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Trost 2

Kapitel 99-101

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 99

Bianca starrte ebenso wie Kai auch auf den Durchgang. Sie kannte Jan, das musste man ihr zugestehen. Sie ballte die Hände zu Fäusten und machte sich für einen Kampf bereit. Das sah Kai mit sehr viel Furcht vor den nächsten Minuten. Bianca stand in genau dieser angespannten Haltung vom Hocker auf und sah Jan ins Gesicht, als er vom Licht angelockt in das Wohnzimmer blickte.

"Kai? Bist du auch schon..." Jan stockte verwirrt und sah zwischen Kai und Bianca hin und her, dann sprach er mit ihr. "Gah mi af, Bianca! Dat is klock ölben!"

"Ick wees, dat deit me leed."

Mit dem Daumen wies er mit Schwung hinter sich. "Deit me leed, deit me leed! Da hett de Timmermann dat Lock latten!"

"Jan, ick bidd di..."

"Nee. Ick hef keen Duld en Dueer for all dien Schereree!"

"Nech argern, Jan. Ick..."

"Nich argern?! Harrst du dien Bregen verschueren?!"

Kai biss sich auf die Lippen, denn es klang sofort unfreundlich und pissig ohne Ende zwischen den beiden, vor allen Dingen von Jan aus. Seine Körpersprache war ganz anders, als wenn er Hochdeutsch sprach, das fand Kai faszinierend und starrte die beiden ein wenig an.

Jan ließ sie ein Weilchen lang nicht zu Wort kommen, sondern wetterte im gleichen Ton weiter. Kais Name fiel und Thilos und dann ging es mit wirren Worten weiter. Der Sprachrhythmus war so fremd und Kai fühlte sich überflüssig, aber konnte nicht flüchten, weil Jan in der Tür stand, Bianca direkt vor ihm und damit im Weg und Kai Angst hatte zwischen Jan und Bianca durchzugehen. Erst keifte Bianca zurück, dann brach sie in Tränen aus. Kai ließ den Kopf sinken und kniff die Augen zusammen. Er würde in Zukunft sofort Magenschmerzen bekommen, wenn er Bianca auch nur sah, soviel war klar.

Jan reagierte nicht auf die Tränen, es schien ohnehin eher Wut als anderes gewesen zu sein, denn Bianca regte sich ab und schnüffelte auf seine Fragen den Kopf schüttelnd. Sie saß schließlich mit gesenktem Kopf auf dem Hocker rum und spielte mit ihrem Kaffeebecher. Jan setzte sich auf die Sofakante vor sie hin und starrte sie an. Etwas ruhiger redeten die zwei weiter, aber so richtig schienen sie nicht auf einen Nenner zu kommen.

Jan war sehr sauer auf sie, das sah man allein daran, dass er seine Kiefer fest aufeinander biss, wie um nicht noch mehr zu sagen. Es ließ sein Gesicht noch markanter erscheinen und machte Kai in dem Augenblick unglücklicherweise noch mehr an. Außerdem war es noch keine zwölf. Offenbar hatte Jan die Feier mit dem Verein tatsächlich abgekürzt, um zu ihm zu kommen, und das war wunderbar. Allein Bianca stand irgendwie zwischen ihnen und der Sorte Abend, die Kai vorgeschwebt hatte.

Endlich reichte es Kai. "Da ich kein Wort verstehe, gehe ich jetzt ins Bad. Will noch wer pinkeln?" Er wurde leider nicht aufgehalten und auch nicht aufgeklärt. Wütend stellte er das Wasser an, kippte Jans Bademittel rein und warf seine Klamotten auf den Fußboden. Sollte Jan doch darüber rumschimpfen, dann hatten sie wenigstens einen guten Grund für Streit. Danach war Kai gerade. Scheiß Bianca!

Muffelig atmete er einige Mal tief durch und regte sich ab. Dann gab er es für sich zu. Ihm war nicht nach Streit, ihm war eher nach einer Runde Sex mit seinem Freund und dann einer ruhigen Unterhaltung darüber, was zwischen Norbert und ihm heute geschehen war. Er hob die Klamotten auf und legte sie auf den Hocker. Seufzend zündete er das Windlicht im Fensterrahmen an, schaltete das Licht aus und versenkte sich in das Schaumbad. Er hatte Kaffee getrunken, das würde dauern, bis er einschlafen konnte. Außerdem war er geil. Und Jan stand zum Abreagieren nicht zur Verfügung. Und fast war das die Situation, die er sich vor nicht so langer Zeit herbeigeträumt hatte.

Die Romantikabteilung in seinem Hirn jammerte mal wieder rum, weil sie doch auch sonst nie zum Stich kam. Jan war fast nie romantisch und da war er es an diesem Tag beinahe mal gewesen und was war? Die scheiß Bianca war da!

Kai lehnte den Kopf zurück. Der Tag war so schön gewesen. Wieso nur, wieso musste diese dumme Schnatze ihnen den Abend ruinieren? Und wieso war er nur so geil dabei? Das wärmende Sportbad half da auch nicht gerade. Es schuf ein Kribbeln und Krabbeln auf der Haut. Kai schob eine Hand über seinen Bauch hinunter, ein Fehler. Seine Erektion nahm nur noch zu und forderte ihn heraus, etwas dagegen zu unternehmen.

Verwirrt überlegte Kai, dass er komplett angeturnt in der Wanne liegen konnte, während sein Erzfeind in Form von Bianca nebenan rumheulte. Die Welt war bizarr und wurde nicht besser. 'Ein Glück ist das Bambi nicht hier und sorgt für noch mehr Ärger.'

Ärger machte ihm erst einmal ein eigener Körperteil. Das warme Badewasser streichelte ihn zusätzlich und half der Erektion auch nicht weiter. Kai wollte eigentlich lieber sehen, ob er nicht mit Jan gemeinsam etwas gegen dieses Problem unternehmen konnte. Doch mit einer Megalatte durch die Wohnung zu laufen, wenn Bianca wohlmöglich noch da war, kam auch nicht so gut. Verärgert blieb er liegen. Er hatte gerade begonnen, sich probehalber zu streicheln, als Jan anklopfte und ins Badezimmer blickte. "Hey."

Kai drehte sich ein wenig von ihm weg. "Ist sie noch da?"

Jan nickte. "Kein Bus mehr. Der nächste im Nachtsternverkehr kommt erst in zwei Stunden. Ich hab blöderweise noch Ouzo getrunken und bin schon mit einem Kumpel vom Fußball hergefahren. Sie pennt hier. Bei dir oder bei mir?"

Kai schloss genervt die Augen. "Im Keller."

"Bei dir ist besser, Kai. Ich bin extra früher heim, weil ich mit dir schlafen will. Bei mir drüben ist alles dafür da."

Kai blinzelte Jan unsicher an, dann seufzte er genervt. 'Der und nicht drüber reden, was er will? Wohl kaum!' Laut sagte er "Willste es ihr jetzt beweisen, oder was?" Die Romantikabteilung wurde vom Sexgen vollkommen überrannt und verging jammernd.

"Blödsinn... hast du eine Ahnung, wie geil du gerade ausschaust?"

Kai grinste. Jan wusste immer, was er sagen musste, um durchzukommen. Er drehte sich ein wenig zurück. "Laut Bianca sehe ich aus wie ein Weihnachtsengel."

Jan lachte auf und trat zu ihm. Er sah ihn schuldbewusst an. "Hey. Tut mir leid. Jetzt ist es wirklich offiziell. Meine Ex macht mehr Stress als dein Ex."

Kai seufzte und sah Jan kurz in die Augen. "Sie kann in meinem Zimmer pennen."

"Danke. Bin gleich zurück."

Kai war gerade dazu übergegangen, sich erneut sachte zu streicheln, weil er annahm, dass Jan erst einmal für Bettzeug oder dergleichen sorgen musste, als der schon wieder in der Tür stand. Jan blickte ihn an, sah dann zur Kerze rüber und zu Kai zurück. Erst in diesem Moment schien er Kai so richtig anzusehen, wie es um ihn stand, denn er grinste, zog sich den Pullover und sein T-Shirt aus und kniete sich neben der Wanne auf den Vorleger. "Soso. Wolltest du schon mal ohne mich anfangen?"

Kai starrte Jans Körper verlangend an und spürte zugleich, wie sein Gesicht sich erhitzte. Ein wenig grummelig gab er zu "Konnte nicht wissen, wann du wiederkommst."

Jan sah ihn mit dunklen Augen an. "Mach weiter."

"Was?"

"Los. Mach die Augen zu, mach weiter. Ich will dich so sehen." Jans Finger berührten seine Hand, die noch auf dem Bauch lag. Unsicher blickte Kai zur Tür und Jan lachte leise. "Ich hab abgeschlossen." Mit den Fingerspitzen streichelte er Kai zwischen den Oberschenkeln entlang. "Entspann dich, schließ die Augen."

Kaum hatte Kai tatsächlich seine Augen zudriften lassen, als Jan ihn auch schon küsste, wie im Wagen vorher gleich ein Zungenkuss, aber nicht hitzig, wie sonst gern, wenn Jan ihn anmachen wollte, sondern forschend, tastend. Er schmeckte tatsächlich nach Anis, nicht unangenehm.

Kai lehnte den Kopf leicht zur Seite und kam ihm entgegen und in dem Moment spürte er, wie Jans Finger ihn umspielten, umkreisten und endlich nach seiner Hand griffen und sie wieder zwischen seine Beine zogen. Jans Nase strich an seiner entlang, dann küsste Jan sein Ohr "Machs dir selber, das will ich sehen."

Kai schloss die Augen und ließ zu, dass Jan seine Hand führte. Er erinnerte sich, dass er sich kurz vor dem Orgasmus gern selber streichelte, um sich den Höhepunkt nicht von einem falschen Tempo oder so ruinieren zu lassen. "Kennst du doch."

"Nein, nicht dabei. Tu es einfach nur so, um es mir zu zeigen." Jan flüsterte nur, Kai erschauderte und ließ endlich zu, dass Jan seine Finger erneut um seinen Penis drapierte. Jan selber streichelte Kai zwischen den Beinen und am Hoden entlang.

Seufzend schloss Kai die Augen und streichelte sich tatsächlich direkt und mit festem Griff, um bald zu kommen. Er wollte auch nicht mehr so lange in der Wanne liegen. Zudem hatte er große Lust, mit Jan zu schlafen, aber wollte seinem Freund vorher den Gefallen tun und seinen Wunsch auch erfüllen. Wenn es Jan anmachte, umso besser.

Er öffnete die Augen und begegnete Jans Blick, hungrig auf sein Gesicht gerichtet. Kai war kurz davor. Es war das Stadium, in dem ihm so ziemlich alles egal war, so sehr wollte er kommen. Jan sah das natürlich und warnte ihn nicht, sondern schob seine Finger tiefer, tastete sich zwischen seinen Pobacken entlang und drang in ihn ein.

Mit einem scharfen Laut sog Kai Luft ein und atmete mit offenem Mund weiter. Er öffnete seine Beine etwas mehr und Jan massierte ihn gekonnt innen mit einem Finger, außen mit dem Daumen, es war himmlisch und verboten geil zugleich. Mit geschlossenen Augen lehnte Kai sein Gesicht zu Jan rüber, der seine stumme Aufforderung sofort verstand und ihn tief küsste, zugleich weiter streichelte. Hitze sammelte sich in Kais Becken, zog sich dort zusammen und er brach den Kuss ab, lehnte den Kopf zurück. Mit einem mühsam unterdrückten Aufstöhnen kam er. Jan streichelte ihn noch ein wenig weiter, dann entzog er sich vorsichtig. "Na? Gute Idee?"

Stumm nickte Kai und atmete durch. Jan wusch sich die Finger und trocknete sich ab, bevor er Kai das Handtuch reichte.

Kai stand langsam aus dem Wasser auf und stieg mit noch recht wackeligen Beinen aus der Wanne. Er hob den Blick, dann gab er leise zu "Vorhin, bevor deine Ex aufgetaucht ist, hab ich genau das geträumt."

"Das?"

"Dass ich hier in der Wanne bin, dass du zu mir kommst, und wir es tun."

Mit leuchtendem Blick betrachtete Jan sein Gesicht. "Dann lass es uns tun. Ich will dich, Kai... morgen früh darfst du mich durchnehmen wie du willst, aber heute bin ich dran, ja? Lässt du mich?"

Kai biss sich auf die Lippen. Eigentlich wollte er nicht. Aber er verstand auch so, dass Jan nach der Attacke durch Bianca dringend etwas brauchte, um runterzukommen. "Okay, aber ich muss mich erst mal abtrocknen. Ich komme gleich rüber."

Er brauchte es nicht noch zu sagen, Jan wusste, dass er sich abkühlen, vorbereiten und ein wenig allein sein musste. Kai schloss sofort hinter Jan wieder ab, ließ die Wanne leer und spülte sie mit der Brause aus. Er löschte die Kerze und öffnete das Fenster. Das Licht ließ er aus, während er sich noch eincremte und kritisch an seinem Haar rumzupfte.

Bianca machte seiner Alleinzeit im Bad ein Ende. Sie klopfte an und nölte "Ich muss mal, dauert das noch lang?"

'Scheiße!' Aber Kai wollte eh zu Jan ins Schlafzimmer. Ihm war noch nicht nach Weitermachen, aber er vertraute voll und ganz auf seinen Freund, und darauf, dass der ihn wieder in Stimmung bringen würde. Er schlang sich das Handtuch um die Hüften und ging grummelnd an Bianca vorbei ins Schlafzimmer. Sie sprach nicht mit ihm, sondern schloss gleich die Badezimmertür ab.

Jan lag nackt auf dem Bett, der Raum war nur durch seine Nachttischlampe erhellt, die er auf den Fußboden gestellt hatte. Das gedämpfte Licht schuf Schatten auf Jans durchtrainiertem Körper, betonte sein Muskelrelief, nach dem Kai so scharf war, und zeigte zugleich sehr deutlich, wie geil Jan schon war. Seine Erregung zu sehen, ließ einen heißen Stich bis in Kais Schoß schießen. Hastig schloss er die Tür und schob sich noch einmal richtig dagegen, weil er sich an das Desaster mit Carl erinnerte. Er warf das Handtuch achtlos auf den Fußboden und ging zum Bett.

Jan umfing seinen Hintern gleich mit einer Hand und senkte seine Lippen ohne ein Wort auf Kais Penis, um ihn mit seiner Zunge zu erkunden. Es war ein perfekter Einstieg für den Sex, vor allem, weil Kai ein wenig Angst vor dem, was noch kommen würde, aufgebaut hatte. Statt über die Angst nachzudenken, machte ihn der Anblick von Jans Lippen auf seinem Körper und das Gefühl sofort wieder total an. Kai stöhnte verhalten auf, aber schob nach einer kurzen Weile an Jans Schultern. "Lass mich mal liegen."

Jan sprach noch immer nicht, sondern rückte zurück auf das Bett und zog ihn unter sich. Mit den Lippen umfing er Kai sofort erneut und ließ ihn nicht mehr entkommen, drängte ihn, sich ins Bett sinken zu lassen. Kai schloss die Augen und tat Jan den Gefallen. Sein Körper war ohnehin schon wieder komplett für die Pläne seines Freundes. Der Verräterkörper wusste vielleicht aber auch noch nicht, dass Jan mit ihm schlafen wollte.

Kai erinnerte sich an das Unwohlsein beim letzten Mal und machte sich Sorgen. Er ließ sich von Jan davon ablenken, aber die Sorgen lauerten in seinem Hinterkopf, warteten auf die Erfüllung ihrer Prophezeiung, dass es schmerzhaft und schlimm werden würde. Kai spannte sich an, entspannte sich verärgert so sehr er konnte wieder und lauschte auf sich und Jan dabei.

Er spürte trotzdem, wie er mehr und mehr in Stimmung kam, schon bewegte er sich Jans Mund unwillkürlich entgegen und öffnete seine Beine wieder, damit Jan ihn besser auf der Innenseite er Oberschenkel streicheln konnte. An diesem Abend verlor Jan aber leider keine weitere Zeit mit Zärtlichkeiten und nahm sich das Gel, um es auf Kai zu verteilen und mit den Fingern einzudringen. Es war natürlich kalt und ekelig und lief Kai zwischen den Beinen lang.

Kai wollte protestieren, aber hielt die Klappe, weil Jan mit den Fingern erneut in ihn eindrang, zugleich jedoch mit der Zunge genau die Stelle oben an seinem Penis entlang strich, die Kai stets am schnellsten zum Höhepunkt brachte. Noch war er recht weit davon entfernt, aber ließ zu, dass Jan nach nur kurzer Zeit bereits begann, ihn sachte zu dehnen, während er sich schon mit der freien Hand ein Kondom vom Nachtschrank fischte. Kai nahm es ihm ab. "Ich mach das." Der Geruch und das Knistern der Packung machte ihm das altbekannte kühle Unwohlsein. Er schloss genervt die Augen.

Jan hatte bis zu diesem Moment geschwiegen, jetzt zog er seine Finger zurück und flüsterte "Danke, Baby. Tut mir leid, ich bin zu geil heute. Ich machs wieder gut. Ja?"

