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Trost 2

Kapitel 105-107

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 105

In der Wohnung angekommen schrieb Kai einen Zettel für Jan, um ihn daran zu erinnern, dass er bis gegen halb zehn in der Oper sein würde, dann überließ er Bardo den PC im Schlafzimmer, während er sich noch duschen und seine Haare retten wollte. Die Klamotten hatte er sich glücklicherweise zuvor überlegt. An diesem Abend mutig, beschloss Kai, seine neue olivgrüne Hose anzuziehen. Die machte immerhin laut Lolli und Tini einen sehr netten Hintern und Kai hatte schon auf eine Gelegenheit dazu gehofft. Ein Abend mit dem Bambi erschien ihm dafür sicher genug, um Jan keine Eifersucht zu bescheren.

Der Abend war überraschend schön für Kai, der eigentlich eher hingegangen war, um Bardo einen Gefallen zu tun und zuvor null Bock gehabt hatte. Vor dem Anfang des Stückes zog Bardo Kai zum Orchestergraben und stellte ihm einige Musiker vor, die alle sehr nett waren und niedliche Witze über das Bambi mit Date machten. Bardo bekam davon rote Ohren, aber schien zugleich stolz zu sein. Kai fühlte sich ein wenig zu alt für solchen Blödsinn, aber ließ es schweigend über sich ergehen.

Das Stück selbst gefiel ihm ganz spontan. Bardo kannte die meisten Sänger und Musiker und wusste Klatsch und Tratsch über sie zu erzählen. Kai erfuhr von Bardo, dass er auch schon einige Male bei der Oper mitgesungen hatte. Als einer der Knaben natürlich. Er kannte zwei von denen auch und meinte leise "Der kleine Blonde wird mich als Solist vermutlich jetzt ersetzen. Er hat eine sehr schöne Stimme, muss aber noch tüchtig üben." So wurde das Stück auch bei trägeren Passagen nie langweilig für Kai.

Während der Pause blieben sie auf ihrem Platz sitzen und unterhielten sich. Kai hatte die wirre Geschichte missverstanden und war erstaunt, als Bardo ihm erklärte, worum es wirklich ging. Sie saßen recht dicht beieinander, aber es war angenehm. Die Nähe war nicht bedrohlich wie bei Lukas, oder schlicht nervig wie bei allen anderen. Kai fühlte sich wohl damit. Auch, als Bardo sich im zweiten Akt dichter zu ihm lehnte und an sein Ohr flüsterte "Das ist mein Lieblingspart... ist so schön traurig. Diese Sängerin mag ich nicht, sie singt zu schrill, aber egal. Ich hab das mal gesungen, ist auf der CD drauf."

Das Lied gefiel Kai auch, obwohl es extrem traurig war und das Wort Tod mehrmals darin vorzukommen schien. Insgesamt war es ein Abend, der Kai gut getan hatte. Es war nicht stressig gewesen, er war nicht angegraben worden und er hatte sich gut angezogen gefühlt. Zufrieden streckte er sich, als sie mit den anderen Besuchern aus dem Opernhaus zum Rathausplatz strömten. Er bedankte sich bei Bardo, während sie schon von Weitem versuchten, die Abfahrtszeiten an den Haltestellen vorn erkennen zu können.

Kai umarmte Bardo gerade zum Abschied, als unverhofft Jans Golf neben ihm hielt. Jan nickte Bardo zu und öffnete die Beifahrertür. Er trug seine Brille, die ihm nach Kais Meinung unglaublich gut stand. Leider sah er auf eine sehr ernsthafte Art so aus, als wollte er diskutieren. Kai seufzte und strich Bardo einmal an der Schulter lang. "Wir sehen uns dann am Wochenende. Jan ist weg. Ich weiß noch nicht, was ich so mache."

Schüchtern lächelte Bardo kurz. "Ich freu mich irgendwie schon."

Im Wagen erklärte Jan ihm: "Ich wollte dich nicht allein fahren lassen. Nicht nach dem Unfall von neulich. Ich hab im Internet nach den Zeiten für die Oper gesehen."

"Jan! Jetzt hör aber mal auf! Es ist doch total viel los auf den Straßen, und ich wäre mit dem Bus gefahren wie immer."

Jan schwieg auf eine aggressive Art, die Kai nervös machte. "Ist was?"

"Ich finde, dass du das zu locker nimmst, Kai. Wirklich. Wenn du das nicht vernünftig abarbeitest, dann kann sich das in dein ganzes Leben fortsetzen... es ist wie..." Er brach ab.

"Wie was?"

"Das ist nichts für das Auto. Reden wir in der Wohnung weiter. Nicht nur über das Trauma. Wie war das Stück?"

Kai sah vom Themenwechsel etwas misstrauisch gestimmt zu Jan rüber, aber der lenkte mit einer Hand und stellte mit der anderen an seiner Musikanlage herum. Seufzend ergab er sich und berichtete von der Oper und dann, nach kurzem Zögern, von seiner morgendlichen Exkursion mit Felix.

"Er hat was?!" Jan blickte ihn entgeistert an.

"Ja, mich entführt und auf ein Motorrad gezwungen, könnte man sagen. Siehst du. Ich stelle mich dem Problem schon. Wenn auch nicht gerade freiwillig."

Jan sah kurz zu ihm rüber. An der nächsten roten Ampel schob er seine Brille einmal zurecht, dann lachte er auf. "Schocktherapie. Ist ja fast wie bei Tini, was? Bei ihr hat es geholfen, also war es gut. Ich bin dafür. Mach weiter, vielleicht solltest du selber einen Motorradführerschein machen, Kai."

"Im Leben nicht! Der scheiß Helm hat mir die Haare komplett versaut!" Jan bog in die Tiefgarage ein und grinste ihn an. Im nächsten Moment wurde Kai von recht grellem Licht geblendet, das automatisch in der ganzen Garage aufleuchtete, als sie hineinfuhren. "Huch, was ist denn hier los?"

"Es war zu dunkel hier unten, gestern und heute waren doch die Elektriker deswegen da und haben eine Lichtanlage installiert. Die Oma von Rechtsunten war in schierer Ekstase darüber." Jan setzte rückwärts in seinen Parkplatz und sprang energiegeladen aus dem Auto und die Treppen hinauf.

Kai folgte ihm mit von seinem Muskelkater schmerzenden Beinen und passend schleppendem Gang. "Was meintest du vorhin, Jan? Mit dem Trauma?" In Kais Kopf lamentierte die Stimme der Vernunft, dass es hochgradig unvernünftig war, Jan auf psychologischen Mist anzusprechen.

Und richtig war es ein Fehler gewesen. Jan schloss auf und lotste Kai in die Diele, wo sie beide die Schuhe von den Füßen traten. "Wenn du schon auf Motorrädern rumeierst, um dich davon zu kurieren, wie ist es denn mit dem Sex? Willst du das noch mal wieder versuchen, oder lässt du mich jetzt verhungern?"

Unglücklich ging Kai ihm aus dem Weg und in das Wohnzimmer weiter durch. "Letztes Mal tut mir leid, Jan. Ich will das gern wieder versuchen, aber..."

"Nein! Ich will nicht, dass du dich dazu zwingen musst. Ich möchte, dass du überlegst, warum es dir nicht gefällt, was wir ändern können, ob wir was ändern können!"

Kai ließ sich auf dem Sofa nieder und ließ sich zur Seite kippen, um die Beine hochzulegen. "Keine Ahnung."

Jan hatte sein stures Gesicht aufgesetzt und war in Diskussionslaune. Anstrengend. Er setzte sich vor ihn auf den Couchtisch. "Ich weiß, dass es nicht daran liegt, dass du nicht dort berührt werden möchtest. Im Gegenteil magst du am Po gestreichelt werden... zum Glück. Du hast einen total süßen Hintern. Den fasse ich echt gern an."

Kai wurde rot und schwieg, aber dachte 'Danke. Dito.'

Jan sah ihn forschend an. "Es liegt nicht daran, dass du es nicht magst, wenn ich mich auf dich lege. Das Gewicht meine ich, oder das Gefühl festgehalten zu werden?"

Kai schüttelte den Kopf. "Nein. Ehrlich gesagt mag ich es. Ich fühle mich auch nicht festgehalten, nicht auf doofe Art jedenfalls."

"Und du gehst ab wie eine Rakete, wenn ich beim Vorspiel mit den Fingern eindringe und dich massiere."

Schweigend genoss Kai das Hitzegefühl in seinem Gesicht. Musste Jan immer so locker sein bei diesen Themen? Das Sexgen fand dieses Thema allerdings hochgradig ausbaufähig.

Doch Jan schwieg nun auch und sah ihn an. Endlich hob Kai eine Hand und schob seine Finger unter Jans auf sein Knie. "Ich mag alles, was du im Bett mit mir machst, Jan. Es ist nur so, wenn ich die Kondompackung knistern höre, wenn ich diesen Geruch in die Nase bekomm, so nach Kunst und Plastik, dann wird mir irgendwie komisch, dann fang ich vorher schon damit an, darüber nachzudenken, wie es gleich wehtun wird."

"Wehtun?"

"Hm."

"Sehr? Wie sehr?"

"Was meinst du?"

"Na, auf einer Skala von eins bis zehn? Wie sehr?"

"Schwer zu sagen, es verwischt immer ein wenig. Hin und wieder vielleicht so... sieben?"

"Das ist viel. Scheiße, Kai. Kein Wunder, dass du dich total verspannst."

"Ab und zu geht es ja auch. Hin und wieder ist es ganz gut."

"Das reicht mir aber nicht! Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass es für dich so schrecklich sein muss, wenn es für mich so geil ist. Woran liegt das nur?"

Kai blickte Jan in die Augen. "Ich hab keine Ahnung, Jan. Neulich... neulich ging es doch ganz gut?"

"Nee. Du machst jedes Mal ein Gesicht, als würde ich dich irgendwie zu etwas zwingen, das du gerade eben aushältst. Und das ist echt merkwürdig, weil du mich beim Sex sonst immer fast aufisst, mit Blicken allein."

Mit einem Seufzen setzte Kai sich auf und schob sich auf die Sofakante, um Jan zu küssen. "Hm. Das ist, weil du so lecker aussiehst. Ich denke darüber nach, ja? In Ruhe."

Jan seufzte, doch dann hob er den Kopf und die Funken brachten wieder Leben in seinen Blick. "Mich beschäftigt da noch eine andere Frage, Kai."

"Hm?" Kai stand auf und streckte sich. Das Hemd rutschte ein wenig hoch und Jans Finger fuhren sofort darunter auf seinen Bauch. Er strich einmal sachte über die Hüftknochen bis zum Hosenbund hinunter.

"Wo lässt du bei dieser Hose die Unterwäsche?"

Kai blickte an der neuen olivfarbenen Hose herunter. Die war vorn wirklich eben gerade noch legal geschnitten. Er sah Jan in die Augen und grinste fröhlich. "Unterwäsche? Welche Unterwäsche?"

Jan lachte auf und warf sich auf ihn. Quiekend ließ Kai sich erbeuten und in das Schlafzimmer verschleppen. Es war ein sehr schöner Abschluss für die Diskussion, noch einmal auszuprobieren, was ihnen sonst noch so alles Spaß machte.

Da Jan am nächsten Tag gegen Abend zu seinen Eltern fahren wollte und Kai Spätschicht im LPP arbeiten musste, waren sie den Morgen schon sehr früh mit Aufräumen und einem Einkauf im Baumarkt für ihren Balkon befasst. Jan hatte den Grill seiner Träume im Internet ausfindig gemacht und auch einen Baumarkt, der einen guten Preis bot. Kai hatte es über sachtes Sticheln in den vergangen Tagen und einem Überredungsfrühstück geschafft, seinen Freund von dem Nutzen von Pflanzen auf der Dachterrasse zu überzeugen.

Da Jan ihn hetzte und er nicht riskieren wollte, einfach im Badezimmer vergessen zu werden, verschob Kai das Stylen für die Arbeit auf den Abend und ließ sich mit Wuschelhaaren im Golf nieder, um sich zum Baumarkt im Industriegebiet auf der anderen Seite der Stadt kutschen zu lassen. Wäre er selber zuständig gewesen, hätte er sicherlich aus Faulheit den Markt bei ihnen um die Ecke gewählt. Allerdings fuhr Jan gern Auto, was man von Kai nicht wirklich behaupten konnte. Und Jan fuhr gern schnell Auto, was seine Entscheidung, die Autobahn und damit einen kleinen Umweg zu wählen, durchaus erklärte.

Im Anschluss gab es einen kurzen Streit über die Kosten für Blumen, Kübel und zwei Rankgitter. Jan entschied, dass er die Sachen bezahlen würde und Kai die Pflanzen aussuchen sollte und sich darum zu kümmern hatte. Der Vertrag wurde noch im Auto auf dem Parkplatz zum Baumarkt besiegelt und Kai fügte sich seufzend drein.

Sie schleppten sich dumm und dusselig, weil die Kübel verdammt viel Blumenerde schlucken würden und der Grill auch nicht gerade die kleine Version für den Minibalkon darstellte. Während Kai dann summend in der Sonne saß und sich mit Erde einsaute, schraubte Jan sehr zufrieden an dem Grill herum und rückte ihn in einer windstillen Ecke zurecht, bevor er duschen und sich für den Besuch daheim umziehen ging.

Probehalber stellte Kai die Blumentöpfchen in die Kübel zusammen und legte den Kopf schief. Er überlegte gerade, ob er seine Mutter noch einmal anrufen und um Rat fragen sollte, als Jans Hände sich warm über seine Schultern um ihn herum schoben. "Baby, ich muss jetzt gleich los."

Kai lehnte sich zurück und drehte den Kopf ein wenig, um sich küssen zu lassen. Vorsichtshalber hielt er seine eingedreckten Finger etwas weg, um Jan nicht einzusauen. Als er sich dann ganz herumdrehte, stellte sich das als gute Wahl heraus. Jan trug Vorführklamotten. Eine schwarze Stoffhose, ein Oberhemd, das sogar gebügelt war, weil Kai es irgendwann in die Finger bekommen hatte. Darüber trug Jan einen sehr leichten, sicherlich schweinisch teuren dunkelbraunen Pullover.

