen Abend aus, als Carl, direkt vor Pascal, stehen blieb und dieser ein wenig gebeutelt und pessimistisch zu ihnen blickte.

Carl seufzte abgrundtief und sagte im besten Mutti-Ton: "Und? Fühlste dich jetzt besser?"

Pascal schüttelte den Kopf und wollte was sagen, aber Carl unterbrach ihn mit einem ziemlich herrischen "Fang bloß nicht hier auf der Treppe an, klar?! Ab nach oben!"

Sie trampelten schweigend die Treppe rauf, Kai bewegte in seinem Kopf pausenlos die Sätze, die man zu seinem miesen Zeckenfreund, ehemals einzigen Freund so sagen konnte, ohne alles noch schlimmer zu machen, als Pascal es mit traumhafter Mühelosigkeit schaffte, alles so richtig schön schlimm zu machen. Er betrat die Wohnung, zog sich die supergeil schönen Turnschuhe aus und wandte sich direkt an die Meiersche, sah Kai und Bardo kaum an. "Bitte, Carl. Ich bin hier, okay? Ich bin feige und doof, bitte gib mir trotzdem eine Chance."

Und es war in genau diesem Moment, dass Kai begriff. Er taumelte an die Wand, neben der Garderobe, zurück und starrte zwischen Pascal, niedlich, fit ohne Ende, mit scharfen Klamotten und vermutlich ein wenig verheult, und Carl, übergewichtig, megamäßig sauer, nett dezent gekleidet und im Mutti-Modus, hin und her. "Ach. Du. Scheiße!" Und der Abend war vollkommen gelaufen.

156

Eine Stunde nach der Erkenntnis, dass es sich bei Carls aktuellem Boytoy ausgerechnet um Pascal handeln musste, saßen Bardo und Kai, überraschend und unvorhergesehen, gemütlich auf der gepolsterten Bank auf dem Balkon von Carl und tranken selbstgemachte Zitronenlimonade auf Eis. Sie unterhielten sich über Beziehungen und wie man sie besser nicht führte.

Bardo war sehr beeindruckt gewesen von der Show, die Passi für Carl, aber auch ihn und Kai inszeniert hatte. Kai mutmaßte, dass Pascal darin vielleicht gar Lolli den Rang hätte ablaufen können. Holger hätte gesagt 'Einmal mit alles und bitte schön scharf'. Es gab Vorwürfe, Geheule, Entschuldigungen, Gebettel und Gekreische. Dann war es eine sehr, sehr lange Zeit ruhig gewesen. Zwischendrin hatte es ein paar Anrufe von Lolli gegeben, den die Meiersche aber irgendwann abgewiesen hatte, so dass Lolli es bei Kai versucht hatte, der sein Handy kurzerhand ausgestellt hatte, um seine Ruhe zu haben. Die anderen waren netterweise noch auf der Party. Carl und Passi machten irgendwo in der Wohnung auf Versöhnung und Kai genoss den Tag mit einem Mal.

Der Abend war lau und auf dem Balkon saß es sich dank der Polster sehr gemütlich. Stimmengemurmel von den umliegenden Balkonen vermischte sich mit Kinderlachen aus dem Hof, wo jemand einen Planschpool aufgebaut hatte. Es war ruhig, sie hatten etwas Nettes zu trinken. Sich mit Bardo zu unterhalten war entspannend, und weder Bardo noch er hatten Sonnenbrand bekommen. Seufzend streckte Kai sich aus und wechselte das Thema, um Bardo von Jans Geburtstagsfeier zu erzählen und der Nummer, die Thilo da so cool durchgezogen hatte.

Bardo erzählte Kai wiederum, dass er sich mit seinem ehemals besten Freund, der Arschgeige, noch einmal hatte aussprechen wollen, bevor die Sommerferien waren, aber der hatte abgeblockt, wenn auch nicht mehr so heftig. Optimistisch blinzelte Bardo Kai an und meinte: "Er hat gesagt, dass ich ihn damit endlich in Ruhe lassen soll."

"Du klingst, als ob das gut ist." Kritisch beäugte Kai ihn “es ist okay, wenn du das machst, aber lass mich gern in Ruhe. Er war gar nicht mehr beleidigend oder bescheuert aggressiv, sondern eher traurig. Als bereute er all das, was zwischen uns schief gelaufen ist. Das ist auf jeden Fall ein Fortschritt, nicht?"

Lächelnd sah Kai ihm in das von zu viel Hitze etwas rote und von Sommersprossen überzogene Gesicht. Die Augen leuchteten warm daraus hervor. "Du bist immer so niedlich optimistisch, Bambi."

"Zu Recht. Die Welt ist gut, wetten?" Offensichtlich zufrieden lehnte Bardo sich neben Kai an und blickte in den Himmel hoch. Der Abend kam irgendwie allmählich näher und die Trägheit, die Kai und Bardo überkommen hatte, hinderte sie daran, sich etwas anderes zu überlegen, als hier rumzuhocken. Und die Entscheidung über die Verlustigungen des Abends wurde ihnen dann vollständig von Passi und der Meierschen abgenommen.

Die beiden tauchten endlich wieder auf. Sie hatten sich vertragen oder spielten ihnen sehr gekonnt etwas vor. Carl fragte, ob wer Hunger habe, Pascal sagte, dass er sich noch einmal für seinen Auftritt entschuldigen wolle und dann saßen sie schweigend mit auf dem Balkon und blickten sich unruhig um.

Gereizt starrte Kai zwischen ihnen hin und her und fragte endlich: "Und?"

Carl stieß Pascal unsanft den Ellenbogen in die Rippen. Passi fuhr sich mit den gespreizten Fingern in den Pony und seufzte, dann sagte er stockend: "Tut mir leid, dass es alles so doof läuft. Wir sind zusammen, aber ich war so unsicher, wollte das erst mit den Eltern klar machen, hab mich dann nicht getraut und hatte total Angst vor heute."

Kai sah zu Bardo und dann wieder zu Pascal: "Eh? Wieso vor heute? Ich mein, Lolli kann schauderhaft sein, aber...". "Nicht vor Lolli! Vor dir!"

Kais Fingern entglitt der Strohhalm, mit dem er eben in seinem Glas hatte rühren wollen: "Eh?!"

Bardo stellte sein Glas ab und stand auf: "Ich geh mal und lasse euch allein reden, oder?"

"Nein, tust du nicht, Bambi! Ich will jetzt, dass Pascal sich zusammenreißt, deutsch mit uns spricht und wer dabei ist oder nicht, spielt mal ausnahmsweise keine Rolle!" Kai zuckte zusammen, weil Carl fast schon geschrien hatte. Dann nickte er. Carl hatte Recht. Wenn man Pascal immer wieder eine Hintertür ließ, durch die er sich davon stehlen konnte, dann würde es nie was werden.

Carl setzte noch einen drauf und sagte fast drohend: "Du bist schlimmer als Hanno mit den scheiß Drogen. Du bist von deiner Geheimhalterei total abhängig und das geht mir auf den Zeiger. Das ist unsexy, würde Lukas sagen...., hat er dir bestimmt auch schon selber gesagt."

Pascal blinzelte nervös, der letzte Stich hatte offensichtlich gesessen. Eine Weile lang war das Summen der Wespen das einzige Geräusch auf der Terrasse, alle starrten auf Pascals gesenkten Kopf. Endlich sagte er leise: "Irgendwie ist alles so schwer für mich, weil wir doch eigentlich dachten, dass wir Freunde sind, Kai. Freunde. Die tun aber nichts miteinander und die verschweigen nichts voreinander."

Grummelig ließ Kai seinen Blick zu Bardo gleiten, weil das 'miteinander tun' auch auf den zutreffen konnte. Der Dreier mit Lukas und Pascal rückte außerdem in unangenehme Dichte auf. Kai hatte das erfolgreich verdrängt und wollte nie wieder daran denken.

Pascal zum Glück auch nicht. Er fuhr lieber mit Selbstkasteiung fort. "Ich hab immer das Gefühl, dass ich alles falsch mache. Ich hab das mit dem Ex falsch gemacht, der hat mich nur für Sex ausgenutzt. Ich hab den das machen lassen, weil ich zu feige war, offen dazu zu stehen, wer ich überhaupt bin."

Carl nickte mütterlich und setzte sich bequemer hin. Da Pascals Rede ins Stocken kam, brachte er ihn mit einem Ellenbogenstoß in die Rippen wieder zum Weiterreden, aber machte sein Tantengesicht dabei, ein wenig mitleidig, ein wenig aufmunternd.

"Kai, du hast immer alles gehabt. Deine Eltern sind ausgerastet, klar, aber deine Mutter hat zu dir gestanden. Du hast einen Freund gefunden der dich wirklich gern hat. Du hast dich frei gemacht von all dem Scheiß, den andere immer sagen und hast dich nicht runterziehen lassen. Bei dir ist immer alles so echt und richtig. Bei mir war immer Schweigen, Verschweigen und Belügen. Wenn das Thema 'Freundin' aufgekommen ist, hat meine Mutter immer gesagt, dass ich beruflich so eingespannt bin, dass ich eben dazu nicht gekommen bin. Das hat sie immer gesagt, bevor ich was sagen konnte. Und ich hab sie das sagen lassen, hab mich immer nur geschämt und über mich selber geärgert."

Kai schämte sich auch. Fremdschämen für Pascal. Schon wieder. Er wollte das nicht hören, wollte nicht die Klagemauer für Pascals Depressionen werden, aber irgendwie hatte Carl ihn im Blick und er wagte es gar nicht, dieser Kampf-Mutti samt dem Appell im Gesichtsausdruck zu widerstehen.

Bardo wagte es und war unbequem dabei: "Du musst uns das nicht so peinlich erzählen. Das ist was für deine Eltern, finde ich." Er verschränkte die Arme und sah Pascal an, dann führte er aus: "Als das alles bei mir war, hab ich mit meinen Eltern geredet. Hast du das mal versucht? Das ist total krass anstrengend, aber man fühlt sich hinterher irgendwie... frei."

