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Die Osterfeueraktion

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Inhaltsverzeichnis

1

Nervös blickte Lauri von seinem Vokabelheft zu seiner Kopie für Raimund und nebenbei auf sein Müsli und zurück, während er sich bemühte, das Lernen in letzter Sekunde mit dem Essen zu vereinen. Seine Schwester Karen saß ihm amüsiert gegenüber. Anders als sie, die gemütlich eine Teetasse zum Mund führen, ein Buch dabei lesen und auch noch mit ihrer Haushälterin Maya labern konnte, schlabberte er fürchterlich herum. Immerhin hatte sie ihn an diesem Morgen mal wieder verdächtig lieb mit Kakao versorgt.

Karen kicherte mit einem Mal und legte das Buch weg. "Versuch es gar nicht erst, Brüderle. Du bist eben ein Mann und Multitasking ist funktionell nicht vorgesehen."

Lauri sah sich kurz nach der Haushälterin um, dann zeigte er ihr den Mittelfinger, weil Maya gerade am Kühlschrank zugange war. Bevor er sich dann jedoch noch mehr einschlabberte, stand er lieber auf, stürzte seinen Kakao noch herunter und stopfte das Vokabelheft in den Rucksack.

Karen erhob sich ebenfalls und zupfte ihre niedliche schwarze Strickjacke gerade. "Es regnet", stellte sie ein wenig angewidert fest. "Soll ich dich fahren, Lauri? Ich hab auch gleich einen Kurs." Sie hatte vor einer Weile nicht nur den Führerschein erworben sondern natürlich gleich auch das Auto dazu bekommen. Ihr Studium Zahnmedizin bedingte aber auch recht oft, dass sie sich früh in die Uni in der Stadt bemühen musste.  

Mit ihr zu fahren hatte was, vor allem bei Regenwetter. Lauri und sie hatten denselben Musikgeschmack und vertrugen sich supergut. Wenn seine Freundin vom Golfkurs, Elisa, sie zusammen erwischte, laberte sie ekstatisch eine Stunde über Klamotten mit Karen. Außerdem stand sein Kumpel Tim total auf Karen und gummerte sie immer endniedlich mit roten Ohren an, wenn sie ihren Bruder an der Schule absetzte. Aber Lauri hatte andere Pläne. "Nein. Ich fahr mit Raimund. Dem muss ich sowieso noch…"

"Bitte! Bitte sag jetzt nicht, dass du diesem durchgeknallten…" sie sah sich nach der Haushälterin um, die gerade aus dem Raum gegangen war. "…Arsch schon wieder die Hausaufgaben gemacht hast!" Gereizt schob sie eine niedliche schwarzglitzernde Haarspange an ihrer Schläfe in die hellblonden Haare hoch.

Lauri blinzelte. "Das hab ich noch nie", log er ungerührt. "Nein. Ich muss ihm noch seinen MP3-Player zurückgeben." Eigentlich war es Lauris Player gewesen. Er hatte Raimund den vor kurzem erst geschenkt. Denn anders als Lauri und Karen, deren Eltern dank ihrer Praxen als Zahnärztin und Kieferorthopäde im Geld herumschwimmen konnten wie Dagobert, sollte sie das Verlangen danach überfallen, war Raimund arm.

Raimunds Mutter hatte sich von ihrem Mann nach eher unschöner, sehr kurzer Ehe getrennt. Der Typ war daraufhin erst in einer Arbeitslosigkeit versunken und dann ganz verschollen. Er war wohl gewalttätig gewesen, zumindest nicht der Typ Mann, mit dem eine Frau ihr Kind großziehen wollte. Raimunds Oma mütterlicherseits hatte ihre Tochter wegen Streitigkeiten bereits während ihrer Lehre aus dem Haus geworfen, die beiden sprachen nicht mehr miteinander. Die Großeltern väterlicherseits waren eher wie ihr Sohn.

Somit war Raimunds Mutter Judith eine gänzlich alleingelassene, alleinerziehende und komplett auf sich gestellte Chaotin. Sie war auf der Flucht vor ihrem Exmann in das Dorf gekommen, als Raimund etwa vier Jahre alt war. Ihr altersschwacher Wagen war vollgestopft gewesen mit ihren Habseligkeiten und irgendwelchen Tieren, die Judith auch noch durchfütterte. Samt diesem Chaos zogen sie dank irgendwelcher Beziehungen in das kleine Bahnwärterhäuschen an den alten Gleisen und begannen dort mehr zu hausen als zu wohnen.

Leider war Judith die vollkommene Fehlbesetzung als Mutter. Sie war weich, hochgradig unorganisiert und zerstreut. Über ihre Entscheidung, sich die Haare zu färben, konnte sie durchaus einmal vergessen, ihren Sohn vom Kindergarten abzuholen. Sie konnte zu nichts und niemandem 'Nein' sagen, was ihr eine unsägliche Anzahl merkwürdiger Haustiere einbrachte. Zugleich hatte sie einen Hang, sich Männer aufzuhalsen, die sie nach Strich und Faden ausnutzten, und das alles zusammen ließ ihr nicht sonderlich viel Zeit für ihren Sohn.

Hatte ein Mann Judith einmal wieder ausgenutzt, sah sie nach sehr ermüdenden Gesprächen mit Maya und anderen irgendwann ein, was für eine Niete sie da gezogen hatte und beendete die Angelegenheit. Aber noch nie war sie nachtragend gewesen, wenn sie einmal jemand ausgenutzt hatte.

Ihr Sohn Raimund war weniger verzeihend. Wenn er mitbekam, dass ein Kerl seine Mutter ausnutzte, dann rächte er sich, durchaus auf kreative Art und Weise. Dafür war er berüchtigt und nicht selten zog er seinen Freund Lauri mit in diese hirnrissigen Pläne und Aktionen hinein.

Raimund und Lauri waren, seit er samt seiner Mutter im Dorf aufgetaucht war, im gleichen Kindergarten gewesen, in der gleichen Gruppe. In stummer Übereinkunft mit ihrer ethischen Vorstellung hatte die Haushälterin Maya das Regiment nicht nur über Lauri und Karen, sondern auch über den wilden Raimund übernommen.

Und wild war Raimund wirklich. Als Judith sich damals in gut dem sechsten Monat nicht einfach nur ein paar Kilos schwerer sondern tatsächlich und überraschend schwanger gefunden hatte, da hatte sie sich sehr romantisch einen Sohn gewünscht, der Raimund heißen sollte. Er sollte stets engelhaft lächeln und mild und belesen und einfach nur wundervoll sein. Er sollte schwarze Locken haben wie sein Vater, den Judith gerade voller Romantik und übereilt geheiratet hatte. Entfallen war ihr leider der unglückliche Flirt mit dem rothaarigen Bäckereiwagenfahrer einige Monate davor.