"Hm. Du schaust geil aus, Jan. Was steht denn an bei dir?"

"Ich muss erst zu meinen Großeltern zum Kaffeetrinken antreten. Da muss ich mich immer nett anziehen, sonst sind die beleidigt und mein Vater wird anstrengend. Heute Abend treffe ich mich mit Freunden aus der Schulzeit, in der Dorfdisco, das wird sicherlich total lustig. Dann muss ich bei den Mietern in Hannahs Haus vorbei, vermutlich mache ich das am Samstag. Abends ist immer Osterfeuer." Jan küsste Kai auf die Schläfe. "Nächstes Mal kommst du mit, okay?"

Und genau in diesem Moment begann Jan Kai zu fehlen, obwohl er ihn noch umarmte. Der Ausblick auf die Zeit allein in der Wohnung war mit einem Mal nicht mehr schön. Kai drängte sich enger an Jans kräftigen Körper heran und seufzte leise, dann nickte er tapfer. "Nächstes Mal, versprochen."

Jan lächelte und hob sein Kinn ein wenig an. "Mach nicht zu wild mit dem Bambi hier, okay? Die Hose war schon echt der Hammer. Der arme Kerl."

"Jan! Also ehrlich. Ich werd mich doch wohl nett anziehen dürfen, wenn ich ausgehe! Meine Güte, das Bambi ist immer noch keine fünfzehn. Als ob ich ihn anmachen wollte. Echt."

"Trotzdem. Er schaut dir auf eine Art hinterher, die mich nicht froh macht. Nicht, dass ich noch eifersüchtig werden muss auf den Kleinen."

"Hey, Bardo ist größer als du."

"Ich glaub, der wird auf immer der Kleine bleiben für mich, da kann er noch so lange Beine bekommen. So, ich muss."

Sie küssten sich noch einmal, dann sprang Jan auf und winkte zum Abschied. Samt einer vollgestopften Sporttasche verschwand er durch den Wohnraum. Gleich drauf hörte Kai die Tür schlagen und lief zur Balkonumrandung, um runter zu blicken.

Wenig später kam der weiße Golf aus der Auffahrt geschossen und legte für die Nachbarin von rechts unten eine Vollbremsung hin. Kaum war die Oma über den Weg gedackelt, als Jan auch schon um die Ecke verschwunden war.

Das Vermissen wurde schlimmer. Kai war deswegen intensiver als notwendig damit beschäftigt, die neuen Balkonkästen zu bepflanzen. Was total nett war, war der Umstand, dass Jan auch noch eine große Zinkwanne besorgt hatte, um darin für die Einweihungsfeier Bier kaltzustellen. Für den restlichen Sommer meinte er dann, dass Kai die Wanne für einen Miniteich oder dergleichen haben durfte.

Die Sonne schien, nur hin und wieder von Wolken verdeckt, aber es war angenehm warm geworden. Kai hatte sich für seine Pause daher schon das dunkelrote Polster auf ihre Gartenliege geworfen und eine Flasche Wasser in das Eisfach gelegt. Nach kurzer Überlegung legte er die CD von Bardo in Jans Anlage, um sich seine Version des traurigen Liedes vom Opernabend einmal anzuhören. Er fand es nach einigem Suchen nach einem Lied, in dem eine Frauenstimme dominierte.

Tatsächlich sang Bardo viel schöner, viel weicher und mühelos in den hohen Bereichen wie auch den tiefen Passagen des Liedes. Und noch immer konnte Kai kaum fassen, wie hell und klar Bardo singen konnte. Selbst beim Hören verstand er schon, dass Bardo dieses Kribbeln im Kopf beim Singen fehlte, wie er es ausgedrückt hatte. Kai war insgesamt verwundert darüber, aber die CD gefiel ihm tatsächlich sehr gut. Auch die anderen Familienmitglieder hatten schöne Stimmen. Die Lieder waren nicht nervig, nicht zu kitschig und dazu noch sehr gut aufeinander abgestimmt. Kai beschloss, seiner Mutter eine Kopie zu brennen, sobald Jan zurück war und ihm gezeigt hatte, wie das ging.

Die Türklingel schreckte ihn zwischen Bardos Stimme und einem Satz Stiefmütterchen aus der friedlichen Wochenendstimmung. Es war Lolli. In einem engen, fast schon bauchfreien T-Shirt. Darauf das Gesicht von Einstein, der seine Zunge rausstreckte. Auf der Zunge war ein glitzerndes Zungenpiercing appliziert, das funkelnd über Lollis Bauchnabel mit seinem eigenen Piercing um die Wette glänzte, weil er so wild rumhampelte.

Im Flur riss Lolli die Arme hoch und warf seine Kunstrasentasche auf Kais Schuhe. "Juhuu, meine Maus! Sommersaison!" Aufgeregt trabte er in ihr Wohnzimmer und dann nahtlos auf die Dachterrasse durch, wo er sich unkompliziert auf die breite Sonnenliege fallen ließ. Typisch für ihn bestellte er bei Kai auch gleich noch "Ein Prosecco, mein Süßes. Wir müssen dringend feiern!"

"Was? Wieso?" Kai stemmte die Hände in die Seite und fühlte sich ein wenig überfahren und seiner Ruhe beraubt.

Lolli besah sich seine Fingernägel einmal kurz, dann winkte er ab. "Die anderen haben alle keine Zeit gehabt oder sind schon weggefahren über Ostern, du warst noch über."

"Na danke!" Kai wusch sich die Erde von den Fingern und holte das Gewünschte. Zu seinem Glück hatten sie noch eine Flasche für Notfälle im Kühlschrank zwischen zwei Lagen Bier aufbewahrt. Gerade als er aus der Küche wieder nach draußen treten wollte, stimmte Bardo dieses unglaubliche Stück an, das Kai am Tag zuvor schon nur mit offenem Mund hatte hören können. Er trat rasch an die Anlage und stellte das Stück lauter, bevor er Lolli das Glas reichte.

Schweigend nippte sein Ex-Mitbewohner daran, nachdem er Kai zugeprostet hatte. Kai seufzte, ergab sich in sein Schicksal und nahm einen Schluck aus der Flasche. "Was gibt es denn zu feiern?"

Lolli leerte das Glas. "Geoffrey ist negativ! Ich bin so happy! Was ist das denn für Musik?" Lolli schob seine Haare hinter die Ohren und legte andächtig den Kopf schief. "Meine Güte, ist das schön kitschig! Ich fang gleich an zu heulen!" Er hielt Kai sein Glas hin.

Kai lächelte. "Das... " Mit lockerem Schwung schenkte er nach. "… ist Bardo."

Lolli riss die Augen auf. "Oh. Mein. Gott!" Mit großen Schritten stürmte er gleich drauf an Kai vorbei und spielte das Lied noch einmal von vorn. Noch lauter. "Ach du heilige Maria im Himmel!" Lolli ließ sich auf der Liege wieder nieder und meinte nach einer kleinen Weile andächtigen Lauschens. "Kein Wunder, dass man diese Jungs früher kastriert hat, damit sie weiter wie so kleine Engel singen können. Es fällt mir schwer, das Bambi zu der Stimme zu sehen, wenn ich ehrlich bin. Ist ja schon unmenschlich."

Kai seufzte. "Keine Angst. Er ist grade jetzt durch den Stimmbruch durch und kann das nicht mehr."

Betrübt schielte Lolli in sein Glas, dann hob er den Kopf. "Der Junge ist irgendwie Teil der Familie geworden, nicht?"

"Das hat er nicht nötig. Er hat genug eigene Familie, wirklich genug." Kai stellte die Flasche in Lollis Reichweite ab. Gemütlich begann er die Stiefmütterchen weiter in den runden Kübel zu pflanzen, den er Jan aufgeschwatzt hatte. Dabei erzählte er Lolli von der Fröhlich-Familie.

Lolli war beeindruckt. "Nantwin ist also so richtig schön? Wahnsinn! Ich fand schon das Bambi so zuckersüß und niedlich. Und dann auch noch Balletttänzer? Wo ich doch so ein Herz für diese engen Hosen habe. Wenn sein Bruder noch süßer ist, wird das ja richtig stressig."

"Ach, Nantwin ist stockhetero, da ist das eher tragisch als stressig. Außerdem macht Halvar den Ausgleich. Der totale Rotzlöffel. Aber wie er im Buche steht! Komplett mit Sommersprossen und etwas abstehenden Ohren und Zahnlücke. Das war schon pervers perfekt. Nachdem ich dort war, kann ich gut verstehen, dass Bardo es hier bei uns besser findet. "

"Hm." Lolli leerte sein Glas und steckte sich eine Zigarette an. "Solange er es nicht mit euch treiben will, ist es ja gut."

"Auf keinen Fall. Ich glaube, dass er auf Lukas steht oder stehen könnte. Aber der hat ja gerade wen anderes."

"Ach ja. Ich hörte von dem überaus bescheuerten Gerücht, dass du wieder was mit ihm hast. Wie geil ist das denn? Da hab ich aber dementiert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass meine Maus ihren Fußballer betrügen muss... nicht nach allem, was ich so gesehen und gehört hab."

"Lukas ist mit einem Kai zusammen. Einem anderen Kai." Ein wenig rot im Gesicht erinnerte sich Kai daran, was Lolli wohl alles schon über ihn und Jan gehört haben mochte. Von den vollkommen falschen Leuten auch noch. Allen voran sicherlich die Meiersche.

Lolli ließ sich von Kai erzählen, wie das Desaster mit Pascal gelaufen war. Kai erzählte es in einer verknappten Version, aber seine Verbitterung und Enttäuschung konnte er nicht heraushalten. Im Anschluss gab er zu, dass er sogar Leon um Rat gefragt hatte.

"Das erklärt natürlich, warum die Telefonleitung bei der Meierschen in letzter Zeit immer total blockiert war. Augenscheinlich tröstet er noch immer."

"Und ich? Ich dachte, dass wir Freunde sind!" Kai biss sich auf die Lippen. "Waren." Und irgendwie fühlte es sich fast wie Verrat von der Meierschen an, dass der sich nun von Pascal so voll jaulen ließ. Gereizt stopfte Kai das letzte Stiefmütterchen in den Kübel.

Lolli wedelte mit seinem leeren Sektglas umher. "Ich bitte dich, Pascal und du, ihr seid doch nie richtig Freunde gewesen. So wie ihr miteinander umgegangen seid, kann ich mir das nicht vorstellen. Wenn ich da an Carlchen denke und mich... meine Güte. Wir haben uns zwar noch nie direkt um einen Mann gestritten, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass meine Meiersche hergehen würde und versuchen würde, mich vor meinem neuen Freund zu verraten. Selbst wenn es wahr gewesen wäre, das ist doch wohl das Letzte!"

"Ja. Das fand ich auch." Kai wischte sich die erdigen Finger an der Hose ab. "… ich bin definitiv nicht soweit, mit Pascal zu reden, wie Leon es mir vorgeschlagen hat."

Lolli stand auf. Er streckte sich und kam zum eigentlichen Grund für seinen Besuch. "Ich helf dir, den Kübel zurechtzurücken, wenn du mir über Ostern meine Babys gießen hilfst. Ja?"

Die Haschpflanzen, die Lolli mit sehr viel Liebe großzog und aberntete. "Meinetwegen. Fährst du nach Hause?"

"Nein. Nach London, zu Geoffrey. Er braucht jetzt echt jemanden."

"Ich dachte, dass jetzt alles gut ist."

"Mit ihm schon. Aber sein Ex ist immer noch in der Klinik und es sieht total schlecht aus. Und Benni ist irgendwie unterwegs bei den Eltern oder der Oma." Lolli schob den Kübel mit Hornveilchen in eine Ecke und dirigierte Kai dann "Das Rankgitter musst du hier zu Leon hin anbringen. Was soll da denn wachsen? Wein?"

"Hm. War im Angebot, und das wäre nach Süden, nicht?" In einem etwas längeren Telefongespräch mit seiner Mutter hatte Kai sich zu den passenden Balkonpflanzen informiert. Da seine Mutter nicht viel Vertrauen in seine oder auch Jans gärtnerische Fähigkeiten gehabt hatte, waren die Vorschläge alle in Kommentaren wie '… die sind robust' oder 'damit kann man nichts falsch machen' gemündet.

"Ich komm dann zur Weinlese, wenn das was wird." Lolli schob noch einmal an dem Kübel, dann wandte er sich dem zweiten zu.

Gemeinsam wuchteten sie den ebenfalls in das rechte Licht und Kai brachte sein Rankgitter an der Abtrennung zu dem Balkon von Leon an. Er wollte eigentlich nur das Gitter gegen Umstürzen sichern und zog dazu auf einem Barhocker balancierend ganz oben einen Draht durch, um diesen an der Abtrennung zu befestigen, aber zugleich blickte er natürlich einmal rüber auf Leons Balkon.

Er wäre fast vom Stuhl gefallen. Auf der Seite von Leon gab es neben Designermöbeln auch ganz hinten durch einen großen, sehr teuer aussehenden Strandkorb. In diesem schönen weißen Modell aus echtem Korbgeflecht mit dunkelgrün gestreiften Polstern saßen Bardo und Leons Tochter und knutschten rum wie bescheuert.

Kai sprang vom Stuhl und fasste sich ans Herz. "Du, vielleicht ist Bardo doch nicht schwul?" Die Abteilung Abartigkeiten stimmte einen fröhlichen Tusch in Bardos Namen an. Gereizt verschränkte Kai seine Arme.

Lolli war gerade dabei gewesen, sich eine Zigarette zu drehen. "Hm? Wieso? Ich glaube schon, dass er... ist was?"

Kai schüttelte sich. "Er sitzt nebenan auf der Terrasse von Leon und knutscht dessen Tochter."