Und Kai musste in Erinnerung an den Wirbel, das Riesendrama und den Aufstand, den Bardo aktuell gekonnt vergessen hatte, blöde grinsen und trank hastig von seiner Limonade, um das zu verstecken. Krass anstrengend war Bardos Unterhaltung mit den Eltern, vor allen Dingen auch für Kai selber, gewesen. Mit Schaudern erinnerte er sich noch an den Nahkampf zwischen Ansgar-Spaßverderber und Lolli in ihrer Wohnung. Peinlicher ging es fast nicht mehr. Außer vielleicht Pascal gerade jetzt.

Pascal achtete sowieso nicht auf ihn: "Ich hab ganz oft schon einen Termin vereinbart, um zu reden und dann... ging es nicht."

"Warum?"

Pascal hob die Schulter: "Erst war ich selber überhaupt nicht stolz darauf, dass ich es heimlich mit einem Kollegen, einem Chef auch noch, tue..., mehr war das ja auch nicht. Mit einem, der auch noch verheiratet ist und dann..., dann war ich in die falschen Männer verliebt. Immer so Typen wie Lukas, für die ich ein Ausgleich war, ein Zwischendrin-Ding, ein... Fehltritt vielleicht auch mal. Kaum mochte ich einen, kam der scheiß Sex dazwischen und dann fühlte es sich an wie bei dem Ersten, wie damals."

Carl schnaubte: "Weil du es dazu machst!"

"Nein! Weil die mich..."

"Ich, ich, ich..., du bist kein wehrloses Opfer, Pascal! Das hatten wir doch schon oft genug jetzt. Geh mit deiner Tour nicht wieder..."

Bardo unterbrach diesen Ehestreit, indem er leise zu Carl sagte: "Er sollte doch was sagen. Wenn er sich so fühlt, dann..."

Kai stand auf und schob sein Glas weg, in dem sich ohnehin gerade eine Wespe mutig das Leben zu nehmen versucht hatte: "Nee, Carl hat Recht. Selbstmitleid ist unsexy, dafür werde ich außerdem nicht bezahlt. Wir können hier labern, Pascal, aber das wird nix ändern. Du bist mit Carl zusammen, dann geh mit ihm zu deinen Eltern und sag denen endlich Bescheid!"

"Was?"

"Du hast mich schon verstanden. Anstelle hier rum zu labern, kannst du ja mal was tun."

"Wie soll ich das denn machen?!"

"Na, ganz klassisch halt. Du gehst durch die Tür und outest dich, ganz altmodisch, verdammt noch mal!" Gereizt verschränkte Kai die Arme.

Carl lächelte und sah Pascal an. Unternehmungslustig rieb er sich die Hände: "Ja! Das machen wir! Gleich heute! Jetzt!"

Pascal ließ die Schultern hängen und wandte ein: "Wir haben getrunken, schon vergessen? Und morgen fliegen sie in den Urlaub."

"Scheiße! Dann fahr ich jetzt, verdammt noch mal! Ich hab keinen Bock mehr auf dein Gejammer. Pack dein Zeug, wir fahren hin und dann will ich nie wieder was hören!" Die Abteilung Abartigkeiten brach in Jubel aus, der Rest von Kais Verstand fiel mal wieder in Ohnmacht.

Bardo sprang sofort auf und rief: "Ich komme mit!"

Carl sprang ebenfalls auf.:"Ich auf jeden Fall auch. Gut, dass Lukas einen Schlüssel hat. Den rufe ich gleich mal an." Er wandte sich an Pascal und kommandierte mit blitzenden Augen und in die Hüfte gestemmter Faust: "Los geht’s!"

Pascal machte tatsächlich mit und Carl gewann seine gute Laune zurück. Er packte eine kleine Tasche mit Sachen für eine Nacht, zog sich noch mal um und drehte sich summend vor dem Flurspiegel, um zu verkünden: "Gut, dass ich noch einmal beim Friseur war. Hach, die Schwiegereltern zu treffen ist ja immer so ein Stress, ihr Süßen. Wie ist das mit diesem T-Shirt? Macht es mich ein wenig schlanker? Was meint ihr?" Ein irgendwie niedlicher Humor blitze in seinen Augen. Das optimistische und lebensfrohe Selbst war wieder da und das machte Spaß.

Kai meinte, dass die hellblaue Farbe super zu Carls heller Haut, den süßen blauen Äuglein und seinen blonden Haaren passte und hakte das Thema ab mit dem Ausspruch, dass er sofort losfahren wolle, weil sie sicherlich drei Stunden brauchen würden und er schon so langsam müde wurde.

Eine Stunde später hockten sie zu viert in ziemlicher Hitze in Carls kleinem Wagen und schwitzten ein wenig, weil die Sonne das Auto vollkommen durchgekocht hatte. Die Klimaanlage röhrte mutig dagegen an, aber Kai war gereizt und hasste den Tag. Er hasste Autofahren und die Strecke war nicht ohne. Schräge Abendsonne machte das Ganze zu einer Blinzelaktion, und der Verkehr war, dank Ferien und Wochenende, dicht. Zum Glück musste er kaum denken, sondern folgte der monotonen Stimme aus Pascals Navigationsgerät.

In so ziemlich seinem einzigen hellen Moment an diesem Nachmittag hatte Pascal seine Tasche und das Navi aus seinem Sportwagen geklaubt, bevor er sich in Carls Auto nach hinten gesetzt hatte, um Bardo mit den langen Beinen den Vordersitz frei zu lassen.

Bardo kümmerte sich um die Musik und reichte Kai hin und wieder etwas zu trinken an. Hinter ihnen saßen Pascal und Carl. Der telefonierte mit Lolli, dem er nun selber gestehen musste, dass er tatsächlich mit Pascal zusammen war. Die Unterhaltung setzte sich fortm wie Kai es befürchtet hatte. Nachdem der hysterische Anfall überstanden war, musste Carl Rede und Antwort stehen und zwar sofort. Bei Lolli ließ sich dergleichen nicht verschieben. Carl gestand, dass er Passi eigentlich ernst nahm und sich von ihm aktuell auch ernstgenommen fühlte, und nein, er ihn nicht nur wegen Lukas tröstete, und ja, sie tatsächlich auch im Bett klar kamen, und nein, Pascal selber eben nicht so locker und unbesorgt schwul war, wie Carl sich das für die ganze Welt wünschte. Aber ja, er natürlich auch Passis Körper ziemlich scharf fand. Er versprach dann, mit schrägem Seitenblick auf seinen Freund, bei Gelegenheit auch mehr intime Details springen zu lassen. Darauf musste er sich dann lauter intime Details zu Lollis mangelhaftem Liebesleben anhören und tat dies mit geduldigem Tantenlächeln. Pascal hockte, mit roten Ohren, neben ihm, ließ sich von ihm streicheln und starrte aus dem Fenster, die Arme verschränkt und die Miene ebenso besorgt wie auch nervend deprimiert.

Nach Hause zu fahren war für Kai sonst immer ein anstrengendes Unterfangen. Es weckte immer noch die dummen Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend, in der er sich absolut nicht wohl gefühlt hatte. Allerdings vermischte es sich dieses Mal nach und nach mit schönen Gedanken und zunehmender Sehnsucht nach seinem Freund. Er durchquerte den Ort und sah die gewohnten und nicht wirklich geliebten Gebäude. Das Schulgebäude, die Turnhalle daneben, und die Kirche. Dann bog er in Richtung der Schrebergärten ab und parkte Carls Wagen davor.

"Ihr geht zu Passis Eltern und Bardo und ich schauen im Schrebergarten meiner Eltern vorbei." Kai hatte keine Lust, im Auto eingepfercht zu hocken und zu warten. Er hatte überhaupt keinen Bock, bei Pascals Eltern deren besorgten und ablehnenden Blicken ausgesetzt zu sein, und er hatte keine Lust, mit Bardo unter den Augen der Nachbarn bei seinen Eltern aufzulaufen.

Müde, und mit Kopfweh vom Autofahren, blickte Kai Carl und Pascal hinterher, die sich per Abkürzung durch die Gärten in Richtung Pascals Haus aufmachten. Dann sah er zu Bardo und wies um sie her und dann den Hauptweg entlang: "Wir gehen zu meinen Eltern in den Garten. Mit Glück treffen wir niemanden, okay?"

Fröhlich, mit dem für ihn so typischen hopsigen Gang, startete Bardo und schaute sich neugierig um. Kai hatte Glück. Sie trafen fast niemanden. Die Gärten waren zwar recht belebt, immerhin in den Schulferien und bei bombigem Wetter am Wochenende. Aber sie begegneten nicht vielen Leuten auf den Wegen. Kai kannte Keinen von ihnen wirklich und die Meisten nahmen sicherlich an, dass Bardo und er auf dem Weg zu einer Grillfeier waren. Man grüßte sich kurz und zog seiner Wege. Pumpen und Rasensprenger zischten und vermischten sich mit Radiomusik und Stimmen von Menschen, die sich Anweisungen zuriefen. Eine Horde kleiner Kinder tobte an ihnen vorbei zum Spielplatz, es roch nach verschiedensten Pflanzen und Blumen und nach Grillfleisch, als sie an einer Laube mit Familienfeier vorüber gingen.

Die Glückssträhne riss nicht ab. Der Garten von Kais Eltern war leer, sie waren offensichtlich bereits nicht mehr da und hatten schon die Erbsen und Kartoffeln gewässert. Es sah gut aus für einen ruhigen Abend. Kai klappte die Sonnenliegen unter dem Kirschbaum aus und holte die Polster mit den Blumenmustern aus der Laube. Er stellte eine Flasche Wasser zwischen die Liegen und warf sich dann darauf. Bardo entschuldigte sich zum Pinkeln hinter das Gartenhaus.