Bekommen hatte sie tatsächlich einen Sohn. Einen Raimund, denn den Namen hatte sie durchgesetzt. Aber damit endeten die Übereinstimmungen zwischen Traum und Wirklichkeit. Raimund war rothaarig wie der unselige Bäcker, von Geburt an und es wurde stetig schlimmer. Das führte zu dem Eklat mit ihrem aktuellen Mann, der nicht rechnen konnte und somit nicht darauf kam, dass er erst nach der Zeugung mit Judith zusammen war. Es brachte ihr ein blaues Auge ein, eine gebrochene Rippe und das neue Leben im Dorf. Eigentlich ein Glücksgriff für Judith und es war der Glücksgriff für Raimund. Leider war er nicht nur rothaarig, auch sonst passte Raimund nicht zu den Vorstellungen seiner Mutter. Er war nie mild, lächelte selten, las nicht gern und er war ungefähr so wundervoll wie eine Wurzelbehandlung. Raimund war die Sorte Sohn, die als Werbung für Kontrazeptiva sehr gut taugen mochte.

Natürlich lag dies zu weiten Teilen daran, dass Judith ihn gar nicht erzog, nur verwirrt blinzelte, wenn mal wieder ein Nachbar, der Bauer von gegenüber, die Mutter eines Kindes, mit dem Raimund sich geprügelt hatte, der Bäcker, wo er was geklaut hatte oder Lauris Eltern, wo er was kaputt gemacht hatte, mit ihr redeten und ihr strenge Vorträge hielten.

Nur zwei Personen hatten Raimund vollkommen im Griff. Einmal war das Maya mit ihrer energischen Art und der Möglichkeit, ihn mit Essen zu bestechen oder dem Entzug des Tischrechtes in ihrer Küche zu bestrafen. Zum anderen war das Lauri. Ein Blick aus Lauris braunen Kulleraugen brachte Raimund sofort dazu, nervös zu fragen, ob etwas nicht in Ordnung sei. Rollten auch noch Tränen bei Lauri, war Raimund bereit, die Welt zu verprügeln, um alles wieder gut zu machen.

Raimunds Mutter war von der ungewollten aber bitter nötigen Hilfe durch Maya verwirrt gewesen, aber war brav arbeiten gegangen, hatte sich um ihre Viecher und Männer gekümmert und hatte ihren Sohn über die vielen Sorgen um Geld und andere Kleinigkeiten sicherlich auch gern einmal vergessen. Als Verkäuferin in einem Buchladen zwei Orte weiter war sie ebenso konfus wie beliebt bei den Kunden. Immerhin hatte sie die einzigartige Gabe, sich zu jedem so ziemlich alle Bücher zu merken, die dieser jemals gekauft hatte. Somit war sie eine gute Wahl, wenn jemand in der Gegend ein Geburtstagsgeschenk brauchte.

Raimund war also dank der energischen Maya, dank Lauris Begeisterung für diesen wilden Freund und dank Lauris entspannten, uninformierten Eltern nach dem Kindergarten und nach der Grundschule nicht selten auf magische Art bei Lauri am Esstisch und für die Hausaufgaben aufgetaucht. Ins Gymnasium hatte Raimund es nur geschafft, weil Lauri ihm die Hausaufgaben machte, ihm in Arbeiten vorsagte, ihm dauernd in den Hintern trat und generell dafür sorgte, dass sein Freund nicht hinterher hinkte.

Raimund hatte dafür gesorgt, dass der etwas zu mollig geratene Lauri mit der dicken Brille nicht gehänselt wurde, ohne dass es was auf die Nase gab, dass er nicht geärgert wurde, als er eine Schielaugenklappe tragen musste, weil es dann auch von Raimund auf die Nase gab. Dass er später wegen der ausladenden Zahnspange, die er dank Papa tragen musste, nicht gehänselt wurde, weil es sonst von Raimund so richtig was auf die Nase gab und dass niemand es wagte, ihn beim Sportunterricht zu ärgern, wenn er wieder mal als letzter ins Ziel gestolpert kam, weil es auch dann tierisch einen auf die Nase gab.

So gestaltete sich ihre Kindheit in einer steten Symbiose des Wohlbefindens und der Sicherheit miteinander. Lauri beschützte Raimund vor dem Chaos daheim und dem Sitzenbleiben in der Schule. Raimund beschützte Lauris kindliche seelische Unversehrtheit und verwöhnte ihn fast noch mehr als die eigenen Eltern und die große Schwester.

Raimund selber kümmerte sich, da Maya sein leibliches Wohl und Lauri sein geistiges managten, dann natürlich gern um seine Interessen. Er spielte zwei Mal in der Woche Handball im Team. Er war dermaßen aggressiv, dass er dort wahnsinnig gut war. Er spielte sehr viel auf einer alten Gitarre, die ihm Judith vermacht hatte und er jobbte nahezu jeden Abend in einer Kneipe an der Bar, wo er auch gelegentlich auf der Gitarre für Live-Musik sorgte. Das meiste Geld verbrauchte Judith für irgendwelche Tiere, deren Futter oder Tierarztrechnungen. Da war Raimund sehr loyal zu seiner Mutter und gab ihr das notwendige Geld auch gern ab. Da Judith zu konfus war, um zu merken, dass ihre in einem Einweckglas gesammelten Ersparnisse längst hätten aufgebraucht sein müssen, bekam sie es vordergründig auch nicht mit. Außerdem investierte er sein Geld in einen Roller, weil er im Alter von Fünfzehn keinen Bock auf Schulbus oder Fahrrad mehr hatte.

Sein wilder roter Schopf, ganz der mysteriöse Vater, leuchtete Lauri nun auch entgegen, weil Raimund sich den Helm vom Kopf gezerrt hatte. Auch das war typisch für ihn. Er warf Lauri den Helm zu und der setzte ihn auf, genoss, dass Raimund sich so um ihn sorgte, auch wenn der es hinter der Ausrede, dass er dann der coole sei, der ohne Helm fahren würde, ganz gut versteckte.

Raimund lachte Lauri entgegen, der grummelig vom Montagsgefühl in seinen Knochen zu ihm auf den Roller stieg, nachdem er seinen Rucksack zurechtgerückt hatte. Raimunds Tasche war in der Gepäckkiste hinten verschwunden, so konnte Lauri sich perfekt an ihn lehnen. Bevor Karen aus dem Haus treten konnte, um blöde Sprüche zu ihrer mangelhaften Motorisierung zu machen, sauste der Roller los und den Berg rauf aus dem Dorf.

Die Schule war nicht weit, die Strecke konnte man locker mit dem Fahrrad schaffen, aber Lauri hätte das nie gegen die Chance getauscht, sich an den kräftigen Rücken heranschmiegen zu können, während Raimund ihm bereits die wilden Pläne des Tages über die Schulter zurief, oder ihn nach vielleicht verpassten Hausaufgaben fragte.

Vor der Schule kettete Raimund seinen Roller an, dann händigte Lauri ihm die Vokabelliste aus. "Das ist die Liste von gestern, hier die von letzter Woche. Die Vokabeln, die statistisch gesehen dran sein werden, hab ich mit einem Punkt markiert. Sieh zu, dass du den Spickzettel nicht wieder in der Federmappe hast, Rai, da schaut der Schulz heute sicherlich als erstes nach."