Lolli sprang auf und hopste agil an Kai vorbei, um auf den Stuhl zu klettern. "Oh wie geil! Bardo, du alter Schwerenöter! Nein. Oh, nein! Ich glaub es nicht! Schwesternverräter!"

Rot im Gesicht verfluchte Kai, dass sein erster Schock ihn dazu gebracht hatte, etwas zu verraten. "Lolli! Scheiße!"

Einen Moment später blickte Bardo um die Ecke, natürlich ohne Ende rot im Gesicht. Leons Tochter schob sich neben ihn und grinste sie an. "Wir haben nur etwas geübt. Der ist schwul. Keine Sorge!"

"Was?" Kai gaffte sie an und fand sie schrecklich, aber Anna gab noch Öl ins Feuer. Sie klopfte Bardo gegen die Jeans "Nix passiert in der Hose. Keine Bange, Alter."

Bardo schob sie von sich und kletterte zu ihnen hinüber. "Tut mir leid."

Kai schüttelte sich noch immer und fand diesen Fauxpas unverzeihlich.

Lolli hingegen amüsierte sich köstlich. Er lachte und klatschte in die Hände. "Oh, wie geil. Ich mag Anna. Anna kann bleiben. Kommt mal rüber, ihr süßen Hasen und erzählt der lieben Lolita alles von Anfang an. Und Bardo, deine Stimme... "

Bardo stockte beim Rüberklettern. "Was ist damit?"

"So geil! Ich hab mich fast nass gemacht bei dem Lied eben! Oh, Kai, spiel das doch noch einmal vor!" Da Lolli sich nicht auf Kai verließ, hopste er selber voller guter Laune in die Wohnung hinein und gleich darauf erfüllte Bardos Engelsstimme die Wohnung.

Anna stimmte Lolli zu und lauschte mit zur Seite geneigtem Kopf und Bardo musste wieder einmal zugeben, dass er nun endlich durch den Stimmbruch war und nicht mehr, nie mehr, so würde singen können wie auf der CD. Bardo ließ sich auf der Liege nieder und saß mit gesenktem Kopf da.

Wieder einmal ärgerte Kai sich darüber, dass Lolli so ein taktloser Egoist war. Er setzte sich neben ihn, während Lolli und Anna einander zustimmend über sexuelle Erfahrungen redeten. Leon war als Vater von so einer Tochter um den Job sicherlich nicht zu beneiden. "Hey, Lolli meint das nett. Er wollte dich nicht ärgern oder erinnern. Ich... hätte ihm das nicht vorspielen sollen."

"Nein. Es ist okay. Ich bin nicht mehr so traurig. Meine Stimme scheint ganz gut zu werden, vielleicht..." Er brach ab und seufzte. "Die Solistenrolle kann ich jetzt natürlich vergessen. Das ist gar nicht das Schlimme, das nächste Lied... das ist so schlimm."

Das Stück klang klerikal, es wurde auf Latein gesungen, aber auch hier ertönte Bardos Stimme rein und sehr hoch. Doch als eine zweite, tiefere Stimme sich dazu gesellte, hob Bardo den Kopf. "Das ist Stefan." Er hatte das nur geflüstert, aber Kai verstand und ging rein, um die Musik auszustellen.

Ein kleiner Seitenblick auf die Uhr zeigte Kai auf dem Rückweg zur Dachterrasse, dass es an der Zeit war, duschen zu gehen. Er blieb in der Tür stehen und verkündete, dass er jetzt keine Zeit mehr für Besuch hatte. Im nächsten Moment kam er Anna mit einem kleinen Schlusssprint auf dem Weg zur Flasche zuvor. "Geht’s noch?! Das ist noch nichts für dich. Schieb ab und trink bei deinem Vater den Schrank leer!"

Anna zwirbelte eine der lila Haarsträhnen und tat genervt. "Pah! Bei dem ist doch alles nur teures Gesundheitszeugs in letzter Zeit! Die totale Macke! Ätzend."

Und im selben Moment begriff Kai, dass Anna keine Ahnung hatte, dass Leon krank war. Er hielt es vor ihr geheim. Natürlich passte das zu seinem Image. Aber war das nicht schrecklich schwierig, seinen eigenen Kindern zu verheimlichen, dass man krank war, dass man sich um seine und damit vielleicht auch ihre Zukunft sorgte? Kai nahm sich vor, Leon danach zu fragen, warum seine Tochter nichts wissen sollte.

Es war zum Glück nicht so schwierig, Lolli loszuwerden, weil der noch für London packen gehen musste. Anna und Bardo hingen auch nicht mehr lange ab. Er ließ es sich nicht nehmen, Bardo noch 'viel Erfolg beim Üben' zu wünschen. Bardo errötete niedlich, aber kommentierte das nicht, sondern folgt Anna in Leons Wohnung zurück.

Kai hatte durch den bevorstehenden Feiertag viel zu tun im LPP. Er sah etliche seiner Studienkollegen, die sich vor einer Party zusammenfanden. Einige fragten ihn auch nach Jan. Der Umstand, dass sie zusammenwohnten, hatte sich auch in die weiteren Kreise von Jans Partybekannten rumgesprochen. Einige Pädagogikstudentinnen kicherten sich an der Theke lang, nervten Kai und versprachen zu ihrer Einweihungsfeier zu kommen, obwohl es noch keinerlei Einladung dazu gegeben hatte. Offenbar hatte Jan den Termin für die Wohnungseinweihung bereits locker bekannt gegeben.

Kai hatte den Tag natürlich selber auch schon so halb im Kopf gehabt. Es war das einzige von Fußballspielen freie Wochenende der nächsten Wochen und eine logische Wahl. Jan und er hatten beschlossen, einfach wirklich alle zugleich einzuladen. Jan wollte die Einladung seinerseits per Mundpropaganda rumreichen und die eine oder andere Mail schreiben, um Freunde aus der Schulzeit anzulocken. Kai hatte nicht so viele Freunde. Er musste den Termin nur Lolli sagen und der würde dann schon dafür sorgen, dass alle kamen. Zur Not konnten sich die Schwulen und Fußballer dann ja kloppen oder knutschen.

Tini und Holger gehörten auch zu den Gästen im LPP. Sie ließen sich sogar bei ihm an der Theke nieder. Ihre Einigkeit und das Geflirte nervten Kai ein wenig, auch wenn er Holger im verliebten Modus nicht unattraktiv fand. Vor allem, weil Holger und Tini es schafften, sehr offensichtlich ein Paar zu sein, ohne aufdringlich vor allen knutschen zu müssen oder sich permanent anzufummeln. Kai gab ihnen aus seinem Trinkgeldportemonnaie ein Getränk aus und beobachtete sie dann eher aus dem Augenwinkel.

Auf jeden Fall war Holger sehr gut erzogen. Von der Art, auf die Kais Mutter und Oma komplett abfahren konnten. Er hatte Tini die Tür aufgehalten. Er zog ihr nicht nur den Barhocker zurück und half ihr formvollendet aus dem Mantel, er machte auch so altmodische Dinge, wie sich erheben, wenn sie aufstand. Er bestellte für sie mit und insgesamt bekam Kai ein sehr merkwürdiges nostalgisches Gefühl, wenn er die zwei zusammen sah.

Holger war auch sehr nett gekleidet. Mit dunkelblauem Hemd, was seine hellblauen Augen hervorhob. Der Abend war ihm wichtig. Als er sich zur Toilette entschuldigte, erzählte Tini Kai hinter vorgehaltener Hand "Wir haben uns gestritten und ich war so... bescheuert und doof, aber er war total geduldig. Ich kann nicht verstehen, wie ich das verdient hab."

Das konnte Kai so langsam auch nicht mehr verstehen. Da er nicht nachfragte, worum es in dem Streit denn gegangen war, erzählte sie ihm auch nichts davon. Holger kam sowieso gleich zurück und Kai schwirrte ab auf die andere Seite der Bar, um Bastian bei den Bestellungen zu helfen und das Pärchen aus der Ferne zu beäugen.

Müde überlegte er sich gerade, ob er die frühe Samstagsschicht nicht lieber in eine Spätschicht mit besserem Gehalt und Trinkgeld tauschen sollte, wenn Jan ohnehin noch weg war, als Felix und Leon aus dem Büro nach vorn kamen. Kai blickte auf die Uhr über der Theke. In einer Stunde würden sie schließen. Wenn Leon jetzt schon nach Hause fuhr, dann würde er versuchen müssen, den Bus zu erhaschen. Doch Leon kam zu ihm hinter die Theke. Er legte Kai eine Hand auf die Schulter und zog ihn zu sich heran. Dicht an sein Ohr sagte er leise "Schließ bitte ab. Warte dann, wenn ich nicht zurück bin. Ich komme und hole dich."

Kai sah auf und ihm in die Augen. "Nö. Lass man, das ist doch..."

Leon umfing sein Kinn und lächelte nachsichtig. "Du. Wartest. Hier."

Kai und er starrten sich einen Moment lang in die Augen, dann senkte Kai den Kopf und wandte sich ab. Er nickte leicht. Leon lehnte sich dichter. "Versprich es."

"Ja. Mach ich, okay?" Mit verschränkten Armen versuchte Kai Leons Präsenz in seinem Rücken zu ignorieren. Erleichtert sah er seinen Chef aus dem Augenwinkel weggehen.

Henrike tauchte im nächsten Moment neben ihm auf wie ein Pop-up-Figürchen. "Na? Mir ist heiß, dir auch? Habt ihr doch was? Hm? Hm?"

Kai schüttelte verärgert den Kopf. Er riss ihre Bestellung aus dem Kassendrucker und schob sie zur Seite, um die Cola und ein Bier aus dem Kühler zu zerren.

"Schon okay, wenn du darüber lieber nicht reden willst." Henrike schnappte ihr Zeug und trabte ab, aber Kai hob im nächsten Moment den Kopf und sah Tini ins Gesicht. Sie starrte ihn an und machte ein 'Erzähl es mir'-Gesicht. Rasch wandte Kai sich von ihr fort und wischte hektisch auf der Durchreiche zur Küche rum, obwohl die schon sauber war.

Zum Glück wurde Tini recht bald von Holger abgeführt. Kai blieb den Abend unkonzentriert und räumte lustlos auf, nachdem er mit Henrike noch eine halbleere Proseccoflasche geext hatte. Über schon latent abgestandenem Prosecco gab Kai zu, dass er Leon unheimlich fand, wenn der sich so sexy an ihn anschlich. Henrike bot ihm erst an, noch zu warten, aber schwirrte dann doch früher ab, nachdem sie sich per Handy noch verabredet hatte. Alleingelassen starrte Kai aus dem Fenster und überlegte, ob er sich heimlich davonschleichen sollte, anstatt aufzuräumen. Das bedingte, dass er noch nicht ganz fertig und ein wenig angetüdelt war, als Leon kurz nach Ende des Abends durch die Hintertür wieder zu ihm trat.

Schweigend warf Leon einen Blick umher, dann half er Kai mit den letzten Handgriffen, bevor er mit ihm zusammen zum Flur nach hinten durch ging. Der Blick der dunklen Augen schien an ihm entlang zu streichen. Als sei Leon auf der Jagd und Kai fühlte sich komplett wie Beute. Seine Fluchtreflexe brachten ihn fast um den Verstand. Es war das erste Mal, dass Kai sich zum Umziehen in die Toilette einschloss. Sonst huschte er eigentlich immer nur eben in den Winkel zwischen dem Flur nach draußen und der Küche. Warum, war ihm nicht ganz klar. Leon war nicht sein Typ. Gar nicht. Viel zu glatt im Aussehen, viel zu kontrolliert, viel zu verschlossen und natürlich auch viel zu alt. Aber... irgendetwas an ihm machte, dass Kai sich unsicher wurde, sobald Leon ihn auch nur ansah.

Schweigend gingen sie zum Wagen raus und stiegen ein. Im Auto meinte Kai betont zickig "Das war voll fies vorhin. Meine Freundin Tini war da und die wird mich jetzt morgen Früh wecken, um mich zu fragen, ob wir was haben, Leon!"

Leon lächelte leicht. "Schon wieder so ein Kompliment. Bin ich dir wirklich nicht zu alt?"

'Er flirtet mit mir! Sauerei!' Kai hatte schon reagiert, bevor ihm das klar geworden war. Er hatte sich abgewandt und seinen Rucksack zwischen sie aufgebaut.

Im nächsten Moment zuckte er zusammen, als Leon mit verdächtig nebensächlicher Betonung sagte "Ich habe allerdings eine Attacke auf dich vor, Kai."

"Was?" Mit mulmigem Gefühl sah Kai durch sein Fenster raus, weigerte sich, Leon anzusehen.

"Ich will die Cocktailkarten neu gestalten lassen." Leon bog gemütlich mal wieder auf den Stadtring raus.

Kai seufzte und warf einen Seitenblick auf Leons sehnige Finger, die das Lenkrad locker hielten. "Und?"

"Du sollst vorn drauf."

"Was?!"

"Nackt, wenn das okay wäre."

Kai blinzelte zwei Male, dann lachte er hysterisch. "Danke, sehr schöner Witz!"

"Benjamin, der Freund von dir, hat mich darauf gebracht. Ich will dich vorn drauf haben, Lena hinten. Sie hat schon zugesagt. Die Bilder werden bearbeitet, man wird nichts sehen, aber... du müsstest das quasi nackt machen, sonst ist es nicht, wie ich das will."

"Nein."

"Kai. Sieh es doch als die Möglichkeit, gute Bilder von dir zu bekommen und auch noch Geld dafür."

Das Wort Geld war es vermutlich gewesen. Kai erschauderte und verschränkte die Arme. "Such dir ein schönes Model dafür und hör auf, mich zu ärgern."

Leon lenkte den Wagen von der Schnellstraße herunter am Wald entlang und schwieg eine kleine Weile, dann sagte er leise "Du bist doch ziemlich... hm, schön."

"Auch gerade."

"Felix hat mir ja schon erzählt, dass du ihn noch schlagen kannst, was das Problem mit dem Selbstwertgefühl angeht. Wie sage ich das jetzt am besten?"