Brütend blickte Kai in die Zweige des Kirschbaums hinauf. Scheiß Pascal mit seinen blöden Affären. Und nun ausgerechnet die Meiersche! Mit einem Aufschrecken wurde Kai bewusst, dass die zwei schon länger ein Paar gewesen sein mussten. Es klang vertraut, wie sie gestritten hatten, es hatte sicher geklungen, als Pascal sich auf Carls Balkon entschuldigt hatte und er hatte ein Gesicht gemacht, das Einiges hatte entschuldigen wollen. Außerdem waren da die Bemerkungen zum Thema Sex gewesen, auch das hatte nach mehr als nur einer Nacht geklungen. Sie waren schon länger zusammen. Die Geheimhaltung war schon seit einigen Wochen Thema. Das war eine ziemliche Sauerei, wenn Kai es so recht bedachte.

Er erinnerte sich daran, wie Pascal zu ihm gekommen war, eigentlich um sich zu entschuldigen, aber stattdessen voller glückseliger Verliebtheit gewesen war. War das wegen Carl gewesen? Dusselig und blöde verliebt? Ausgerechnet Pascal, der so auf Äußerlichkeiten achtete und darauf, nicht aufzufallen. Ausgerechnet er verliebte sich in die gute Tante Carla, die Trösterin der Gruppe mit dem gemütlichen runden Gesicht, aber auch mit der positivsten und schonungslosesten Einstellung von allen. Irgendwie konnte Kai schon ein wenig verstehen, dass Pascal diese Nummer selber auch etwas unheimlich gewesen war. Aber wenn man zueinander passte, dann war es doch gut? Und in diesem Moment durchschoss Kai der Gedanke, wie Carl über Passi im Bett gesprochen hatte. Hatte ihn als absolutes Karnickel bezeichnet. Und gleich darauf folgte seine Erinnerung daran, dass Pascal sich bitterlich beschwert hatte, dass der Neue auch nur hatte Sex haben wollen. War das etwa auch schon Carl gewesen?! Auf der Fahrt eben hatte Lolli auch gleich nach Sex gefragt. Auweia, allein diese Idee, dass die zwei...? Kai schüttelte den Kopf, um diesen Gedankengang abzustreifen.

Bardo ließ sich neben ihm auf der anderen Liege nieder und trank einen Schluck Wasser, dann sah er Kai forschend an: "Und jetzt?"

"Wir warten. Carl und Pascal werden sicherlich nicht ewig brauchen, oder?"

"Hm." Unruhig blickte Bardo sich um.

"Is was?"

"Nee, nur... ich hab voll Hunger, Kai."

"Ach du scheiße, das hab ich vollkommen vergessen! Du wächst ja noch. Was machen wir denn nur?" Suchend blickte Kai sich um, dann erhob er sich: "Komm, ich schau mal, ob wir das mit ein paar Sachen aus dem Garten überbrücken können, bis die Anderen sich mit den Eltern ausgesprochen haben." Und das machten sie in der nächsten Zeit. Es fanden sich noch ein paar Erdbeeren, eine Handvoll Kirschen und endlich hatte Kai sich mit einigen Erbsen in einer Schale auf die Liege zurückgezogen und pulte die aus. "Wir gehen einfach gleich was zu essen suchen, wenn die zwei doofen Hornochsen wieder auftauchen."

"Ich finde die gar nicht so doof. Außerdem wird Pascal sehen, dass es leicht ist, sobald sie angefangen haben zu reden." Bardo ließ sich neben Kai nieder und nahm sich eine Erbsenschote, um die nach Kais Vorbild zu pulen und misstrauisch zu probieren: "Hm. Lecker." Mit mehr Tempo machte Bardo weiter und futterte sich durch.

Nachdenklich blickte Kai in den dunkler werdenden Himmel. "Carl ist eben nicht die Sorte Freund, die er sich für diesen Tag vorgestellt hat." Kai seufzte genervt davon, dass Passi ihn in seine bescheuerten Probleme mit hineingezogen hatte.

"Aber gerade das sollte es leichter machen, nicht wahr?"

"Leichter?"

"Ja. Weil seine Eltern so sehen können, dass er wirklich einen Freund hat, den er gern hat. Er zeigt ihnen, dass er nicht oberflächlich ist und so. Und er hat das totale Glück, dass Carl sich selber so sicher ist. Er wird die Familie total überzeugen, nicht? Da ist er für Pascal doch der perfekte Freund."

Nachdenklich überlegte Kai, wie Pascal und Carl sich wohl gerade fühlten. "Wie ist es denn bei dir? Hast du dir überlegt, ob du dir nicht mal einen Freund zulegen willst, Bardo?"

"Nö."

"Nö? Das hört sich irgendwie falsch an. Hattest du nicht mal anders geklungen?"

"Nein, ich überlege wirklich nichts in der Art." Bardo grinste schief: "Eines Tages wird es mich erwischen. So wie bei dir. Das wünsche ich mir."

So wie bei ihm selber. Kai hatte Jan eine Nachricht geschrieben, als sie aus Berlin losgefahren waren. Er zog in Gedanken das Handy hervor und blickte darauf. Keine Antwort, aber seine Sehnsucht brachte ihn sofort dazu, eine kurze Meldung zu schicken, dass er mit Bardo im Schrebergarten hockte. Dann machte er ein Foto vom Bambi mit süßen Sommersprossen und Erbsen.

"Der Beweis. Wir sind an diesem Wochenende auf dem CSD gewesen, Fotos von uns und Lolita gibt es sicherlich jetzt schon zu Hauf im Netz. Eigentlich hätten wir jetzt auf einer total tollen Feier sein können. Mit lauter halbnackten Jungs, mit einem halbnackten Lukas... vermutlich hätten wir mit Noppi und Lukas in einem Zimmer geschlafen und den beiden beim Sex zusehen dürfen. Und jetzt? Was machen wir stattdessen? Wir geraten in Carls Liebesaffären, nur um dann in die Pascal-Falle zu tappen und die hat uns bis zu mir nach Hause geführt, wo wir jetzt im Schrebergarten Erbsen pulen, weil ich mir sicher bin, dass meine Eltern von dir den falschen Eindruck bekommen würden. Das ist kaum noch zu schlagen." Er seufzte: "Tut mir leid, Bambi. Ich bin schlimmer als Passi, echt jetzt."

Bardo lachte los: "Siehst du, Kai, mit dir hat man immer total viel Spaß!"

"Langeweile meintest du eher."

"Nein. Mit dir hab ich wirklich immer Spaß, Kai. Wirklich!"

Kai grinst: "Und Hunger, nicht?"

Der Blick, den Bardo ihm im nächsten Moment zu warf, war tatsächlich hungrig, aber auf eine gänzlich andere Art. Sehnsüchtig. Merkwürdig ruhig erwiderte Kai den Blick, sah in die hübschen, treuen Rehaugen, bis Bardo hastig den Blick abwandte. Und in dem Moment erkannte er etwas tief in sich selber. "Die Sache mit dem Freund war gelogen, nicht? Du willst Enen haben. Du hattest vorhin übrigens Recht, Bambi." Sachte schob Kai die dicken Haarsträhnen, die Bardo in die Augen gefallen waren, mit den Fingerrücken zur Seite.

"Womit?" Bardo sah ihn kurz an, dann senkte er seinen Blick auf die Erbsen in seiner Hand.

"Man kann jemanden platonisch lieben."

Überrascht hob Bardo den Kopf. Sie sahen sich in die Augen und Bardo nickte leicht, dann strahlte er Kai mit einem Mal an. Glück pur. Seine Zähne blitzten hell zwischen den Lippen auf, als aus dem Strahlen ein Grinsen wurde, dann lachte Bardo leise auf: "Danke, Kai. Das... ist wie Weihnachten mit dir."

Kai zog die Unterlippe zwischen die Zähne und verzweifelte daran, wie schön das Bambi sein konnte, wenn er glücklich war. Dann beugte er sich vor und küsste ihn ganz leicht auf den Mund. Er konnte das Lachen spüren, dann die Überraschung, mit der Bardo fort zucken wollte. Rasch schob Kai eine Hand in Bardos Haare und schloss die Augen, küsste ihn noch einmal, dieses Mal richtig.

Es wurde keine dumme Knutscherei, obwohl sie sich länger küssten, als Kai das geplant hatte. Und es war nicht erotisch, sexy oder anturnend, das Bambi zu küssen. Es fühlte sich warm an, gemütlich, wie Teil der Unterhaltung. Verwirrt betrachtete Kai den verträumten Gesichtsausdruck des Jungen, als er sich wieder auf Armeslänge entfernt hatte. Mit dem Daumen strich er einmal über seine Wange, dann ließ er die Hand fallen. Er holte Luft und stockte, dann seufzte er leise und meinte: "Ich bin mir irgendwie nicht sicher, ob ich dich um Verzeihung bitten sollte."

Mit einem halben Lächeln nickte Bardo und hob ein wenig die Schulter: "Nee."

"Aber, hast du..., hast du das hier als Kuss unter Freunden verstanden?' Irgendwie kam es Kai sehr merkwürdig vor, solche Worte zu sprechen. Er musste es gar nicht.

Bambi nickte: "Klar."

"Echt? Weil ich..." Kai senkte den Kopf: „… weil ich nur Jan lieben kann."

"Versteh ich."

"Dann bist du...?"

"Kai. Klar."

"Aber..."

"Ach, ist krass in Ordnung, ehrlich." Bardo lächelte und sah auch sehr in Ordnung aus.

Und genau in diesem Moment wurde Kai klar, dass sie sich mit genau denselben Halbsätzen unterhielten wie Thilo und Jan und er musste lachen. Bardo fiel mit ein und so kam Martina den Weg zwischen den Lauben entlang und erwischte sie, während sie miteinander lachten und sich mit Erbsenhülsen bewarfen.