Raimund brummte einen kleinen Dank und wuschelte sich den Regen aus den Haaren, dann kam seine neuste Hirnrissidee zur Sprache. Während sie ihren Freunden aus der Klasse zuwinkten, verkündete er: "Samstag ist Osterfeuer. Freitagnacht tun wir es. Es soll zwar regnen, aber wird schon werden. Der neue Macker von Judith will mit ihr zelten gehen und starrt alle fünf Minuten auf den Wetterbericht. Die sind aus dem Weg. Deine Millionärseltern fliegen wieder weg, oder?"

"Hm, tun sie. Zelten? Ist das nicht saukalt?"

"Sicher, der will sie doch sowieso nur aus dem Haus haben, von mir weg. Sie hat so eine Familienattacke gehabt neulich, wollte was mit mir machen, keine Ahnung, was das soll. Treibt er ihr schon wieder aus." Raimund schob den Träger seiner olivgrünen Tasche voller bunter Aufnäher etwas höher auf die Schulter. "Bist du dabei, Prinzessin?" Er grinste.

Lauri zog die Brauen zusammen. Da hatte er einmal in der Grundschule dank seiner blonden, damals viel zu langen Haare den Job der bescheuerten Prinzessin in einem Weihnachtsstück aufs Auge gedrückt bekommen, weil die eigentliche Prinzessin vor Furcht oder vielleicht auch dank Virus die Kotzerei gehabt hatte, und schon war der Schaden geschehen. Er war monatelang nur noch die Prinzessin für die Klasse gewesen. Es war der einzige Fall, bei dem Raimund mitgemacht hatte und niemand was auf die Nase bekam.

Irgendwann hatte Lauri sich die Haare mit dem Langhaarschneider seines Vaters abrasiert, was ihm eine Zeit mit sehr dicken Mützen eingebracht hatte und ganz offiziell zu seinem runden Gesicht auch einfach nur scheiße aussah. Die anderen Kinder hatten das Ding mit der Prinzessin dann vergessen, erinnerten sich nur noch höchst selten daran, aber Raimund hatte es sich angewöhnt. Lauri kam von der Nummer nicht mehr los. Seitdem nannte Raimund ihn Prinzessin. Aber er tat es auf eine liebe, fast zärtliche Art. Als sei der Ausdruck ein Kosewort für ihn. Zum Glück, oder vielleicht deswegen, tat er es nur, wenn sie unter sich waren. Dennoch, Strafe musste sein. Lauri boxte ihn kurz mit dem Ellenbogen. "Arsch. Mal sehen. Vielleicht flieg ich doch mit meinen Eltern nach Zypern."

"Zypern diesmal? Aha. Ich mach das auch ohne dich. Bauer Franz war dieses Mal mit dem Trecker da und der lässt immer die Schlüssel stecken an der alten Rübe. Mit dem schaffe ich das auch allein." Energisch reckte Raimund sein nur mangelhaft rasiertes Kinn.

Lauri seufzte und kramte geschäftig an seinem Rucksack. "Mal sehen. Ich sag dir Mittwoch, was ich mache." Er ließ Raimund gern mal zappeln, genoss, dass es seinem Freund eben nicht so egal war, wie der tat. Aber im Grunde war doch klar, dass Zypern auf keinen Fall gegen eine Hirnrissidee seines Freundes und Schwarms ankommen konnte. Außerdem wollte er die Osterferien und die Abwesenheit seiner Erzeuger für den Plan nutzen. Es musste sein, so sehr er Angst davor hatte. Seufzend fragte Lauri sich, wie er Raimund von seinen Gefühlen berichten sollte. Er hatte unheimlich Angst, dass er zum ersten Mal in seinem Leben selber was auf die Nase bekommen würde von seinem besten Freund und Bruder.

Sie trennten sich vor der Schule, Raimund musste in letzter Sekunde die Vokabeln in sein Hirn einbrennen und Lauri trat zu seinen Freunden, um sich über den neusten Klatsch und die anstehenden Osterpläne zu informieren. Er blendete das Gequatsche aus und dachte an seinen eigenen Plan. Er musste es tun, bald. Ostern war perfekt, die Alten waren fort, Karen hatte mit ihrer besten Kicherfreundin zu tun, die wohl übernachten sollte, und er und Rai würden in einer Nacht- und Nebelaktion den Trecker vom Bauer Franz klauen, um beim Osterfeuer die Äste auseinanderzuzerren.

Es war, laut Raimund, ein Skandal, dass viele Tiere in diesen Osterfeuern sterben mussten, weil die Menschen zu faul waren, vor dem Verbrennen noch einmal unter den Sträuchern und Baumresten nachzusehen. So war er in diesem Jahr fest entschlossen, ihr Osterfeuer als Todesfalle untauglich zu machen und die Hasen und Igel und Mäuse daraus zu befreien, bevor am nächsten Abend dank der Nässe mit Hilfe von Benzin alles verbrannt werden sollte.

Die Aktion war meschugge hoch zehn und typisch Raimund. Er hatte in der Schule in einem Jahr alle Angelsachen geklaut, weil er es skandalös fand, dass die Fische so leiden mussten, nur weil ein Lehrer eine Angelgruppe gründen wollte. In einer Nacht- und Nebelaktion hatten sie im Jahr darauf alle Forellen aus dem Zuchtteich in den großen See gebracht. Noch Wochen später war die Polizei am rätseln, wer der Dieb gewesen sei. Sie kamen nicht drauf, dass es Teenager mit einem Roller mit kleinem Anhänger und drei Eimern Wasser gewesen sein konnten.

Raimund hatte ein riesen Plakat aufgestellt mit dem Hinweis darauf, dass der eine Bauer seine Tiere mit Antibiotika vollstopfte, als er das einmal mitbekommen hatte. Raimund war hochgradig aktiv was solche Dinge anging und daher auch sehr anstrengend, aber Lauri mochte das an ihm. Er hatte die Hoffnung, dass gerade Raimunds Art, so aktiv zu sein, so für den Schutz von Schwachen, ihn selber die Aussprache in eigener Angelegenheit überleben lassen würde, vielleicht gar mit unversehrter Nase.

Der Unterricht, der Vokabeltest samt einer Spickersuche vom Lehrer Schulz in Raimunds Federmappe und die Pausen zogen eher unbeachtet an Lauri vorbei. Er dachte über die Worte nach, mit denen er sich erklären wollte. Es war nämlich so. Raimund war wie ein Bruder für ihn gewesen, all die Jahre, und auch sein bester Freund. Er war sein Kumpel gewesen, sein Schüler, dem er so vieles beigebracht hatte und zugleich ein Lehrer, von dem er die wichtigen Dinge im Leben gelernt hatte. Seit dem letzten Sommer war Raimund aber noch etwas neues geworden für Lauri. Etwas, das ihm Angst machte. Die erste Liebe, vielleicht die einzige, da war er noch unentschlossen. Fakt war, derzeit war Rai seine einzige Liebe.