"Felix hat mir gesagt, dass ich wie dein Designsofa bin, wo kein Kratzer rankommen darf."

Leon hob eine Braue, dann nickte er leicht. "Richtig. Deswegen bin ich auch sehr misstrauisch, wenn du mit rotgeweinten Augen zu mir in das LPP kommst."

Kai drehte sich von ihm weg und blickte aus dem Fenster. Es frustrierte ihn, dass Leon, Lukas und mittlerweile auch Jan ihn wie ein Baby behandelten. Es hatte ihm so gut getan, dass Felix ihn einfach rücksichtslos auf das Motorrad gezwungen hatte. Es tat ihm auch gut, wenn er von Tini eher mit Kampfgeist überfallen als mitleidig und besorgt abgegriffen wurde. "Ich bin nicht aus Glas. Ihr könnt alle aufhören, mich in Watte zu packen und euch in mein Leben einzumischen!"

Schweigend bog Leon in die Tiefgarage ein und blinzelte gegen das helle Licht dort. Er kehrte beim Einparken zu dem alten Thema zurück. "Wäre es wirklich so schlimm, wenn du dich von diesem Benjamin für mich ablichten lässt? Der hat das ohnehin vor und meinte, dass du dir das schon überlegt hättest. Seine Idee für die Karte war sehr schön gemacht. Witzig, frech, sexy, aber nicht zu überzogen. Er hat nur Skizzen geschickt, aber die haben mir gefallen. Und wenn du dann so abgehoben und unnahbar zu sehen wärst, wie du abends hinter der Bar stehst, auf der anderen Seite Lena mit ihrem schönen Körper, das stell ich mir ausnehmend verkaufsträchtig vor."

Kai sprang hastig aus dem Wagen und ging mit schnellen Schritten vor. "Nein. Ich will nicht... das ist mir unangenehm. Ich finde mich nicht schön und nackt schon gerade nicht."

"Du magst deinen Körper nicht?" Es klang fassungslos.

"Wie willst du das denn beurteilen?" Zu gereizt für Höflichkeiten rannte Kai fast schon die Treppen hinauf, um in der Wohnung verschwinden zu können. Er hätte sich selber für diese Rückfrage hauen können. Das war ja wohl eine saudumme Idee!

Leon lachte und hob eine schlanke Hand an den Mund, als er ihn im dritten Stock zwischen ihren Wohnungen einholte. "Ich kann. Nach neulich."

Kai sackte gegen die Wohnungstür, lehnte den Kopf nach hinten dagegen. Ihm wurde schwindelig, als er mit einem Mal etwas begriff. "Scheiße! Wo war die andere Kamera?"

Leon lehnte sich neben ihn an und lächelte. "Du bist verteufelt schnell von Kapie."

"Wo?!"

"In der Küche natürlich."

Kai senkte den Kopf und war mit einem Mal froh, dass er mit Henrike die angebrochene Proseccoflasche geleert hatte. Sonst wäre er jetzt an Herzrhythmusstörungen gestorben. "Scheiße! Das sagst du erst jetzt?!"

"Seitdem hab ich fast Angst vor dir."

"Was?"

"Du hast eine unglaubliche Kondition."

"Sei bloß still, ich schäme mich auch so schon genug!" Das erklärte natürlich, wieso Leon ihn mit einem Mal so latent anders behandelt hatte.

Leon lachte leise. "Kai, mit so einer Vorstellung schämt man sich nicht, damit geht man bei den Freunden angeben."

"Was? Hör endlich auf! Ich will, dass Jan das nie erfährt! Nie!"

Leon legte den Kopf schief. Sein Blick wurde der eines Raubvogels. Dann lächelte er überheblich wie immer und rieb sich die Hände. "Ah. Wie überaus schön, mit dir Geschäfte zu machen. Du behältst deine Ruhe und Jan natürlich auch und ich... bekomme meine Bilder. In Ordnung?" Leon lehnte sich dichter und stützte sich mit einem Arm über Kais Kopf gegen die Tür.

Ihre Gesichter waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt, aber Kai fühlte sich mit einem Mal nicht mehr bedrängt. Im Gegenteil, die Nähe zu Leon gab ihm irgendwie mehr Kraft und Einfluss auf ihn. Er hob das Kinn und sah Leon in die Augen. "Du löschst die Aufnahme. Komplett. Vielleicht... vielleicht denke ich dann über die Bilder nach."

"Awww, harte Verhandlung?" Leons Mund verzog sich zu einem kleinen Lächeln. Dem Kerl machte es auch noch Spaß, Kai so zu ärgern!

Kai funkelte ihn böse an und fauchte "Und du hörst auf, mich so verarschungsmäßig anzugraben! Scheiße, das geht mir auf den Geist!"

"Och, ein wenig rumflirten ist doch erlaubt, oder? Auf der Arbeit? Ist gut für mein Ego und das Geschäft."

"Nur auf der Arbeit." Die Abteilung Vernunft hob müde einen Finger, aber winkte dann ab. Kai war wirklich jenseits von Gut und Böse. Flirten mit Leon? Auf der Arbeit? Das war fast Selbstmord. Vor allem, solange Jan so eifersüchtig drauf war.

"Hm." Leon rückte etwas ab.

"Nie, aber wirklich nie hier, verstanden?! Ach und noch was."

"Hm?" Leon rückte ihm wieder etwas auf die Pelle.

"Keine roten T-Shirts mehr!" Die Abteilung Stil und Stilbruch freute sich und stimmte absolut zu, die Vernunft zögerte, dann beging sie Harakiri. Kai war offenkundig dabei, vollkommen vernunftfrei leben zu wollen.

Leon lachte auf und trat einen winzigen Schritt zurück. "In Ordnung, das ist ein guter Deal." Er drehte sich fort und ging auf seine Wohnung zu. Genau in diesem Moment öffnete sich die Wohnungstür, sodass Kai fast rückwärts in die Wohnung gefallen wäre. Er fiel stattdessen quasi gegen Bardo, der ihn mit einem kleinen Ausruf auffing.

"Oh. Hallo, Kai." Unsicher trat Bardo zurück und ließ Anna passieren. Sie lächelte müde und folgte ihrem Vater schon leise mit ihm murmelnd in die Wohnung hinein.

Kapitel 106

Wie im Autopilot gefangen tappte Kai in die Diele, zog Jacke und Schuhe aus und ging wortlos in das Badezimmer weiter. Der letzte Teil des Abends hatte ihn irgendwie überfordert. Er hatte sich nicht unterlegen gefühlt, aber irgendwie lauerte da die Erkenntnis, dass Leon ihn in der Hand hatte. Gegen Jan. Das war... Leon hatte ihn doch tatsächlich... hatte ihn... verwirrt starrte er in den Spiegel. "Scheiße!"

Bardo lehnte in der Badezimmertür und blickte ihn verwirrt und offensichtlich auch besorgt an. "Kai? Ist alles in Ordnung?"

Kai fuhr herum. Er hatte sogar vergessen, die Tür zu schließen! Er war wirklich von der Rolle! "Nein. Nichts ist in Ordnung... Leon hat mich, gerade... erpresst." Er ballte eine Hand zur Faust. Benni war schuld! Der würde so was von leiden!

"Erpresst?" Schockiert starrte Bardo zur Wohnungstür zurück und dann wieder Kai in das Gesicht. "Voll krass! Ich hol dir mal ein Glas Wasser. Du siehst irgendwie nicht gut aus."

Kai wankte zum Sofa. Er ließ sich fallen und nach vorn hängen, das Gesicht in seine Hände versteckt. Als etwas seine Finger berührte, schreckte er zusammen. Bardo hielt ihm ein Glas Wasser mit Eis hin. Mit müdem Lächeln nahm Kai einen kleinen Schluck und stöhnte auf. Was für ein Mist! Scheiß Leon mit seiner Überheblichkeit. Scheiß Benni mit diesen bekloppten Ideen! Bardo beobachtete ihn noch immer voller Sorge und Kai ergab sich dem Blick. "Okay. Ich erzähl es dir, aber es ist nichts für Kinder. Tu mal so, als ob du schon irgendwie zwei bis vier Jahre älter wärst." Er warf sich auf das Sofa, um seitlich ausgestreckt liegen zu bleiben.

Bardo beobachtete ihn aus seinen besorgten Rehaugen, dann ließ er sich auf dem Couchtisch nieder. Der Platz, auf dem Jan sonst immer saß, wenn er anstrengende Gespräche führen wollte.

"Der Ärger begann in dem Augenblick, in dem Benni mir sagte, dass er mich gern fotografieren will."

"Der macht total schöne Fotos!"

"Dann soll er das mit dir machen, ich will nicht!" Kai seufzte und schloss kurz die Augen. "Das Problem ist, dass Benni die Bilder nicht nur so aus Spaß macht, sondern natürlich für seine Bewerbungsmappe verwenden will. Er will die Bilder an verschiedene Werbefirmen schicken und seine Ideen irgendwie präsentieren."

Bardo nickte verständig. "Das klingt doch gut, oder?"

"Das Problem ist außerdem, dass er diese Sache Leon neulich erzählt hat. Als er mir zum Geburtstag ein Bild geschenkt hat. Hat er natürlich ins LPP vorbei gebracht, weil er da sowieso zur Party hin ist. Das Bild von Jan und mir, das ich auf meinem Schreibtisch stehen habe..."

"Hm." Bardo seufzte leise.

Kai blickte ihn misstrauisch an. "Was?"

"Das ist sehr schön." Unsicher blickte Bardo ihn an. "Romantisch" bot er dann noch an, weil Kai ihn anstarrte.

"Romantisch?" In seinem Hinterkopf stimmte die Abteilung schwuler Kitsch und kitschiges Schwulentum vollkommen zu.

Bardo wurde rot. "Na, man sieht so, dass ihr verliebt seid."

"Tatsächlich?"

"Aber voll. Du schaust total... hm..."

"Ja?" Gefährlich süß fragte Kai nach "Was wolltest du sagen?" Bardo wurde rot und das war irgendwie verdächtig. "Mir sagen immer alle, dass man mir nie ansieht, wie ich mich fühle."

"Ehrlich? Ich fand immer, dass man dir das gut ansehen kann."

"Du bist der erste, der das sagt. Sogar Jan findet mich zu verschlossen, Bambi."

Bardo zog ein langes Bein an und umfing es mit den Händen. Nachdenklich studierte er Kais Gesicht, dem davon irgendwie ungut wurde. Es fühlte sich an, als ob Bardo seine Ansichten zu Kai kritisch überprüfen wollte. Endlich sagte Bardo leise. "Erzähl doch erst einmal weiter."

Kai setzte sich auf. "Ich glaube, dass ich noch etwas trinken muss."

Bardo reichte ihm sofort das Wasserglas, aber Kai lachte leise und winkte ab. "Was stärkeres. Das Thema, das jetzt kommt, ist peinlich."

Sofort hopste das Bambi niedlich vom Tisch auf und fragte hilfsbereit "Soll ich dir was holen?"

"Bardo, wenn du jetzt sagst, dass du dich mit unserem Alkoholschrank auskennst, wird es hier ungemütlich!"

"Ach so... ich dachte, dass du was aus dem Kühlschrank willst. Da liegt noch Wein drin."

"Nee. Ich mix mir was. Du... bist noch immer vierzehn, oder?"

"Hmhm, noch für fünf Wochen." Betrübt blickte Bambi ihn an und Kai grinste. "Na, dann darfst du ja nur noch ein Jahr und fünf Wochen keinen Alkohol. Ist doch halb so schlimm." Während Bardo lachend erwiderte, dass er nach Lenas Party erst mal keine weiteren Erfahrungen in Sachen Kater und so wünschte, mischte Kai sich etwas Gin und Tonic, dann schlappte er in sein Schlafzimmer durch. "Komm, wir reden bei mir drüben. Ich zieh mich vorher um." Er stellte sein Getränk ab und wanderte in das Bad. Er musste sich sowieso noch abregen wegen Leon und sich die Worte zurecht legen.

Mit einem Langarmhemd von Jan und seiner in die Jahre gekommenen Lieblingsshorts fühlte er sich ausreichend gewappnet, um dem Thema Sex vor laufender Sicherheitskamera und der damit verbundenen Erpressung durch Leon zu begegnen. Als er zu seinem Bett kam, saß Bardo schon mit großen Augen auf ihn blickend dort und trug einen ziemlich bescheuerten Schlafanzug. Eine lila Scheußlichkeit mit Raumschiffen vorn und auf den Beinen und Sternen überall, dazu noch aus Frottee. "Gott, Bardo. Wir müssen mal ein ernstes Wort über Klamotten reden!"

Defensiv verschränkte Bardo die Arme. "Sag nichts. Meine Mutter hat den Anzug sogar extra noch einmal in meiner neuen Größe gekauft. Das ist mein Lieblingsschlafanzug."

"Gewesen! Wenn du mit so etwas im Bett rumhängst, dann läuft dir jeder Freund davon!"

Bardo knibbelte an dem Raumschiff auf seinem Knie. "Menno, die Raumschiffe leuchten sogar im Dunkeln, willste mal sehen?"

Hysterisch starrte Kai ihn an. "Was?! Das Teil muss gehen. Bardo, das halt ich nicht aus!"

Bardo lachte auf. "Okay? Aber deine Sachen sind auch nicht gerade der Knaller!"

"Bitte?"

"Na, das Hemd ist viel zu weit. Da steht Werbung für irgendwas drauf. Und die Hose sitzt auch nicht gerade... ist auch kaputt da an der Naht."

"Augen geradeaus! Die Sachen sind gemütlich, mehr ist heute unwichtig. Jan ist eh weg."

Bardo schnaubte. "Dem sind Klamotten doch voll egal!"

Kai nickte. "Stimmt. Aber nicht an mir. Du hättest ihn mal neulich sehen sollen, als ich meine neue Ausgehhose ins LPP anziehen wollte."

"Die grüne von gestern Abend?"

"Ja, wieso?"