157

Und so sehr Kai geglaubt hatte, dass es jetzt stressig werden würde, dass er Ärger bekommen würde, dass seine Mutter ausrasten würde. Es passierte nichts davon. Es gab einen Blick, es gab so blöde, peinliche hochgezogene Augenbrauen, als sei Kai nun vollkommen durchgeknallt, wie damals als er die Tanzstunden verweigert hatte. Dann kehrte trügerische Ruhe ein. Seine Mutter nahm ihn in den Schwitzkasten. Aber nicht dafür, dass er mit einem sehr jung aussehenden Freund im Garten hockte, sondern dafür, dass er sich dort vor ihr versteckt halten wollte, statt sie nett zu überraschen, wenn es ihn schon mal in die Gegend trieb.

Kai und Bardo saßen eine gute halbe Stunde, ungefähr zwei Tonnen Salat, Brötchen, Erdbeeren mit Sahne und Vanilleeis und eine halbe Millionen Fragen später bei Kais Eltern auf der Terrasse. Es war dunkel geworden und frischer. Kai hatte sich einen Pullover übergezogen und Bardo war mittlerweile sicherlich komplett überfressen. Die Stimmung war herrlich. Es lief eine nette Sendung im Radio in der Küche, Kais Mutter summte gelegentlich mit ihren Lieblingsliedern mit und Kai war mal wieder über alle Nachbarn und Verwandten informiert. Seine Mutter war vollkommen über Bardo, seine Familie, Kai, Jan und alles andere, was sie sonst noch interessierte und vor allem gar nichts anging, im Bilde.

Die Ursache für die gute Stimmung war erstaunlich. Die Information, dass Pascal sich samt neuem Freund bei den Eltern outen gegangen war, hatte den Abend gerettet. Und zwar sofort. Kai konnte es nicht glauben, aber das Gesicht seiner Mutter, von verwirrt und etwas sauer und misstrauisch, nahm sofort eine Wendung in Richtung ziemlich zufrieden und ein wenig gönnerhaft, als er ihr den Grund für seinen spontanen Besuch gesagt hatte.

Kais Laune war nicht so dolle. Daher ketzte er rum, dass seine Mutter Jan eine Partnerlook-Weste gekauft hatte und moserte, dass er sich ab nun total vorsehen müsse, um nicht so spießig und peinlich gleich angezogen daher zu kommen, als sie ihn fragte, ob Jan hinein passen würde. Seine Mutter ignorierte den Einwand und gestand, dass die Westen im Doppelpack tatsächlich billiger gewesen sein und tatsächlich ein Set waren. Unvorsichtig sagte sie dazu: "Ist es wirklich so schlimm? Partnerlook stimmt schon ein wenig. Deine war das Mädchenmodell, Kai. Ich dachte, dass es für deine schmalen Schultern passt." Das brachte Bardo zum Kichern und Kai zum Kochen. Und ihm fiel keine passende Retoure ein auf diese Nummer.

Aber insgesamt war der Abend herrlich, endlich einmal erholsam, ziemlich lecker und superschön. Sogar Bardos Indiskretion in Bezug auf seine Gefühle für Kai waren erträglich, weil Kais Mutter das niedlich fand und als Schwärmerei abtat und Bardo das voll und ganz zuließ. Sie erinnerte sich, im Gegenteil, durch den Jungen motiviert an ihre erste Liebe und so schwärmten Bardo und sie sich beide irgendwie auf Kicherniveau angekommen durch die Erinnerungen an erste Küsse.

Des Rätsels Lösung für den angenehmen Abend war leicht. Es war der Skatabend von Norbert und der fand bei seinem Kumpel statt. Martina war einem Gegenabend der Frauen bei ihrer Schwester knapp entkommen, weil diese eine Einladung von Imkes Eltern erhalten hatte.

Martina hatte nach den Nachrichten am Abend dann mit einem Mal das dumme Gefühl gehabt, dass sie die Pumpe zu schließen vergessen hatten und war noch einmal zum Garten raus, um es dem, dann sicherlich leicht angetrunkenen, Norbert,in der Nacht nicht mehr zuzumuten. Sie war offenkundig ein wenig überrascht über den Besuch im Garten gewesen, aber hatte sich, nach einer misstrauischen Attacke in Form von Mutti-Fragen, von der Ehrlichkeit ihres Sohnes und Bardos Bambiblick wieder vollkommen beruhigen lassen. Im weiteren Verlauf sorgte Eierlikör zum Eis bei ihr für rote Bäckchen und Gekicher.

Sie tauschte die Eisschälchen auf dem Tisch gegen eine Schale mit Erdnussflips aus und reichte Kai noch ein Glas Eistee. "So, dann haben die Feinwebers heute also den Tag der Wahrheit, ja?" Ihr Tonfall bot eine gewisse Ahnung von Genuss an der Situation. Dass Feinwebers sie trotz aller Entschuldigungen und Gesprächsversuche geschnitten hatten, nachdem Norbert vor Jahren so ausgerastet war, hatte ihr wehgetan.

Kai grinste und gönnte ihr diese Genugtuung. "Hm." Er nippte von seinem Glas und schloss die Augen halb. Er war müde. Seine Kopfweh waren noch immer da. Hinter den Augen. Die brannten auch leicht, wenn er sie schloss.

Bardo meinte: "Eigentlich hatten wir gedacht, dass die nur eine halbe Stunde mit Pascals Eltern reden, und wir uns im Schrebergarten wieder treffen und Ihnen dann keinen Ärger mehr machen müssen."

"Ihnen, Ihnen! Ich sag das jetzt zum letzten Mal, Bardo! Martina heiß ich und du sagst besser mal du zu mir." Kais Mutter lehnte sich dichter: "Und wo wollt ihr alle heute Nacht schlafen?"

Kai blinzelte und unterdrückte ein Gähnen, dass sich reflexartig bei dem Wort 'schlafen' allein hatte seinen Weg bahnen wollen. Er hob die Schultern und seufzte: "Wir fahren zurück, Mama."

"Was? Gleich noch? Nach Berlin?!"

Kai gähnte jetzt wirklich und Bardo übernahm die Antwort: "Nein. Wir fahren zu Kai in die Wohnung. Er hat ja ein großes Gästebett. Da ist genug Platz falls Pascal und Carl mitkommen wollen, und ich bin dann auch gleich bei mir daheim." Er wippte mit einem Bein und nahm sich noch ein paar Erdnussflips.

"Ach, dann hoffe ich, dass die anderen bald mit ihrer Unterhaltung fertig sind und ihr losfahren könnt. Es wird ja allmählich recht spät." Besorgt sah sie ihn an, dann erinnerte sie sich an etwas anderes und seufzte: "Apropos spät. Kai, Imke ist nun am Termin angekommen. Jeden Tag könnte es sein, dass mir Hella die 'frohe Kunde' überbringt, dass sie Großmutter geworden ist und ihr Jörgi so ein toller Papa sein wird. Mir wird schon ganz schlecht! Aber Imke kann ja nichts dafür, daher kriegt sie von uns ein gutes Geschenk und eine Karte. Liegt alles schon bereit. Könntest du so lieb sein und auf der Glückwunschkarte mit ein paar Worten unterschreiben?"

"Hm. Klar."

"Ich spül das Geschirr rasch und hol die Sachen, bleibt nur sitzen!" Kaum hatte Martina sich abgewandt, als Kai Bardo warnend den Ellenbogen in die Seite rammte. Das fehlte ihm noch, dass er vom Bambi in Sachen Fregatte verraten wurde! Bardo holte Luft, aber entließ diese dann wieder und warf sich noch mehr Erdnussflips ein. Dann lächelte er und sah sich um: "Find ich übrigens toll, dass ich dein Zuhause kennen lernen durfte."

"Hm." Brummelig blickte Kai in den kleinen Gemüsegarten. Die weißen Blüten einer Kletterrose leuchteten von hinten förmlich aus der Dämmerung. Alles sah sehr ordentlich aus und vollkommen richtig. Der Geruch der Kräuter aus dem Beet gleich bei der Terrasse, das Radiogedudel und Geschirrgeklapper im Hintergrund, der Geschmack der alten Erdbeersorte. Einer Sorte, die man gar nicht mehr kaufen konnte und selbstgemachte Baiser.

Es war Sommer zuhause, und es brachte lauter gute Erinnerungen, an seine Sommer allein zuhause. Schöne Erinnerungen. Den Garten wässern, die Erdbeeren einfrieren oder gleich essen, die Nacht hindurch Filme sehen und morgens ganz früh nach dem Wässern der Erdbeeren im nahezu ausgestorbenen Krankenhaus vorbei schauen, ob er in der Ambulanz oder auf Station helfen durfte.

Kai ertappte sich dabei, dass er Bardo all dies erzählte, während Bardo ihm dann erzählte, dass eigentlich für ihn der Sommer immer in dem Haus in der Toskana stattfand. Sein Vater hatte stets vier Wochen Urlaub, sie verbrachten diese komplett dort unten. In Hitze, mit dem Zirpen der Grillen, Duft von Kräutern, Lavendel und Wein und dem Geräusch des Meeres vermischt mit dem von kleinen Motorrollern. "Da unten durfte ich, seit ich ungefähr zwölf war, auch schon immer mit einem Roller rumdüsen. Das war krass. Und wir sind immer mit dem kleinen Boot raus und im Meer schwimmen gegangen."

"Und? Fehlt dir das nicht?"

"Nö. Ich bin froh. Dieses Jahr würde Halvar mich aufziehen mit Jungs, Ansgar würde böse schauen, der ist auch zwei Wochen unten. Mama würde sicherlich Gespräche führen und außerdem müsste ich total viel Cello üben. Ich verdien lieber Geld in der Stadt und bin..." Er stockte, überlegte.

"Frei?" Kai blickte sich um. Das war man tatsächlich. Die Eltern weit weg, die Leine locker, niemand, der einem dauernd über die Schulter sah. Er sah Bardo an und sie grinsten, waren sich einig.

Kais Mutter kehrte in dem Moment auf die Terrasse zurück und platzierte ein rosa Ding vor Kai. "Hier, schau dir das mal an. Wir schenken Imke für die Kleine einen Gutschein für das Babykaufhaus in der Stadt. Da war sie mit Jörg mal und fand es supertoll. Warum verraten sie den Namen nicht? Was sind das für Moden? Jedenfalls geben wir das noch dazu. Ein Fotobuch, das deine Freundin Renate für mich gemacht hat. Sie hat es gestern geschickt."