"Hm." Kai war nervös und zugleich wollte er Jan nicht enttäuschen.

Jan sah Kai angespannt zu, wie der ihn einpackte und von dem Gel reichlich außen auf dem Kondom verteilte. Sie küssten sich einmal, dann zog Jan Kais Beine mit einem typisch für ihn ungeduldigen Ruck auseinander und zu sich heran, um einzudringen.

Kai sah auch so, dass Jan sich kaum beherrschen konnte, aber war überrascht, als sein Freund es mit zwischen seinen Zähnen eingeklemmter Unterlippe nur sehr mangelhaft zuwege brachte, sich zu bremsen. Kai schaffte es nicht, ihn aufzuhalten, weil er dabei war, mit den Fingern die Bettdecke zu zerknüllen und sich anzuspannen. Und so kam es, dass Jan zu hart und viel zu schnell eindrang, fast schon zustieß und Kai mit einem kleinen Ausruf versuchte zu entkommen, worauf Jan sich über ihn lehnte und ihn küsste und flüsternd um Entschuldigung bat.

Sie sahen sich in die Augen und Kai umfasste Jans Hüfte mit festem Griff, um ihn daran zu hindern, sich zu bewegen. Es brannte wie verrückt. Flach atmend versuchte Kai die Ruhe zu bewahren. Er schaffte es nicht einmal, den Griff seiner Finger zu lösen, obwohl ihm bewusst war, dass er Jan damit wehtat. Eine leise Panik bremste seine Gedanken komplett aus. Angst, dass es gleich noch schlimmer werden würde, wenn Jan sich so heftig bewegen sollte, wie Lukas das damals getan hatte. So sehr hatte Jan ihm noch nie wehgetan. 'Scheiße! Scheiß Bianca! Die ist schuld' Leise zischte er endlich. "Zu schnell..."

Jan küsste sein Gesicht entlang, umfing sein Gesicht mit einer Hand. "Tut mir leid... entschuldige... entschuldige. Ich kann..."

"Halt still!"

"Soll ich raus?"

"Bist du irre?"

"Was soll ich machen?" Jan lehnte sich dichter. "Sag es mir."

"Nichts, verdammt! Halt einfach still, küss mich lieber!" Mit reichliche Willensanstrengung löste Kai seinen Griff und atmete einmal durch.

Jan beugte sich noch weiter über Kai. Sie küssten sich sachte, von Jans leisen Fragen unterbrochen, das Gefühl der Spannung und der Schmerz ließen nach. Jans flüsternde Stimme hüllte Kai ein, seine Anspannung legte sich ein wenig und er ließ sich aufatmend sinken. Jans Finger streichelten sein Bein entlang, genau über die guten Stellen an der Innenseite und Kai öffnete sich noch etwas. Er meinte gerade, ein Geräusch zu hören, aber zugleich fragte Jan ihn leise, ob es besser wurde. Er nickte leicht und sah hoch in das Gesicht seines Freundes. Angespannt und besorgt betrachtete Jan ihn und schien zu versuchen, seine Gedanken zu lesen.

Schweigend zog Kai ihn mit einem Arm dichter zu sich und hob das Kinn für einen ordentlichen Kuss. In dem Augenblick, in dem ihre Zungen sich berührten und ein angenehmer Schauer über Kais Körper rieselte, um das Brennen fast vergessen zu machen, klappte ihre Zimmertür. Zu seinem Entsetzen hörte Kai die Stimme von Bianca. "Hebb ick doch decht! Scheiße, Jan! Du hast mich verarscht!"

Jan zuckte zusammen, sah sich um und stieß einen nicht unbedingt menschlichen Laut aus. Dann griff er das erste, was er offenbar sehen konnte und warf es nach Bianca, die mit auf die Hüfte gestützten Händen dastand, als sei sie eine Mutti, die ihren Sohn erwischt. "Raus!"

Blöderweise traf Jan. Bianca wurde von Kais Funkwecker einmal quer auf der Stirn erwischt. Sie fuhr mit einem Schmerzenslaut zurück und knallte mit dem Kopf an den Türrahmen. Gleich drauf lief Blut, die helle Sorte, die man nicht gern sah, über ihr Gesicht. Sie starrte auf ihre blutigen Finger und schrie Jan an "Ich blute! Du Arschloch!"

Taumelnd lief sie davon zum Bad und Jan ließ den Kopf sinken. "Scheiße!" Er entzog sich und Kai sog heiser Luft ein, weil das nicht gerade schmerzfrei abging. "Scheiße!" Jan schlug einmal neben Kai auf das Kopfkissen. "Scheiße!"

Kai blinzelte, noch immer nicht wirklich auf dem Stand der Dinge. War das wirklich gerade passiert? "Das ist nicht wahr." Er rollte sich zur Seite und starrte auf den leeren Fleck auf seinem Nachttisch, wo der Wecker gestanden hatte. "Sag, dass das nicht wahr ist."

Jan seufzte und warf das Kondom weg. Er zog sich seine Shorts an und schlug im Vorbeigehen mit der Faust gegen den Türrahmen, als er das Zimmer verließ, um nach Bianca zu sehen.

Kai war noch immer neben sich, aber zog sich sein Langarmhemd und eine Shorts an. Gleich darauf rief Jan nach ihm, es klang nicht gut.

Als er mit schmerzendem Hintern von Jans Attacke und vom Schrecken noch zu schnellem Puls ins Bad kam, hockte Bianca heulend auf dem Klo, ein blutiges Handtuch auf dem Schoß und einen kalten Waschlappen auf der Stirn.

Jan blickte auf. "Scheiße, Kai. Muss das genäht werden?"

Bianca wimmerte leise und sah ein wenig nach Schock aus. Ihr Gesicht war weiß, ihre Stirn schweißig. Kai blinzelte einige Male gegen das grelle Licht an, dann sagte er leise "Leg sie hin. Die kippt gleich um."

Als Bianca mit auf den Klodeckel hochgelegten Beinen auf ihrem Badewannenvorleger ausgestreckt lag, kniete Kai sich neben sie und zog vorsichtig den Waschlappen fort. Mit klinischem Blick besah er sich den Schaden. "Ach du Scheiße!" Er blickte auf die Ecke, die aus ihrer Stirn, gleich am Haaransatz, wie herausgeschnitten klaffte. Eine Arterie war erwischt worden, es pieselte Blut mit einem schnellen Puls. Vorsichtig tupfte er einmal, dann presste er den Lappen fest auf Biancas Stirn. "Das muss genäht werden, kleine arterielle Blutung und es ist 'ne ziemliche Ecke drin."

"Ich ruf einen Krankenwagen."

"Nein!" Bianca starrte sie bleich im Gesicht an. "Das ist alles deine Schuld! Ich will keinen Krankenwagen! Du machst das, verstanden?!"

"Was? Bist du blöd? Wir haben getrunken, ein Taxi nimmt dich nicht und..."

"Näh' du mich! Du hast doch immer alles da." Bianca sah ihn kriegerisch an.

Jan schüttelte den Kopf. "Ich kann nähen, aber sowas, nein danke."

"Tu es."

Unruhig blickte Kai von der hysterischen Tussi auf seinen Freund. "Das kann nicht bis morgen warten, Jan. Die Blutung steht vielleicht, aber die Wunde wird nie und nimmer gut heilen, wenn sie erst morgen genäht wird."

Bianca nickte und sah Jan an. Sie zitterte und hatte fast weiße Lippen, ihre Stirn war verschwitzt, aber sie sah ihm stur ins Gesicht. "Du hast Lokale und Nahtzeug da, nicht? Sterile Handschuhe auch. Ich will nicht in die Klinik! Auf keinen Fall! Ich war dabei, als du dich selber genäht hast, Jan. Mach jetzt keinen Aufstand."

Unsicher starrte Jan auf die mittlerweile blutunterlaufene Stirn seiner Exfreundin. "Du bist vielleicht eine bescheuerte Kuh. Aber wenn du unbedingt willst... ich mach das nicht, aber wenn Kai das okay findet, bitte. Ich hol den Kram."

Sie schloss die Augen und nickte. Kai blinzelte verwirrt, wieso wenn er das okay fand? Aber er konnte das nicht auf dem Flur mit Jan ausdiskutieren, weil er sie nicht allein lassen wollte. Als Patientin konnte er ihr ohne Weiteres nah sein. Da machte es ihm nichts aus, sie anzufassen. Mechanisch wechselte er den blutigen Waschlappen gegen einen frischen, mit kaltem Wasser getränkten, aus. "Press das stärker drauf, die Blutung steht sonst nicht"

"Oh, das ist vielleicht peinlich. Ich..." Sie schluckte. "Mir ist schlecht."

Kai umfing ihr Handgelenk und strich den Puls suchend daran entlang. "Atme in den Bauch, durch die Nase. Wenn du jetzt auch noch spucken musst..." Er beugte sich dichter, weil ihr Puls sehr schnell ging. Sie hyperventilierte. "Scheiße, Bianca! Hör auf so zu hecheln, sonst bist du gleich komplett weg!" Er legte ihr die Hand auf den Bauch und starrte ihr in die Augen. "So wird das nichts, wir müssen einen Notarzt rufen!"

"Nein! Nie im Leben!" Stur starrte sie ihn an, beruhigte ihre Atmung und sah dann zu Jan, der seinen Kasten mit medizinischem Kram geholt hatte.

Kai hatte die Hoffnung gehabt, dass er nun sagte, dass er nichts zum Nähen da hatte, aber stattdessen sagte Jan "4-0 Vicryl. Resorbierbar. Kai, ist das okay?"

Kai nickte und sah Bianca kurz an und fühlte ihren Puls noch einmal. "Erst mal müssen wir etwas warten, schockiert." Er sah Jan in die Augen. "Sie will echt nicht in ein Krankenhaus, gib mal ein Glas Wasser her."

Jan seufzte und hob die Schultern. "Stur, wat se nech will, dat geit nech. Machst du das, Kai?“

Bianca stöhnte einmal auf und schloss die Augen. Kai nickte leicht, dann legte er eine Hand auf ihren Bauch zurück und spürte, dass sie nun tiefer und gleichmäßiger atmete. Der Puls beruhigte sich allmählich. Endlich kam Bianca groggy in die sitzende Position hoch und Kai wechselte den Lappen aus.

Jan reichte ihr einen Zahnputzbecher mit Wasser. "Trink. Na? Geht es? Ist dir übel, Kopfweh? Du bist an den Türrahmen geknallt. Ich glaube, dass du eine leichte Gehirnerschütterung hast. Wollen wir nicht vielleicht Thilo anrufen, dass er dich abholt und in die Klinik bringt?"

Sie nippte vom Wasser, dann schüttelte sie vorsichtig den Kopf und ließ sich von Kai den Lappen tauschen. "Geht schon wieder. Bitte... ich will nicht, hab zu viel Scheiß in Notfallambulanzen erlebt."

"Klingt, als ob du dauernd dort warst."

Sie nickte unbeeindruckt. "Kommt mit dem Sport."

"Sport?"

Jan nickte und grinste. "Polo. Das mit den Pferden."

Auweia. Jetzt hatte Kai noch einmal so viel Respekt vor Bianca, während Jan mit ihr diskutierte, dass sie nicht so affig sein sollte und sie schon mal fragte, ob sie vielleicht allergisch auf Xylocain reagierte, stählte er sich im Geiste für die Aufgabe und linste noch mal unter den Verband. Die Ecke war tüchtig, aber es müsste gehen. Er fing einen Blick von Jan auf und sagte dann "Okay. Dann mache ich das eben hier. Aber auf deine Gefahr, dass es scheiße wird!"

"Was? Du machst das?!"

Jan nickte auch. "Kai näht besser als ich. Viel besser." Und das wusste Jan aus dem Anatomiekurs im ersten Semester, in dem sie alle mal hatten nähen dürfen. War für Kai keine sonderlich schwere Übung gewesen, und es hatte dem Tutor der Gruppe imponiert.

Bianca starrte ihn mit großen Augen an. Kai umfing ihre Schultern und half ihr auf. "Meine Mutter ist Krankenschwester in der Chirurgie, früher bin ich immer zum Hausaufgaben machen in die Klinik, wenn sie Spätdienst hatte. Ich hab schon Riss- und Schnittwunden genäht, als ich noch in der Schule war... ich hatte in den Ferien nie so viel vor und hab in der Notfallaufnahme rumgehangen."

Und das war die reine Wahrheit. Seine Eltern und er fuhren, nachdem er fünfzehn geworden war, nachdem der Krach mit seinem Vater gewesen war, nicht mehr zusammen in den Urlaub. Er wollte nicht mit Jugendgruppen fahren, hatte keine nennenswerten Freunde und in den Ferien daher zu viel freie Zeit. Vor allem, wenn seine Eltern ihre zwei Wochen Urlaub machten. Er musste den Garten gießen und daheim etwas staubsaugen, den restlichen Tag hatte er gern in der Ambulanz ausgeholfen.

Die Ärzte waren in den Ferien schlecht besetzt und so war Kai vom Helfen beim Gips oder mal einen Patienten zum Röntgen bringen nach und nach aufgestiegen. Am Ende durfte er, wie bei seinem Cousin Jörg, allein Nähte machen und gipsen, wenn er sich das zutraute.

Unsicher schwankend ließ Bianca sich zum Sofa mehr tragen als führen. Kai breitete ein Handtuch aus und ließ sie sich hinlegen. Jan reichte ihm an, was er brauchte. Während er den Waschlappen fortnahm und das Lokalanästhetikum verabreichte, hielt Jan ihren Kopf und redete leise mit ihr. Bianca schloss die Augen, ihre Finger gruben sich in das Handtuch unter ihr, aber sie zuckte nicht.

Mit einem nassen Lappen schob Kai ihre Haare zurück. Vorsichtig die Augen mit dem Handrücken abdeckend desinfizierte er ihre Stirn, dann sprühte er seine Hände gründlich ein. Seufzend zog er sich die eine Nummer zu großen sterilen Handschuhe an und breitete die Verpackung der Handschuhe auf ihrer Brust als sterile Ablagefläche für die Schere aus.

Er wechselte einen Blick mit Jan. "Ich mach das fortlaufend, könnte sein, dass ich die Narbe in die Haarlinie bekomme." Jan starrte auf ihre Stirn, schien auch ein wenig im Schock zu sein. Er nickte nur. Kai seufzte noch einmal, lockerte seine rechte Hand etwas. "Okay. Geht los, halt still. Wenn es wehtut, bitte nicht zucken, nur 'Aua' sagen, dann spritze ich nach."

Bianca nickte leicht, behielt die Augen geschlossen und zuckte kein einziges Mal, während er mit einem Stich die kleine Arterie versorgte, damit dort Ruhe war, bevor er eine Naht auf beiden Seiten des Winkels setzte, mit möglichst wenigen Stichen, damit das Nahtmaterial nicht die Haut reizte.

Auch wenn es unbequem war, vor dem Sofa zu knien und der Faden und die Nadel eher für Kinder gedacht und sehr fein waren, gingen die Bewegungen gut von der Hand. Auch wenn Kai sich sehr surreal vorkam, so war er doch froh, dass er es gut hinbekam. Als er fertig war, sprühte er alles großzügig mit dem Desinfektionsspray ein, dann fragte er leise, während er mit einer Kompresse das Blut fort tupfte "Willst du es nochmal ansehen, bevor ich ein Pflaster draufklebe?"

Bianca blinzelte ihn an. "Schon fertig?" Mit zittrigen Knien setzte sie sich auf. "Echt?"

Sie wollte aufstehen, aber sackte auf das Sofa zurück. Jan seufzte und nahm Kompressen, Pflaster und zwei Schmerztabletten aus seinem Kasten. "Hier, nimm die." Er klebte ihr die Kompressen mit dem Pflaster auf die Stirn fest und strich ihre Haare zurück.

Unsicher blinzelnd schluckte Bianca die Tabletten runter und spülte mit Wasser nach. Sie sah Kai an. "Danke, Kai. Ich..."

Jan unterbrach sie. "Du hast uns den Abend jetzt genug versaut. Kai, mach mal das Bett klar, ich bring sie rüber."

Mit sicherem Schwung schob er seine Arme um Biancas Schultern und unter ihren Kniekehlen durch und hob sie recht mühelos hoch. "Schiet, Bianca, du büst swor." Sie protestierte leise, es klang nicht sonderlich überzeugend.

Hastig lief Kai vor und zog sich im Gehen die blutigen Handschuhe von den Händen. Er machte in seinem Zimmer Licht und schlug die Bettdecke zur Seite. Zum Glück hatte Bianca die schon bezogen. Dann sah er sie in dem blutigen Hemd kritisch an und hob eine Hand. "Sie kommt nicht so blutig in mein Bett. Auf keinen Fall, das ist ekelig!" Hastig holte er aus seinem Schrank eins seiner T-Shirts und aus dem Bad einen neuen Waschlappen.

Jan grinste und ließ sich mit Bianca auf dem Schoß auf dem Bett nieder. Er hielt sie noch immer im Arm und strich ihr noch einmal die Haare aus der Stirn, drückte ein Pflaster wieder fest. Sie lehnte das Gesicht gegen seine Schulter, schaute müde und komplett erledigt aus, als Kai aus dem Bad wieder km und den feuchten Waschlappen auf den Schreibtisch ablegte. Leise murmelte Jan etwas und sah sie von der Seite her an. Sie sah auf ihre Knie runter und nickte einmal.