Bardo seufzte leise, aber schwieg sich aus und zupfte sich die Bettdecke über das lila Wunder in schlechtem Geschmack.

"Okay. Ich rede und trinke und du hältst die Klappe." Kai trank noch einen Schluck, dann stellte er das Glas auf den Nachttisch.

Bardo nickte brav und rutschte auf dem Bett durch, damit Kai sich zu ihm setzten konnte.

"Gib mir gefälligst Decke ab! Okay. Eigentlich ist die ganze Sache die Schuld von Bianca gewesen."

"Die krasse Bianca?"

"Hm." Kai nippte einmal von seinem Getränk. "Das war aber vor der Geschichte neulich. Jan hat mich vom LPP abgeholt und war scharf drauf, ihr die Beziehung mal zu zeigen, damit sie rafft, dass er vergeben ist. Ich wollte nicht vor ihr rummachen. Das ist doch auch echt peinlich und doof und die beiden haben miteinander wieder so bescheuert plattdeutsch geredet... ist ja auch egal."

Bardo nickte einmal und Kai brach ab und sprang lieber gleich zum schwierigen Teil. "Jan war danach irgendwie total wild und hat mich angefallen, sobald die anderen weg waren. Er hat mir eine halbe Million Knutschflecke verpasst und war rattig ohne Ende. Das hat dazu geführt, dass wir es im LPP getan haben. Auf der Kühltruhe. Leider hat Leon in der Küche eine Überwachungskamera. Vermutlich damit er weiß, wann wer rauchen geht, ob der Koch was klaut oder so."

"Eh? Was?!"

"Na, wir sind auf der Sicherheitsüberwachung drauf gewesen. Mittendrin und voll dabei eben." Kai linste zu dem sehr rotgesichtigen Bambi rüber und trank einen großen Schluck. "Ich hab gesagt, dass es nichts für Kinder ist! Muss ich jetzt bei den Bienchen und Blümchen anfangen, oder was?"

Bardo kämpfte mit seiner Schüchternheit, dann nickte er schweigend.

Kai trank noch ein paar Schlucke und seufzte endlich. "Okay, ich setz noch ein wenig zurück. Ist dir klar, dass Jan und ich nicht nur Mitbewohner sind, sondern eine Beziehung haben?"

"Hm. Klar." Bardo grinste ein wenig.

"Eine, in der wir auch Sex haben?"

"Hm. Sicher."

"Analsex?" Ein Glück war Kai leicht angetrunken. So war wenigstens nur Bardo rot im Gesicht und er relativ entspannt.

Nervös strichen Bardos Finger an der Bettdecke entlang, endlich nickte er, aber sah nicht mehr wirklich so aus, als fühlte er sich wohl.

Kai seufzte. "Wie kann man mit vierzehn Jahren auch Ahnung von solchen Sachen haben, nicht?" Er blickte zu Bardo rüber, mit leiser Stimme sagte er endlich "Ich bin immer davon ausgegangen, dass Jan dir alle Fragen schon beantwortet hat."

"Fragen?"

"Naja, dazu, wie alles so abläuft mit dem Sex." Die Abteilung schwule Abartigkeiten erwachte und belegte schon eine Parzelle für den neuen Stand. Nur für den Fall, dass Kai auf die grandiose Idee kommen sollte, dem Bambi praktische Erklärungen geben zu wollen. Gereizt schob Kai diesen abwegigen Gedanken weit von sich.

"Anna hat mir neulich ziemlich viel erzählt. Die ist krass. Aber voll! Sie hat von ihrem Vater mal die Pornosammlung gefunden oder so."

In Gedanken sah Kai Anna und das Bambi in Leons Designerwohnung hocken und sich gegenseitig Aufklärung verpassen. Es konnte ja wohl nicht wahr sein, dass eine Tusse das beim Bambi übernehmen sollte! Unverschämtheit! Zugleich konnte Kai das Bild von Leon in Verbindung mit dem Wort Porno nicht loswerden. Er erinnerte sich daran, wie er Lukas' Lieblingsporno hatte anschauen müssen. Worauf Leon wohl stand? Kaum hatte er sich das gefragt, fluchte er innerlich und versuchte die Abteilung für Abartigkeiten zu dämpfen, die Leon zu einem neuen Helden machen wollte. Kai gab es zu. Leon war echt abartig. Und er kam so seriös her dabei, als könnte er kein Wässerchen trüben.

Bardo blickte ihn erwartungsvoll an, daher seufzte er und rieb sich die Augen. "Du kannst dich unmöglich von einem Mädchen aufklären lassen, Bambi. Das geht so was von nicht, ich hab keine Worte mehr dafür! Und Pornos! Nee. So was macht mich ehrlich gesagt nicht an. Ist irgendwie zu platt für mich. Irgendwie kann ich dem nichts abgewinnen."

"Ich auch nicht."

"Moment mal!"

Hastig hob Bardo die Hände. "Glaube ich. Meine Mutter hat mich mal erwischt, als ich durch eine Bildergalerie gesurft bin. Da war nichts schlimmes drauf, aber eben... naja."

"Nackte Männer?"

Unglücklich nickte Bardo.

"Immer noch besser, als von der Mutter mit dem Freund oder beim... naja, weißt schon erwischt zu werden."

"Okay, was war jetzt im LPP?" Offenkundig wollte das Bambi nun einen schnellen Themawechsel.

"Ach so, ja. Also Jan und ich haben es also blöderweise im LPP auf der Kühltruhe getan. Hatte die richtige Höhe. Und eben hat Leon mir gesagt, dass er für die neuen Cocktailkarten Bilder von mir haben will. Er meinte dazu noch, dass ich für die Idee von Benni nackt sein müsste."

"Hm, vielleicht könnte man dich unkenntlich machen?"

"Es geht um mein Gesicht."

"Ja, das war klar."

"Und als ich abgelehnt hab, hat Leon mich damit erpresst, dass er eine Videoaufnahme von dem Sex auf der Kühltruhe hat und die Jan zeigen will. Ich will das nicht! Der soll Jan mit diesem Scheiß in Ruhe lassen! Aber dann muss ich mich ablichten lassen, das will ich auch nicht! Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich weniger will!"

Bardo blinzelte. "Voll krass! Ist alles... ehm... gut zu sehen?"

"Keine Ahnung, verdammt!"

"Aber hast du den Film nie gesehen, Kai?"

"Natürlich nicht."

"Du musst! Sonst kann er dich ja ins Blaue erpressen, oder nicht? Du musst diesen Film irgendwie bekommen oder..."

"… zerstören!" Kriegerisch ballte Kai eine Hand zur Faust.

Bardo nickte. "Immerhin ist Jan vermutlich gut genug zu sehen, dass Leon jetzt denkt, dass er euch damit erpressen kann, oder?"

"Meinst du? Ich denke eher, dass man noch so einiges mehr sehen muss. Nackte Körper sollten es schon sein, oder nicht?"

"Aber reicht nicht die Knutscherei schon? Ist es nicht das, weswegen Leon denkt, dass er dich erpressen kann?"

"Wieso?"

Bardo seufzte abgrundtief. "Naja. Dass ihr eben nicht nur Mitbewohner seid, Jan und du. Er ist so..." hilflos zuckte er mit den Schultern.

"Hetero?" Kai winkte ab. "Wir haben es ein paar Monate geheim gehalten, solange Jan den Trainerschein gemacht hat. Jetzt ist es eher so, dass Jan davon gereizt ist, wenn seine Kumpel mich den Mitbewohner nennen."

Unsicher blickte Bardo Kai an. "Aber warum willst du nicht, dass Jan das mitbekommt?"

"Warum wohl! Damit er mit Leon keinen Streit anfängt. Nachher bin ich den Job im LPP los, weil Jan Leon hier kündigt und ihn zur Sau macht. Der Job macht mir Spaß und ist supergut bezahlt und Leon ist ein guter Chef gewesen, bis heute. Er fährt mich sogar nach Hause wegen der bescheuerten Motorradmacke."

"Jan kann Leon kündigen?" Verwirrt blickte Bardo Kai ins Gesicht.

Kai seufzte. "Das weißt du alles nicht so. Jan ist nicht nur mein Vermieter. Ihm gehört der ganze Kasten hier. Mein Freund ist sozusagen... reich."

Bardo blickte Kai mit runden Augen an, dann nickte er träge. "Okay. Aber wenn Leon so unangenehm ist, wäre das nicht besser, Jan wirft ihn raus?"

"Das werde ich ihm schon austreiben, nur wie?"

Sie brüteten beide eine kleine Weile. Kai leerte seinen Gin und Tonic aus. Endlich hob Bardo den Kopf. "Wie wäre es mit Felix?"

"Felix?"

"Ja! Anna hat mir erzählt, dass Leon voll Angst vor Felix hat. Die haben wohl eine total krasse Beziehung."

"Felix. Hm."

"Erpresse ihn doch zurück, dass du Felix alles erzählst. Oder erzähl es Felix und überlass ihm den Rest oder so."

Kai schnappte ihn und knutschte ihn auf die Wange. "Das ist die Idee! Ich erpresse ihn zurück, das hat er jetzt davon. Ha!"

Bardo lief rot an, aber zeigte seine voll niedliche Bambiroutine. Fast hätte noch gefehlt, dass er mit einem Schmetterling im Kreis sprang. Kai musste lachen. "Danke. Ich erzähl dir dauernd von meinen bescheuerten Abenteuern hier. Bianca allein und jetzt das Ding. Danke für deine Geduld mit meinen... hm, voll krassen Problemen."

Bardo lachte. "Wenn du nicht wärst, dann wäre mein Leben voll langweilig, Kai."

Kai lachte auch "Das sagt Jan auch immer."

Bardos Gesicht verschloss sich und Kai seufzte auf. "Bambi, kann es sein, dass du eifersüchtig bist? Auf Jan vielleicht?"

Mit heftigem Kopfschütteln dementierte Bardo, aber wurde rot. Endlich senkte er den Kopf. "Nee, nur..."

"Ja?"

"Ich bin eifersüchtig, aber auf euch."

"Auf uns? Inwiefern?"

"Ihr seid zusammen. Ich hätte eben auch gern einen Freund." Er hob den Blick, dann gab er zu. "Keinen wie Jan, das ist echt nicht mein Ding mit dem ganzen Fußball und so."

"Bardo, du bist keine fünfzehn. Sei doch nicht immer so ungeduldig! Ich hatte niemanden, die ganze Zeit in der Schule nicht, die ganze Zeit im Zivildienst hab ich auf einer Party von Lolli, vor zwei Jahren war das, mal mit wem geknutscht. Namen hab ich vergessen. Erst seit ich mit Jan zusammen bin, habe ich einen Freund."

"Und Lukas?"

"Das war so eine Schnapsidee von Lolli. Er und ich... wir passen nicht zueinander."

"Echt?"

"Ja, ich weiß, es schaut vielleicht anders aus. Deswegen ist Pascal ja so extra geil ausgerastet. Lukas und ich verstehen uns auch super. Ich hab ihn echt gern. Er ist ohne Ende sexy." Was Bardo mit besorgt in Falten gelegter Stirn abnickte. "Aber im Bett hat es nicht gepasst, im Leben auch nicht."

"Nicht?"

"Er will immer bestimmen und übergeht mich. Er hat einen riesenhaften Freundeskreis und will den nicht mit seinem Freund teilen, das hat mich total unsicher gemacht. Außerdem ist er exklusiv Top und das bevorzuge ich auch, fast ausschließlich, somit clashen wir im Bett und haben bei ernsteren Sachen als Petting den totalen Stress." Okay, die Abteilung Guttempler in Kais Hirn befahl ihm sehr streng, mit dem Trinken sofort aufzuhören, weil er absolut dabei war, indiskret zu werden.

Bardo war offenbar der gleichen Meinung. Er starrte Kai fast schon entsetzt an. "Was?!"

"Was was?"

"Ich meine... du...?"

"Was?"

"Du bist... du... äh."

"Bardo! Verdammt, sprich deutsch!"

Unglücklich senkte Bardo den Blick auf seine Knie. "Ich hätte vielleicht doch was trinken sollen."

"Worum geht es?!"

"Sex." Rot im Gesicht zog Bardo die Schultern hoch.

Kai sah ihn schräg an, dann raffte er, was das Bambi wissen wollte. "Ja. Ich schlafe mit Jan."

"Das hätte ich nicht gedacht."

"Deswegen war ja der Stress mit Bianca. Sie dachte, dass sie gegen mich als Mädchen ankommen kann. Jetzt ist sie zum Glück davon abgekommen. Deswegen ist aber jetzt auch der Stress mit Leon und dieser doofen Erpressung! Auf dem Video ist zu sehen, wer was macht, sonst hätte Leon nicht so bescheuerte Sprüche über meine Kondition gerissen."

"Kondition?"

Kai grinste hilflos. "Jan ist ziemlich unersättlich."

Bardo verzog den Mund, als müsste er husten, dann fragte er etwas heiser "Und anders herum?"

"Kann ich nicht sonderlich ab."

"Du magst das nicht?" Unsicher knibbelte Bardo an einem der Raumschiffe auf seiner lila Schlafscheußlichkeit.

Unglücklich schüttelte Kai den Kopf.

"Warum?"

Noch unglücklicher ließ Kai den Kopf hängen. "Keine Ahnung. Wenn ich Jan ansehe dabei, weiß ich nicht, was mit mir nicht stimmt. Er geht ab wie eine Rakete, ich muss ihn nicht mal sonst noch anfassen."

"Ehrlich?"

"Ja. Was meinst du, warum er das sonst so geil findet? Offensichtlich ja, weil er davon kommt." Er grinste. "Und wie. Er schlägt es in der Regel vor. Ich mische mich da nicht ein. Er darf bestimmen, wann es okay ist. So sollte es sein."

"Deswegen wusste er so viel darüber." Bardo klang nicht wirklich froh.

"Er hat dir ein Aufklärungsgespräch verpasst, hm? War es schlimm?"

"Voll." Unglücklich knibbelte Bardo am nächsten Raumschiff. "Hat mir Angst gemacht."