Überfordert blinzelte Kai das Teil an und seufzte. Dann blätterte er das Buch durch und zeigte Bardo Bilder von seinem Vater, von Imke und seinem Cousin Jörg. Das Buch war sehr schön gestaltet und zeigte nicht nur die Bilder. Sie waren passend arrangiert. Beim Bild vom Kuss in der Kirche war noch eines von den Händen mit den Ringen dran, es waren kleine Bilder von den fliegenden Blumen zu dem wie Imke und Jörg vor der Kirche standen und winkten. Die Feier sah auf den arrangierten Fotos um Klassen lustiger und romantischer aus, als Kai sie in Erinnerung hatte. Er nahm sich vor, Renate für diese Mühe zu danken und war ein wenig mehr für sie. Er war gerade dabei, auf der Karte zu unterschreiben, als Pascal ihm auf sein Handy meldete, dass sie endlich fertig waren mit dem dämlichen Quatschen, ob Kai sie abholen kommen würde, weil es schon dunkel war. Klar war es Pascal augenscheinlich egal, wie Kai die letzten gut zwei Stunden umgebracht hatte.

Kai stand sofort auf und umfing Bardos Unterarm, um ihn mit sich zu zerren: "Mama, wir fahren dann los. Ist echt besser. Ich komme an einem anderen Tag offiziell vorbei und besuche Oma. Vielleicht, wenn Babybesichtigung angesagt ist oder so."

Seine Mutter erhob sich auch und seufzte: "Kai, besser du schiebst das nicht mehr lang auf. Ich... hab so ein dummes Gefühl, wenn ich Oma sehe. Ich sehe sie ja fast jeden Tag, aber dennoch scheint sie immer weniger zu werden." Sie gingen durch den Flur nach vorn.

Besorgt blickte Kai zu seiner Mutter: "Weniger? Nimmt sie ab?" Seine Großmutter war immer schon sehr schlank gewesen und eine Diät war wirklich keine gute Idee für sie.

"Nicht direkt das. Irgendwie wird sie schmaler ja, aber es ist nicht Gewicht, es ist anders. Komm vorbei, mein Schatz und schau selber. Es tut ihr so gut, dich zu sehen. Sie schwärmt von dir und deiner Freundin. Wie schön ihr zusammen ausgesehen habt und wie nett es war, mit euch Kaffee zu trinken."

"Mama! Hast du etwa...?"

"Natürlich lasse ich sie in dem Glauben, Kai. Sei so lieb und werde jetzt nicht wegen so einer Sache zickig."

"Zickig?"

Doch sie hakte das Thema ab, indem sie geschäftig in den Keller lief: "Kai, wo du schon da bist, gebe ich dir gleich noch ein paar Kleinigkeiten mit!"

Kai drehte die Augen zur Decke und wenig später saßen Bardo und er im Wagen von Carl vor Feinwebers Eckhaus und der Kofferraum war voller Einmachgläser und Dosen mit Obst, Gemüse und Marmelade. Im Hintergrund lief die Verabschiedung der Feinwebers von ihrem Sohn und zukünftigen Schwiegersohn.

Kai war froh, dass der Friede sich noch nicht auf ihn ausgedehnt hatte, so dass sie einfach vollkommen unhöflich im Wagen sitzen bleiben konnten, auch wenn Bardo besorgt zum Haus rüber blickte. Missmutig deutete Kai mit dem Daumen nach hinten: "Ein Glück hab ich Jan, den Vielfraß zuhause. Gegen meine Mutter kommt wirklich niemand an, bei Vorratshaltung ist sie echt entfesselt. Tut mir leid, dass sie uns erwischt hat." Wobei das gelogen war. Es tat ihm nicht leid, der Abend war toll gewesen.

Bardo lächelte und trank noch einen Schluck von dem warmen Eistee, den Kai als Doping eingepackt hatte: "Nö. Ich mag sie."

"Allerdings hattest du das Glück, dass sie dich auch ganz toll fand. Hast ja auch den totalen Lieblingsschleimersohn rausgekehrt."

"Gar nicht. Ich bin immer so..."

"Immer so gut erzogen? Ja, eigentlich ist das richtig. Immerhin, mit dir kann man sich unter Leute wagen. Wenn du dich nicht gerade outest, dass die Polizei kommen muss, bist du gesellschaftsfähig."

Bardo grinste Kai rot im Gesicht an: "Ach ja... das. Aber das weiß deine Mutter zum Glück nicht."

"Und ich werd ihr das nicht sagen. Fehlte noch, dass wir zu dem Thema eine Gesprächsrunde einläuten müssen." Kai klappte die Sonnenblende runter und fand einen beleuchteten Spiegel. Nebenher zupfte er seine Haare zu recht und rechnete sich aus, wann er wieder zum Friseur musste. "Gott! Das war bei mir damals schon immer so scheiß peinlich mit all der Aufklärung. Dich hat sie wenigstens nur mit Essen vollgestopft. Tut mir übrigens leid, aber wenn dir jetzt schlecht ist, bist du selber schuld. Mitleid kannste vergessen."

"Nö, ich kann viel essen, mir geht es gut. War doch krass nett. All das Eis und die Erdbeeren. Ich wusste gar nicht, dass es so viele Sorten Erdbeeren gibt."

"Tut mir leid." Kai meinte, den Vortrag über Pflanzen und Bardo raffte das sofort.

"Nee, das war total interessant. Ich mag deine Mutter. Und Pascals Eltern sehen auch so lieb aus."

"Bambi, du magst echt jeden! Ich bin schon fast beleidigt, wenn du behauptest, dass du mich magst. Kann ja nix wert sein."

Bardo und Kai grinsten sich an, dann beugte Bardo sich dichter und sagte leise: "Nö. Dich lieb ich. Wirklich." Und genau als Bardo Kai einmal sachte auf den Mundwinkel küsste und das sommerwarme Gesicht ein wenig gegen seinen Hals drückte, was Kai Gänsehaut machte, riss die Meiersche die Wagentür auf und brüllte fröhlich: "Kaum lässt man euch mal für eine Sekunde allein, treibt ihr Unzucht, ihr wilden Kaninchen!"

Knallrot und sauer starrten daraufhin Kai und Bardo ihn an, auch wenn Kai gestehen musste, dass die Situation keineswegs so rübergekommen war, wie sie von ihm zumindest empfunden wurde.

"Sekunden?! Ihr hab verdammte drei Stunden gebraucht, ihr Beziehungschaoten!" Wütend verschränkte Kai die Arme und blickte noch mal zur Uhr. Elf Uhr durch. Sie würden vor ein Uhr nicht im Bett sein. Er blickte von einem sonnig grinsenden Carl zu Pascal rüber, der mit seinen Eltern laberte und knurrte: "Habt ihr wenigstens alles geklärt?"

Carl nickte, zog sich seine Jacke über und sagte gemein lächelnd: "Nicht so gut und durch und durch wie ihr zwei Süßen anscheinend, aber..."

"Wir waren bei meiner Mutter auf der Terrasse und haben Eis gegessen. Nur zu deiner Information. Geht es dich aber auch nichts an, was Bardo und ich wie und warum tun, klar?!"

"Oho, ich nehme an, dass Jan das auch nichts angehen soll, Kai? Wollen wir gleich hier das Schweigegeld verhandeln, meine Süße?"

"Wage es nicht..."

Bardo versuchte es mit dem Erklären, verhedderte sich hilflos in Andeutungen und brachte Carl, dessen Äuglein verdächtig glänzten, mehr und mehr zum Kichern, bevor er aufgab, ausstieg und das glückliche Paar ehrlicher und endlich geouteter Mitmenschen hinten einsteigen ließ.

Auch Pascal bekam von seinen Eltern ein paar 'Kleinigkeiten' mit auf den Weg, weil sie diese dank Urlaub sonst an Nachbarn verschenkt hätten, so dass der Kleinwagen bis unter die Luke vollgestopft ganz gut tiefergelegt zur Autobahn tuckerte.

Kai gönnte den beiden keine Schonfrist. Scharf blickte er sie im Rückspiegel an, als er an der Ecke kurz halten musste: "Und? Glücklich geoutet?"

Pascal nickte leicht und blickte aus dem kleinen Fenster, dann zu Kai zurück. Er zögerte, das spürte Kai und sah, dass Carl ihm im nächsten Augenblick einen ziemlich gemeinen Stoß in die Rippen verpasste. Nach diesem Tag hatte Passi vermutlich blaue Stellen dort, die hatte er sich aber auch redlich verdient.

Pascal seufzte auf und sagte dann: "Es tut mir leid, Kai. Ich wollte das nicht geheim halten. Immerhin war Carl auch ein Freund von dir und hatte mir eigentlich sogar den Auftrag gegeben, mit dir darüber zu reden."

"Wann?"

"Na, neulich, als ich mal bei euch war."

"Wie bitte?!" Kai legte eine Vollbremsung hin. "Du warst damals schon mit Carl zusammen, aber wer war das denn dann, der nur Sex wollte?!" Kai klappte den Mund zu. Diese Indiskretion war ihm nur so rausgerutscht. Hastig fuhr er wieder an und starrte angestrengt die ausgestorbene Dreißigzone an der Grundschule entlang.

Carls Stimme klang etwas rau zu ihm rüber: "Ich fürchte, dass ich das war."

"Hä?!" Kai hielt an der Fußgängerampel, obwohl die in der Nacht ausgestellt war und drehte sich halb herum, um die zwei anzustarren.

Es war die Meiersche, der dem Blick nachgab: "Passi ist eben so scharf, kann ich nix für. Ist doch klar, dass man dann auch mal Sex will und dann hab ich mich vielleicht etwas unglücklich ausgedrückt hinterher."

Pascal, von jetzt auf gleich ziemlich böse, zischte ihn an: "Etwas?! Du hast gesagt, dass..."