Seit dem letzten Sommer war Lauri in Raimund verknallt, und zwar so richtig. Es war schrecklich schmerzhaft, wie in den besten Depri-Liedern besungen. Es war wunderschön. Es war ein wildes Gefühl, das frei sein wollte, es aber nicht durfte. Erschrocken hatte Lauri dieses Gefühl eingesperrt und versteckt.

Er hatte Stunden im Internet zugebracht und sich informiert. Es war durchaus okay, wenn er in Raimund verknallt war. So hieß es dort. Gesellschaftlich gesehen konnte es hier und dort schwierig werden, aber schwierig war Raimunds zweiter Vorname, das war Lauri sowieso schon klar gewesen. Aber war es für ihn selber wirklich okay? Irgendwie freute Lauri sich über diese schönen Gefühle und zugleich betrachtete er sie mit Sorge.

Sein Leben war bislang eigentlich nicht leidenschaftlich oder aufregend gewesen. So richtig gewünscht hatte er sich das nicht. Er mochte die Ruhe und Gleichmäßigkeit seines Lebens. Er lebte es gern in Frieden und war nicht wild aktiv wie Raimund. Der Gedanke an eine wilde Aktion im eigenen Sinne machte Lauri eher Angst. Aber seine Gefühle wurden nicht besser, nur immer deutlicher, immer lauter. Er hatte sich deswegen durch den letzten Sommer gequält, in dem Raimund durch das viele Handballspielen, durch Beachvolleyball am Badesee und durch seinen Job als Erntehelfer einen ziemlich scharfen Körper bekommen hatte. Lauri war das natürlich stillschweigend aufgefallen, aber seine Schwester Karen hatte es verbal zum Ausdruck gebracht. Sie hatte am Badesee einen anerkennenden Blick auf Raimunds nahezu nackte Gestalt geworfen und dann ihrer Freundin Rebekka kundgetan "Die rote Pestfliege kann sich so langsam richtig sehen lassen."

Rebekka hatte fachmännisch hinzugefügt "Bei den Haaren ein Wunder, dass er so braun wird und nicht als Hummer hier rumläuft."

Lauri war ihren Blicken gefolgt und hatte diese nicht ausreichend versteckt wie es schien. Im Folgenden musste er sich von den beiden Mädels wegen seiner angeblichen Eifersucht auf Raimunds Muskeln ärgern lassen. Das stimmte überhaupt nicht. Lauri war nicht muskulös oder auch nur sportlich aussehend, aber er hatte die totale Pummeligkeit aus seinen Kindertagen schon ein Stück hinter sich gelassen, auch wenn er nie schlank oder trainiert aussehen würde.

Er spielte ziemlich gut Golf und es machte ihm Spaß. Daher spielte er sehr oft Golf, was ihn auch gegen den eigenen Willen etwas fit werden ließ, und er hatte durch das Segeln eine gute Bräune und sehr hellblonde Haare bekommen. Eigentlich war er mit sich zufrieden. Er war schon immer Realist gewesen und mehr war realistisch für ihn einfach nicht drin. Er hatte keinen dicken Bauch oder Po mehr, das war doch was. Sein Gesicht war noch immer weich und rund, aber er hatte keine derben Hautprobleme bekommen, so wie der Sohn der Nachbarn, der sich nun zweimal in der Woche zu einer Therapie quälte. Er hatte kaum Bart, der rasiert werden wollte und er hatte seine braunen Kulleraugen, mit denen er bei den Mädchen im Golfverein und bei der Englischlehrerin immer wieder durchkam wie auch bei ihrer Haushälterin Maya, genauso bei den Eltern.

Nein. In diesem Sommer war Lauri mit seinem Aussehen soweit schon ganz zufrieden. Seine Psyche machte ihm Sorgen. Da konnte das Internet noch so motivierend posaunen, dass es okay sei, seinem besten Freund zu gestehen, dass man in ihn verschossen war. Das waren im Internet sicherlich beste Freunde, die nicht Raimund waren, sonst wären die nicht so fröhlich dabei gewesen. Und so war Lauri, ganz heimlich, ganz still und nur für sich bis zum Platzen und innerlich wild verliebt in seinen Freund.

Aber es passte, dass dieses Gefühl sich auf Raimund richtete. Lauri hatte in seinem Leben noch nie etwas wildes getan, das nicht mit Raimund zu tun hatte. Allein war er brav, lieb, lahm, langweilig. Er machte die Schule so gut er konnte, und das war ziemlich gut. Er segelte im Sommer immer in der Segelschule mit und er trabte mit seinem Vater und seiner Mutter zweimal in der Woche über den Golfplatz. Mittwochs und freitags, wenn sie ihre Praxen früher schlossen. Auf dem Golfplatz redete er immer ganz lieb und nett mit den anderen Kindern der reichen Leute, die sich dort auch so tummelten.

Er redete sogar total lieb und nett mit Elisa aus der Parallelklasse. Die war der Schwarm für ihn, aus Sicht seiner Schwester und Eltern. Elisas Eltern waren beides Ärzte mit Praxis, somit tauchte sie mit ihren Eltern mittwochs und freitags auf dem Golfplatz auf. Sobald Elisa auftauchte, musste Lauri sich zu ihr stellen und nett zu ihr sein. Das fiel ihm nicht schwer, sie war ein total nettes Mädchen und ziemlich hübsch, aber mehr eben nicht. Wild fühlte Lauri sich bei Elisa in keinster Weise.

Und auch an diesem Tag trabte Lauri brav zu den Fahrradständern mit durch, wo die anderen aus der Clique noch abhingen. Er lächelte Elisa zu, die mittlerweile sogar was von ihm wollte, er versprach ihrer besten Freundin Fiona, dass er zu Elisas Geburtstagsfeier kommen würde, und er sagte zu, dass er mit seinem Schulfreund Tim am Wochenende nach Ostern zum Segeln fahren würde, wenn das Wetter sich hielt.

Das Gespräch mit Elisa, die Lauri nach seinen Osterplänen fragte, wurde ungeduldig durch Raimunds quäkende Hupe unterbrochen. "Mach schon!"

Lauri blinzelte zu Raimund rüber und verabschiedete sich hastig von Elisa, der er im Fortlaufen noch zurief "Ich bin vermutlich gar nicht da. Zypern oder so steht an!"

Als er von Raimund den Helm entgegen nahm, sagte er wegen der Hetze etwas tadelnd "Was ist denn los? Heute ist Montag, du hast weder Sport noch musst du zur Arbeit, oder?"

Raimund sah ihn kurz an, dann senkte er den Kopf. "Ich will hier nicht rumfrieren und auf den nächsten Regen warten."