Kai lachte. "Das war dann ja gut so. Du bist zu jung. Fang mit Knutschen an. Vielleicht besorgst du dir dann doch mal einen anderen Jungen dafür."

"Anna hat mich gefragt, ob ich mit ihr schlafen will."

"Was?!"

"Na, nur so. Sie ist noch Jungfrau und ich auch. Sie will das geändert haben, aber ihr Freund ist wohl nicht so bewandert und sie hat Angst, dass es schief geht."

"Aber du bist auch nicht bewandert."

"Ja, aber sie meinte, dass ich viel besser küssen kann, und hat vermutet, dass anderes mit mir auch besser sein könnte."

"Klingt nach zukünftigem Exfreund. Sex mit Frauen ist nix für mich. Wenn du das ausprobieren willst, musst du dann doch noch so ein peinliches Gespräch mit Jan führen, Bardo. Der hat reichlich Erfahrung damit."

"Nee, danke. Geht auch gar nicht. Sie ist am Ostersamstag abends schon wieder weg. Wir wollten das morgen früh machen, wenn Leon zu Felix nach München fliegt für den Tag. Die beiden wollen wohl Felix' großes Motorrad hochholen. Aber ich bin mir nicht sicher. Irgendwie würde es ja gar nichts bedeuten."

Kai zischte leise. Großes Motorrad klang nach einer stressigen Fortführung der Schocktherapie.

"Hast du schon mal ein Mädchen geküsst?"

"Hm. Ich hatte sogar so was wie Sex mit einem Mädchen."

"Ah. Tini?"

Unglücklich nickte Kai. "Du scheinst schon einiges von ihr gehört zu haben, nicht?"

"Ja. Sie hat mir voll viel von dir erzählt. Holger ist ihr Freund, aber irgendwie bist du total wichtig. Sogar Holger sagt immer, dass du wie eine Art siamesischer Zwilling von ihr bist, dass man sie nicht ohne dich bekommt."

"Woher weißt du das alles?!"

"Ach so. Ich geb Tinis Mitbewohnerin Renate seit der Party Klavierunterricht, ist ein netter Nebenverdienst. Sie hat nur ein Keyboard, aber als ich da neulich ein wenig drauf geklimpert hab, hatte sie diese Idee. Ich bin einmal die Woche dort. Ich muss was verdienen, weil meine Eltern mir immer alles Mietgeld für hier abziehen."

Kai umschlang seine Knie mit einem Arm und seufzte. "Das muss ich deiner Mutter mal sagen, Bardo. Du bist doch eigentlich eher so was wie ein Freund, der zu Besuch kommt."

Bardo blickte ihn an und zog seine Unterlippe zwischen die Zähne. "Danke, Kai."

Kai rollte sich aus dem Bett. "Puh. Und ich werd mich jetzt mal ins Bad und in Jans Bett schleppen. War irgendwie ein total anstrengender Tag." Er seufzte. "Morgen weiß ich vielleicht auch, wie ich Leon am besten fertigmachen kann!" Kai zog die Brauen zusammen. "Und Benni!"

Nach diesen erschöpfenden Gesprächen schleppte Kai sich zu Alpträumen und Sorgen in das riesenhafte Bett von Hannah. Beim nächsten Erwachen, irgendwann in der Nacht, hatte er Durst und tastete sich durch die dunkle Wohnung ins Bad, um ein Glas Wasser zu trinken. Auf dem Rückweg blickte er zu Bardo ins Zimmer, weil die Tür offen stand.

Der Junge lag quer ausgestreckt im Bett und schlief tief und fest. Kai trat vorsichtig näher. Tatsächlich, die Raumschiffe und Sterne auf dem Schlafanzug fluoreszierten schwach. Irgendwie war es ein schöner friedlicher Anblick und mit einem Mal war Kai froh, dass das Bambi sich seinen Lieblingsschlafanzug nicht vermiesen ließ. Er lächelte und flüsterte: „Bleib bloß so wie du bist, mein Bambi."

Leise ging er ins Bett zurück und schlief ein, nachdem er sich Jans T-Shirt zum Kuscheln geholt hatte. Wie früher, als Jan nur am Mittwoch und Sonntag bei ihm war. Auch zu der Zeit hatte er schon immer mit dem Gesicht in das T-Shirt vergraben besser schlafen können.

Kapitel 107

Als Kai am Karfreitag geschafft aus dem Bett kroch, war das Bambi bereits bei Anna oder sonst irgendwohin davon gehoppelt. Mit düsterer Vorahnung dachte Kai daran, dass das arme Bambi nun vielleicht Sex mit dieser total krassen Tante haben musste, und hielt ihm die Daumen, dass er aus der Falle wieder raus kam. Er machte sich den ganzen Morgen über reichlich Gedanken, weil er Bardo nicht ausreichend von der Sexgeschichte hatte abhalten wollen. Als die zwei gegen Mittag um die Balkontrennung herum zu Kai rüber sahen und ihn fragten, ob er mitessen wollte, machten sie jedoch einen normalen Eindruck. Bambi sah jedenfalls gesund und munter aus.

Kai wollte natürlich nicht mit ihnen essen, Anna war ihm zu anstrengend und peinlich. Sie und Bardo benahmen sich miteinander zwar wie Kumpel, aber Kai hatte das Bild, Bardo und Anna in einer wilden Knutscherei, unauslöschbar vor Augen, sobald er sie zusammen sah. Und es war kein Bild, auf das er gesteigerten Wert legte.

Anna verkündete Kai jedoch auch noch, dass Felix am frühen Nachmittag vermutlich schon wieder zurück war, während Leons Flug sicherlich erst am Abend eintreffen würde. "Meine Ma darf das gar nicht wissen, die tickt sonst voll ab, wenn sie erfährt, dass Papa mich allein gelassen hat. Schon beknackt, wenn man bedenkt, dass sie das auch dauernd macht. Aber..." Anna zuckte mit den Achseln. "… irgendwie hat sie ihm das Ding mit dem Schwulwerden nicht verziehen."

Kai konnte von dieser Störung abgesehen endlich einmal wieder einen ruhigen Tag allein in der Wohnung genießen. Oder zum Teil genießen. Natürlich war er noch mit Putzen dran und zudem hatte er ab Mittag die Terrassentüren auf, weil er auf Felix lauerte. Sein neuster Plan gegen Leon sah etwas anderes als Erpressung vor. Angriff.

Als es gegen vier Uhr auf der Dachterrasse so richtig schön wurde, weil die Sonne herauskam und Kai noch einmal voller Zufriedenheit auf seine Blumen blicken konnte, hörte er das Röhren von einem Motorrad und sprang an die Brüstung heran. Felix, auf einer tatsächlich noch einige Nummern fetteren Maschine als bereits in der Garage stand.

Eilig lief Kai in die Garage durch, wo Felix gerade gegen die neue Beleuchtung anblinzelte, während er seine Maschine aufbockte. Als er Kai sah, hob er die Brauen auf diese merkwürdige Art, die ihn so altklug und zugleich neckisch aussehen ließ. "Na? Wenn du jetzt unbedingt Motorrad fahren willst, Kai, dann tut es mir leid. Ich hab nach der Tour von München hoch erst mal keinen Bock."

Kai verschränkte die Arme und schüttelte den Kopf. "Ich will, dass du Leon beibringst, dass er mich nicht zu erpressen hat. Wenn er Nacktbilder von mir haben will, dann kann er das vergessen, gleich was er tut oder sagt oder androht."

Felix blinzelte, hob die Brauen noch einmal, dann schüttelte er den Kopf, als ob er seine Gedanken klären wollte. "Entschuldige, ich bin wohl noch im Fahrtrausch oder so. Ich hab dich gerade das Wort 'Nacktbilder' verwenden hören."

Kai nickte und winkte ihm "Ich erkläre es dir." Auf dem Weg hoch in den dritten Stock schwiegen sie. Erst in ihrer Diele lehnte Kai sich an die Tür und erzählte einen Abriss seiner Probleme, ähnlich der Version, die er am Abend zuvor bereits Bardo erzählt hatte. "Ich hab Benni gesagt, dass ich mir das mit den Bildern überlege, aber von nackt war nie die Rede und schon gar nicht davon, dass die Bilder irgendwo für jedermann zu sehen sein werden. Kannst du so gut sein und Leon klar machen, dass ich auf diese Nummer nicht stehe? Wenn der zu Jan rennt damit, dann kann ich den Job im LPP vergessen. Das will ich ehrlich gesagt nicht. Der Job ist gut, macht Spaß und bringt genug Geld ein. Außerdem könnte es sein, dass Jan... anstrengend wird. Und dann könnte es sein, dass ihr die Wohnung hier vergessen könnt. Auf neue Nachbarn hab ich auch keinen Bock. Bitte, machst du das?"

Felix ballte eine Hand zur Faust, dann nickte er. "Aber hallo, Püppi."

Kai öffnete die Tür und lächelte, eine Nummer zu süß. "Ich danke dir."

Felix lächelte auch, es ließ ihn irgendwie böse aussehen. "Bitte, gerne."

Mit einem zufriedenen Seufzen lehnte Kai sich gegen die Tür, nachdem er sie hinter Felix geschlossen hatte. Gleich darauf klingelte es und Bardo stand davor. Felix hatte ihn offenkundig rausgefeuert, aber das Bambi war auch ganz und gar dafür. Und als Kai ihm zur Begrüßung sagte "Ich brauch meine Ruhe, laber mich nicht voll, wenn du leben willst, klar?", nickte er nur fröhlich.

Und zu seinem Wort stehend und daher sehr schweigsam taperte Bardo auf die Terrasse raus, um sich von seinem Pulli zu befreien, auf die Sonnenliege niederzusinken und trotz ekligem T-Shirt verdammt niedlich auszusehen. Er hörte Musik, vermutlich irgendetwas hochtrabendes Klassisches.

Deprimiert kochte Kai Kaffee und stellte einen Teller mit Keksen auf eine leere Blumenkiste auf die Dachterrasse hinaus. Die Kiste hatte Lolli vor seinem Verschwinden nebenbei noch mit einer Fliese, die wohl zur Reserve liegen geblieben war, in einen Beistelltisch umgewandelt. Kai warf sich ein Kissen auf den Fußboden, nachdem er Bardo befohlen hatte, auf der Liege zu bleiben. Er hatte es sich gerade auf dem Kissen mit Milchkaffee und einem Keks gemütlich gemacht, als der Telefonterror zum Feiertag begann.

Erst seine Mutter. Langatmig wurde Kai über alle Aktivitäten der Verwandtschaft aufgeklärt. Er erhielt auch schon mal den Befehl, sich zum Shoppen für die Hochzeit einen Termin zu suchen. Seine Mutter wollte zu diesem Zweck in die Stadt kommen, um ein Kleid zu kaufen. Sie ließ sich mit einem ungewissen 'Mitte Mai reicht doch noch' abspeisen. Dann folgten, zum Gähnen, die Neuerungen im Garten und die Pläne für den Schrebergarten und endlich bekam er die Order, bei der Oma anzurufen, wenn er schon nicht zu Besuch kommen wollte. Kai mampfte einen Keks und atmete durch.

Dann kam seine Oma dran. Sie redete ihn mit dem Namen von Hellas Mann Rolf an, dann erkannte sie ihn irgendwann doch wieder und erzählte alles, was sie eigentlich Rolf erzählt hatte, noch einmal. Es ging um die verdammte Hochzeit. Am Ende hängte sie noch die Hoffnung an, dass Kai selber heiraten würde, bevor sie starb. Dieser Exkurs führte zu Träumen von Enkelkindern auf dem Schoß. Sie war schließlich vor Rührung bei dem Gedanken den Tränen nahe und Kai versuchte, die Ruhe zu bewahren, aber brauchte drei Kekse, um nach dem Gespräch wieder runter zu kommen.

Hella war die nächste. Sie machte sich total unbeliebt bei Kai, weil sie anrief, als er gerade versuchen wollte, Jan zu erreichen. Sie laberte Kai endlos von den Hochzeitsvorbereitungen voll und davon, wie schwer es war für eine schwangere Braut ein schönes Kleid zu kaufen. Sie fragte ihn dann schließlich, ob sie Nadine Ehrlich als seine Tischdame einplanen sollten. Kai lehnte ab und behauptete, dass er kurz davor sei, eine eigene Wahl ansagen zu können. Nadine war seine Tanzpartnerin in diesem grauenhaften Tanzstundenwahnsinn gewesen. Der Alptraum in Pink! Kai schüttelte sich und brauchte noch zwei Kekse. Dann kam Tini. Erwartungsgemäß, wenn auch deutlich später als befürchtet.

"Was war das denn für eine Nummer mit diesem Typen?! Gehst du etwa fremd?!"

Er konnte richtig vor sich sehen, wie sie entrüstet eine Faust in die Seite stemmte. Hatte die sie noch alle? "Nein! Er ist mein Boss, und was sonst noch so ist, geht dich nix an!"

Tini hmpfte und schob schlechte Laune. Dann fragte sie Kai, was er zum Ostersamstag vorhabe. Kai hatte natürlich gar nichts vor. "Ich arbeite bis gegen fünf. Danach will ich meine Ruhe."

"Dann komm ich dich abholen. Draußen an den Teichen ist immer großes Feuer mit Livemusik."

"Hm. Kann nicht. Bardo ist hier."

"Der kommt mit. Den hab ich gestern schon gefragt."

Kai schoss einen Blick auf Bardo ab, der auf der Sonnenliege döste und das nicht mitbekam. "Mal sehen. Vermutlich nicht."

Tini hmpfte wieder, was Kai reizte. "Is was?"

Sie schwieg, dann murrte sie "Hab mich mit Holger gezofft."

"Hm. Schon wieder? Worum?" Wieso er noch nachfragte, war der Abteilung Vernunft wie auch der Abteilung Abartigkeiten nicht ganz klar. Das Erziehungsgen schlug vor, Tini in Sachen Streitkultur zu unterrichten. Die Vernunft warf gereizt ein, dass Kai selber meistens hysterisch austickte und rumheulte, wenn er sich mit Jan so richtig stritt. Davon total genervt fauchte er "Wehe das ist wieder so eine Scheiße wie letztes Mal!"