"Ja ja ja, ich weiß, was ich gesagt habe, das ist doch aber Geschichte und erledigt."

"So?" Kai grinste gemein in sich rein: "Für mich nicht. Was hat Carlchen dir gesagt? Muss ja ein Knaller gewesen sein." Er startete den Wagen erneut und lenkte ihn in Richtung Umgehungsstraße und Industriegebiet.

"Er hat gesagt, dass das ja eine tolle Überraschung sei, wie gut das mit uns passt im Bett und dass wir uns ja mal wieder treffen könnten, wenn ich nichts Besseres vor habe. Mal wieder treffen..." Offensichtlich von der Erinnerung wütend verschränkte Pascal die Arme.

Kai hätte fast die Stirn gegen das Lenkrad gehauen. Das war ja nicht auszuhalten: Dazu konnte man nur sagen 'Herzlichen Glückwunsch, Fettnapf getroffen, hundert Punkte' War das peinlich! Mies drauf starrte er in die Umgebung.

Bardo war einmal mehr scharfsinnig und ließ sich von Peinlichkeiten nicht abhalten, das Richtige zu sagen.: "Pascal, das war so gemeint gewesen, dass er sich nicht vorstellen konnte, dass ein so toller Typ ihn gut findet und du hast es so verstanden, dass er so toll ist, dass es grad so okay ist, wenn er dich gut findet? Das ist irgendwie sehr merkwürdig."

In diesem Moment errettete Carl sich selber, indem er ablenkend rief: "Halt, holde Fahrerin! Wir müssen dringend tanken, sonst müssen wir zu viert in der Pampa in diesem Wagen pennen, mitsamt aller Vorräte von Passis Eltern und das wird nicht gut, da ist Gänseleberpastete mit dabei."

Kai bog brav auf den Hof der Tankstelle und stieg aus. Carl folgte ihm und sagte: "Ich mach das, labert ihr doch peinlich weiter Danke sehr, meine Süße."

Und kaum war Carl in den Laden außer Hörweite, als Kai sich auch schon umdrehte und Pascal giftig anblickte: "Weißt du, was jetzt auf jeden Fall dran ist?!"

"Ich weiß, dass ich mich bei dir entschuldigen muss, Kai. Ich habe..."

"Nein! Nicht du bei mir, mein Lieber. Deine Eltern schulden meiner Mutter eine dicke Entschuldigung. Dicker als dein Freund, und vorher rede ich nicht mit dir. Hab ich mich klar ausgedrückt?!"

"Aber..."

"Ich bin nicht mehr auf Empfang!"

Pascal starrte ihn zickig und ein wenig sauer an, dann nickte er zögerlich: "Wenn sie aus dem Urlaub sind, dann sag ich meiner Mutter, dass sie deine mal anrufen soll."

"Wenn die bis dahin nicht vielleicht auch großzügig vergessen haben, dass es dich und den dort überhaupt in ihrem Wohnzimmer gegeben hat."

"Nee... Kai, das vergessen sie sicherlich nie mehr." Verzweifelt rang Pascal die Hände: "Carl war... er selbst, ganz und gar."

Und die Vorstellung der Meierschen voller guter Laune, voller nahe an peinlicher Sprüche und mit diesem tantenhaften Lächeln während er Kommentare zu Pascals Libido machte, brachte Kai zum Grinsen, dann zum Kichern und als Carl zum Wagen zurück kam, eine Dose Cola für Bardo und Gummibärchenbrause für Kai in der Hand, lachte Kai sich gerade in Tränen.

Pascal musste die Erklärungen und Kais wieder und wieder aufflackerndes, später vielleicht auch ein wenig hämisches Lachen noch bis zur Autobahn über sich ergehen lassen. Danach folgte eigentlich nur noch eine Erzählung von Carl, in der die Einrichtung von Pascals Eltern kritisch begutachtet und für kaum erträglich gefunden worden war. Aber kulinarisch waren nicht nur Kais Mutter und Bardo auf einer Wellenlänge gewesen. Carl war begeistert von Pascals Mutter und ihrem Sinn für einen 'kleinen Imbiss'.

Nach einer Autofahrt, die sich länger anfühlte als sie vermutlich gewesen war, wankten sie zu viert mit überreichlich Lebensmitteln bepackt in die Wohnung hoch. Kai riss die Fenster für eine Weile auf und war dankbar und froh, dass auf seinem Bett und im Schrank die Gästedecken und Reservedecken bezogen waren.

Jan war noch nicht wieder da, so dass es einfach war mit der Schlafaufteilung. Bardo sollte bei Kai schlafen und das glückselige Paar im Gästebett. Nachdem das geklärt war, ging Kai sich duschen und legte für alle anderen einen Stapel der flauschigen Handtücher von Hannah raus. Erleichtert schloss Kai die Tür zum Schlafzimmer nachdem er sich umgezogen und die Zähne geputzt hatte.

Bardo warf sich gleich darauf gähnend auf Jans Seite und betrachtete das Bild, das Jan dort aufgehängt hatte, mit augenscheinlichem Interesse. Kai nackt in nachtblauer Bettwäsche. Eigentlich noch recht brav, nicht wirklich viel von ihm zu sehen, wenn auch er mit leicht angetrunkenem Schlafzimmerblick auf sie runter sah. Zögerlich überlegte Kai, ob er die Zimmertür doch besser offen lassen sollte, aber beschloss dann, dass es scheißegal sein musste. Das war das Bambi, sein Freund, nur Freund oder vielleicht seine platonische Liebe. Auf jeden Fall war das sein Bambi, Teenagerpest und es war vermutlich illegal, überhaupt über irgendetwas nachzudenken. Energisch löschte er das Licht: "Gott, bin ich müde. Scheiß Pascal!"

Bardo lachte leise und meinte nach kurzem Schweigen: "Das war ein total schönes Geburtstagsgeschenk, Kai."

"Hm."

"Wirklich. Wir haben den ganzen Tag zusammen verbracht und ich hab mich nie irgendwie doof gefühlt, wie ein Kleinkind oder so."

"Hm."

"Du machst, dass ich mich gut fühle, Kai."

Kai lächelte: "Du auch, Bambi."

"Ehrlich?"

"Hm. Und jetzt halt die Klappe, ich bin müde und will endlich schlafen!" Und in dem Augenblick klingelte das Telefon im Wohnzimmer. Da es Jan sein konnte, aktivierte der Gedanke die allerletzten Reserven, die Kai noch hatte. Er taumelte im Dunkeln rüber. Statt zu schlafen sprach er noch eine halbe Stunde lang auf dem Küchenfußboden sitzend mit Jan.

Jan lachte sich natürlich scheckig über den missglückten Ausflug nach Berlin, der irgendwie bei Kai im Schrebergarten geendet war. Dann ließ er sich von Kai gestehen, dass dieser das Bambi platonisch geküsst hatte und fragte sogleich etwas aufmerksamer: "Und? Wie hat es sich angefühlt?"

"Wie?"

"Na? War es geil oder schön oder..."

"Es war komisch..." Nachdenklich blickte Kai auf die leuchtende Zeitanzeige in ihrem Backofen. "Es hat sich angefühlt wie Teil der Unterhaltung", brachte er endlich hervor.

"Siehst du. Dann ist ja alles gut, hab ich's doch gewusst."

"Meinst du nicht, dass Bardo sich trotzdem irgendwie mehr davon verspricht?"

"Darum geht es nicht. Es wird nie mehr sein. Außerdem wolltest du einen Freund haben und das ist Bardo für dich. Pascal ja wohl nicht."

"Nein! Diese scheiß verlogene Zecke!" Hastig blickte Kai sich um, aber er war allein im Wohnzimmer. Leiser sprach er weiter: "Ich meine... ehrlich! Da war er mit Carl zusammen und dann hat er sich mit ihm gestritten und dann war er wieder zusammen und hat es immer nur so erzählt, als sei das irgend so ein Typ!" Kai hob den Kopf. "Merkwürdig. Weißt du, Henri hatte das vermutet. Als ich ihm von der Scheiße mit Passi erzählt hab, da hat er gemeint, dass es vielleicht jemand ist, den ich sehr gut kenne."

Jan lachte leise: "Mir tut Carl leid."

"Mir auch. Der muss sich jetzt mit diesem Zeckenfreund rumschlagen..."

"Nein. Ich mein das noch anders. All das, was du verschwiegen bekommen hast, das hat er Lolli verschwiegen." Jan kicherte albern rum.

"Auweia!" Kai lachte böse mit. "Der Ärmste bekommt sicherlich die volle Packung!" Es war so schön, Jans Stimme nach all dem Trubel noch einmal zu hören, aber Kai konnte nach einer Weile nicht mehr sprechen, weil er nur noch gähnte. Jan versprach ihm, am anderen Tag gegen Mittag vorbei zu kommen. Das klang in Kais Ohren herrlich. Am liebsten hätte er sich seinen Freund gleich durch das Telefon herbei gezogen, aber endlich gab er auf und sagte ihm Tschüss.

Als er dann nach dem Auflegen und einem letzten Pinkeln wegen des vielen Eistees noch einmal nach Bardo sah, schlummerte dieser tief und fest und sah niedlich und glücklich aus.

Zufrieden mit sich und seiner Welt schloss Kai die Augen und freute sich auf Jan und ihr Wiedersehen zum Einjährigen. Außerdem war mit Pascal doch jetzt wieder alles in Ordnung. Kai musste ihn und Carl sowie das Bambi nur noch am anderen Morgen loswerden. In angenehme Pläne verstrickt, die Jan und seinen Körper betrafen, schlummerte Kai friedlich ein.

158

Das Erwachen nach dem anstrengenden Wochenende gestaltete sich sehr angenehm, obwohl Kai noch immer Müdigkeit hinter den Augen spürte und eine leichte Verspannung im Nacken vom vielen Autofahren. Das Bambi schlummerte noch in Jans Bett und sah sehr lieb und sehr jung aus, so dass Kai sich retrospektiv ein wenig schämte, ihn geküsst zu haben.