"Naja. Wir essen heute Fisch, kommst du trotzdem?" Aktivist wie er war, lebte Raimund seit einer Weile vegetarisch und mochte nicht mal zum Essen vorbei kommen, wenn es Fisch oder Fleisch gab. Lauri wünschte sich deswegen so oft er konnte Pfannkuchen oder Milchreis oder Gemüseauflauf von Maya.

Heute schien Raimund milder gestimmt, oder er wollte etwas von Lauri, denn er nickte knapp. "Ich will auch nicht nach Hause, Judiths neuster Katastrophenfall ist bestimmt noch da", erklärte er sich dann.

"Ihr Neuer arbeitet auch nicht?" Typisch für Judiths Kerle war die Arbeitslosigkeit.

"Doch, Friseur, die haben montags zu. Ist trotzdem so eine Nulpe. Der ist viel zu alt für sie. Außerdem hat er ihr die Haare voll verschnitten."

Seufzend zog Lauri den Riemen am Helm fest und wurde von Raimunds rauen Fingern überrascht, die eine seiner schon wieder zu lang gewordenen Haarsträhnen darunter hervorzupften. Raimund blickte ihn einen Moment lang noch an, dann lächelte er entschuldigend. "Hey, tut mir leid wegen deinem Flirt mit Elisa, Prinzessin. Ich mach das wieder gut, ja?"

"Ich flirte nicht mit ihr", entrüstete sich Lauri programmgemäß umgehend. Verärgert versuchte er seine heißen Ohren zu ignorieren und verschränkte die Arme, weil Raimund ihn schon wieder auslachte. Das waren die Sachen, die das Schweigen so schwer machten für Lauri. Raimund war derb, wild und eigentlich nie lieb, nur zu ihm. Bei Lauri war Raimund sachte, zart, sogar zärtlich. Aber was bedeutete das?

Was bedeuteten diese Blicke in die Augen, die Berührungen, mal den Handrücken, mal die Haare? Raimund war sonst so freiheraus, wieso berührte er Lauri, lächelte ihn so niedlich lieb an und sagte aber sonst nichts? Es musste doch heißen, dass er einfach nichts von Lauri wollte, außer eben sein Bruder und Beschützer sein. Zum Glück fuhr Raimund dann aber zügig los und brachte dieses peinliche Thema nicht mehr auf.

Sie aßen gemeinsam mit Maya zu Mittag und Raimund ließ sich von Maya dann einen neuen Aufnäher auf seine schon von den bunten Teilen überzogene Tasche nähen. Dieses Mal war es ein Aufnäher mit zwei Figuren im Zylinderhut, die sich an den Händen hielten. Ein wenig wie die Figuren an Klotüren stilisiert. Erstaunt blickte Lauri von seinem Laptop hoch, wo er das Zeichen im Internet nachgesehen hatte. "Raimund, weißt du überhaupt noch, wofür all diese Zeichen stehen?" Er betrachtete das bunte Durcheinander. "Das, was Maya dir da aufnäht, ist für gleichgeschlechtliche Ehe, oder?"

Maya blickte die Symbole forschend an, dann meinte sie kritisch. "Raimund, dann hätte ich es vielleicht neben das andere von neulich nähen müssen, was?" Und als sie darauf tippte, wurde Lauris Mund trocken. Es war ein Lambdazeichen vor Regenbogenhintergrund. Und bevor er es hätte verhindern können, fragte sein Mund schon "Rai, bist du schwul mit einem Mal?" Hoffnung machte ihm Schwindel und Herzrasen.

Raimund grinste ihn an. "Judiths letzter Reinfall in Männersachen war doch dieser total witzige Typ. Der Karsten. Er ist bei der Polizei, Grenzschutz oder so. Er war fit, unkompliziert und nett. Sie hat ihn im Kaktus aufgerissen, als sie mich abholen gekommen war. Und was soll ich sagen? Der Karsten hatte ihr nicht die Möbel und Wertsachen gestohlen, sie nett ausgeführt und sogar bezahlt, er hat nicht seine Wäsche von ihr waschen lassen oder ihr irgendwelche kranken Hunde aufgeschwatzt. Er hat ihr geholfen, als der Zaun neulich mal wieder umgefallen ist. Er war nicht impotent wie der Macker vom letzten Jahr, soviel hab ich hören können…"

Maya hüstelte leise und Raimund grinste entschuldigend, aber fuhr fort. "… er hatte nicht tausend komische Krankheiten und er hatte auch nicht tausend uneheliche Kinder, die jedes Wochenende mit durchgefüttert werden mussten. Da musste ja ein Haken sein. Tja, neulich hat Judith mir gestanden, dass er wohl zweigleisig gefahren war. Er war nicht nur mit ihr zusammen, sondern auch mit einem Mann. Sie hatte eine Verabredung verschusselt und war, typisch Judith, am nächsten Morgen spontan hin, um sich zu entschuldigen. Da hat sie die zwei wohl im Bett überrascht. Total klassisch. Typisch Judith hat sie denen dann erst mal einen Kaffee gekocht und sich die Geschichte angehört. Karsten traut sich nicht, sich tatsächlich zu outen und dachte, dass sie nett ist, ihm keinen Ärger macht, nicht heiraten will und er sie daher neben seinem Liebhaber so als Alibi haben kann. Tja. Typisch Judith mal wieder."

Lauri ließ den Mund offen stehen und blickte zu Maya, die mit konzentriertem Blick die Nadel durch den dicken Stoff der Tasche schob und so tat, als sei sie nicht Teil der Unterhaltung. "Wie macht Judith das immer? Die hat echt einen Peilsender für total vermurkste Männer, oder?"

Raimund hob die Schultern. "Er meinte, dass er sie echt gern haben würde. Glaub ich ihm auch. Nur gern haben und lieben, das sind zwei Paar Schuhe, oder? Erst wollten sie es ja sogar zu dritt versuchen, aber das war ihr zu kompliziert, kennst Judith ja. Und jetzt treffe ich Karsten mal wieder im Kaktus und der hat mich gefragt, ob ich bei so einer Unterschriftenaktion mitmache. In Deutschland dürfen schwule Paare nicht heiraten. Das wusste ich gar nicht! Unser Land ist total hinter dem Mond! Das ist total mies. In Spanien dürfen Schwule heiraten, dabei sind die dort doch katholisch! Geil, oder?"

Maya machte ein erneutes Hüstelgeräusch und schnitt den letzten Faden ab. "Fertig. Das Wort höre ich nicht wieder an meinem Esstisch", sagte sie dann mit strengem Blick über ihre rahmenlose Brille. Dann erhob sie sich und murrte ihren Rücken streckend. "Lauri, du hast deine Wäsche nicht runter gebracht. Ich habe Ostern frei, du musst anziehen, was sauber ist."

"Er kann sonst ja auch mal selber waschen, Maya." Raimund sprang auf und knutschte sie auf die Wange. "Danke!"

Lauri blickte auf die farbenfrohen Aufnäher und konnte sich nicht wehren. Sein Herz klopfte. Jetzt war seine Chance, oder? Jetzt musste er es Raimund sagen. Karen war nicht da. Maya warf sich gerade ihre hässliche Übergangsjacke über und winkte ihnen zu und Rai und er saßen so dicht beieinander.