Tini zischte zurück "Geht dich auch nix an!"

"Doch. Spätestens, wenn Holger mich zwingt, dich zur Vernunft zu bringen! Spucks aus!" Gereizt stopfte Kai sich wieder mit Keksen voll. Wenn das so weiter ging, würde er über Ostern fett. Von Tini kam nach einer kleinen Runde Schweigen dann endlich eine verzwirbelte, durch und durch nicht verständliche Rede dazu, dass Holger ihr irgendwie Angst machen würde, weil er so verdammt sicher und toll sei und sie sich damit irgendwie viel zu wohl und viel zu toll fühlen würde.

Jan würde einen passenden Spruch wissen, da war Kai sich sicher. Ätzend genug, um Tini abzublocken, ehrlich genug, um sie zum Nachdenken zu bringen. Aber Kai war hilflos. Endlich meinte er "Ich raff dich nicht. Du bist echt beknackt, Tini. Okay, ich komm morgen Abend mit, wenn Holger mitkommt. Ohne den hab ich Angst, dass ein Motorrad mich zu sehr erschrickt."

"Kai! Das ist Erpressung!"

"Scheint Thema dieses Osterfestes zu sein. Take it or leave it. Wenn du hier ohne Holger aufläufst, dann kannste den Abend vergessen. Das Bambi bleibt dann auch hier. Ich hab versprochen, auf ihn aufzupassen."

Bardo blickte ihn verwirrt, aber nicht vollkommen dagegen an und nahm den Keksteller hastig fort, bevor Kai noch mehr essen konnte.

"Ich überleg mir das." Tini hatte es mit einem Mal eilig, davon zu kommen und Kai sank erleichtert auf den Fußboden vor der Terrassentür.

Benni war der letzte im Bunde. Er ließ Kai gar nicht erst zu Wort kommen, sondern versprach in einer langatmigen, nervigen Rede, dass er natürlich keinerlei Intentionen hegte, Kai nackt oder für gewerbliche Zwecke abzulichten. Kai ballte die Hand zur Faust. Leon, diese miese Natter! Für derart durchtrieben hatte Kai ihn gar nicht gehalten, aber Benni hatte eindeutig Informationen über Kai und Jan, die er nicht haben sollte und zudem begann er auch noch – intrigant und nervig selbstmitleidig – mit einer perfiden Art der milden Erpressung. Es fing an mit nöligem Schwafeln darüber, dass Kai seine Chancen ruinierte und endete mit der Prophezeiung, dass die Bilder von Kai, die nun nicht gemacht werden würden, seinen Durchbruch dargestellt hätten. Kai litt eisig schweigend und wollte mehr Kekse, aber kam aus seiner Position heraus nicht mehr an den Teller heran. Bardo sah seinen Gesichtsausdruck und ergriff die Flucht.

Benni endete mit einem mega Seufzerkonzert. "Bitte mach mit, Kai. Lass doch nicht zu, dass Leon uns den Spaß an der Sache verdirbt! Nächsten Samstag machen wir das bei Lena in der Wohnung. Da sind alle ihre Mitbewohner weg, vor allem Ansgar Spaßverderber. Dann wollte ich sie eine Runde ablichten und dich auch, bitte, bittebittebitte..."

"Mal sehen. Du bist selber schuld, Benni!"

"Ja. Ich wollte das mit Leon nicht und ich werde dich auf jeden Fall über alles genau informieren, was ich mit den Bildern mache."

"Nichts! Weil ich mich nicht knipsen lassen werde, verdammt!"

Nach einer sehr nervigen halben Stunde hatte Benni ihn irgendwie überredet. Kai sagte zu, dass er zu Lena kommen würde am Samstag, und dachte bei sich, dass er dort dann immer noch alles verweigern konnte.

Genervt dachte er daran, dass es maximal unfair war, dass Leon ihn nackt haben wollte, wo doch Jans absolut scharfer, durchtrainierter Traumkörper bei weitem die bessere Wahl gewesen wäre. Gleich im nächsten Augenblick fehlte ihm Jan wieder wie verrückt und im übernächsten Augenblick lag er auf ihrem Sofa rum und aalte sich in Selbstmitleid und Langeweile. Ein perfekter Feiertag.

Das Bambi war ausgerückt, um in der Kirche auf einer Messe mitzumachen. Singen konnte er noch immer nicht, aber wollte seiner Schwester bei irgendwelchen Gruppentreffen helfen. Jan war auf dem Handy nicht erreichbar. Typisch für ihn. Er war sicherlich nonstop unterwegs mit Freunden aus der Schulzeit oder dem alten Fußballverein.

Der Abend war dank grottenschlechtem Fernsehprogramm dermaßen langweilig, dass Kai auf dem Sofa einpennte. Er wurde davon wach, dass Bardo, aus der Kirche heimgekehrt, das Licht anschaltete. Nachdem Kai seine Halswirbelsäule wieder gerade gerückt und Bardo für den Lichtschock vergeben hatte, motivierte er seinen Kreislauf, seinen Körper zu versorgen und schleppte sich kommentarlos mit kleinen Augen ins Bett. Er schlief mit Jans T-Shirt im Arm ganz ausgezeichnet und war daher nicht einmal müde, als er am Morgen ins LPP musste.

Leon war nicht dort, aber Kai hatte auch nicht erwartet, dass er die Geschichte mit der Erpressung auf der Arbeit ausstehen musste. Nach der Arbeit schaute Kai in der WG vorbei und goss die Haschpflanzen, die auf Lollis Fensterbrett und in den Sonnenflecken im Wohnzimmer verteilt vor sich hin wucherten. Zu seinem Glück war Benni wirklich nicht dort, sonst hätte er sich vermutlich noch eine Rede zum Thema Bilder anhören müssen.

Als Kai sein altes Zimmer inspizierte, erkannte er es kaum wieder. Es war schon merkwürdig, was ein paar andere Möbel und Dekorationen ausmachen konnten. Benni hatte natürlich Fotos an den Wänden und Kai musste es insgeheim zugestehen. Benni konnte, so nervig er war, saugut fotografieren. Besonders Menschen. Er schaffte es, Stimmungen einzufangen. An einer Wand zogen sich gerahmte Bilder entlang. Kai brauchte eine gute halbe Stunde, um sie alle einmal anzusehen. Er selber war zwei Mal mit anderen zusammen darauf zu sehen. Jan gar nicht. Tini war auch einige Male gemeinsam mit Renate abgebildet. Szenen aus der Wohnung. Lolli hatte er natürlich einige Male geknipst und sogar ernsthaft erwischt, konzentriert an seinem Zeichenbrett arbeitend.

Als Kai gegen halb sieben wieder in der Wohnung war, hatte Bardo Tini schon reingelassen. Die zwei hockten auf der Terrasse, hörten Musik und laberten mit verdächtig zusammengesteckten Köpfen. Sie trug einen roten Kapuzenpulli, der aussah, als hätte sie den Jan geklaut. Bardo trug noch immer eines seiner schrecklichen T-Shirts, nun mit einem Langarmshirt darunter. Sie redeten leise und sahen sich irgendwie verschwörerisch an. Als Kai an ihnen vorbei lief, sahen sie ihn beide zugleich an und zeigten ein nahezu identisches Grinsen.

Von ihrer Einigkeit gereizt ging Kai grußlos in sein Zimmer, suchte sich für das Osterfeuer passende blöde Sachen zum einräuchern raus und zog sich hastig um, bevor Tini noch auf die Idee kam, ihn dabei zu stören. Der Instinkt war gut gewesen, sie klopfte kurz an, aber stand gleich darauf neben ihm, als er mit nacktem Oberkörper die Jeans zuknöpfte. "Hey. Kommste also mit?"

"Wo ist Holger?" Kai zerrte sich das Langarmhemd über den Kopf und einen schwarzen Fleecepullover von Jan darüber.

Sie hmpfte, aber gab sich geschlagen. "Kommt uns gleich abholen. Wir fahren mit dem Fahrrad. Das Bambi hat extra sein Rad geholt, also mach mit, ja? Ohne dich will er nämlich nicht."

Und Kai gab für sich zu, dass er nicht ohne Bardo mit einem eingefleischten Heteropaar zu einer semiromantischen Veranstaltung fahren wollte. "Okay. Lass mich noch mal kurz mit Jan telefonieren, dann komme ich mit." Sehr zu Kais Ärger war Jan noch unterwegs oder schon wieder. Er ging nicht an sein Handy ran.

Holger tauchte in angespannter Verfassung vor dem Haus auf, was man seiner leisen Stimme anhören konnte. Kai rief ihm durch die Gegensprechanlage zu, dass sie runterkommen würden. Bardo lief vorweg und war samt seiner langen Beine schon vor Kai und Tini aus dem Haus.

Auf der Treppe runter fragte Kai daher rasch "Okay. Worum habt ihr euch diesmal gestritten?"

"Er hat mitbekommen, dass ich zu meinem Bruder nach Kanada will. Für ein paar Wochen im Sommer und ist voll bescheuert ausgetickt. Ich weiß nicht, was das soll! Lernen kann ich auch da und die Sache ist schon länger geplant. Meine Eltern fliegen mit für zwei Wochen. Und jetzt kommt Holger total nervig an von wegen ich lauf ihm weg!"

"Gott, seid ihr bescheuert! Wann bist du denn weg?"

"Im Mai fliege ich, gleich nach dem Abschluss von Neuroanatomie. Ich bin dann Ende Juli wieder hier."

"Das sind nicht nur ein paar Wochen, Tini. Das sind zwei Monate! Moment mal! Du bist den ganzen Juni weg?!"

"Hm. Mein Bruder lebt in Kanada total geil an einem See so in den Bergen. Wir machen da alle zwei Jahre Urlaub. Dieses Jahr bleibe ich eben etwas länger."

"Scheiße! Ich bin im Juni zu einer Hochzeit eingeladen, da brauch ich eine Tischdame. Ich wollte dich eigentlich fragen... Mist."

"Schade. Das wär bestimmt nett geworden." Sie lächelte auf eine zuversichtliche Art, die ihn schon wieder reizte.

"Nett?! Bist du irre? Das ist eine Dorfhochzeit! Mein Cousin heiratet seine Sandkastenfreundin. Die sind beide in der freiwilligen Feuerwehr. Hast du eine Ahnung, wie das da abgehen wird?!"

Sie lachte. "Na. Du kannst dir noch mal in Ruhe alle peinlichen Spiele ansehen, die man so zu einer Hochzeit machen kann! Bäume sägen, Herz ausschneiden, mit verbundenen Augen Füße abtasten... uha, das fand ich auch immer scheiße, mit verbundenen Augen Gesicht abtasten. Hinterher ist immer die Frisur im Eimer. Dann allein diese ganzen Trinkspiele."

"Ach, zum Glück ist Imke wohl schwanger. Rechnerisch müsste sie laut Hella noch in ein Kleid reinpassen, wenn sie nicht total fett wird. Aber da ist das schon mal nix mit Trinken. 'Ne kotzende Braut geht auch echt gar nicht." Tini hmpfte ein wenig. Im ersten Stock hielt er sie am Ärmel fest. "Okay. Du gehst zu deinem Holgi-Baby jetzt sofort hin und sagst ihm, dass der Flug schon lange vor seiner Zeit geplant war, dass man so einen Flug jetzt nicht mehr umbuchen kann, dass du ihm täglich mailen wirst und du ihn sowieso auf keinen Fall vergessen kannst. Verstanden?!"

"Hä?"

Kai machte schmale Augen. "Du gehst mir auf den Sack, Tini. Noch mal für Blöde. Du willst nicht weglaufen vor einer Beziehung mit Holger. Du willst nicht auf diese Art so heimlich Schluss machen, sondern nur in einen Urlaub, der schon lange geplant war. Er wird dir fehlen wie irre und das sagst du ihm jetzt, oder ich werd echt pissig."

"Okay. Ist ja gut."

"Nee. Nix ist gut. Wenn du Holger sitzen lässt und der mir dann in den Ohren liegt, werd ich verrückt und ich hab gerade genug Stress. Auch ohne euch."

"Du hast dir Bardo selber aufgeladen."

Kai sah sie an, dann schüttelte er den Kopf. "Das Bambi ist voll niedlich. Ich hab Ärger mit anderen Sachen. Zum Beispiel brauche ich eine erträgliche Tischdame für eine Hochzeit mit der freiwilligen Feuerwehr. Das oder eine echt fiese Grippe, die mir das erspart."

Tini lachte sich bis zum Erdgeschoss runter und geriet vor der Tür sofort Holger in die Arme. Kai holte sein Fahrrad aus dem Schuppen, während sie sich vertrugen. Auch hier hinten im Fahrradschuppen ging per Bewegungsmelder ein sehr helles Licht an, sodass er keinerlei Probleme hatte, sein Fahrradschloss zu öffnen und sich auch nicht misstrauisch nach Spinnen umsehen musste.

Als er vor dem Haus anlangte, redete Tini in Babysprache mit Holger, der sie erleichtert für die Reise nach Kanada freigab. Das war laut Tini wieder nicht erwünscht, weil sie unabhängig von ihm sowieso fahren würde und da nicht auf sein Urteil gewartet hätte.

Darauf meinte Holger hilflos, dass er ja nur sagen wollte, dass es nicht um die Reise an sich, sondern die Trennung ginge.

Darauf meinte Tini, dass es ja wohl nicht sein könne, dass er eine Reise als Trennung auffassen würde. Es gäbe ja Mail und so weiter.

Er fragte ein wenig perplex, ob sie finden würde, dass Mail und dergleichen ein wirkliches Zusammensein ersetzen könne.

Sie meckerte rum, dass es ja wohl nicht sein könne, dass er nur die paar Wochen schon nicht überstehen würde.