Von der irgendwie intimen Stimmung zwischen den beiden genervt, trat Kai zu ihnen und zog ihr kommentarlos das Hemd über den Kopf. Ihr nackter Körper interessierte ihn nicht, aber er sah sie kritisch an, ob sie irgendwo noch Blut hatte, und wischte das mit dem Waschlappen fort. Sie hatte gut geblutet, eine Spur war bis auf den Bauch gelaufen und hatte den BH eingesaut. Er löste mit einer Hand um sie herumfassend den Verschluss und zog die Träger von ihren Armen runter.

Bianca riss die Augen auf. "Kai! Sag mal, geht’s noch?"

"Halt still." Kai war nicht nach rumlabern. Er war müde und sauer und sein Hintern tat weh. Humorlos wusch er sie bis auf den Bauch runter, dann stülpte er ihr sein T-Shirt über den Kopf, sicherte mit der flachen Hand den Verband und zerrte alles an ihr runter. Er überließ ihr den Rest selber und putzte mit dem Tuch an Jans Schulter, die ebenfalls blutig war. In dem Moment fiel ihm auf, dass Jan noch immer mit freiem Oberkörper und nur einer Shorts auf dem Bett saß.

Jan grinste ihn über ihre Schulter hinweg eine Spur zu dämlich an. "Du kannst das immer noch. Einen BH ausziehen, mit nur einer Hand, hinter dem Rücken. Kai, du bist ein Wunder der Evolution!"

"Idiot!" Er beugte sich dichter und blickte ihr in die Augen. "Wenn dir heute Nacht schlecht ist, dann ruf rüber zu uns, klar? Ich stell dir vorsichtshalber eine Spuckschale rein. Das war echt 'ne fiese Macke, die Jan dir da verpasst hat." Er hob den Kopf. "Scheiße! Mit meinem Wecker! Der ist bestimmt im Eimer!"

Bianca starrte ihn an. "Na, danke für das Mitgefühl."

"Du kannst mich mal!"

"Du mich auch!"

"Klappe! Alle beide!" Jan ließ Bianca von seinem Schoß rutschen. Er verfrachtete sie ins Bett und deckte sie zu. Sich unsicher einmal durch die Haare fahrend blickte er zu Kai rüber. Dann ließ er sich wieder am Bettrand nieder. "Ich bleib noch etwas, bis sie schläft."

Kai nickte, das machte Sinn. Er machte sich auch Sorgen um sie, gleich wie sauer er war. Die Naht war gut geworden, aber sie machte immer noch einen nicht sonderlich stabilen Eindruck. Zugleich dachte er aber auch daran, dass sie über den Sex würden reden müssen. Jan war zu heftig ran gegangen und er konnte sich jetzt sicherlich ausrechnen, dass Kai ihn für Monate von seinem Hintern bannte dafür. Ganz sicher würde Jan darüber reden wollen, diskutieren wohlmöglich.

Der Gedanke allein strengte Kai schon wieder an. Er wollte sich abwenden, aber Jan umfing sein Handgelenk. "Hey, Kai?" Jan stand auf und zog Kai an sich. Sie traten an den Schrank zurück. Jan lehnte sich dagegen und warf einen Blick zu Bianca, aber die hatte die Augen geschlossen. Er schob eine Hand an Kais Wange, um ihn sachte zu küssen. "Tut mir so leid wegen vorhin, Baby. Ich hab nicht aufgepasst. Ich hätte..."

"Unsinn... "

"Nein. So ein bescheuerter Anfängerfehler und ich..."

"Hör auf... es wäre gut geworden."

"Trotzdem. Kai, das war schrecklich."

Kai lehnte die Stirn gegen Jans Schulter und strich seine Seiten entlang, um ihn dann einmal zu umarmen. "Es war nicht deine Schuld. Wäre deine Ex nicht zu uns rein, wäre es okay geworden." Halb gelogen, denn die Schmerzen hätte er hinterher auf jeden Fall gehabt.

"Oh, Mann... das ist irgendwie unser Schicksal. Es war echt..."

"… ein coitus interruptus der dritten Art." Kai grinste.

Jan lachte leise. "Auf Platt heißt das: He iss vört Vaterunser ut de Kark rutgahn."

"Och nee... was heißt das denn jetzt wieder?"

Biancas Stimme kam Jans Erklärung zuvor "Er ist vor dem Vaterunser aus der Kirche."

Sie sahen beide zugleich auf Bianca runter. Die starrte intensiv und pissig zurück.

Jan stöhnte leise auf. Genervt entzog Kai sich endgültig und ging ins Wohnzimmer zurück, um dort Ordnung zu machen und die Nadel in einen Korken zu versenken, bevor er sich am Morgen noch daran stach. Kai wusch sich die Hände, spülte den Geruch nach Gummihandschuhen und Blut fort. Im Vorbeigehen schaltete er die Heizung wieder um. Dann schob er es nicht länger auf und blickte in sein Zimmer. Jan hatte die Nachttischlampe auf den Fußboden gestellt, im gedämpften Licht sah er müde aus und irgendwie traurig. Er hatte sich ein T-Shirt übergezogen und hockte, ein Knie umfasst und das Kinn auf sein Knie gestützt auf der Bettkante.

Leise trat Kai näher und blickte in Biancas Gesicht. Ihre Stirn war blau, das würde eine Weile dauern, bis sie das Horn losgeworden war. Das weiße Pflaster leuchtete richtig im Halbdunkel zwischen der Bettdecke und dem Kopfkissen hervor. Kai schob das Nachtlicht etwas weiter zum Schreibtisch rüber und stellte die versprochene Spuckschale ab. Jan zuckte zusammen und sah auf. "Hey. Noch nicht im Bett?"

"Nein. Ich hab aufgeräumt." Kai lehnte sich gegen seinen Schreibtisch und sah die Patientin nachdenklich an.

Mit schweren Bewegungen stand Jan auf und streckte sich gähnend. "Was für ein anstrengender, doofer Abend. Ich bin komplett und vollkommen fertig." Unsicher blickte er zu Bianca zurück und lehnte sich neben Kai an.

"Hast du dich echt selber genäht?"

"Ja. Hier." Jan hob sein Knie an. "Ich bin mit Bianca mit den Rollerbladern unterwegs gewesen und hab mich ganz doof lang gemacht. Ich wollte nicht in die Klinik deswegen und hab da zwei Stiche reingebastelt. Sie ist fast umgekippt davon. War lustig."

Kai verzog sein Gesicht. "Lustig? Du bist echt verrückt."

Jan nickte leicht. "Verrückt..." Er rieb sich seufzend das Gesicht mit beiden Händen. "Das war vielleicht ein höllischer Tag."

"Warum?"

"Meine Ex hat dich angefallen, hat sich mit mir gezofft, hat uns beim Sex gestört und ich hab mit deinem Wecker nach ihr geworfen und dann auch noch getroffen! Und... das war vielleicht das schlimmste. Ich hab dir wehgetan."

Kai schüttelte den Kopf, auch wenn er Jans Prioritäten zu schätzen wusste. "Unsinn. Ich bin nicht derjenige, der gerade genäht werden musste! Es wäre gut geworden, wirklich! Und ganz ehrlich, wenn du nichts nach ihr geworfen hättest, ich hätte es getan! Das war ja wohl fällig. Und ich bin mir sicher, dass Bianca uns nicht noch einmal stören wird."

Jan sah ihn von der Seite her an und nickte mit einem schiefen Grinsen. "Nicht ohne Sturzhelm zumindest, das glaube ich auch."

"Ach was. Der Tag war sonst total schön, bis vor etwa einer Stunde. Du hast Histologie geschafft, du hast in Mibi bestanden, du hast ein sehr gutes Spiel gemacht und für Tore gesorgt. Das Essen war nicht total schlecht und Norbert mag dich... wirklich."

"Ja? Worüber habt ihr geredet, in der Halbzeitpause?" Natürlich war auch Jan die Stimmung zwischen Kai und seinem Vater aufgefallen.

Mit leiser Stimme berichtete Kai seinem Freund von der merkwürdigen Unterhaltung mit Norbert und seinem Rückschluss, dass es alles dem Fußball zu verdanken war.

Jan lachte leise auf. "Der Fußball macht mein Baby glücklich. Schön." Sachte streichelte er Kai über die Wange. "Danke, dass du das genäht hast. Ich hätte das nicht geschafft. Ich war ganz schön geschockt, dass ich schuld war."

"Unsinn. Sie war selber schuld. Ist die immer so heftig?"

Jan streichelte Kai mit den Fingerspitzen über die Lippen, dann nickte er. "Das war ja das geile an ihr." Sachte küsste er Kai auf den Mund, öffnete die Lippen und drehte den Kopf für einen Zungenkuss, den sie erst nach einer ganzen Weile abbrachen, um ihn im Schlafzimmer fortzuführen.

Es gab noch eine Diskussion über den Sex und eine Entschuldigung von Jan deswegen. Dann wollte Jan noch nachsehen, ob alles okay war und das gab einen Wutanfall von Kai, weil er kein Anfummeln brauchte, und auch keine Untersuchungen und Entschuldigungen mehr wollte, sondern seine Ruhe. Zum Glück endete das ganze dann mit einer schönen Kuschelrunde, bis zum komatösen Einschlafen von Kai. Nach dem Stress des Tages und der Nacht schlief Kai wie ein Stein, er hatte nicht einmal mehr die Energie, sich über Bianca in seinem Bett zu ärgern.

Kapitel 100

Kai hatte für das Wochenende Spätdienst im LPP und schlief gemeinsam mit Jan und zwangsläufig Bianca bis spät in den nächsten Mittag. Noch im Halbschlaf diskutierten sie aus, wer aufstehen und für Milch und Brötchen sorgen sollte. Kai war so unfair, mit seinem schmerzenden Hintern zu argumentieren und schaffte es auf die Tour, Jan aufzuscheuchen.

Aber Jan war nicht einfach so zu erpressen. Er zog sich eine Jeans und einen Kapuzenpulli über, stützte seine Hände links und rechts von Kais Kopf auf das Kissen und blickte ihn mit schmalen Augen an. "Kai, das ist meine letzte Abbitte. Meinetwegen kann ich dich noch mit einer Runde Sex, von der Sorte, auf die du so abfährst, versöhnen, aber ich will nichts mehr von irgendwelchen Problemen hören, wenn ich gleich mit den Brötchen wiederkomme."

Kai seufzte, dann nickte er und bestellte ablenkend "Ich nehm ein Croissant, die Milch ist alle."

Jan lachte, vermutlich lachte er Kai aus, gleich darauf klappte die Wohnungstür. Leider konnte Kai nicht mehr schlafen und rappelte sich mühsam aus dem Bett auf. Er hatte nach dem Baden nicht mehr an seine Haare gedacht und duschte sich deswegen rasch, um sie zu waschen und für das LPP am Abend schon mal zu stylen. Nach einem Blick auf einen blauen Himmel und die bereits wärmende Sonne, zog er sich ein leichtes Langarmhemd über und zauderte zwischen zwei Hosen hin und her, bis er Jan zurückkommen hörte.

Als er endlich fertig angezogen in den Wohnraum trat, klapperte Jan dort schon mit Tellern und Bechern rum und hatte ihm einen Kaffee aufgesetzt. "Hey, kannst du mal nach der Patientin sehen? Ich deck den Tisch."

Mit ungutem Gefühl nickte Kai und bog in sein Zimmer ab. Seufzend lehnte er sich an den Schreibtisch und betrachtete Biancas Gesicht. Sie schlief noch. In diesem Zustand sah sie nicht mehr aggressiv und genervt aus, nicht mehr so ungeduldig, wie sonst immer. Sie wirkte wie ein energisches, aber zugleich übermüdetes Kind. Das Pflaster sah noch gut aus, nicht durchgeblutet auf jeden Fall, also ließ er sie schlafen.

Kai entdeckte den Brief von Bardo und die Hochzeitseinladung auf seinem Nachttisch und nahm beides mit zum Esstisch rüber. Während Jan sich ein Brötchen aufschnitt, mischte Kai sich einen Milchkaffee. "Bianca pennt noch wie tot. Was hast du ihr gegeben?"

"Tramal und Tetracepam."

Kai schob den Abschiedsbrief von Bardo rüber. "Hier. Vom Bambi."

Jan überflog die Bildchen und Worte und lachte. "Das ist ja mal ein netter Abschiedsbrief."

"Fand ich auch. So lang es jetzt auch dabei bleibt, und er nicht nächste Woche schon wieder bei uns wohnen will."

"Du magst Bardo, nicht wahr?"

Kai fischte sich ein Croissant aus der Tüte und schnitt es umständlich auf. "Geht so. Wenn er nicht da ist, irgendwie schon. Ich glaube, dass ich ihn verstehe. Er erinnert mich mit seinen Sorgen und Problemen an mich früher. Gerade die Sache mit seinem Freund Stefan. Das kam mir bekannt vor." Zwar eher von seinem Cousin Jörg, weil er sonst keine nennenswerten Freunde gehabt hatte, aber es hatte sich genauso angefühlt.

"Mir auch. Nicht von früher." Jan seufzte und rieb sich die Augen. "Thilo und Bianca haben das ebenso wenig akzeptiert, wie Matze. Und gerade bei Thilo und Matze tut das echt weh. Ich bin mit beiden schon vor dem Studium befreundet gewesen. Irgendwie hatte ich gedacht, dass sie mich kennen, dass sie mich akzeptieren. Auch mit dir."

Kai seufzte leise und befand den Moment für günstig, Jan von dieser Sorge abzulenken. "Unabhängig von denen haben wir ein anderes Problem. Oder ich vielmehr. Hier." Er warf die Hochzeitseinladung zu Jan auf den Teller. "Meine Mutter war irgendwie komisch. Sie wollte, dass ich mir eine Tischdame aussuche. Zum Tanzen wohl irgendwie. Was soll das denn? Ich darf dich gar nicht mitbringen."

Natürlich musste er sich wenig später auslachen lassen. Jan tat mal wieder etwas Unerwartetes. Er stimmte Kais Eltern zu. "Na, Gott sei Dank! Wenn ich mit dir da auftauche, dann werden wir uns nicht amüsieren, weil in deiner Familie niemand wirklich cool ist mit dir als offen schwulem Mann. Dann werden wir nervös." Gelassen trank er von seinem Tee und sah Kai an. "Du wirst dich nicht wohlfühlen und mich nicht beachten und dich von mir abwenden. Ich werde davon deprimiert und mich betrinken müssen. Im Endeffekt werden wir den Abend hassen. Alle werden uns anstarren, alle werden Angst haben, was falsches zu sagen... das kenn ich doch vom Fußball."

"Das wird auch ohne deine Prophezeiungen schrecklich genug, Jan. Danke!" Gereizt zerkrümelte Kai sein Croissant und versuchte, sich eine gute Ausrede für das Fernbleiben von der Hochzeit auszudenken.

Jan grinste. "Worst Case Szenario ist aber folgendes: Wenn wir da zusammen hingehen und was trinken und dann irgendwann rumschmusen müssen, weil du mich nicht kalt behandelst, dann amüsieren sich alle anderen nicht und werden den Abend und uns hassen. Nein, danke."

"Aha? Na toll! Ich dachte, dass du der Ehrliche unter uns Normalsterblichen bist, Jan!"

Jan hob grinsend die Hände und gab zu. "Aber nur, wenn ich dann nicht mit dir tanzen muss! Das ist mir zu peinlich und ich hasse Tanzen! Und Hochzeiten sind echt... Nein danke!" Er trank einen Schluck Tee und rührte in den Kandisbrocken am Boden der Tasse herum. "Nimm doch Tini mit. Die ist sicherlich ohne Ende scharf drauf, mit dir auf eine Hochzeit zu gehen, Kai."

"Ist das dein Ernst?"

"Natürlich. Ich vertraue voll und ganz drauf, dass du nicht noch einmal mit ihr schlafen willst, nachdem du beim letzten Mal so dermaßen krank warst hinterher." Jan lachte mies vor sich hin.

Kai verschränkte die Arme. "Du bist doof. Allein um dich zu ärgern, Jan, sollte ich mit Lukas gehen oder Lolli!"

Jan legte den Kopf schief, dann lachte er los. "Lolli hat immerhin schon ein passendes Kleid!"

"Och nee! Lass mich bloß in Ruhe!"

"Oder geh mit Pascal. Warst du nicht neulich noch der Meinung, dass seine Eltern das mal sehen sollten?" Jan grinste anzüglich, schien sich das Gesicht von Pascal vorzustellen.

Kais Kopf fuhr hoch. "Ach du Scheiße! Pascal!" Er stöhnte leise auf. "Den hatte ich ganz vergessen wegen der OP meiner Mutter und dem Stress mit Norbert und deiner Ex."

Und gleich darauf wankte Bianca um die Ecke und lenkte sie wieder von der Sorge um Pascal ab. Kai nahm sich vor, seinen Freund am Nachmittag vor dem Arbeiten im LPP anzurufen, wenn er mit Bianca durch war und sein Referat über die Narkosen geschrieben hatte.