"Hey, Rai?" Mit zitternden Fingern nestelte Lauri am geschmackvollen Osterkörbchen auf ihrem Tisch.

Raimund warf seine Tasche auf den Boden und sagte "Nun aber mal raus mit der Sprache, Lauri!"

"Wie?" Ängstlich hob Lauri den Blick und wurde schon wieder von Raimunds Fingern überrascht, die ihm die Haare zur Seite zupften. "Prinzessin, deine Haare sind echt lang geworden, bald nenn ich dich Rapunzel."

"Arsch! Womit raus?"

"Bist du in Elisa verschossen?"

"Was? Wieso das denn? Auf keinen Fall!"

"Na, du bist so abwesend in letzter Zeit. Immer so am träumen. Eben auch. Ich laber und laber und du starrst so vor dich hin. Ich durfte dich sogar Prinzessin nennen. Langweile ich dich?" Es klang mit einem Mal gedrängt, ernst.

"Nein! Nein! Ich bin nur… müde, Rai. Ich steh nicht auf Elisa, echt nicht." Er war so abgelenkt, weil er nur Raimunds Stimme hören brauchte, um in eine Traumwelt zu driften. Es wurde nicht besser, eher schlimmer.

"Willst du auch unterschreiben für diese Ehegeschichte?"

"Hm. Unbedingt. Das ist echt unfair, finde ich auch."

"Ich bring das nach den Ferien mit zur Schule, dann machen wir das mit allen. Wir machen eine Aktion draus. Kommst du Freitagnacht mit? Du kannst den Trecker fahren, du hast wenigstens mal etwas geübt. Ohne dich bekomm ich das nicht so gut hin." Raimund sprang bereits auf.

"Natürlich. Ich ruf gleich mal meine Eltern an, dass sie allein nach Zypern fliegen sollen. Hatte eh keinen Bock dorthin."

"Prima. Bis dann!"

"Stopp mal, stopp mal, Rai! Arbeitest du morgen?"

"Klar. Ich bin im Kaktus. Komm doch mit den anderen hin. Elisa kannste ja auch mitbringen."

"Will ich doch gar nicht. Nee, ich hab morgen Theaterabend mit den Eltern, ich komm Donnerstag, okay?"

Raimund brummelte sein Okay so vor sich hin, sodass Lauri ihm noch einmal in den Wirtschaftsraum folgte. "Rai, ich steh nicht auf Elisa, ehrlich nicht." Sie sahen sich kurz in die Augen und Raimund grinste schwach. "Na, ein Glück. Hatte schon Angst, dass ich dich an so eine Schnepfe verlier."

Gleich darauf saß Lauri allein an ihrem Esstisch und starrte auf das Ostergesteck. Die Gedanken in seinem Kopf wirbelten umher. Raimund war nicht gegen schwule Beziehungen. Natürlich nicht. Aber was würde passieren, wenn sein eigener bester Freund mit einem Mal wirklich selber zu dieser Gruppe gehörte? Würden sie sich nicht mehr ansehen können? Nicht mehr berühren? Angst machte Lauri Herzschlagen. Er wusste, dass er mit dieser Sache rausrücken musste, bevor es schrecklich wurde. Aber er wollte Raimund nicht verlieren.

Den restlichen Tag hing Lauri vollkommen dröge ab und war froh, dass sie nur noch zwei Tage Schule hatten, bevor die Ferien ihm eine Atempause brachten. Immerhin nur noch ein Jahr Schule, dann war er frei. Wobei das mal wieder relativ war. Karen studierte Zahnmedizin, ihr Freund studierte Zahnmedizin. Von Lauri wurde erwartet, dass er Zahnmedizin studierte. Ihm wurde komisch, wenn er das Geräusch der Bohrer hörte, der Geruch machte ihm das gleiche Unwohlsein wie allen normalen Menschen. Er wollte nicht Zahnarzt werden. Er wollte… seufzend warf er sich auf sein Bett und holte ein Bild von Raimund und ihm selber hervor. Sie hatten einander den Arm umgelegt und lachten in die Kamera. Er niedlich blond und eine Spur zu mollig, Raimund schlaksig und kräftig zugleich und mit seinen roten Leuchthaaren. Lauri wollte eigentlich nur mit Raimund zusammenbleiben. Wo und wie war fast egal.

Der Donnerstag vor Ostern kam schneller als Lauri lieb war. Damit kam seine nächste Verabredung mit Elisa. Sie war total lieb und nett. Er hatte sie echt gern, mochte ihren Humor, fand sie ziemlich hübsch mit ihren dunkelbraunen Haaren zu strahlend blauen Augen. Aber er fühlte keinerlei Herzschlagen, wenn sie ihm einen tiefen Blick aus diesen Himmelaugen zuwarf. Wie jetzt. Sie saßen einander gegenüber an einem Tisch im Kaktus, wo Raimund hinter der Theke arbeitete, um das Geld für ein Auto zusammen zu bekommen. Er war ja auch schon achtzehn. Ein Jahr älter als Lauri. Er war später zur Schule gekommen. Vordergründig, weil er noch so wild und unreif war. In Wirklichkeit hatten Maya und Judith es besser gefunden, wenn Lauri und Raimund zusammenblieben.

Raimund hatte Elisa und Lauri die Getränke gebracht und unterhielt sich jetzt mit einigen Schulfreunden, während er Gläser spülte. Elisa hatte Lauri an den Tisch bugsiert und sah ihm in die Augen. Irgendwie erwarteten jetzt alle, dass aus ihnen ein Paar wurde, oder? Nervös sah Lauri sich um, begegnete dem grinsenden Blick von ihrer Freundin Fiona und wünschte sich nun doch, dass seine Eltern ihm befohlen hätten, mit ihnen nach Zypern zu fliegen. So ein Mist. Jetzt saß er ziemlich in der Falle. Wäre er doch nur nicht hergekommen!

Elisa erzählte ihm etwas von einem neuen Kinofilm und er nickte, hatte den auch noch nicht gesehen, aber verpasste seinen Einsatz, sie ins Kino einzuladen, weil er Raimund beobachtete, der sich irgendwie ziemlich lang mit einem Mädchen unterhielt. Lauri sprang auf, obwohl Elisa mitten im Satz war. "Ich… muss mal eben… bin gleich zurück."

Die Musik war laut und so lehnte Raimund sich dichter, als Lauri ihn über den Tresen hinweg anstarrte.
"Rette mich."

Raimund blinzelte. "Bitte?"

"Rette mich. Elisa baggert mich an." Lauri sah beschwörend in Raimunds Augen und fand die viel hübscher als Elisas. Auch blau, aber auf eine fröhliche, helle Art. Nicht krass oder auffallend, aber irgendwie lockten sie den Blick hinein. Oder ging das immer nur ihm so?