Was war das überhaupt da zwischen ihnen gewesen? Es war Kai vorgekommen, als hätten sie mit einem Mal Kontakt und wären verbunden. Als sei da etwas zwischen ihnen, das neu war und zugleich nicht unerwartet. Grübelnd setzte er sich im Bett auf, starrte Bardo in das sommersprossige Gesicht und prüfte seine Gefühle.

Am Abend zuvor war da kein Zweifel gewesen, kein Zögern. Er hatte gespürt, dass Bardo die Situation nicht ausnutzen würde und so war es gewesen. Ehrlich und sicher. Erleichtert seufzte Kai auf und schob sich vom Bett runter und öffnete die Zimmertür. Die hatte er in der Nacht zuvor geschlossen, um nicht von den anderen geweckt zu werden. Erst in diesem Moment dachte er überhaupt an Carl und Pascal. Misstrauisch blickte er den Flur entlang. Die Tür zu seinem Zimmer stand offen, die Tür vom Bad auch. Kai tastete sich weiter in die Wohnung vor und roch Kaffee.

Die reichlichen Vorräte von ihrem unfreiwilligen Raubzug durch die Keller und Kühlschränke der Eltern waren bereits auf ihrem fertig gedeckten Tisch ausgebreitet. Die Kaffeemaschine blubberte, es duftete toll. Die offene Balkontür ließ das Gezwitscher der Vögel vom Wald und frische Morgenluft ein. Der perfekte Sommertag. Von Carl oder Pascal war glücklicher Weise nichts zu sehen. Noch übernächtigt ging Kai duschen und ließ dann ein etwas unruhiges Bambi zum Pinkeln ein. Erst als er schon angezogen war und Bardo geduscht hatte und sich gerade sein schwarzes T-Shirt über den schmalen Körper stülpte, kehrten Carl und Pascal zurück. Eine Tüte Brötchen unter dem Arm.

Die beiden gingen wie Freunde oder Bekannte miteinander um. Es gab keine Atmosphäre der Intimität zwischen ihnen. Kai empfand es als angenehm, auch wenn er genau wusste, dass es zwischen ihm und Jan stets anders war. Vor allem, wenn er wieder einmal, wie Bardo immer sagte, Jan so anschaute. Pascal schaute Carl nicht an. Weder so noch anders. Beim Hantieren in der Küche, um den Kaffee in eine Thermoskanne umzufüllen und schon mal neuen aufzusetzen, beim Umfüllen der Brötchen und der Milch in Hannahs rote Glasschale und eine Kanne wich er Carl schon fast aus.

Misstrauisch beobachtete Kai die beiden und wich selber Pascal aus. Es bereitete ihm Mühe, seinen Schulfreund anzusehen, ohne sofort wieder sauer auf ihn und seine verdammte Rücksichtslosigkeit zu werden. Um sich von der schlechten Laune durch diese Gedanken abzulenken, schielte er auf die Uhr. In Gedanken an Jan und seine Sehnsucht nach ihm verstrickt, sagte Kai rücksichtslos hoffnungsvoll "Danke für das Frühstück, fahrt ihr gleich nach Berlin zurück?"

"Ja. Wir helfen euch noch aufräumen, dann fahren wir los." Carls Blick huschte zu Pascal, der sich abwandte und mit verschränkten Armen an den Esstisch trat. Mit einem Seufzen führte Carl eine großzügige Geste aus und verkündete: "Außerdem müssen die meisten Sachen von Passis Eltern echt gegessen werden. Ihr Lieben, haut rein."

Das war ein Auftrag, den Bardo sehr ernst nahm. Im Vernichten der Sachen, die sich vor ihnen aufstapelten, war er um Längen der Schnellste und gab auch nicht auf. Und er erhielt zu Kais Freude sehr bald Unterstützung durch Jan.

Dieser kam, vollkommen übernächtigt, unrasiert, aber mit neuem Haarschnitt, mit Sporttasche in der Hand, durch die Tür und grinste die versammelte Mannschaft an. Ohne Zeremonie ließ er die Tasche an der Tür zum Wohnzimmer fallen: "Essen, das passt sehr gut. Hab das Frühstück ausgelassen, aber so langsam geht mein Magen wieder." Er ließ sich bei Kai auf der Bank nieder und stupste ihn mit der Schulter an: "Na?"

Kai beugte sich unbewusst dichter und spürte, wie Zufriedenheit einkehrte, Jan war wieder da. Und zugleich spürte er die Intimität, die er eben gerade bei Carl und Pascal vermisst hatte. Sie war einfach da, musste nicht gesucht oder mühsam aufgebaut werden. Eher im Gegenteil, bemühte Kai sich sofort, Jan nicht mehr so anzusehen und entzog sich ihm, bevor Jan ihn küssen konnte. Leicht besorgt fragte er: "Dein Magen?", bevor er aufstand, um Jan einen Tee zu kochen.

"Na, Kai, Familienfeier. Hast du eine Ahnung, wie viel Schnaps man da trinken muss? Mein Onkel brennt den selber."

Jan war aufgestanden, um sich seinen Lieblingsbecher zu holen und so geriet Kai in der Küche dann in seine Fänge. In Folge mussten sie erst einmal knutschen, natürlich von Carls Kommentaren begleitet, so dass Kai rascher damit aufhörte als sein Körper wollte. Aber aus der Nähe sah Jan auch tüchtig verkatert aus, hatte Ringe unter den leicht roten Augen und roch entfernt nach Gelage. Kai schob ihn von sich und setzte das Teewasser für ihn auf: "So besoffen hast du gestern Nacht gar nicht geklungen."

Jan lehnte sich gegen ihn und drehte eine von Kais Locken um seinen Zeigefinger, aber ließ ihn dann entkommen: "Nee, das war vorher. Ich bin nach dem Telefonanruf ja erst zu den Anderen gestoßen und wir haben Karten gespielt."

"Auweia, wann warst du denn im Bett?" Gemeinsam gingen sie zum Tisch zurück. Kai setzte sich als erster.

Jan grinste und beugte sich dichter, um Kai mit seinem Dreitagebart im Nacken zu kratzen: "Bett? Das hab ich für nachher geplant."

Kai blinzelte, wich aus und stellte Kandis und Sahne zu ihm rüber: "Ja, aber..." Er stockte und verschränkte die Arme. Er war müde in die Falle getappt und blinzelte seinen dämlich grinsenden Freund etwas sauer an.

Carls Tantengrinsen ähnelte mit einem Mal dem eines lieben Haifischs kurz vor der Mahlzeit, die Situation war ihm nicht entgangen. "Bett ist hier das Thema, so so. Na, dann wird das ja bald Zeit, dass wir uns unsichtbar machen, was? Ach, Gastgeber, die ihre eigenen Pläne haben, sind aber auch immer so ungemütlich." Carl blickte zur Uhr.

Kai nickte instinktiv und nicht besonders höflich. Er freute sich auf den ruhigen Nachmittag allein mit Jan. Einen Augenblick später klingelte es an der Tür und der Plan fiel durch.

Ein Wirbelsturm kam über sie. Lolita, Lukas und Noppi sowie Lena und Henrike stapelten sich um ihren Tisch herum. Alle hatten mächtig gefeiert und keiner von ihnen hatte ein Bett auch nur von weitem gesehen. Lolli trug gar noch immer neonpinke Fingernägel in Kombination mit Jeansshorts und zu engem T-Shirt in dem gleichen Farbton.

Lena hatte sich wegen Henrike mit der Freundin gezofft, bei der sie übernachten wollte und war daher auch schon wieder dabei. Offensichtlich hatte die Freundin sich etwas anderes unter der Nacht vorgestellt, als sie Lena für das Wochenende eingeladen hatte.

Henrike berichtete in ihrer nüchternen und zugleich unbesorgten Art, dass Lena und sie quasi rausgeflogen waren, nachdem Lena ohne zu zögern und schlankweg behauptet hatte, dass sie nun mit Henrike zusammen war. Henrike selber schien dies nicht als Lüge aufzufassen, sondern eher die Gelegenheit ihrerseits zu nutzen, um Lena auf die Pelle zu rücken.

Lolli hatte einen fabelhaften Abend gehabt. Er war von einem Motorradpolizisten gerettet worden, als er mit den hohen Absätzen umgeknickt war. Der Bulle sei noch schärfer gewesen als Lukas und habe ihn persönlich zur Feier gebracht. Es war eine wilde Nacht geworden. Sonnig grinste Lolli seine pinkenen Nägel an: "Hach, von dem lass ich mich wirklich jederzeit festnehmen."

Etwas mies drauf erinnerte Noppi: "Es ist nichts gelaufen, Lolita. Du bist mit uns nach Haus und hast bei Carl das Bett belegt." Was Kai zur Annahme brachte, dass deswegen zwischen Noppi und Lukas auch nichts hatte laufen können.

Lena fügte grinsend an: "Außerdem war er nur verkleidet. Das war kein echter Polizist."

"Zum Einen ist das egal und zum Anderen hätte alles passieren können. Alles. Ach, ihr Lieben, diese Möglichkeiten! Es hat so sehr gefunkt..."

"Das war Statik. Was ziehst du auch Polyesterfummel an", versetzte Lukas gemein grinsend und erhielt eine Fingernagelbohrung im Handrücken als Antwort. Das Geschrei ging über in weitere Details zu der geilen Nacht der anderen. Kai kochte überfordert neuen Kaffee und Carl und Pascal ließen sich dann erst einmal in aller Feierlichkeit und nachhaltig rund machen für die Geheimhaltung der vergangenen Wochen.

Pascal überstand die Tiraden mit verschränkten Armen, gesenktem Kopf und Blick auf sein Handy, auf dem er, extrem unhöflich, herum tippte.