Bianca hielt sich den Kopf und nahm mit einem sehr zerknitterten Gesichtsausdruck einen Kaffee schwarz und ließ sich neben Kai nieder. Sie starrte Jan gegenüber böse an, dann sprach sie mit Kai "Heute Morgen hab ich kurz gedacht und gehofft, dass ich den ganzen Scheiß nur geträumt hab!"

"Ich auch."

"Scheiße, mein Kopf tut weh! Wieso hast du mich noch mal genäht?"

"Du wolltest nicht in eine Klinik, sondern dass Jan das macht. Schock vermutlich. Jan wollte nicht, deswegen hab ich es gemacht."

"Ach du scheiße."

Jan reichte ihr ein fertig aufgeschnittenes Roggenbrötchen und fragte sie etwas auf Plattdeutsch, sie antwortete ebenso und Kai stemmte eine Hand in die Hüfte. "Sofort aufhören! Alle beide!"

Jan zuckte zusammen und entschuldigte sich.

Bianca verzog den Mund zu einem halben Grinsen. "Es ist ein Reflex, wenn wir uns sehn. Aber ist jetzt auch egal. Du bist ja wirklich und komplett nicht mehr an mir interessiert, Jan... das hätte ich auch gerafft, wenn du mir den Wecker nicht an den Kopp gekloppt hättest." Irgendwie musste Kai ihr Humor zugestehen, sie konnte sogar über sich selber lachen.

Bianca zerrupfte ihr Brötchen mit spitzen Fingern. "Ich war nur noch mal zu euch hin, weil ich euch sagen wollte, dass ich mir ein Taxi nehme, dass ich euch nicht mehr stören will. Kann ich ahnen, dass ihr es miteinander tun müsst, auch wenn ihr Besuch habt?" Kai schnaubte leise und sie meinte entschuldigend "Und ich hab angeklopft, habt ihr das nicht gehört? Aber als ich dann auch noch gesehen hab, dass Jan doch... mit dir..." Sie schüttelte den Kopf, dann murrte sie "Da bin ich eben ausgerastet. Deit mi leed, Kai. Vergevst du mir?"

Kai nickte, aber war nicht wirklich überzeugt. "Okay."

Jan stemmte eine Faust in die Seite. "Und ich?"

"Du hast mir eine Naht am Kopf eingebracht! Wir sind quitt, mein Lieber!" Sie legte den Kopf schief. "Aber... wenn du es doch noch mal wieder mit einer Frau tun willst, mein Angebot steht noch." Allerdings lachte sie dabei und sah Kai ziemlich frech an.

Kai rollte mit den Augen und knurrte "Ich nehm das von eben zurück. Du kannst mich mal, du blöde Tante! Ich geh mein Referat schreiben. Jan, sagst du Bescheid, wenn du zum Einkaufen fährst?"

Er ging unter Jans Lachen in sein Zimmer rüber und nahm das Bild von Jan und ihm wieder mit. Bevor er das Bett aufdeckte, stellte er es auf den Nachttisch. Dann wandte er sich der sehr langweiligen Quelle zu, die er für sein Referat im Kurs in der Geschichte der Medizin erhalten hatte.

Jan und Bianca redeten im Hintergrund in ihrem Kauderwelsch. Es klang ruhig und nicht mehr wie Streit, aber auch nicht nach etwas Verdächtigem. Vermutlich ging es um Sport oder, wenn Kai Pech hatte, um Sex. Jan räumte währenddessen den Tisch ab und in der Küche auf, stellte die Spülmaschine an. Er telefonierte mit irgendwelchen Fußballkumpeln und rief Kai zu, dass sie Bianca demnächst bei ihrer Wohnung rumfahren würden und dann zum Einkaufen weiterfahren konnten. "Ich hole mein Auto jetzt mit zwei anderen zusammen vom Griechen ab, in einer knappen Stunde bin ich da und dann fahren wir los, okay?"

So richtig okay fand Kai das nicht, weil er diese eine Stunde mit Bianca allein in der Wohnung verbringen musste. Doch die machte ihm keinen Ärger, sondern packte ihre blutigen Sachen in eine Plastiktüte, stülpte sich ihren schwarzen Pullover über den Kopf und legte sich mit vorsichtigen Bewegungen auf das Bett. Von dort sah sie zu ihm rüber, während er versuchte, sich auf historische Daten, Jahreszahlen und Nebenwirkungen zu konzentrieren. Lange Zeit schwieg sie, döste vielleicht einfach so vor sich hin. Kai schaffte es, sie zu ignorieren und das halbe Referat fertigzustellen. Nervös versuchte er sich vorzustellen, ob er in der vorgegebenen Zeit bleiben würde.

"Hey, Kai."

Er seufzte und sah sie schweigend seitwärts an.

"Du hast recht gehabt. Er redet tatsächlich über alles mit dir. Alles, was er mir verschwiegen hat."

Kai schwieg und sie seufzte. "Allein wie er dich gestern angesehen hat... meine Güte. Ihr macht echt Sinn zusammen, das hätte ich vorher nie gedacht."

Da sie gerade über den schief gelaufenen Sex geredet hatten, konnte Kai sich gut vorstellen, wie Jan ihn angesehen hatte. Ein wenig zu direkt, besorgt und total anstrengend. Wie immer, wenn er etwas klären wollte, das Kai einfach unter den Tisch fallen lassen wollte. "Hm. Soll ich den Verband nochmal neu machen?"

Sie nickte bloß und er war dankbar, etwas zu tun zu haben. Doch als er ihr das Pflaster und die Kompresse von der Stirn gepult hatte, umfing sie sein Handgelenk und sah ihm ins Gesicht. "Du hast mich gestern ausgezogen!"

"Und?" Ablehnend machte er sich frei.

"Hm. Hast Recht, Jan kennt mich nackt und dich interessiert das nicht. Ich kann nicht glauben, dass das gestern wirklich alles passiert ist!"

"Deine Gehirnerschütterung war wohl doch nicht ohne." Kai hielt ihr mit einer Hand die Augen zu und sprühte die Naht mit Desinfektionsmittel ab. "Eigentlich kann da jetzt Luft ran. Schaut aber nicht so schön aus." Er schob die Haare sachte von der Narbe fort.

Hastig stand Bianca auf und ging ins Badezimmer rüber, gleich darauf stand sie wieder hinter ihm. "Das ist total gut geworden. Du kannst echt gut nähen."

"Hab ich doch gesagt. Das ist mein einziges Hobby gewesen in der Schulzeit."

"Klingt langweilig."

Er hob die Schultern und brachte schweigend den Müll weg, um ihr zu entkommen. Sie verfolgte ihn leider und verstellte ihm in der Küche mal wieder den Weg. "Weißt du, dass ich so in Jan verknallt war, das liegt irgendwie komplett auch daran, dass er Platt kann."

Kai umrundete sie vorsichtig, aber Bianca ging mit ihm in sein Zimmer zurück. "Wir haben uns am allerersten Tag in der Uni kennengelernt... wir alle. Aber ich weiß, dass Jan sich nicht an mich erinnert. Er weiß von dem Tag nur, dass er da dich getroffen hat. Aber ich weiß es noch genau. Wir saßen in der Cafeteria, alle an diesen ekeligen orangefarbenen Tischen. Wir haben uns in Gruppen über Bücher und Wohnungen unterhalten. Holger und Tini und Renate waren dabei. Ich hab mich total unwohl gefühlt in der Stadt, zum ersten Mal länger weg von der Familie und war froh, dass die anderen mich abgelenkt haben. Jan und du haben erst allein in einer Ecke gesessen, später hat er noch Thilo und Matze angelockt. Eigentlich hab ich nur wegen Thilo auf euch geachtet."

Das konnte Kai verstehen. Thilo war auf eine recht auffällige Art gutaussehend. Leider stand ihm eine sehr ausgeprägte Schüchternheit und kühle Ausstrahlung komplett im Weg, wenn es um Frauen ging.

Sie legte sich wieder auf Kais Bett und starrte ihn an. "Die Gruppe hat die Tische etwas zusammengerückt. Da bist du gegangen, das weiß ich noch. Und Jan? War nicht mein Typ. Gar nicht. Dunkle Haare, darauf stehe ich nicht. Kein vernünftiger Schnitt drin, auch das noch. Dann der Körper! Irgendwie robust, das mag ich nicht. Angekaute Fingernägel! Ich mag schlaksige Männer viel lieber. Welche, die sich vernünftig um sich kümmern. Zu klein ist Jan auch, grad eben größer als ich. Gott, er hat keinen Sinn für Klamotten, gar keinen Schimmer davon. War ihm auch offensichtlich egal. Alles außer Fußball ist ihm egal, nicht?" Sie starrte Kai nachdenklich an, dann fügte sie leise an. "Fußball und du. Der war gestern vielleicht pissig zu mir. Hab ich ja auch verdient irgendwie, aber so ganz erwartet hätte ich nicht, dass er solche Dinge sagt, von..." Sie zögerte, dann seufzte sie leise. "… von Liebe spricht. So ernsthaft. Das hat er vorher nie."

Kai spürte, dass er schon wieder rot wurde, aber sie redete gleich weiter. "Aber damals, als ich ihn noch nicht kannte, da fand ich ihn echt bescheuert. Fußball, Fußball, Autos und Frauengeschichten. Meine Güte! Ich dachte nur kurz, dass es pervers ist, wenn das alles stimmt, was er so mit Thilo und Matze redet." Sie raufte sich die Haare. "Und später hab ich ja rausgefunden, dass das wirklich stimmt. Allein im ersten Semester zwei Freundinnen durchgezogen. Beide fallen lassen, beide haben ihn zugleich scheiße und geil gefunden hinterher. Sehr bizarr und extrem rücksichtslos. Und dann dumme Sprüche, ohne Ende dumme Sprüche. Das fand ich schrecklich. Ich dachte sogar 'Wie hat der bloß das Abi geschafft?'!"

Kai musste grinsen. So war es ihm ja auch gegangen. Jan war wirklich keine Liebe auf den ersten Blick, wenn man nach dem Fußball, den Frauengeschichten und seiner Rücksichtslosigkeit ging. Die dummen Sprüche oder diese schrecklichen Klamotten waren da nur noch das I-Tüpfelchen. Er erinnerte sich noch an die ernsthaften Gespräche, die er mit Lolli über Jan hatte führen müssen, damals, vor Lukas. Die Hete, Vorführhete, die er sich jetzt aber mal superschnell abgewöhnen sollte. Es war damals nicht so schwer gewesen, Lolli zuzustimmen und sich von diesen Gefühlen für Jan befreit zu sehen.

Bianca seufzte auf und erzählte leise weiter "Aber dann geht sein Handy und er redet mit seinem Vater. Kurz nur, es ging um die Autoversicherung und irgendwelche Sachen für das Wohnheimzimmer oder so, aber er war sofort ein ganz anderer Mensch. Ernsthaft, ehrlich, geradeheraus, intelligent. Und er hat Platt geredet. Ich war die einzige, die das verstehen konnte. Wir sprechen tu Huus nichts anderes, Kai. Ich hab das im Blut, es ist meine Heimat, fühlt sich richtig an. Mit einem Mal hab ich mich nicht mehr nervös gefühlt und voller Heimweh zwischen all den neuen, fremden Menschen, in der Stadt. Mit einem Mal hab ich mich warm gefühlt und sicher. Tu Huus. Zuhause. Darum hab ich mich so in ihn verknallt." Sie streckte sich leise ächzend aus. "Das war sogar noch bevor wir im Bett waren. Danach war es sowieso um mich geschehen. Gott, ist der Mann gut im Bett! Immerhin den Teil kannst du vermutlich nachvollziehen. Meinst du, ihr habt noch so eine Tablette für mich?"

Kai starrte sie eine Weile lang fasziniert an. Bianca war es gegangen wie ihm selber. Jan war auf den ersten Blick ein dummer Fußballer, doch dann ließ er einen, vielleicht aus Versehen, auf den warmen Schimmer in seinem Inneren blicken. Der letzte Satz brachte seine Augenbrauen zusammen. Wenn diese Tussi nicht bald mal aufhörte, dann würde er ernsthaft sauer werden. Doch andererseits musste er dem Kompliment zustimmen und ertappte sich beim Nicken. Die Frage registrierte er ein wenig zu spät. "Ja... warte, ich hol sie dir." Er musste eine Weile suchen, weil Jan die starken Schmerzmittel nicht bei den anderen Medikamenten hatte, sondern in einer Schublade am Schreibtisch im Schlafzimmer.

Als er ihr die Tablette endlich überreichen konnte, saß sie am Fenster zur Dachterrasse. "Ich habe Thilo angerufen, um mich mit ihm auszusöhnen. Jan hat recht. Wenn meine merkwürdigen Gefühle nicht wären, dann wäre Thilo komplett mein Fall und ich geb ihm keine Chance. Er kommt gleich vorbei und holt mich ab."

"Wie willst du ihm das mit der Stirn erklären?" Kai reichte ihr die Tablette und ein Glas Wasser.

Bianca konnte augenscheinlich sehr gut Tabletten schlucken, denn sie warf das Schmerzmittel einfach zwischendurch ein und sprach weiter. "Ich werde... Thilo natürlich die Wahrheit sagen. Es ist auch einfach eine zu geile Geschichte, als das man die verheimlichen dürfte, Kai."

Kai schwieg sich zu dieser Einschätzung für den Abend lieber aus. Wenn sie das geil fand, dass sie eine Gehirnerschütterung und Naht an der Stirn hatte, nach nur einem Abend mit ihrem Ex, dann war das sicherlich ihr Ding.

Wenig später klingelte es auch schon an der Tür. Thilo hatte sich echt beeilt. Bianca rief ihm durch die Gegensprechanlage zu, dass sie runterkommen würde, und zog sich hastig die Stiefel über. In der Wohnungstür sah sie Kai in die Augen. "Bis dann, Kai und... danke."

"Immer wieder gern." Er grinste und hörte sie auf dem Weg nach unten lachen. Dann hörte er Thilos heiseren, erschrockenen Aufschrei. Bianca, diese miese Tante, hatte den armen Kerl nicht vorgewarnt.

Kai schaffte sein restliches Referat und hasste es total, als er es dann noch einmal durchlas. Die Türglocke erlöste ihn endlich, als es draußen schon wieder dämmerte. Es war Jan, der durch die Gegensprechanlage rief, dass Kai ihm mal mit dem Wasserkasten und den Einkaufstüten helfen sollte. Er war einfach allein einkaufen gefahren. Und natürlich hatte Jan allein bezahlt.

Kai blinzelte verwirrt, als er das Ausmaß des Einkaufs erblickte. Nicht nur die üblichen Sachen für die nächsten Tage, auch Vorräte, Putzmittel, Waschpulver und Getränkekisten waren dabei. Kai sackte sofort den Bon ab, um seinen Anteil auszurechnen, wie er es mit Lolli immer gehalten hatte. Jan zupfte den Zettel jedoch im Vorbeigehen aus Kais Fingern und schlug vor "Bezahl du, wenn unter der Woche was fehlt, okay?"

Kai verschränkte die Arme und wollte eigentlich schweigen, bis sie in der Wohnung waren. Irgendwie war er davon, dass Jan allein gefahren war, dermaßen gereizt, dass er doch noch vor dem Kofferraum mit dem Streiten anfing. "Das ist kein guter Deal. Ich will nicht, dass du immer so viel Geld ausgibst für mich! Ich verdiene gut im LPP." In seinem Kopf schwenkte jemand die 'Idiot! Er hat eh mehr Geld'-Fahne und das brachte Kai erst recht auf die Palme. "Und außerdem komm ich das nächste Mal mit! Ich kann es mir leisten, die Hälfte, die wirkliche Hälfte zu bezahlen!"

Jan schüttelte den Kopf, nachdem er Kai von der Attacke überrascht angesehen hatte. "Das will ich nicht. Fertig."

"Fertig?! Jan! Was soll das, du..." Kai sah Jan nach, der einfach mit seinem Bierkasten in den Keller gegangen war. Er hasste es, wenn Jan ihn so behandelte, als sei er ein Kleinkind, für das man alles tun musste. Er kam selber klar im Leben! Grätzig folgte Kai ihm in den Keller und begann noch auf dem Weg in die Tiefgarage zurück mit einem kleinen Disput über den Umstand, dass er sich nicht für vollgenommen fühlte, dass er seinen Handyanbieter selber aussuchen würde und auch darüber, dass er sein Geburtstagsgeschenk für zu teuer befunden hatte.

Jan verschränkte die Arme und sagte gefährlich leise, dass Kai bitte nicht um das Geschenk diskutieren sollte, weil es sicherlich auch gern zurückgegeben werden konnte, wenn er sich dann von seinem Urlaub verabschieden wollte.

Kai entgegnete auf der Treppe zu ihrer Wohnung entrüstet, dass Jan aufhören sollte, ihm wegen des Wunsches nach Selbständigkeit zu bedrohen. "Ich will genauso meinen Anteil zahlen wie du! Ich will nicht werden wie so ein..."

Er rang nach Worten. "… so ein..."