Nicht nur Raimunds Augen wirkten fröhlich. Er selber lachte nun auch auf. "Na so was. Okay. Ich rette dich. Egal wie?"

"Möglichst wenig peinlich bitte."

Raimund blickte zur Uhr. "Gleich halb eins. Ich bin in einer Viertelstunde fertig. Ich rette dich dann, du hilfst mir aufräumen?"

"Abgemacht."

Eine gute Stunde später hockte Lauri ziemlich sauer auf Raimunds Roller und motzte, als sie bei ihm vor dem Haus ankamen "Das war ja wohl eine miese Nummer. Du Arsch! Musste das sein?!"

Raimund hatte ihn gerettet. Vor Elisa, die das nicht schlimm fand, eher lustig. Er hatte sich nach Schichtende zu ihnen an den Tisch gesetzt und vor Lauris Augen wie ein Teufel begonnen, Elisa anzubaggern. Mit dem vollen Programm. Das hatte Elisa etwas beschämt und Lauri komplett auf hundertachtzig gebracht.

"Was? Du willst sie nicht. Ich finde sie echt hübsch, soll ich da nicht etwas flirten dürfen? Das nächste Mal suchste dir dann aber echt einen Prinzen aus, der dich so rettet, wie es dir genehm ist."

Lauri seufzte einmal und gab Raimund den Helm zurück. "Nee. War okay so. Bis morgen dann. Holst du mich ab oder so?"

Raimund bockte den Roller auf. "Was? Judith hat ihren Kerl da. Ich penne heute hier", legte er fest.

Lauri blinzelte und sein Mund wurde trocken. Er ließ es sich nicht anmerken, sondern nickte nur dröge und ging zur Tür. "Mir recht. Maya hat frei. Du wirfst dein Bettzeug selber in die Maschine, klar?!"

Raimund kicherte nur hinter ihm rum und verkündete "Ich geh duschen. Legst du mir Bettzeug raus?" Er kramte sich ein T-Shirt aus der geräumigen Tasche und seine Zahnbürste. Typisch Raimund, auf alles vorbereitet.

"Ich muss auch duschen, also beeil dich gefälligst." Betont hoheitsvoll ging Lauri in sein Zimmer davon und klappte sein Sofa um. Er hörte die Dusche rauschen und wurde ganz wuselig von den Gedanken an einen nackten, nassen Raimund. Um sich davon abzulenken bezog er das Bett fertig und ging sofort mit seinen Schlafsachen ins Bad, als Raimund zu ihm kam.

Mechanisch duschte er, trocknete sich ab, cremte sich mit dem wahnsinnig teuren Zeug ein, das seine Mutter ihm mitgebracht hatte. Dann stellte er sich dem Zeremoniell des Zähneputzens. Als Sohn von Zahnärztin und Kieferorthopäden hatte er natürlich ein Traumgebiss, aber sie erwarteten auch, dass er sich passend damit verhielt.

Es war halb drei, als Lauri sich todmüde in sein Zimmer schlich. Nur seine Nachttischlampe brannte noch und im schwachen Schein blitzten Raimunds Augen schelmisch auf. "Warst du eifersüchtig, Lauri?"

Überrascht sah Lauri ihn an. "Auf wen?"

"Auf Elisa, weil ich so mit ihr geflirtet hab. Das war nur Spaß, weißt du doch."

"Also echt, Rai! So toll bist du doch auch wieder nicht."

"Autsch. Bin ich wohl. Aber das war süß, dass du so eifersüchtig warst."

Es war nur ein Flüstern und Lauri beschloss, dass der letzte Satz als nicht wirklich gesagt gelten sollte. Er rangelte sich unter seiner Decke zurecht und knipste das Licht aus. "Du, Rai?"

"Hm?"

"Hat der Karsten sich jetzt geoutet oder nicht?"

Raimund gähnte. "Nö. Traut sich nicht. Sein Freund findet das wohl okay."

"Traut sich nicht."

"Nö. Ob du das glaubst oder nicht. Ein gestandener Mann hat Schiss."

"Ich glaub das. Es ist nicht leicht."

Eine Weile lang war es still, dann sagte Raimund leise "Was ist schon leicht, Lauri? Ich glaube, dass es erleichtert, wenn man nicht immer lügen muss, wenn die Kollegen einem wieder mal eine nette, alleinstehende Frau andrehen wollen. Weswegen hat er denn sonst Judith angegraben, als Feigenblatt, genau deswegen. Judith meinte, dass sie das vielleicht mitgemacht hätte, diesen Dreier mit dem anderen, aber der Grund gefiel ihr nicht. Wenn der Grund gewesen wäre, dass Karsten sich nicht hätte entscheiden können, dass er beide liebt, dann hätte sie das gemacht, verstehst du? Aber sie wollte einen Dreier nicht mitmachen, wenn der Grund ist, dass Karsten ein Feigenblatt braucht und sie dafür nehmen will. Das fand sie nicht richtig."

"Das ist nicht richtig! Das ist ihr gegenüber absolut unfair, wie fühlt die sich denn dabei? Hat der nicht nachgedacht oder was?!"

"Er wollte sie nicht verletzen. Er hatte die Sache mit Judith am Tag vorher erst seinem Freund gestanden und wollte es ihr am nächsten Tag wohl sagen, aber so sind Judiths Männer eben… alles ein wenig bis komplett beknackte Idioten."

"Rai?"

"Hm? Mensch, Prinzessin, ich bin müde!"

"Ich war eifersüchtig." Lauris Herz pochte wild, als er das zugab.

Aber alles, was Raimund dazu sagte, war "Na, dann ist es ja gut. Schlaf endlich, ich hab morgen Training." Und damit war die Unterhaltung beendet.

2

Lauri wurde am anderen Morgen davon geweckt, dass jemand einen Becher auf seinen Nachttisch stellte. Im nächsten Moment ließ Raimund sich schwer neben ihm auf dem Bett nieder und stellte den Fernseher an. Ein Musiksender plärrte los und Lauri zog sich die Decke über den Kopf.

Scheiß Raimund, musste der so ein Morgenmensch sein? Er lugte unter der Decke hervor und angelte nach seinem Handy. Es war erst halb zehn. Verdammter Mist.

"Na? Ausgeschlafen?" Die Decke wurde von seinem Kopf gezogen, im nächsten Moment lachte Raimund fröhlich auf. "Du schaust ja geil aus, Lauri! Mit den Haaren kannst du sofort bei den Leningrad Cowboys anfangen!"

Grummelig schob Lauri sich an seinem Freund vorbei zum Badezimmer. Natürlich hatte er sich in der Nacht quer durch sein Bett gewühlt und wieder zurück. Seine Haare sahen aus wie nach einem mittleren Tsunami. Nach einer Bürst-, Zahnbürst- und Pinkelaktion war er Raimund soweit gewachsen, dass er sich in sein Bett zurück bemühte. Der Becher enthielt heiße Schokolade. Die teure, die sein Vater von einem Kongress aus Belgien mitgebracht hatte. Lecker. Etwas versöhnter schob Lauri die Füße unter die Decke und nippte von seinem Becher. "Was machst du heute?"