Carl wehrte fröhlich gelassen ab und ließ die anderen ein wenig an seinen Plänen für seine frische Beziehung teilhaben. Einer der Pläne beinhaltete den Besuch bei Carls Eltern, weil diese immer extrem unfröhlich waren, wenn ihr Sohn einmal wieder mit einem neuen Freund anrückte. Das ließ Carl sich, laut Lolli, nie entgehen. Davon abgesehen, dass Carls Eltern kaum mit ihrem Sohn sprachen, weil dieser damals alles von der Oma geerbt und nicht freiwillig mit ihnen geteilt hatte, luden sie ihn aber immer mal wieder zum Kaffeetrinken ein, um dann in eine Atmosphäre der Anschuldigungen, des Streits und der Drohungen einzutauchen. Seit Jahren kam Carl daher nie ohne einen Freund, oder jemanden, den er als solchen für den Tag angeworben hatte. Auch Lolli war schon als solch ein Freund mitgekommen und hatte den Tag erlitten.

Als Lolli mit Hysterie, Anschuldigungen und Indiskretionen fertig war, war es halb drei am Nachmittag und drei Kannen Kaffee später. Kai spürte Müdigkeit hinter seinen Augen und Kopfschmerzen, vermutlich von zu viel Koffein. Intensiv wünschte er sich alle Anwesenden mit einer Ausnahme fort.

Bardo erhob sich in diesem Moment als erster. "Ich muss dringend nach Hause und mit dem Abdecken der Möbel anfangen. Die Maler kommen morgen."

Kai quälte sich von der Bank hoch und brachte ihn in den Flur. "Morgen schon?"

"Hm. Eine Woche lang wollen sie brauchen. Ich komme morgen Abend nach der Arbeit vorbei, ja?"

Kai grübelte, ob irgendwas los war, aber er musste nur lernen. "Ich bin da. Wenn wir nicht da sind, hast du den Schlüssel, okay?" Sie küssten sich zum Abschied. Oder eher, Bardo küsste ihn. Kai bemerkte es erst, als er die Berührung auf den Lippen wahrnahm und gar nicht störend fand. Strafend blickte er dem Bambi in die treuen Augen.

Bardo lächelte ein wenig entschuldigend, als wüsste er, dass er sich etwas über die Grenze gewagt hatte, dann strich er Kais Schulter entlang. "Die sind alle gleich weg. Jan hat schon den krassen Mörderblick."

Mit einer Mischung aus erleichtert und, um diese neue Nähe zwischen ihnen, besorgt, blickte Kai Bardo nach. Kaum war die Tür zu, als Carl und Pascal sich auf den Weg machten. Ganz offensichtlich brauchten die zwei ganz, ganz dringend eine Pause von ihrem verdienten Stress. Kai sah ihnen nicht undankbar hinterher, denn ihr Abrücken bedingte, dass die Atmosphäre in der Wohnung um einige Grad leichter wurde. Pascal speziell hatte nichts gesagt zu der neuen Situation, zu seinem neuen Freund, zu seiner Verteidigung, zu dem Gefallen, den Kai ihm getan hatte mit der Fahrerei oder zu seinen Plänen. Ein einfaches Dankeschön hätte vielleicht gereicht. Oder auch ein Wort zu der Geheimhaltung.

Pascal hatte das Reden komplett Carl überlassen und dessen gutmütige Freundlichkeit und die Versprechungen an Lolli, bald ein gutes Wochenende in Berlin zur erneuten Abschiedsfeier vor London zu veranstalten, hatten die Stimmung heben und retten können. Aber Kai selber spürte, dass er nicht vergeben konnte, nicht so leicht. Er war sauer, sobald er nur an Pascal dachte.

Endlich standen auch die anderen auf, um zu gehen. Lena kam leider noch vor dem Abflug zu Kai und hielt ihn in der Küche vor dem Weg in die Diele auf, wo Lolli, Lukas und Noppi sich die Schuhe anzogen und Restfressalien untereinander aufteilten. Sie lehnte sich an den Kühlschrank und überkreuzte ihre langen Beine, die auch an diesem Morgen von den zerrissenen Shorts nur unzureichend bedeckt wurden. Ihre Größe allein machte Kai Unwohlsein. Sie konnte locker zu ihm runterblicken und tat dies mit einem sturen Ausdruck im Gesicht, den er sonst eher von Jan kannte. "Ich hab da noch eine Bitte, Kai. Ach nein, du schuldest mir. Ich löse ein."

Unruhig blickte er sie an: "Was schulde ich dir nun wieder?"

"Du hast morgen frei, jedenfalls arbeitest du nicht. Ich brauch am Nachmittag deine Hilfe."

Kai begann zu verfluchen, dass er den Dienstplan vom LPP an den Kühlschrank gehängt hatte. "Ich muss lernen."

"Macht nix. Kannste auch da, wo ich dich brauche. Ich hole dich morgen um halb vier im LPP ab. Klar?"

"Klar?! Hast du sie noch alle?" Genervt starrte er sie an.

Lena lehnte sich dichter und lächelte. Er schob sich etwas auf Abstand. "Kaichen, ich erinnere, dass du mir schuldest. Die Nummer mit Ansgar für eine Hochzeit war für mich nicht leicht einzufädeln."

"Ja, aber..." "Nix aber! Ich musste auf einer Kinderfeier Musik machen!" "Wie?"

"Ja. Einer Kinderfeier von der Markuskirche! Kannst du dir vorstellen, wie viele Stunden ich die Musik rausgesucht hab?" Kai musste lachen, als er sich Lena, sexy angezogen in einer Horde Kinder vorstellte.

Ihr war nicht nach Lachen zumute. Aufgebracht zog sie die Brauen runter. "Hör mal zu! Ich hab das zwar nicht für dich gemacht, sondern, weil ich Ansgar eh geschuldet habe, aber er hat mich mit der Hochzeit zusätzlich erpresst, und ich will jetzt mit dir gleich ziehen. Morgen Nachmittag im LPP, verstanden?!" "Ist ja gut. Ich nehme aber meine Bücher mit."

"Ja. Du kannst lernen, keine Sorge." Hastig wandte sie sich ab und verschwand in Richtung Flur.

Erschöpft ließ Kai sich an den Esstisch fallen und sah sich um. Endlich war die Wohnung leer. Leider nicht aufgeräumt, aber das kam sofort im Anschluss. Jan kommandierte Kai, die Küche zu wischen und zu räumen und stapelte selber das Geschirr in die Spülmaschine, beäugte die massenhaften übrigen Vorräte und telefonierte gleichzeitig wegen des Abends mit Holger, der nach dem Lernen auch sehr gern noch eine Runde im Wald laufen gehen wollte.

Missmutig sah Kai seinen Freund an, als sie eine Weile später auf die blanken Arbeitsflächen starrten und sich ein Glas Wasser teilten. "Wieso holst du dir denn Holger jetzt ran? Ich dachte, dass wir mal..."

"Ja? Was wollen wir mal?" Lauernd kam Jan näher. Unsicher sah Kai auf seine Finger und nuschelte beleidigt "Zu zweit sein." Jan küsste Kai auf die Schläfe, dann stellte er das Wasserglas weg. "Wir sind jetzt für fast fünf Stunden allein, Baby. Holgi kommt um acht Uhr. Und bei all dem, was wir in diesen fünf Stunden machen werden, wirst du mir sicherlich gern mal hinterher sehen und wirst deine Erholung dringend brauchen."

Grinsend warf Kai mit dem Küchentuch. "Du Angeber!"

"Keineswegs. Ich bin Realist." Jan trat noch dichter und zog Kai mit einer Hand auf dem Hintern zu sich heran. "Ich bin zwar müde, aber außerdem schon den ganzen Tag geil auf dich und denke, dass wir uns jetzt mal zusammen duschen sollten." Er küsste Kai auf den Mundwinkel: "Außerdem war die Bemerkung eben, wie immer, ein Kompliment an dich und nicht mich."

Kai bedankte sich stumm mit einem Kuss, dann mit noch einem und in Folge fanden sie sich nach der ersten Runde neben der milde rauschenden Spülmaschine auf dem Boden wieder, halb an und halb ausgezogen, schwer atmend und etwas verwirrt.

Und Jan behielt Recht. Nach etwa vier Stunden der Zweisamkeit, war Kai noch nicht geduscht, wurde von einem Frühmuskelkater geplagt und blickte seinem energiegeladenen, davon joggendem, Freund gern hinterher. Er selber fühlte sich zu erschöpft für mehr als nur Körperpflege und ging sich in Ruhe baden und rasieren und an seinen Haaren rumzupfen. Als Jan vom Joggen zurückkehrte, fand er Kai bereits im Bett mit dem Krimi vor, den er gerade zum Geburtstag erhalten hatte.

Jan zog die verschwitzten Sachen aus und warf sie in den Wäschekorb: "Du, Holger kann Tini vielleicht nicht vom Flieger holen."

"Hm?" Dröge blätterte Kai um, aber beobachtete die Muskeln an Jans Rücken und Hintern. Er war nie befriedigt genug, um seinen Freund nicht geil zu finden, ein angenehmer Gedanke.

"Er muss zu einem Lehrgang fahren und der endet an dem Tag, an dem sie zurückkommt. Er hat uns gebeten, sie abzuholen, falls das eng wird." Jan hatte Kais Blicke bemerkt und erwiderte sie mit wissendem Grinsen.

"Kann das nicht Renate machen?", genervt legte Kai das Buch fort und kickte die Decke von sich. Es war noch immer zu warm und dieses Grinsen machte ihn allmählich geiler als angenehm war, zugleich war er zu erschöpft, um etwas zu tun.

"Frag du sie doch, vielleicht hat Holger sich das nicht getraut." Jan befahl ihm, das Licht zu löschen, damit er lüften konnte, ohne zweihundert Mücken aus dem Wald in ihre Wohnung zu locken. Dann ging er duschen. Kai wollte eigentlich noch das eine oder andere mit seinem frisch geduschten Freund tun, aber der Gedanke blieb Theorie. Er schlief prompt in der Dämmerung ein, während sein Freund noch in der Küche zwischen den guten Sachen von Pascals Eltern kramte.

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