Jan blieb stehen, den Wasserkasten in der einen und die Einkaufstüte in der anderen Hand "… ein Eheweib?"

Kai blinzelte, starrte seinen Freund an, dann seufzte er und ließ den Kopf hängen und nickte leicht. Jan hatte recht. Genauso fühlte er sich, wenn sein Freund für ihn bezahlte. Auch, wenn er für ihn entschied, welche Telefongesellschaft sie nehmen sollten, welchen Handyvertrag er abschließen sollte. Kai war es eigentlich gewohnt, selber für sich zu sorgen und zu entscheiden. Aber der ganze Umzug war durch Jan organisiert worden, nicht? Wenn sein Freund dann auch noch beim Einkaufen bezahlte, dann machte er damit das Gefühl der Nutzlosigkeit komplett.

Jan stellte den Wasserkasten ab und seufzte ein wenig genervt. "Okay, Kai. Ich schwöre, dass ich das nie so gesehen habe und nie so sehen werde. Wir teilen uns die Arbeit in der Wohnung. Ich muss dich deswegen immer mal wieder anmeckern, aber wenn du putzt, bist du gründlicher als ich. Wir teilen uns die Kosten für das Telefon, du zahlst deine Handyrechnung selber und du gehst dauernd auch allein einkaufen nach der Uni. Wir teilen uns die Kosten für das Einkaufen doch sehr fair auf die Art. Unter der Woche kaufst doch fast immer du ein und ich esse viel mehr als du. Das rechnet sich auf die Dauer. Glaub mir einfach."

"Und die Miete?" Kai war noch nicht soweit, ihn jetzt laufen zu lassen. Noch immer wurden die Streitfahnen geschwungen, auch wenn Kai das Streiten mit Jan immer als sehr anstrengend empfand.

"Mehr will ich nicht von dir! Dein Zimmer ist doch dauernd Gästezimmer."

"Und...?"

Jan hielt Kai an den Schultern fest. "Kai! Es reicht!"

Beleidigt nahm Kai den Wasserkasten auf. "Ich bring den hoch. Schaff du doch lieber die Cola in den Keller runter."

Jan seufzte, nahm sich vermutlich vor, das in der Wohnung auszudiskutieren und nickte leicht. "Ich lass die Tüte hier, kannste dann gleich noch nachholen."

Als Kai mies gelaunt und im Geiste den Streit durchgehend die Treppe wieder runter stapfte, um die Einkaufstüte zu holen, kam Pascal ihm entgegen. Er trug eine superschicke Kombi aus hellem Hemd und einer Hose, für die Kai unter Umständen töten würde. Aber Pascal sah nicht gut aus. Noch immer abweisend, unglücklich und vielleicht etwas wütend.

"Passi? Dich wollte ich gleich anrufen, weil ich..."

Pascal verschränkte die Arme und starrte ihn sauer an. "Das kann ich mir denken!"

"Okay..." Kai war noch immer genervt, deswegen drehte er sich einfach um und stapfte in die Wohnung zurück. Er ging schweigend in die Wohnung und Pascal folgte ihm bis in die Küche.

Er biss sich auf die Lippen und starrte Kai missmutig an. "Ich wollte dir nur sagen, dass ich das unmöglich finde, Kai! Wieso bist du so? Es ist unfair und ekelig, und ich hasse dich!"

Mit einem kleinen deprimierten Seufzen schaltete Kais Hirn wieder einmal in den 'Miep'-Modus. Verwirrt starrte er Pascal an, der zu einer längeren verworrenen Rede ansetzte. Darin ging es um das Fitnessstudio, um Lukas dort, um das Handy von Lukas, um den Wagen von Lukas, um... Kais Aufnahmefähigkeit stieg aus und er starrte Pascal mit leerem Hirn an.

Gerade in dem Moment, in dem Pascal von seinem Schweigen wütend wurde und ihn anschrie "Das ist Fremdgehen, ganz gleich wie du es auslegst, Kai! Ich hab es doch gesehen! Reicht dir ein Mann nicht aus, oder was?! Nein, natürlich nicht!" trat Jan hinter ihnen durch die Wohnzimmertür.

Kai stand mit rotem Kopf vor seinem vollkommen hysterischen Freund und blinzelte verwirrt. "Eh?"

"Lukas und dich verbindet vielleicht Sex, aber du hast doch einen Freund! Kannst du ihn dann nicht mal loslassen, damit er endlich frei ist für eine Beziehung?! Ich versteh dich nicht! Ich halte es auch nicht mehr aus, dabei zuzusehen! Er geht ja nicht mehr ran, wenn ich ihn anrufe, aber im Fitnessstudio hab ich es gestern schon wieder gesehen. Der hat ja sogar einen eigenen Klingelton für dich, Kai! Ist dir das nicht peinlich?!"

Jan trat näher und war mal wieder bewundernswert gelassen. Neugierig sah er Pascal in das Gesicht und lehnte sich abwartend an den Tresen. Sein kurzer Blick zu Kai rüber, gefiel dem allerdings nicht sonderlich.

Pascal verschränkte die Arme und starrte wütend auf den Fußboden, dann sagte er an Jan gewandt. "Die treffen sich schon seit Wochen heimlich zum..."

"Vögeln?"

"Stört dich das gar nicht? Ach. So ist das! Offene Beziehung nennt man das, oder was? Dann kannste weiter mit Tussis rummachen."

Jan verschränkte die Arme. "Also, was mich angeht, bin ich derzeit nur mit Kai zusammen. Ich hab keinen Sex nebenher... ehrlich gesagt, würde ich das nicht auch noch schaffen."

Pascal blinzelte und wurde rot. Kai schüttelte den Kopf, aber konnte noch immer nichts sagen.

Pascals Augen zogen sich noch mehr zusammen. Sein schöner Mund war nur noch ein Strich. "Wieso hast du mir Lukas denn dann vorgestellt?! Nur um dir zu beweisen, dass du ihn trotz anderer rumkriegen kannst, oder was? Ein Mann reicht eben nicht für den tollen Kai, den alle wollen!"

Jan sah ihn an. "Stimmt das?"

"Nein!" Wütend verschränkte Kai die Arme. Allein, dass er sich verteidigen musste!

"Aha?! Und da hat er einen Klingelton, den für seinen aktuellen Betthasen, im Handy drin, mit deinem Namen dabei. Und dann geht er noch ran und verabredet sich vor mir mit dir! Neulich ist er ja auch gleich nach dem Fitnessstudio zu dir gefahren. Der Wagen war hier sicherlich über eine Stunde. Ich fand das so etwas von..."

"Du bist ja ein richtiger Stalker, Pascal!" Jan schüttelte den Kopf. Er griff Pascal beim Kragen und zerrte ihn ins Wohnzimmer rüber.

"Hey, was soll das denn?!"

Verwirrt folgte Kai ihnen. Jan schob Pascal recht derb auf das Sofa und setzte sich direkt vor ihn auf den Couchtisch. "Jetzt mal langsam und zum Mitschreiben. Du verfolgst Lukas, obwohl der nichts von dir will. Jetzt hast du von irgendwo aufgeschnappt, dass Lukas sich mit Kai trifft, und anstelle Kai mal selber zu fragen, oder Lukas, kommst du her und machst einen Affentanz? Vor mir? Wann haben denn diese geheimen Treffen stattgefunden?"

Pascal blinzelte, lief rot an und murmelte etwas Unbestimmtes. Endlich sagte er, das Kinn stur vorschiebend "Zum Beispiel gestern. Außerdem hab ich Lukas nicht verfolgt... nur das eine Mal bin ich ihm nachgefahren, weil ich mit ihm reden wollte."

Kai begriff zwar nur Bahnhof, aber sagte endlich auch etwas. Seine eigene Stimme klang in seinen Ohren tonlos. "Gestern war ich erst mit meinem Vater zusammen bei einem Auswärtsspiel von Jans Team. Wir haben mit dem Team was gegessen und dann meine Mutter in der Uniklinik besucht, weil sie eine Operation hatte. Wir haben Lukas seit der Sache mit Bardo nicht mehr gesehen."

"Bardo?" Pascal starrte ihn verwirrt an.

"Der Junge, der hier gefrühstückt hat. Wir haben mit ihm, Lukas und seinen Eltern gemeinsam geredet, als Bardo von Zuhause weggelaufen ist."

Pascal ließ den Kopf hängen und murrte endlich "Aber wie kommt denn das alles?"

Kai sah Jan an und der hatte sein Hirn noch betriebsbereit. "Lukas war neulich länger hier, aber nicht bei Kai. Hast du mir nicht noch davon erzählt? Er hat seinen Exfreund Felix besucht. Hast du dir außerdem mal überlegt, dass es mehr als einen Kai in der Stadt gibt? Vielleicht ist ja einer von denen per Zufall auch noch schwul."

Pascal blinzelte, verzog den Mund, blinzelte wieder.

"Scheiße! Ich ruf Lukas jetzt an. Das wird mir zu doof!" Rasch griff Kai sich das Telefon und klingelte bei Lukas Zuhause und auf seinem Handy durch. Beide Male ohne Erfolg.

"Siehst du. Er geht nicht ran! Ich konnte ihn nicht fragen!"

Kai warf einen wütenden Blick auf Pascal.

Jan lehnte sich zurück und stützte sich mit den Händen hinten auf dem Couchtisch ab. "Wenn er sieht, dass es Kais Nummer auf dem Display ist, wird er zurückrufen."

"Ach, genau! Wenn die Prinzessin anruft, dann ruft er gleich zurück, ja!?" Eifersüchtig starrte Pascal Kai ins Gesicht.

"Jupp. Ist immer so." Jan klang freundlich und sicher.

Misstrauisch warf Kai einen Seitenblick auf seinen Freund, aber es schien Jan mehr zu amüsieren, den kochenden Pascal zu beobachten, als dass er wegen der Anschuldigungen sauer wurde. Kai selber hingegen war irgendwie enttäuscht von Pascal. Konnte der nicht endlich mal aufhören und normal werden? Und jetzt, etliche Monate nach dem Silvesterfest, könnte Kai sich noch immer in den Hintern beißen, dass er Pascal und Lukas aufeinander angesetzt hatte. Ja, genau! Er war schuld gewesen! Er hatte doch beim Ausgehen, als Lukas ihm noch einen Gefallen schuldig war, geradezu verlangt, dass Lukas nett zu Passi sein sollte, dass er sich um ihn kümmern sollte. Scheiße, war das eine beknackte Idee gewesen. Wer hätte aber auch ahnen können, dass Pascal jetzt auf Basic-Instinct machen würde. Fehlte ja nur noch das Karnickel und die Sache war komplett.

Kai war schon jetzt ohne Ende von seinem Freund genervt. Überhaupt, was fiel Pascal ein, hier reinzutrampeln und ihn wegen einer Sache anzuzicken, die er kaum beweisen konnte? Dann auch noch vor Jan! Moment mal! Kai blinzelte. Das war überhaupt wahr. Pascal hatte Jan zurückkommen sehen. Er wusste, dass das keine Aussprache unter vier Augen werden würde. Kai sah von Jan zu Pascal, dann verschränkte er die Arme. "Du hast das extra gemacht. Du bist hierher, um mich vor Jan zu outen? Als untreu? Ist es das?"

"Das ist ja wohl nicht nötig, Kai. Dass du nicht treu bist, wissen doch seit der Woche nach Silvester alle." Böse starrte Pascal ihn an.

Kai lief ein kühler Schauer über den Rücken. "Bitte?! Hast du sie noch alle?"

"Aha? Und was war dann im Februar los? Was haste denn da bei Lukas zu suchen gehabt, hä?! Erzähl das doch mal! Aber ist ja nicht nötig. Ich weiß auch so schon, dass du Lukas nicht nur den Rücken gerieben hast."

"Wenn du es nicht hinbekommst, bei ihm zu landen, bin ich ja wohl nicht schuld!"

Jan hob eine Hand. "Erde an Kampfzicken. Nicht unter die Gürtellinie bitte!"

Kais Handy klingelte. Es war Lukas. Der Umstand, dass Lukas tatsächlich gleich zurückrief, trieb Pascal eine wütende Röte ins Gesicht.

Kai ging ran, vom Streit und dem Gefühl der Übelkeit wegen Pascals Verrat ein wenig atemlos meldete er sich mit einem "Ich bin's."

"Na?" Lukas Stimme klang ein wenig heiser.

"Ich hab nur eine kurze Frage."

Lukas gähnte. "Das ist gut. Bin noch im Bett, oder wieder... wildes Wochenende."

"Tut mir leid. Kann es sein, dass du einen Kai... äh... triffst?"

Es raschelte, dann sagte Lukas deutlich amüsiert "Kann sein. Ich will mal behaupten, dass ich den gerade jetzt kaum verfehlen könnte." Jemand kicherte im Hintergrund rum. Ein Feuerzeug schnappte, dann fragte Lukas mit besorgter Stimme "Worum geht es, Engelchen?"

Kai sagte es ihm in so wenigen Worten wie möglich. Es war einen Moment lang still, dann sagte Lukas heiser "Oh-kay. Ich bin seit Kurzem mit einem Kai zusammen. Hey, du kennst den sogar. Jedenfalls meinte er, dass er dir begegnet ist. Mit Leon oder so. Durch das Gespräch über dich haben wir uns überhaupt näher kennengelernt."

Kai hob den Kopf, als ihm sein Namensvetter aus der Bestrahlungspraxis einfiel. "Ach du Scheiße! Der ist das! Na, dann störe ich nicht weiter." Irgendwie freute es ihn, dass der total niedliche MTA-Kai Lukas bekommen hatte, auf den er ja offensichtlich scharf gewesen war. Fast war das schon wieder romantisch.

Lukas seufzte. "Gib mir Pascal, oder ist der gar nicht mehr bei dir?"

Kommentarlos reichte Kai das Telefon weiter. Pascal sprach kaum, nickte nur, machte 'hm' und 'hmhm', endlich sagte er mit leiser Stimme. "Ja. Ich... entschuldige mich ja immer nur noch bei dir. Tut mir leid." Er lauschte kurz, dann nickte er noch einmal, aber reichte Kai das Telefon wortlos zurück.

Kai wollte nach einem kurzen 'Tschüss' auflegen, aber Lukas sagte leise "Hey... hey. Tut mir leid, Engel. Ich wollte nie, dass du Ärger wegen Pascals Eifersucht bekommst. Ich dachte, dass es einfacher ist, wenn ich ihn ignoriere. Außerdem wollte ich die Zeit mit Kai allein und in Ruhe verbringen."

"Kann ich gerade sehr gut verstehen. Bis bald mal." Sie legten auf und Kai fuhr mit schmalen Augen zu Pascal herum. Er holte Luft, dann atmete er wieder aus und schüttelte den Kopf. "Raus!"

"Aber..."

Kai schüttelte noch einmal den Kopf und ging ins Schlafzimmer davon. Er knallte die Tür und warf sich auf sein Bett. Ihm war schlecht und zugleich war ihm nach Heulen zumute. Es fühlte sich an, als sei seine Freundschaft mit Pascal nun endgültig gestorben. Und das tat viel mehr weh, als er gedacht hätte.

Genau jetzt fiel ihm ein, wie viele Dinge er gern mit Pascal besprochen hätte, oder unternommen hätte, wie gern er mit ihm hatte befreundet sein wollen. War er einem Wunschtraum nachgehangen? Passten sie als Freunde doch nicht zueinander? Es war unfair. Kai hatte sich so lang schon nach einem Freund gesehnt. Nach jemandem, mit dem er solche Abenteuer wie mit Bardo oder Bianca besprechen konnte. Jemanden, mit dem er über Jan sprechen konnte. Einfach jemanden, dem er sich nahe fühlen konnte, ohne dass es anstrengend und doof und kompliziert sein musste. Mit einem Mal fühlte Kai sich allein.

Es half ihm natürlich auch nicht gerade, dass er sich nur Sekunden vor der Attacke durch Pascal mit Jan gestritten hatte. Kai wusste zwar auch so, dass diese kleinen Diskussionen und Auseinandersetzungen mit Jan nie schlimm endeten, aber in diesem Moment machte ihn das Wissen darum, dass der Streit noch nicht ausgestanden war, schwach und empfindlich. Er fühlte sich nach dem Stress mit Bianca am Abend zuvor zudem noch immer ziemlich dünnhäutig. Der Sex mit Jan war so dermaßen schief gelaufen. Auch das war sicherlich noch nicht komplett ausgestanden. Jetzt auch noch diese miese Nummer von Passi, Kai fühlte sich wirklich viel mehr nach Verkriechen, als danach, im LPP auf dem Präsentierteller zu sitzen.

Er kämpfte gerade ganz tapfer gegen die Trauer an, die ihm im Hals saß und die Brust eng machte, als Jan zu ihm ins Schlafzimmer trat. Er konnte sich nicht mehr beherrschen, als Jans Hand sich warm auf seine Schulter legte. "Hey." Mehr brauchte es nicht, Kai brach komplett hysterisch in Tränen aus und ließ sich widerstandslos an Jans Schulter drücken und streicheln.