Er meinte daraufhin wieder, dass er Entfernungen für Beziehungen in der Vergangenheit als sehr zerstörerisch angesehen habe. Sie erwiderte irgendetwas, das Kai ausblendete. Unter dieser vollkommen verblödeten Diskussion schafften sie den Weg zu den Teichen auf der anderen Seite vom Stadtwald jedoch recht schnell.

An den Teichen war viel los. Autos parkten alle Zufahrten komplett zu, überall waren Fahrräder angeschlossen, grölende Jugendliche torkelten schon an ihnen vorüber, Familien mit Kindern strebten in Richtung Rauchschwaden und Feuerwehrleute wanderten murmelnd auf dem Platz umher.

Dicht beim Wasser war der große Haufen Äste aufgeworfen worden und brannte schon Funken sprühend vor sich hin. Daneben waren eine Bierbude und ein Stand für Würstchen aufgebaut. Etwas abseits stand eine kleine Bühne, auf der eine Coverband spielte. Eine Gruppe Kinder tanzte auf dem Holzboden vor der Bühne vollkommen schamlos im Kreis. Megacoole Jugendliche in Bardos Alter und abwärts lehnten in der Nähe und machten Handyfotos.

Auch wenn es in den letzten Tagen eher sonnig gewesen war, hatte das Holz nicht ausreichend trocknen können. Es roch beißend nach Rauch. Kai war sich sicher, dass die Klamotten schon mal gleich in die Waschmaschine wandern würden.

Tini und Holger begannen sich in ätzender Babysprache über sich zu unterhalten und Kai zog das Bambi am Ärmel ein wenig weiter fort von ihnen. "Manno, Heteros. Echt unappetitlich."

Bardo lachte auf und Kai nickte zum Getränkewagen rüber. "Ich geb dir eine Cola aus, wenn du mir ein Bier mitbringst." Er reckte den Hals. "Holger, du auch?!"

Aber Holger wollte selber los und schlug vor, dass er in der Zwischenzeit die Würstchen organisieren würde. Kai entdeckte einen leeren Bierzelttisch und belegte eine Ecke, bevor eine etwas zu tranige Gruppe Mädchen hatte zuschlagen können. Tini kletterte auf die Bank und schob sich direkt neben ihn. Seufzend zupfte sie an seinem Pulloverärmel und lehnte ihren Kopf auf seine Schulter. "Danke."

"Hm?" Mit misstrauischem Blick beobachtete Kai eine Gruppe Teenager, die begannen, Blödsinn ins Feuer zu werfen. Ein Feuerwehrmann kam jedoch recht rasch angestiefelt und schuf Ruhe.

"Danke, dass du uns mit dem Vertragen geholfen hast."

"Gern." Kai sah ihr kurz seitwärts ins Gesicht. "Hör auf, den armen Holger so zu nerven, Tini. Der mag dich echt total." Er schob sie von sich. "Und rück mir nicht so auf die Pelle!"

Sie senkte den Blick auf den zerkratzten Tisch. "Ich weiß. Ich ihn ja auch." Sie seufzte auf.

"Zeig ihm das mal anders als auf so beknackte Art." Kai sah sich kurz nach Bardo um, der war jedoch komplett hilflos vor dem Bierstand gefangen. "Mal was anderes. Woher waren all diese vielen Fotos, die auf dem Stick waren?"

Tini grinste ein wenig. "Das darf ich nicht verraten."

"Hör mal. Da hat jemand so eine Sammlung und steht ja wohl offenbar auf Jan, oder? Das geht mich doch auf jeden Fall was an. Wer ist das?"

"Kai. Das darf ich nicht sagen, okay? Reicht es dir, wenn ich versprech, dass es niemand ist, der je gefährlich werden könnte?"

"Bianca also nicht?"

Tini musste laut lachen. Holger lud gleich darauf eine Ladung Würstchen auf dem Tisch ab und schob sich zu Bardo an den Bierwagen, um dem armen Jungen beim Kampf gegen die Menge zu helfen. Wenig später konnten sie leicht verbrannte Würstchen essen und nicht komplett kaltes Bier aus der Flasche trinken und Bardo und Tini dabei zusehen, wie die ihre nicht komplett kalte Cola nuckelten.

Die Coverband machte Stimmung, spielte all die Lieder, die bei solchen Gelegenheiten gut ankamen. Als die Kinder ein wenig später abgeführt wurden, begannen ältere Leute mit dem Paartanzen. Kai starrte auf die Pärchen und seufzte genervt. "Ich glaube, dass ich gar nicht mehr tanzen kann. Meine Tanzstunden sind so lang her. Hab ich erfolgreich verdrängt den Horror."

Bardo sah ihn belustigt an. "Ich mache ab Herbst den Kurs mit. Wird bestimmt total lustig."

"Lustig?! Das war die Hölle! Ich sag nur Nadine Ehrlich. Gott oh Gott!"

Holger lachte laut. "Was ist denn mit der gewesen?"

Etwas ätzend meinte Tini, gerade dabei, auf Holgers Schoß zu krabbeln. "Die hat Kai sicherlich angefasst, mit bloßen Händen."

"Du mich auch! Sie hat ein Kleid zum Abschlussball angezogen, das ihr nicht stand. Außerdem war es Pink. Pink! Diese Sorte, die nach Plastik aussieht."

Bardo hatte natürlich keinerlei verwertbaren Geschmack. Er sah Kai forschend an. "Und?"

"Und das beißt sich mit meiner Haarfarbe. Zum Glück gibt es keine Fotos. Aber jetzt hab ich diese Hochzeit vor mir. Sicherlich will meine Mutter da mit mir tanzen und vermutlich auch die Braut, Imke, die stand mal auf mich. Und ich kann das nicht mehr!"

Tini grinste. "Soll ich vorbei kommen zum Üben?"

"Nein."

"Du, dabei fällt mir ein, dass Renate total gut tanzen kann, weil ihre Eltern eine Tanzschule haben. Krass bei der spaßfreien Tante, nicht? Soll ich sie mal bitten, dir zu helfen?"

"Nein! Bist du verrückt?!" Kai kippte sein Bier runter und blickte zu Holger. "Willst du noch eins?"

"Nee. So toll war das nicht. Eins reicht mir." Holger raffte Tini an sich und schob seine Hände unter ihren geräumigen Pullover.

Kai verschränkte die Arme. "Hey! Bardo ist noch minderjährig!" Das brachte ihm allerdings nur ein paar Lacher ein. Glücklicherweise erhoben Holger und Tini sich, um tatsächlich tanzen zu gehen, als ein langsames Lied gespielt wurde und Kai stand ebenfalls mit Bardo auf, um noch Getränke zu holen.

Sie brauchten eine Weile am Getränkewagen und gingen dann rüber zu einer Baumgruppe neben der Tanzfläche. Holger und Tini waren irgendwo zwischen anderen Pärchen verschwunden. Kai blickte die Tanzenden an und seufzte. "Irgendwie ein Vorteil, wenn man schwul ist. Man muss bei so etwas nicht mitmachen. Willst du wirklich freiwillig in die Tanzschule, Bardo?"

Der wollte gerade etwas erwidern, als er stattdessen einen Schritt zurück in den Schatten der Bäume trat und leise zischte.

"Ist was?"

"Stefan!"

Neugierig blickte Kai sich um und wurde von dem Anblick eines recht kräftigen, schwarzhaarigen Jungen überrascht. Er stand in einer Gruppe Mädchen und Jungs weiter zum See hin. Er wirkte eher unscheinbar, wie ein Typ, der Kai im Bus oder auf der Straße nie im Leben aufgefallen wäre. Sicherlich war dieser Stefan gut in Physik und am PC und mochte Modellbau. Der war der beste Freund vom Bambi gewesen? Doch dann begann dieser Stefan mit einigen anderen zu singen und das Bild verschob sich wieder. Doch, es passte auf jeden Fall. Er hatte eine recht dunkle, aber sehr angenehme Stimme. Die Gruppe schien auch irgendwie zu einem Chor zu gehören. Unruhig wollte Bardo gerade abhauen, als Stefan ihn erkannte.

Sie starrten einander an, dann verzog Stefan den Mund. Leider war er gut ausgeleuchtet und fantastisch zu sehen. Sein Gesichtsausdruck war verletzender als alles, was Kai bisher von Jörg gekannt hatte. Angeekelt, enttäuscht und wütend zugleich. Als hätte Bardo etwas ganz fürchterlich Widerliches getan, ein Verbrechen begangen.

"Sag mal, Bardo... du hast ihn aber nie irgendwie... angegraben oder so?" Forschend blickte Kai Bardo ins Gesicht. Dort konnte man deutlich lesen, wie verletzt er sich von dem Verhalten seines ehemaligen besten Freundes fühlte.

Bardo verschränkte die Arme. "Nein!" Kai blickte ihn kritisch an und er fügte hinzu. "Ist nicht mein Typ, okay?!"

"Na, ein Glück. Ist nur, weil er so scheiße drauf ist." Doch das war, bevor Stefan zu ihnen kam. Er baute sich vor Bardo auf und hielt eine steife und von seinem Ekelgefühl durchsetzte Rede, in der es offenbar darum ging, dass Bardo aus dem Chor raus sollte, weil er schwul war. Es wurde umschrieben auf schon schmerzlich peinliche Art. Die Rede wurde von etwas untermauert, was ein Heiner gesagt haben sollte. Offenbar war dieser Heiner der Meinung, dass Bardo aus dem Chor sollte und Stefan steckte ihm das schon mal.

Verwirrt starrte Kai die Jungs an, überlegte, ob er was tun sollte, ob er vielleicht gar gehen sollte. Aber irgendwie wollte er das Bambi nicht allein lassen mit diesem dummen Arsch.

Endlich, als Bardo lange nichts gesagt hatte, endete Stefan hochnäsig "Sonst gehe ich aus dem Chor raus. Wir können nächstes Mal ja abstimmen lassen, wer bleiben soll."

"Ich gehe." Bardos Stimme klang flach, tonlos.

"Nein!" Kai starrte ihn aufgebracht an.

"Doch. Kannst du den anderen sagen, Stefan."

Der andere Junge nickte, machte auf dem Absatz kehrt und ging zu der Gruppe zurück, um diese Neuigkeit kundzutun. Die anderen hatten zu ihnen hinüber gesehen, aber keiner war dazu getreten. Keiner schien anderer Meinung zu sein. Kai beobachtete mit einem blöden Gefühl in der Magengegend, wie die anderen Jungs aus dem Chor sich um das Feuer herum stahlen, aus ihrem Sichtfeld. Bardo ließ den Kopf hängen und wandte sich ab.

Kai legte den Kopf schief. "Willst du wirklich raus aus dem Chor?"

"Er ist nicht der einzige, der mir das gesagt hat. Haste doch gesehen. Und wenn sogar Heiner das sagt... Jemand wie ich im Knabenchor... das geht nicht. Ist einfach so. Und ich... ich will ihn nicht mehr ansehen müssen und so ein schlechtes Gewissen haben müssen."

Kai quälte sich herum, weil ihm nichts Passendes einfiel, das er sagen konnte. Er wollte nicht zu mitleidig klingen, aber auch nicht so wütend, wie er sich in diesem Moment fühlte. Im nächsten Moment konnte Kai sich mit diesem Problem nicht mehr befassen, weil Anna Bardo ausfindig gemacht hatte und überfiel wie eine Plage. "Bardo, du Zecke! Ich wollte mich verabschieden, aber was ist? Du hast nicht auf mich gewartet, du Arsch!"

Er hob die Brauen, dann lächelte er sie nachsichtig an. "Ich hab dir doch die SMS geschrieben."

"Hm. Stimmt. Du bist echt krass unromantisch!" Sie knuffte ihn mies in den Oberarm, dann umarmte sie ihn fest und knutschte ihn tüchtig auf den Mund. "Waren geile Ferien mit dir. Ich komm wieder, dann melde ich mich."

Er nickte, noch immer von der Stefangeschichte unrund, aber mehr hatte Anna nicht gewollt. "Papa bringt mich gleich zum Flieger, machs gut." Sie wirbelte herum und lief in Richtung des Bierwagens davon. Als Kai ihr mit Blicken folgte, sah er Leon ins Gesicht. Er stand mit dunklen Sachen bekleidet fast außerhalb der Lichter und hatte Anna beobachtet. Sein Gesicht zeigte jedoch nicht, ob ihm diese neue Freundschaft zwischen seiner Tochter und Bardo gefiel oder nicht. Doch dann trafen sich Kais und seine Blicke. Er grinste Kai an und das machte ihm ein sehr ungutes Gefühl in der Magengegend. Hatte er Felix noch nicht getroffen, oder sich schon zurück gerächt?

Da Leon seine Tochter gleich abführte, konnte er das Gespräch zum Glück verschieben. Stattdessen genoss er es, mit Tini und Holger und Bardo zu feiern, die ihn allesamt nicht bemuttern und wie ein Baby behandeln wollten. Er freute sich direkt darüber, dass er wieder mal normal mit Leuten zusammen sein konnte. Ohne einen Wachhund, der aufpasste, dass er keinen Schreck bekam.

Bardo war schweigsam und nicht mehr fröhlich, aber kam auch nicht übermäßig deprimiert rüber. Kai beschloss, ihn am nächsten Morgen einfach in aller Ruhe noch einmal zum Chor zu befragen. Unter Umständen gab es ja noch eine andere Lösung, als sich zwangsweise vor allen anderen zu outen oder aber den Chor zu verlassen.

Im Grunde war das wirklich eine miese Nummer von diesem Stefan gewesen. Dagegen kam Pascal mit seinem intriganten, hysterischen Gezicke wirklich nicht mehr an, wenn es um den Pokal 'Beschissenster Freund des Jahres' gehen sollte. Als die Gruppe um Stefan auf der anderen Seite des Feuers noch einmal in ihr Sichtfeld kam, hatte Tini aber zum Glück gerade den Arm um Bardo gelegt, um ihm einen besonders niedlichen Typen bei der Jugendfeuerwehr zu zeigen. Grinsend beobachtete Kai, wie Tinis Energie das arme Bambi auch in Mitleidenschaft zu ziehen begann.

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