Die verdammte Pascal-Affäre kostete Kai insgesamt dann viel zu viel Zeit. Jan hatte ihn getröstet. Es war natürlich, typisch Jan, mit anstrengenden Unterhaltungen einhergegangen. Über die Sache im Februar. Das mit Lukas, da hatten sie sich geeinigt, war nicht Fremdgehen gewesen. Kai hatte es nicht so gesehen, Jan hatte es nicht so gesehen. Aber jetzt sprach Jan die Sache noch einmal an, und zwar nicht ohne vorwurfsvoll zu sein. Das machte Kai zickig und irgendwie war er sowieso noch immer dünnhäutig und zugleich auf Kratzbürste gepolt. Also stritten sie noch eine Runde. Nicht über Lukas, das war nicht real genug. Sie stritten über die Haushaltskosten.

Dann musste Kai wieder heulen, weil er noch immer hysterisch war. Jan musste ihn noch einmal trösten. Dieses Mal tat er das geduldig schweigend, saß einfach da und drückte Kai eine Weile lang an sich, während es in der Wohnung langsam dunkler wurde. Sie einigten sich endlich ruhiger über die Kostenaufteilung des aktuellen Einkaufs und Jan entschuldigte sich sogar.

Kai versuchte danach, seine Augen mit kühlem Wasser etwas abzuschwellen und sein Gesicht irgendwie herzurichten. Man sah ihm das Geheule total an, verdammte Scheiße. Seine Haare saßen auch nicht und er bekam eine Krise, als er vom Spiegel im Bad zu Jans Uhr auf der Ablage blickte und sah, dass ihm keine Zeit mehr blieb. Hastig zerrte er sich einen Rollkragenpullover über und pappte sich Schaum in die Haare, was sie noch wuseliger aussehen ließ.

Dann hatte Kai die Idee, seine neue olivgrüne Hose zur Arbeit anziehen zu wollen, weil er sich wenigstens etwas hübsch fühlen wollte. Hinter der Theke war es eigentlich Verschwendung und der Rolli war darüber viel zu lang, um ihre Vorzüge komplett zur Geltung zu bringen, aber er würde sich nett fühlen damit. Er liebte es, neue Klamotten anzuziehen.

Jan sah die Hose an ihm und tickte aus, auf überaus interessante Art. Es kam schon wieder zu einer Diskussion. Dieses Mal über das Flirten im LPP. Mit anderen Männern, was irgendwie vor allem Leon zu betreffen schien. Jan verbot Kai tatsächlich, so aufgebrezelt hinter der Theke zu stehen. Kai, noch immer von der Streiterei und Heulerei gestresst, zog sich schockiert von der Andeutung, dass er mit dem Look wohlmöglich andere Männer anmachen wollte, sofort wieder um.

Das führte dazu, dass Kai in seiner schwarzen Cordhose steckte, die für den Abend eigentlich zu warm war und Jan ihn mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit zur Arbeit fahren musste. Sie verabschiedeten sich unter Jans Beteuerungen, dass er nie im Leben denken würde, Kai sei eine Schlampe.

Kai fühlte sich aber latent so. Pascal hatte ihn sich schon so fühlen lassen und Jans anstrengend Art hatte ihm da auch nicht mehr geholfen. Ermattet schleppte er sich einen Hauch zu spät zur Hintertür ins LPP. Und natürlich führte das dazu, dass Leon ihn sofort zu sich in das Büro durchwinkte. Außerdem war es ein Tag mit den roten T-Shirts. Gequält seufzte Kai, zog das T-Shirt über den Rolli und schlich sich zu seinem Boss.

Leon trug ein schwarzes Oberhemd, war beim Friseur gewesen und sah schweinisch fit und gesund aus, dafür, dass er es ganz und gar nicht war. Er tippte an seinem Computer herum und blickte kurz zu Kai auf.

"Was gibt es?" Kai klappte erschrocken den Mund zu. Seine Stimme klang grausam verheult und heiser.

Leons Blick wurde eine Spur schärfer, dann machte er eine lässige Handbewegung. "Mach die Kühlschranktür auf."

Verwirrt öffnete Kai die Tür des blau beleuchteten Designerkühlschranks, in dem Leon sein Wasser und im Eisfach verschiedene Sorten ultrateure Eiscreme in stylischen Töpfchen aufbewahrte. "Und?"

"Such dir ein Eis aus."

"Eh?"

"Halt es dir an die Augen." Es klang, als würde Leon ihn bescheuert finden, weil er das nicht gleich raffte.

Kai blinzelte nervös, dann nahm er sich 'Strawberry Cheesecake' und ließ sich auf dem Ledersofa nieder. Seufzend presste er die kleine Packung an das eine, dann das andere Auge. Mit dem jeweils freien Auge behielt er Leon nervös im Blick. Doch der hatte sich zum Spannerfensterchen gewandt und beobachtete die Loungetische und die Bar, an der Bastian gerade allein klarkommen musste.

Die Atmosphäre beruhigte Kai tatsächlich. Leons nüchterne, knappe Art und seine sichere Ausstrahlung gaben ihm mit einem Mal die Chance, geordneter über die Probleme des Nachmittags nachzudenken.

Leon schwieg derweilen, tippte hin und wieder am PC oder blickte auf die Straße raus. Nach einigen Minuten sah er zu Kai zurück und nickte einmal. "Okay. So geht das schon wieder. Nimm das Eis mit nach vorn und iss es."

Kai stand unsicher auf, dann ließ er sich wieder auf das Sofa sinken. Nervös klickte er den Plastiklöffel von der Verpackung. "Leon?"

"Hm? Was machst du noch hier?"

"Dich um Rat fragen." Kai versuchte mutig zu sein, dachte sich gerade jetzt, dass ein Mann wie Leon vielleicht mehr Erfahrung bei solchen Sachen hatte. Zudem fühlte Kai sich ihm durch ihre gemeinsam verbrachten Stunden bei der Bestrahlung irgendwie nah genug für private Fragen.

Leon blickte zur Uhr, dann zu ihm zurück und seufzte. "Okay. Iss dein Eis hier. Ich höre."

Kai zog die Folie vom Becher und starrte das Eis an, das sich in einer appetitlichen cremweiß-rosafarbenen Spirale vor ihm auftat. Sein Magen freute sich, weil er wegen der Heulerei und der Hetze, um danach nicht zu spät zu kommen, das Abendbrot verpasst hatte. Aber irgendwie war ihm gar nicht nach was Süßem. Lustlos stocherte er darin herum. Dann erzählte er Leon in Kurzform, was mit Pascal passiert war, nannte ihn aber nur 'einen Freund'.

Leon blickte erneut zur Uhr, dann ging er zu Kai und ließ sich neben ihm nieder. "Pascal war schon immer eifersüchtig auf dich, Kai."

"Woher...?"

Mit einem kleinen Seitenblick sagte Leon trocken "Lukas und ein eifersüchtiger Freund in einem Satz zusammenläuft auf Pascal hinaus. Wir hatten zwar nur einen Ferienflirt, aber so gut kenne ich ihn dann doch, um zu wissen, dass er in der Schulzeit dein bester Freund war."

Kai löffelte das unglaublich leckere Eis in sich rein und runzelte die Stirn. "Was soll ich nur machen? Ich fühl mich, als könnte ich ihm das nie wieder verzeihen, aber..."

"Aber du fühlst dich schuldig?"

Unglücklich nickte Kai dazu. "Ich hab mit Lukas getanzt, hab mich von ihm umarmen lassen und mit ihm... geflirtet vielleicht sogar. Ich hab das zwar nicht wirklich absichtlich gemacht. Bei Lukas passiert so etwas einfach. Aber ich hab das gemacht, obwohl ich wusste, dass Passi auch da ist und das sieht und vor allem, obwohl ich wusste, dass er noch komplett in Lukas verknallt ist."

"Ah." Leon lehnte sich neben Kai an. "Und jetzt denkst du, dass seine Indiskretion und der Verrat eine verdiente Strafe waren?"

Kai kratzte in dem Eisbecher rum und nickte. So war es. Er dachte wirklich, dass Pascal ein Stück weit das Recht hatte, sich an ihm zu rächen. Aber für was nur? Verwirrt steckte die Abteilung für Abartigkeiten auf und verließ den Platz. Kein Fall für Abartigkeiten deckte offenbar das schlechte Gewissen ab, das man haben konnte, wenn man nicht schuld war. Oder doch? Und wieso hatte Jan auf die Hose so komisch reagiert? Kais Gedanken wurden von Leon unterbrochen, der sich neben ihm anlehnte.

Leon blickte aus dem Fenster in den Hinterhof raus und seufzte. "Ich würde sagen, dass du kein besonders guter Freund bist, Kai. Pascal eben auch nicht. Ihr habt nicht mit offenen Karten gespielt, alle beide nicht. Dagegen helfen nur zwei Sachen, beide gleich gut. Entweder ihr sprecht euch aus und fangt danach bei Null an, oder ihr seht euch nie wieder." Er stand auf und blickte auf Kai runter. Mit zwei Fingern hob er sein Kinn an, dann beugte er sich vor und küsste ihn auf die Stirn. "So einfach ist das."

Kai wurde rot und verzog das Gesicht. "So einfach! Na toll!"

Aber Leon war schon wieder zu seinem Platz hinter dem Computer gegangen und deutete auf die gepolsterte Tür. "Felix kommt in ungefähr zehn Minuten her. Ich möchte, dass du dann vorn hinter der Bar stehst. Sei so gut."

Grummelig trottete Kai zu den Türen. Er hatte den Türknauf gerade in der Hand, als er Leons Stimme hörte "Ich nehm dich wieder mit."

"Okay, danke."

Als Kai mit der Eispackung in der Hand zur Theke kam, trat Henrike zu ihm, drückte seine Schulter und sah ihn mitleidig an. "Oi, hast du Liebeskummer, Kai?"

Verwirrt starrte er sie an. "Was? Wie?"

"Na, weil du das teure Eis von Leon bekommen hast." Optimistisch richtete sie ihre an diesem Tag recht stürmische, leicht lila-silberne Frisur. "Mir hilft das immer total gut. Aber bei dem Preis tun die da vermutlich noch Antidepressiva und Viagra rein oder so."

Kai warf die Packung weg und schüttelte den Kopf. "War nur Stress." Er fühlte sich immer noch ausgelaugt und müde. Die Arbeit machte ihm keinen rechten Spaß. Als sie einmal zusammen an der Theke standen, sagte er das auch und entschuldigte sich bei seinen Kollegen. Aber Henrike wie auch Bastian meinten, dass man seinem Gesicht nichts ansehen konnte. Henrike wippte auf einem Barhocker balancierend mit der Musik mit, während sie auf Cocktails für ihre Tische auf der Galerie wartete. Sie war sehr guter Laune und trug an diesem Tag eine karierte Strumpfhose zu geringeltem Minirock. Sie gehen zu sehen tat schon fast in den Augen weh. Lächelnd blickte sie Kai an. "Ohne Eis hätte ich von nix gewusst, Kai. Bei deinem Puppengesicht sieht man nie, wie du dich fühlst."

Er knallte ihr das erste Glas auf das Tablett und machte Angriff zu seiner Verteidigung, während er das zweite Glas mit Zitronensaft und Barzucker überzog. "Wie wars mit Lena?"

Henrike grinste und sortierte die Gläser auf dem Tablett. "Super! Wir haben uns total lange unterhalten. Im Endeffekt war es fast Morgen, als wir zum Schlafen gekommen sind."

Das klang gar nicht nach miteinander schlafen. Verwirrt dachte Kai, dass er Lena vielleicht falsch eingeschätzt hatte. Er würde sich hüten, Henrike danach zu fragen. Etwas anderes lenkte ihn sowohl von Henrike als auch seinen eigenen Sorgen ab. Bardo kam mit zwei Mädchen ins LPP. Es war beinahe halb zehn.

Typisch für das Alter sprachen sie kaum miteinander, fummelten an ihren Handys rum und kicherten unausgesetzt. Die Mädchen trugen zu enge Jeans, die ihren dünnen Beinen nicht unbedingt schmeichelten. Die eine hatte eine Zahnspange. Sie setzten sich auf die Galerie, aber Bardo kam an die Bar, um die Getränke selber zu holen. Er lehnte sich zu Kai und fragte gegen die am Abend recht laute Musik heiser rufend "Alles in Ordnung?"

Verwirrt sah Kai ihn an.

Bardo wurde rot. "Du siehst so... müde aus." Als Kai nur schweigend abwartete, nicht gewillt, es dem Jungen an diesem Abend leicht zu machen, bestellte Bardo für sich und die Mädchen die Getränke und lehnte sich an die Theke an, während Kai ihm das Gewünschte fertig machte.

Bardo sah ihn forschend an, dann zog er auf diese absolut niedliche Art seine Unterlippe schief zwischen die Zähne und lächelte schüchtern. "Ich... hab den Mädchen gesagt, dass ich dich kenne. Die glauben mir nicht. So wie du jetzt tust, glauben die mir das nie."

Aus dem Augenwinkel sah Kai kurz zur Galerie rauf. Und richtig, wie zwei Aasgeier hockten die Mädchen fast schon auf der Brüstung und starrten zu ihnen hinunter, kicherten, starrten wieder.

"Was sind das für Tanten?" Kai stellte die Flaschen auf den Tresen und begann die Arbeitsfläche zu wischen.

"Vom Chor. Heute war Probe mit dem großen gemischten Chor in der Oper. Für das Osterkonzert... da bin ich zwar raus, aber zur Probe gehe ich trotzdem gern." Bardo bezahlte, dann zog er die Flasche zu sich rüber, aber zögerte noch. "Ich weiß ja, dass ihr eure Ruhe haben wollt, aber... " Er stockte, dann zog er die Schultern an. "Ach, vergiss es."

Kai umfing sein Handgelenk und drückte seine Hand flach auf die Theke runter, ließ ihn nicht los. "Aber was?"

Erschrocken starrte Bardo ihn an, dann blickte er auf ihre Hände runter und lächelte schüchtern. "Halvar hat übernächste Woche Geburtstag. Gleich vor Ostern. Er hat sich zum Wochenende einen Schlafgeburtstag mit seinen drei besten Freunden gewünscht, da hatte ich gehofft, dass..."

Kai stellte sich das Szenario vor. Ein kleiner gerade an der Grenze zur Pubertät befindlicher Bruder, der vor seinen Freunden cool sein wollte und dazu das Bambi? Auweia! Er nickte kurz und ließ Bardo gehen. "Du kannst bei uns bleiben, wenn das so ein Notfall ist."

"Echt? Oh, danke! Kai, danke, danke. Danke!"

Kai lachte leise. "Bambi, du bist wirklich..." Er wuschelte ihm einmal durch die Haare und schupste ihn aus der Bewegung weg. "Wir werden dir deinen eigenen Schlüssel geben müssen, wenn du so weiter machst. Schieb schon ab zu deinen Mädchen."

Mit leuchtenden Augen trabte Bambi ab zu den beiden, um ihnen zu berichten, dass er, na klar, bei Kai gelandet war. Was für ein Lügner!

Aber er hatte Kais Stimmung gehoben, auch wenn er sich für die kleine Attacke um kurz nach zehn beim Bambi rächte, indem er hochsah und ihm ein Uhrzeichen machte, um ihn auf seinen Heimweg zu schicken. Grinsend sah er, dass Bardo tatsächlich seine Tasche nahm und sich trollte.

Der restliche Abend verlief langweilig und hektisch zugleich. Müde und mit schmerzenden Füßen räumte Kai auf und verriegelte die Glastüren am Vordereingang. Als er umgezogen war, kam Leon mit Felix aus dem Büro. Die beiden unterhielten sich bei guter Laune, in bestem Einvernehmen, wie es schien. Sie waren die ganze Zeit dort gewesen und Kai fragte sich, was sie dort über Stunden allein gemacht haben könnten. Dann wurde er rot und verfluchte, dass er es sich gefragt hatte. Dann erinnerte er sich, dass Leon ihm gesagt hatte, dass er keinen Sex haben mochte während der Bestrahlung, und schalt sich einen Idioten.

Doch gleich darauf war er wieder nervös, weil Felix sich mit einem Winken von seinem Freund verabschiedete und vorausging, während Leon und er gemeinsam die Einnahmen zum Safe brachten, die Alarmanlage stellten und absperrten. In Leons riesenhaftem Auto versank Kai im Ledersitz und fragte nach dem Anschnallen "Wollte Felix nicht mit?"

"Er ist selber gefahren und hat nichts getrunken." Leon fuhr konzentriert, aber bog auf den Stadtring raus, seine Strecke für Unterhaltungen. Kai sah ihn misstrauisch an. Gleich nach der Auffahrt sah Leon zu ihm rüber. "Am früheren Abend hattest du Besuch von dem Jungen, von dem du mir erzählt hast?"

"Ja. Bardo."

"Er schaut richtig gut aus. Gut erzogen auch."

"Nicht mein Ding."

Leon lachte. "Über Jan kann man sich da ja auch streiten."

"Ich weiß. Sag mal, bezahlst du Felix eigentlich die Miete und so?"

Kurz hatte Kai Angst, dass die Frage zu persönlich geraten war, aber Leon nickte knapp und gab bereitwillig Antwort. "So ist es. Er bezahlt sich sein Spielzeug, seine Klamotten und hin und wieder kauft er mal ein, aber ich bezahle natürlich alles andere."

"Komplett? Kommt er sich nicht gekauft vor?"

"Würde mir das Geld mehr bedeuten, oder ihm, wäre das vielleicht der Fall. Ich bin zu reich, um die Summen, die er mich kostet, wirklich zu merken. Und Felix ist... Felix eben. Man kann ihn nicht kaufen, da bin ich mir sicher." Er sah zu Kai, dann fuhr er vom Ring auf ihre Straße raus. "Jan bezahlt dir zu viel?"

Kai biss sich auf die Lippe und nickte. Er überlegte sich missmutig, dass man ihn sehr wohl kaufen konnte. Immerhin, Leon machte doch nichts anderes als genau das. Ihn für die Abende in seiner Bar kaufen. Ein hübsches Ding, das er sich vorn hinstellte, um Kunden anzulocken. So zu denken war eigentlich unfair sich selber gegenüber, aber Kai war noch immer nicht über den Schock des Nachmittags und seine Empfindlichkeit wegen der Streiterei mit Jan hinweg.

Leon lächelte, ein wenig überheblich "Er ist vermutlich dermaßen reich, ist es noch nicht gewohnt und macht das aus Versehen. Allein die Häuser, die er geerbt hat!"

Kai sah Leon erstarrt an. "Häu – ser?"

Leon stupste Kai auf die Nase, dann legte er den Arm auf die Rücklehne hinter Kais Kopf. "Du bist süß. Kein Wunder, dass Lukas dich Engelchen nennt. Das muss Jan mit dir klären. Aber ich kann dir folgendes sagen: Ich bin sein Anlageberater. Allein der Umstand, dass er jemanden wie mich hat und braucht, sollte dir was sagen. Wenn du wissen willst, ob ich denke, er kauft dich oder wird es eines Tages so sehen, nein. Das kann ich im Leben bei ihm nicht glauben. Wenn du ehrlich bist, glaubst du das auch nicht."

Nachdenklich kaute Kai auf der Unterlippe und musste Leon in Gedanken recht geben. Jan war ganz und gar nicht materialistisch eingestellt. Das Geld, das er schon immer zur Verfügung gehabt hatte, gab er abgesehen von Sportklamotten, seinem Skiurlaub einmal im Jahr und dem Ausgehen nicht aus. Es hatte Jan nie an etwas gefehlt, aber Designermöbel, ein schickes Auto, Reisen, technischen Schnickschnack wie das neuste Handy, einen superschnellen Rechner oder teure Klamotten, das alles brauchte er nicht. Dummerweise war er selber nicht wie Felix, ihm bedeutete Geld viel, vermutlich, weil er es bislang immer sehr hart erarbeitet hatte, weil seine Eltern nicht so viel hatten. Vermutlich war der Wert, den er und Jan den Ausgaben beimaßen, deswegen so verschieden. Kai nahm sich vor, Jan das noch einmal zu erklären.

Leon zog seinen Arm kurz vor dem Haus zurück und sprang aus dem Wagen, sobald er eingeparkt hatte. Kai schloss gerade mit einem Gefühl der Erleichterung, dass er endlich Zuhause war, die Wagentür, als er das Geräusch aus der Hölle hörte. Ein Summen, ein Heulen wurde lauter und lauter, kreiste ihn ein, machte Jagd auf ihn, machte ihn irre. Ein Gefühl, als würde ihm sein Magen durch den Körper wegsacken, als würden seine Beine sich in Mehlsäcke verwandeln, baute sich derart in seinem Inneren auf, dass er nicht mehr wusste, wohin er noch weglaufen sollte davor. Es nahm ihn gefangen, er konnte sich nicht mehr rühren.

Das Geräusch nahm zu, dröhnte Kai in den Ohren. Ein komisches Rauschen kam dazu und ihm wurde schwarz vor Augen. Er spürte, wie die alte Panik in ihm aufstieg. Mit einem heiseren Schrei sank er neben dem Wagen auf den Boden und hielt sich die Ohren zu, dann wurde alles still. Er kam auf dem Boden neben dem Wagen zu sich, Leon kniete neben ihm und hatte seinen Kopf angehoben. Er klopfte ihm auf die Wangen und rief seinen Namen.

Mit tiefen Atemzügen versuchte Kai sich zu beruhigen. Er hörte Stimmen und sah auf, um einen gesichtslosen Motorradhelm anzublicken. Mit einem Aufschrei fuhr er zurück, gegen Leon. Der legte die Arme um ihn und versuchte, ihm aufzuhelfen, gleichzeitig zog sich Felix den Helm vom Kopf und blickte ihn beunruhigt an.

Kai schloss die Augen. Das Geräusch war fort. Er sollte doch in der Lage sein, seine Stimme wieder zu finden, seine Kraft. Aber er schaffte es nicht. Mit einem Mal hörte er noch etwas. Ein Auto kam. Er rappelte sich auf und vernahm, wie Leon sagte "Felix, hol mal eine Flasche Wasser aus dem Keller. Kai ist irgendwie noch nicht ganz da."

Im nächsten Augenblick fiel Scheinwerferlicht auf sie, Reifen quietschten und eine Autotür klappte. Kai hing in Leons Arm, der sein Gesicht umfangen hatte und ihn forschend ansah. Er schaffte es endlich, die Augen zu öffnen. Im nächsten Moment hörte er Jans Stimme sehr unfreundlich rufen "Was soll das denn werden?!"

Leon ließ Kai nicht los, aber hob den Kopf. "Er ist umgekippt..."

Felix' dunkle Stimme mischte sich ein. "Hier, vielleicht hilft das."

Kai spürte, wie er rot anlief. Er war richtig umgekippt? Unsicher hob er eine Hand an den Kopf. Leon hielt ihm die Wasserflasche an den Mund und half ihm beim Trinken.

Gleich darauf war Jan bei ihnen. "Baby! Was ist passiert?" Leon wurde weggeschubst und Jans Gesicht tauchte vor Kai auf, samt einem fast panischen Ausdruck.

Kai spürte, wie ihm heiß wurde. Musste Jan so peinlich sein?! "Ich... bin... erschrocken, da war dieses Geräusch. Es war dunkel und ich..."

Jan sah mit schmalen Augen auf. "Ein Motorrad?"

Kai blinzelte, dann nickte er. Das Gefühl war das gleiche gewesen. Ein Motorrad. Er war tatsächlich vor Panik umgefallen? Vor Leon? Vor Felix? Das war schrecklich! Schrecklich peinlich! Groggy setzte er sich auf und blickte Jan ins Gesicht. "Das muss es gewesen sein." Unsicher sah er zu Leon und Felix auf.

Jan erklärte für ihn. "Kai ist von Motorradfahrern überfallen und zusammengeschlagen worden im letzten Sommer. Seitdem hat er Panik bei dem Geräusch. Vor allem, wenn es dunkel ist." Beschützend zog er Kai dabei mit einem Arm einmal kurz an sich, dann half er ihm beim Aufstehen.

Leon schüttelte den Kopf. "Und du wolltest sonst immer allein mit dem Fahrrad nach Hause fahren?"

"Es ist mir lange nicht mehr passiert. Ich dachte... es hat aufgehört." Eigentlich hatte Kai gar nicht mehr daran gedacht, hatte das Problem, das ihn doch im letzten Herbst noch so sehr verfolgt hatte, großzügig fortgeschoben.

"Hm. Vielleicht waren per Zufall nicht so viele Motorräder auf den Straßen." Jan reichte Leon die Wasserflasche, ließ Kai zugleich nicht mehr los.

Felix' dunkle Stimme mischte sich ein, während Jan ihn in seine Arme zog. "Unsinn. Ich hab meine große Maschine auch gerade wieder zugelassen. Jetzt fängt die Saison an. Wer fährt schon im Winter?"

Kai blinzelte, dann schluckte er. "Ach du Scheiße." Und dann musste er lachen, irgendwie war das ja wirklich schon zu blöde gelaufen für ihn, oder? Die anderen beiden stimmten leise und wie er kopfschüttelnd mit ein. Nur Jan lachte nicht. Sein Gesicht war anstrengend, angespannt. Die Umarmung festigte sich um seine Schultern, anstandslos ließ Kai sich abführen.

Kapitel 101

Es war halb fünf am Morgen und Kai hockte beleidigt im Bett und schämte sich. Jan hatte ihm das gesamte Programm 'übervorsichtiger Freund' geboten. Er hatte ihn sogar ins Krankenhaus bringen wollen, was Kai zu peinlich war, hatte ihm einen Tee gekocht, den Kai nicht mochte, ihn betüdelt und im Bad nicht allein lassen wollen, was Kai nervte und endlich hatte er ihn deswegen fast schon rausgeschmissen. "Hör endlich auf, Jan! Ich bin erwachsen!"

"Du bist mein Baby. Ich hab mich vielleicht verjagt vorhin!" Jan hatte sich zum Glück endlich abgeregt und ging sogar seinen Wagen richtig parken, den er aus lauter Sorge um Kai einfach in der Auffahrt hatte stehen lassen.

Leider war seine Rückkehr in die Wohnung natürlich auch der Beginn von unbequemen Unterhaltungen. Leider nicht nur darüber, dass Kai sehr offensichtlich und ziemlich dringend eine Therapie brauchte, um sich von dem Trauma mit den Motorrädern zu erholen.

Kai wusste es, bevor Jans Kinn sich ein wenig stur vorschob. Eifersucht war auch ein Thema. "Ich hab mir Sorgen gemacht, das ist wohl erlaubt, Kai. Obwohl ich im ersten Augenblick was anderes gedacht habe. Das sah irgendwie nicht wie ein Unfall aus, wie Leon dich so im Arm gehalten und angesehen hat."

"Scheiße! Wir haben nichts, hatten nie was, werden nie was haben, Jan! Er ist nicht mein Typ und er wird es nie sein. Außerdem denkt er derzeit sowieso an sich und seine Erkrankung." Ein wenig zu gereizt von der Anschuldigung verschränkte Kai die Arme. "Du wärst auch nie drauf gekommen, wäre Pascal heute nicht so dramamäßig bei uns aufgelaufen!"

Jan robbte an Kai heran und zog ihn sachte, fast fragend in seine Arme und gegen seinen Körper. "Kannst du mir das verdenken? Du hast nie was über Lukas und dich erzählt und auch sonst nicht. Die Woche nach Silvester, auf die Pascal angespielt hat, darüber haben wir nie geredet."

Kai schloss kurz die Augen. Der Ausrutscher mit Lukas und Pascal... sicherlich tat die Nacht Lukas schon ziemlich leid, von Pascal einmal ganz abgesehen. Prüfend blickte er Jan ins Gesicht. Würde ihm die Nacht auch leidtun müssen? Er holte Luft. "Ich will aber, bevor ich dir davon erzähle, noch einmal daran erinnern, dass du und ich nicht zusammen waren."

"Aha? Es wird immer interessanter."

Kai schloss die Augen, rief sich den Abend in seine Erinnerung zurück und erzählte Jan so ausführlich wie möglich davon. Von seinem Wunsch, den er bei Lukas für das Anfummeln nach Silvester freigehabt hatte und für Pascal eingelöst hatte. Ja, er hatte gewollt, das Passi eine Chance bei Lukas hatte. Das war rückblickend ja so was von einer saudummen Idee gewesen! Er berichtete von Lukas' Fähigkeit, tatsächlich mit ihnen beiden auszugehen, mit ihnen beiden zu flirten, ihnen zugleich das Gefühl zu geben, dass er sie begehrenswert fand. Es war eigentlich den ganzen Abend nichts als ein Vorspiel gewesen.

Er erinnerte sich, dass die Initiative von Pascal ausgegangen war. Er gestand auch, dass er sich schon wagemutig gefühlt hatte, mit beiden im Bett zusammen zu sein, obwohl sie bei dem Dreier kaum etwas schlimmeres als Petting, von seiner Seite aus zumindest, verbuchen konnten. "Als ich Lukas und Pascal dann in unserem Bad überrascht hab, wild beim... du weißt schon was, da fühlte ich mich wirklich wie ein abgeschobenes Kleinkind. Als hätten sie mir einen Lutscher gegeben, um dann selber die Erwachsenensachen zu machen."

Jan lachte auf und küsste Kai auf die Wange. "Ich glaube kaum, dass es so war. Aber zugleich bin ich auch froh, dass du nicht auch noch selber wild mit den beiden geschlafen hast."

"Warum? Ist es nicht egal, wo die Grenze überschritten wird?"

"Nein. Bei dir nicht. Du bist gern mal kuschelig und du küsst gern." Jan grinste ihn an. "Du küsst dermaßen gut, dass es süchtig macht. Ein wenig fummeln, das ergibt sich vielleicht auch noch. Aber wenn es weiter geht, bist du schwierig."

Er hatte recht. Kai wusste es auch so. Deswegen hatte er ja keinen Freund gehabt zuvor, so sehr Lolli ihn am Anfang in der WG zu verkuppeln versuchte. Knutschen fand er okay, das mochte er gern, aber weiter gehen, dazu musste er Jan haben, oder einen Mann wie Lukas, der einfach über ihn hinweg entschied.

Jan wusste mittlerweile auch ziemlich gut Bescheid. "Ich bin der zweite Mann, mit dem du überhaupt geschlafen hast, Kai. Lukas war ja leider der erste und hat es vergeigt. Du hast ihn komplett abgesägt, weil es so schlimm für dich war und mich lässt du kaum ran. Neulich erst musste ich den Rückwärtsgang einlegen und das Mal mit Bianca dabei ist mir komplett in die Binsen gegangen, weil ich nicht genug aufgepasst hab." Jans Arm drückte ihn dichter an sich heran. "Ich weiß, dass du mir immer einen Riesengefallen tust, wenn du mich mit dir schlafen lässt. Und ich weiß, dass du mir das sicherlich eine ganze Weile nicht erlauben wirst, nachdem ich es so vergeigt hab mit Bianca als Jury."

Kai schüttelte den Kopf, auch wenn Jan damit absolut recht hatte. Er würde ihn sicherlich nicht so schnell wieder ran lassen nach dem Desaster und zwei Tagen Schmerzen an Stellen, die er nicht spüren wollte. "Nein, Jan. Nein, ich..."

"Doch! Du magst es nicht. Ich hab schon so viel gelesen und darüber nachgedacht. Es ist komisch, dass die Art Sex, an die jeder sofort denkt, wenn er das Wort homosexuell sagt, einfach nix für dich ist."

Irgendwie fühlte Kai sich mit einem Mal fehlerhaft. Missmutig wandte er sich ab und umarmte sich selber. Er kam sich irgendwie kaputt vor, wie damals, als Lukas mit ihm geschlafen hatte und er sich gefragt hatte, warum ihn etwas, das Lolli vor Freude derart quietschen ließ, dass man es zwei Räume weiter noch hören konnte, kalt ließ.

Jan sah, dass es ihm zusetzte. "Hey, tut mir leid. Ich wollte dich nicht mit dem 'blöden Reden' darüber überfallen. Ich höre schon auf."

Die Abteilung Abartigkeiten nickte verständnisvoll zum blöden Reden, aber die Abteilung 'Liebe und ihre Nebenwirkungen' zwang Kai, Jan eine Antwort anzubieten. Nachdenklich betrachtete er die Klamotten, die er mal wieder auf dem Fußboden verstreut hatte. "Irgendwie denke ich vorher schon immer daran, wie es hinterher sein könnte."

Jan meinte nach einem Moment der Stille "Und du verspannst und verkrampfst dich schon komplett, bevor es losgeht, deswegen kann es gar nicht gut gehen. Daran ist Lukas schuld, obwohl er vielleicht einfach nur nicht genug aufgepasst hat. Ich weiß ja selber, wie schwer es ist, dich zu lesen. Deine Gesten, wenn dir was nicht gefällt... und dein erstes Mal, das war im dunklen Bus, nicht wahr? Der Mallorcaschreck hat dich einfach nicht genug gekannt, sonst hätte er es vielleicht nicht so gemacht. Im Dunkeln konnte er vermutlich gar nicht sehen, was oder dass du was fühlst. Vermutlich wäre das auch mir danebengegangen."

Kai zögerte, eigentlich wollte er eine Fortführung des Themas verschieben, aber Jan hatte seinen Gesichtsausdruck bereits gesehen. "Was? Was war, das du mir nicht sagen willst, Kai?"

Kai schloss die Augen. "Ich hab Lukas längst vergeben, deswegen lohnt es nicht, das wieder aufzukochen."

"Rück raus."

"Wir haben noch einmal miteinander geschlafen. Wir hatten einige Male Sex, Kuschelsex ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck, aber eben ohne... du weißt schon. Das war in der Regel schön... nee, das ist nicht das richtige Wort, gut war es, wenn auch er nicht gerade rücksichtsvoll war. Aber das andere Mal, als er mit mir geschlafen hat, war das bei mir im Zimmer. Und da hab ich 'nein' gesagt... dachte ich zumindest."

Jans Hände ballten sich zu Fäusten, dann atmete er durch und entspannte sich bewusst. "Und damit hat er dir diese Art Sex komplett verleidet, was? Hat er dir wehgetan?"

Kai hob die Schultern, dann schüttelte er den Kopf. "Nicht mehr als du neulich. Er hat mich übergangen, das war das schlimmere dabei. Ich hab sofort Schluss gemacht. Später hat er mir gesagt, dass ich was hätte sagen oder zeigen müssen. Ich war mir sicher, dass ich 'nein' gesagt habe... vermutlich hab ich es nur gedacht." Unsicher sah er zu Jan rüber. "Ich tauge als Bottom einfach nicht, das ist mir zu kompliziert."

"Dafür bist du als Top saugut. Und ich freue mich und bin dir sehr dankbar, dass du mich hin und wieder auch mal lässt. Ich mach das gern... mit dir schlafen. Du gehörst mir dann, bist offen für mich, kannst nicht mehr weg und dich verstecken, das finde ich gut. Außerdem... irgendwie fühle ich mich so näher als anders herum. Aber ich mach das echt nur noch, wenn ich dabei dein Gesicht sehen kann. Neulich auch. Von hinten sehe ich vielleicht, wie deine Finger sich in die Decke graben, aber weiß ich dann, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen ist? Das müssen wir eigentlich doch noch mal üben, Baby."

"Mal sehen."

"Hm. Im Ferienhaus? Da haben wir mehr Ruhe und sind wirklich für uns. Mit Bardo hier dauernd oder wer auch immer uns noch dabei auflauert, verspann ja sogar ich mich bald."

"Ach, das hab ich fast vergessen. Bardo will übernächstes Wochenende schon wieder hierher ausrücken. Sein Bruder hat irgendwie einen Schlafgeburtstag mit noch drei Jungs so im Ätzalter. Bist du über Ostern hier?"

"Ich fahre für das Osterfest nach Hause, aber bin am Montag, vielleicht Sonntagabend wieder da. Du hast schon zugesagt?"

Kai nickte. "Ich war wohl noch zu matschig von der dämlichen Heulerei. Ich hab ihm sogar vorgeschlagen, dass er sich einfach einen Schlüssel rausholt und gut ist."

Jan lachte, dann legte er den Kopf auf seinen Arm und sah Kai forschend an. "Vertraust du ihm hier allein in der Wohnung?"

"Nein. Keinen Meter, wenn ich ehrlich bin. Wieso?"

"Na, wenn er einen Schlüssel hat und erfährt, dass wir nächstes Wochenende weg sind, dann ist diese Wohnung in Gefahr. Nicht nur Lolli weiß, wie gefährlich Teenager sind. Ich hab da auch ganz gut Erfahrung mit, Kai."

Kai stöhnte auf. "Ich hab ihm aber quasi schon erlaubt, hier zu sein!"

Jan hob die Schultern. "Deine Schuld."

"Was?! Och nö!"

"Och doch. Du kannst mal Verantwortung übernehmen, wenn du dem Bambi einen Freischein gibst."

Jan war entsprechend vorgewarnt, was die Bambiattacke anging. Am anderen Nachmittag, als Kai noch probehalber die Augen auf und zu klappte, das Bett noch nicht verlassen wollte, war Jan natürlich auf und hörte Musik und putzte die Küche, hatte schon einen Waldlauf hinter sich gebracht und die halbe Packung Toast vernichtet und natürlich hatte Jan dem Bambi die Tür geöffnet, als der am Sonntag 'nur so' vorbei gekommen war.

Aber hatte Jan ihm jetzt einfach gesagt, dass er keinen weiteren Schlüssel mehr hatte? Nein. Jan hatte nach dem Ausbruch von Vertrauen von Kai tatsächlich einen Nachschlüssel zur Wohnung in Bardos Hände wandern lassen.

Kai trat zum Esstisch, blickte sich noch nicht so richtig wach um und starrte Jan hinter Bardos Rücken mit großen Augen an, als Bardo auch schon zu ihm herumfuhr und stolz den Schlüssel zeigte, den er gerade an das Lederband um seinen Hals fummelte. "Ich schwöre, dass ihr das nicht bereut, ja?" Fehlte noch, dass er voll niedlich im Zimmer rumsprang.

Schlecht gelaunt schlappte Kai in die Küche rüber und murrte "Wenn, dann bist du so gut wie Rehbraten, Bambi, dass das klar ist!"

Jan grinste und nickte ihm zu, dann erhob er sich. "So. Ich bin eine Runde weg zum Fußball und Krafttraining. Ich bin in zwei Stunden etwa wieder da, kann sein in drei, wenn wir mit den anderen vom Kraftraum noch in die Sauna gehen."

Kai machte schmale Augen. "Mit Melanie?"

Überrascht blickte Jan auf. "Woher kennst du die denn?"

Kai verschränkte die Arme und ärgerte sich über sich selber. Pascal war schuld, sonst hätte er sicherlich nicht auch noch mit dieser bescheuerten offenen Eifersucht angefangen. Er stapfte in die Diele vor, um nicht Bardo daran teilhaben zu lassen. "Sogar Holger hat mir schon erzählt, dass die an dich ran will, Jan."

Jan lachte auf. "Ach was." Er küsste Kai, dann schockierte er ihn komplett "Die will nur Sex. Da muss sie warten, bis du mich sitzen lässt, okay? Bis nachher. Sei lieb zum kleinen Reh!"

Kai beachtete Bardo erst einmal nicht, sondern kochte sich einen Kaffee und warf Toast in den Toaster. Bardo beobachtete erst einen Vogel auf der Dachterrasse, dann Kai in der Küche. "War es spät gestern? Du siehst noch immer so fertig aus, Kai."

Kai ergab sich dem treu-besorgten Blick aus großen braunen Augen und diesem endniedlichen Halblächeln. Er ließ sich zum Essen Bardo gegenüber nieder und irgendwie passierte es dann. Er erzählte ihm nach und nach über einer Kanne Kaffee, dem Toast und dem darauf folgenden Kuchen, den er noch im Schrank gefunden hatte, von den letzten zwei sehr anstrengenden Tagen. Er erzählte von seiner Enttäuschung wegen Pascal, was Bambi wegen seiner Enttäuschung über seinen Freund Stefan sehr gut verstehen konnte. Endlich berichtete Kai sogar, dass Bianca ihn und Jan in doch recht eindeutiger Verfassung im Bett gestört hatte.

Bardo errötete niedlich, als er begriff, und zeigte sich hochgradig beeindruckt von Bianca. "Voll krass! Hat die euch echt... ich mein, ist sie richtig zu euch rein?"

"Ja. Es wurde so richtig... krass, als Jan ihr meinen Wecker an den Kopf geworfen hat. Sie hat danach ihren Kopf an den Türrahmen gehauen, und dann hat sie alles vollgeblutet und musste genäht werden." Kai grinste. Retrospektiv war es ein eher interessanter Abend gewesen. Für Bianca vielleicht schmerzhaft interessant, aber er selber war sich sicher, dass es zum Erzählen eine gewisse lustige Note hatte, auf jeden Fall Stoff für einen Abend mit Lolli und der Meierschen.

Bardo lachte auch kurz auf. "Woah, was für ein krasser Abend! Seid ihr in die Uniklinik rüber?" Er mampfte Kuchen mit der Sorglosigkeit der gerade gewachsenen und noch zu dünnen Teenager und Kai nippte seinen Kaffee und dachte an Bianca und ihre anstrengende Art.

"Nein, sie wollte nicht, war im Schock oder so. Ich hab sie genäht. War eine ganz schöne Ecke drin, hat sieben Stiche gebraucht."

Bardo blinzelte Kai an und legte den Kopf schief. "Aber... kannst du das? Richtig mit einer Nadel?"

"Jan hat immer alles da."

"Nein, ich meine, ohne, dass dir komisch wird? Mit dem Blut und so?"

"Bambi, das ist bald mein Job. Davon mal abgesehen kann ich das gut. Meine Mutter hat mich schon als Schüler mit in das Krankenhaus bei uns am Ort genommen. Ich hab gern dort ausgeholfen, hab nie Geld bekommen, aber ich habe schon viel gemacht. Insbesondere Notfallversorgung. Verbände, Gipsen, Nähen. Das macht mir Spaß."

Bardo schüttelte den Kopf. "Okay. Du bist auch echt krass."

Irritiert bemerkte Kai, dass er seinen Frust und Stress bei dem Bambi abgeladen hatte. Das kam davon, dass Pascal, diese miese Natter, ihn als Freund hatte sitzen lassen. Müde rieb er sich das Gesicht und fragte endlich "Wolltest du nur so hier abhängen?"

Bardo nickte und wies auf sein Cello. "Darf ich hier gleich mal eine Runde üben? Bei uns ist es zu unruhig. Halvar hat Besuch und Nantwin hat seine Freundin da. Die durfte sogar übernachten. Er ist so knapp zwei Jahre jünger als ich, aber hat das durchgepresst, nachdem er mitbekommen hat, was für Freiheiten ich hier bei euch hab."

"Freundin? Ist er mit eh... zwölf nicht etwas zu jung?"

"Dreizehn. Nö. Nantwin steht voll auf Mädchen. Er ist dauernd mit ihnen zusammen. Er ist doch auch permanent beim Ballettunterricht im Institut. Vermutlich wird er mal Tanz studieren oder so. Er ist auch total hübsch."

Kai blinzelte das nicht gerade hässliche Bambi an. "Bitte? Und du nicht oder was?"

Bardo stand auf und holte sein Cello aus dem Kasten. Liebevoll nahm er es in den Arm und ließ sich auf dem Hocker damit nieder. Er schüttelte von dem mäßig versteckten Kompliment unbeeinflusst den Kopf, während er zwei Bögen gegeneinander abwog und das Cello aufstellte. "Total nicht. Solltest mal Nantwin sehen, voll der kleine Prinz. Und er hat eben auch dauernd Mädchen da. Wenn der schwul wäre, dann wären meine Eltern komplett dafür, das ist schon mal sicher. Ist er natürlich nicht. Das ist auch jetzt schon klar. Wenn ich mal einen Freund haben sollte, darf der Nantwin auf keinen Fall sehen!"

Kai lachte laut, aber Bardo nickte mit tragisch leidender Miene, dann begann er das Cello zu stimmen. Danach orgelte er irgendwelche total schräg klingenden Tonleitern und Kai ging hastig raus. Erst musste er duschen und seine Haare stylen und brachte schließlich Wäsche in den Keller runter. Als er wieder in die Wohnung kam, einen vollen Wäschekorb im Arm, hörte er schon vor der Tür, dass Bardo nun richtig spielte, eine schöne Melodie.

Kai umrundete den Durchgang und stellte seinen Korb auf dem Esstisch ab. Bardo spielte vom Notenblatt, sein Blick war konzentriert auf eine Seite voller sehr verwirrend angeordneter Noten gerichtet. Kai fiel mal wieder auf, wie hübsch der Junge war. Besonders wenn er sich so konzentriert in etwas vertiefte, sein Gesicht entspannt und der Mund zu einem kleinen Lächeln verzogen. In der Sonne leuchteten seine Haare kastanienfarben, der Farbton passte sehr gut zu dem weichen Rotbraun des Cellos.

Müde begann Kai die Wäsche zu legen und der Musik zu lauschen. Nicht immer perfekt, aber ein sehr angenehmes Stück. Schließlich bügelte Kai sogar seine Hemden und T-Shirts im Wohnzimmer vor der Terrassentür, obwohl er das eigentlich hatte aufschieben wollen. Bardo ging dazu über, auswendig zu spielen. Seine Finger fanden die Positionen so sicher, es sah aus wie ein Lieblingsstück, weil jeder Strich saß, kein Kratzen oder schiefer Ton störte den Ablauf.

Als er aufgehört hatte zu spielen, blieb er noch ein Weilchen sitzen und hielt das Cello im Arm, sah Kai beim Bügeln zu und träumte vor sich hin. Mit einem Mal war Kai froh, dass er ihnen so unverhofft zugelaufen war. In seiner Vorstellung sah er das Bambi sonst traurig in seinem Zimmer allein sein mit seinen Sorgen. Mit anstrengenden Eltern, gemeinen kleinen Brüdern und dazu noch einem fiesen, ehemalig besten Freund, der ihn urplötzlich ekelig zu finden begann. Es war vielleicht doch, wie Merle Fröhlich gesagt hatte. Sie erlaubten ihrem Sohn eine Flucht in ein kleines Paradies. Zu Jungs, die ihn sofort akzeptiert hatten, die selber schwul waren und sich damit wohlfühlten.

"Das waren schöne Stücke."

"Das erste war von Bach, der Superheld der Komponisten. Daran muss ich noch so viel tun! Meine Lehrerin will das mit in mein Konzert nehmen. Das andere ist von Apocalyptica." Er zog seine Unterlippe süß zwischen die Zähne. "Gefällt es dir? Darf ich noch weiter spielen?"

"Klar, sehr gern." Kai machte die Terrassentüren auf, die Sonne schien schon wieder so schön, es machte ihm Hoffnung für das Wochenende an der See. Außerdem begann er an einer Überredung für Jan zu arbeiten, um den zum Baumarkt zu bringen. Er würde gern ein paar Pflanzen auf der Dachterrasse verteilen. Da Jan einen neuen Grill kaufen wollte, standen die Chancen gut, dass Kai ihn auch in Richtung Pflanzenkübel würde lenken können. Verträumt bügelte er aus Versehen schon wieder Jans Hemden und schaffte sie gleich danach beschämt in das Schlafzimmer in den Schrank.

Endlich war er mit Bügeln fertig und Bardo verstaute sein Cello achtsam in dem Koffer. Seine Finger glitten, vermutlich unbeabsichtigt, über einen kleinen Kratzer im Lack seines Instrumentes. Es sah fast schon zärtlich aus. Es war merkwürdig, ihn so sicher und auch so gefühlvoll zu sehen. Kai dachte unwillkürlich darüber nach, wie Bardo wohl als erwachsener Mann sein würde. Mit einem Mal fiel es ihm nicht schwer, sich Bardo mit seinem Freund vorzustellen.

Aber zunächst mutierte das Bambi zu seinem alten niedlichen Selbst zurück und vernichtete den Kuchen. Kai holte sein Skript zum Lernen an den Tisch, aber kam nicht dazu. Sie brachen nach einer Frage von Bardo in eine Unterhaltung aus, die Mütter zum Thema hatte und Selbsthilfegruppen für Eltern homosexueller Kinder. Bardo war komplett genervt von dem neuen Hobby seiner Mutter und Kai konnte das sehr gut nachvollziehen. Endlich sagte das Bambi von dem vielen Reden ein wenig erschöpft: "Aber ich bin froh, dass ihr mich herkommen lasst. Ihr seid normal..." Er fing einen etwas skeptischen Blick von Kai auf und lachte leise. "Naja, ich meine normal mit mir. Ihr tut nicht so komisch."

"Du weißt, dass deine Mutter uns Miete zahlt?" versuchte Kai ihm die romantische Vorstellung von dem Asyl zu rauben.

"Ja. Sie hat es genau ausgerechnet. Sie gibt mir das Geld für das Wochenende auch mit, wenn ich dann zu euch komme." Sehr gewissenhaft nickte Bardo zu diesem Umgang mit seinem Besuchsrecht.

"Der Schlüssel ist eine Art Probeabo, Bardo. Wenn du den auch nur ein einziges Mal verwendest, um hier mit Freunden zu feiern oder einfach abzuhängen, wenn wir nichts davon wissen, dann werde ich echt sauer, klar?!"

"Aber hallo! Jetzt weiß ich ja, wie krass du bist!" Und der Blick aus Bambis Rehaugen war ausreichend ehrfürchtig, um Kai zu beruhigen.

Als Jan nach drei Stunden vom Sport und offenbar auch der Sauna rosig und gut gelaunt zurückkehrte, war Bardo noch immer dabei, sich mit Kai zu unterhalten. Überrascht sah Kai auf die Uhr. "Meine Güte, ich hab dich mit meinem Stress viel zu lang aufgehalten. Dann hoppel mal nach Hause, Bambi."

Er stand vom Tisch auf und streckte sich müde, dann ging er zu Jan in den Flur nach vorn. "Hey, Jan! Ich hab noch nichts richtiges gegessen, wollen wir uns Pizza bestellen oder so?"

Jan grinste breit und schob Kai gegen den Dielenschrank zurück, um sich an ihn zu tapezieren und ihn abzuknutschen. "Hm... Gute Idee." Jan schob sein Gesicht gegen Kais Hals und fuhr ihm mit den Fingern in die Haare. Kai erschauderte und schob ihn ein wenig von sich, um ihn einmal richtig küssen zu können.

Bardo tauchte neben ihnen auf und zog sich seine Schuhe an. Natürlich mal wieder rot im Gesicht.

Jan ließ Kai entkommen und begann, seine Tasche auszuräumen. "Bardo, noch hier? Willst du mitessen?"

Aber das Bambi schüttelte den Kopf. Dann überraschte er Kai, indem er sich zu ihm beugte, seine Schulter kurz drückte und leise sagte "Das wird schon wieder, Kai."

Kai blinzelte, dann nickte er und winkte Bardo hinterher, der hastig durch den Flur verschwand. Jan lenkte ihn gleich darauf mit dummen Witzen über weibliche Figuren in der Sauna und Schamhaarfrisuren von seinen Gedanken ab.

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