"Ich geh gleich mal bei Judith vorbei, wasche Wäsche und füttere die Viecher. Danach muss ich zu den Nachbarn rüber. Die sind im Urlaub und Judith hatte denen versprochen, dass sie die Fische füttert und so. Das hat sie sicher vergessen. Am Nachmittag bin ich zwei Stunden zum Training und dann komm ich her zum Abendbrot."

"Dann bestellen wir Pizza, okay?"

"Ich hol die auf dem Rückweg ab. Kommt die Hexe auch zu euch, oder ist Karen weg?"

Die Hexe war Karens Freundin Rebekka, die sich dermaßen aufgesetzt mit Okkultismus befasste, dass Raimund sie so getauft hatte. Sie duldete das, aber erlaubte sonst niemandem diesen respektlosen Titel.

Lauri trank seine Schokolade erst einmal weiter, dann fühlte er sich irgendwann stark genug für eine Antwort. "Die Hexe wird hier sein. Sie wollen das ausnutzen, dass die Eltern weg sind und hier Gift mischen und kiffen oder so. Ich hab den Auftrag bekommen, unsichtbar zu werden."

"Kiffen, hm?" Nicht uninteressiert blickte Raimund ihm in die Augen, dann grinste er und wischte an Lauris Mundwinkel entlang. "Süß. So, ich bin weg, wir sehen uns später. Ich lasse den Roller hier stehen, kannst damit rumheizen, wenn du magst."

Lauri starrte ihm nach. Raimund war schon immer so gewesen, jedenfalls schon seit einigen Jahren. Etwas zu nah dran, etwas zu intim. Bis zum letzten Sommer hatte es Lauri nie gestört. Er hatte sich mit diesem Zuviel an Nähe vollkommen wohl gefühlt. Die Unschuld bei solchen sanften Berührungen oder Umarmungen war ihm wirklich verloren gegangen. Jetzt war er nicht mehr gelöst und bei guter Laune, jetzt war er erregt und besorgt, und alles nur wegen ein paar Blicken, wegen dem leichten Streichen über seinen Mund.

Gereizt brachte Lauri den Tag irgendwie mit Telefonaten mit den Omas und Tanten und mit einem guten und recht ergiebigen Streit mit Karen hinter sich. Karen war so ziemlich der einzige Mensch, mit dem Lauri sich ernsthaft streiten konnte. Und das ging auch nur, wenn sie ihre Tage kriegte. Daran merkte er es dann auch. Und so endeten die meisten Streits dann auch. Lauri, der Karen blinzelnd ansah und unangenehm berührt fragte, ob sie okay sei. Karen, die ihn blinzelnd ansah und ihn anfauchte, dass sie jetzt sofort die Zartbitterschokolade holen würde und dann bis auf weiteres in ihrem Zimmer zu finden sei. Und Lauri, der sich bei ihr entschuldigte und ihr dann nach einer guten Stunde einen Kaffee und eine Wärmflasche ans Sofa brachte.

An diesem Nachmittag fetzten sie sich wegen Blödsinn, aber vordergründig nur. In Wirklichkeit ging es nicht darum, dass er ihren MP3-Player geliehen und noch nicht zurückgelegt hatte. In Wirklichkeit ging es um Raimund. Schon seit Ewigkeiten warf Karen ihm immer wieder vor, dass Raimund seine Chancen bei den Mädchen versauen würde, dass er ihn runterziehen würde. Aber da Karen weder richtig rausrücken wollte noch mit Argumenten dienen konnte, verlor sie diesen Streit. Sie verzog sich gereizt nach einer Keiferei wegen des MP3-Players in ihr Zimmer und Lauri sah sie erst wieder, als sie Rebekka herein ließ.

Lauri blickte den beiden hinterher. Rebekka hatte leider eine große Übernachtungstasche dabei. Sie passte mit ihren neuerdings rotgefärbten Haaren zu ihrer Okkultmacke. Seine Schwester, mit dem für die Familie typischen blonden Schopf, wirkte dagegen etwas deplatziert. Sie trugen beide identische enge Jeans, sahen beide identisch nicht besonders darin aus und waren beide bereits in irgendwelche geheimnisvollen Pläne vertieft. Schon seit Wochen murmelten sie pausenlos was von Zauber und Mondphasen und beäugten ihn mit kritischem Blick, als hätte er damit etwas zu schaffen.

Raimund kam als nächstes und lenkte Lauri von all dem ab. Er brachte Pizza mit und holte Bier aus dem Wirtschaftsraum. Sie aßen in Lauris Zimmer vor dem Fernseher und tranken sich mit Bier Mut an. Das war auch nötig. Der Trecker vom Franz stand an diesem Abend nämlich nicht hinter der alten Scheune, wo es keiner sehen würde, wenn sie damit los fuhren, sondern mitten auf dem Feld. Vermutlich wollte der Bauer am Morgen damit noch etwas Erde um das Osterfeuer aufschieben oder hatte ihn einfach aus Faulheit dort stehen lassen.

Das Osterfeuer war auf dem nahen Hügel aufgeschichtet, gleich neben einem kleinen Wäldchen mit einem dieser historischen Gräberhügel. Ein Hinweisschild brachte Urlauber gelegentlich dazu, sich dorthin zu verirren. Als Lauri seine Bedenken vorbrachte, winkte Raimund jedoch ab.

"Die Leute vom Gutshaus sind in den Urlaub gefahren. Die sind kein Problem. Und die einzigen anderen, die freie Sicht auf das Feld haben, sind die komischen Leute vom Eichenhof.

Nachdenklich schob Lauri Raimund seine Pizza zu und leerte das Bier. Der Resthof war über die letzten fünf Jahre, die er schon im Besitz der quasi unsichtbaren Leute gewesen war, so nach und nach umgebaut worden. Das Scheunentor war durch ein großes Fenster ersetzt, der verwilderte Garten umgearbeitet. Aber so richtig kannte niemand die Bewohner. Unter der Woche sah man gelegentlich eine ältere Frau dort im Garten hantieren. Die Wochenenden über tauchten Leute mal auf, mal stand das Haus auch schwarz und leer da. Es war auch nicht ganz klar, wer da wirklich wohnte. Immer wieder waren verschiedene Männer und Frauen dort zu sehen. Im Sommer vor allen Dingen, dann vermehrt an den Wochenenden. Sie badeten in dem großen See hinter dem Haus oder wanderten fröhlich schwatzend durch die Wälder in der Umgebung. Wer nun wirklich dort wohnte, war nicht sicher.

Im Dorf zerrissen sich die Tratschen das Maul, obgleich es nichts zu sehen gab, nur böse Vermutungen. "Im Eichenhof war vorhin Licht. Die sind da und machen bestimmt wieder so ein komisches Fest", gab Lauri zu bedenken.

Raimund sah das locker. "Die kennen sich im Dorf nicht aus, also wissen die nicht, was wir vorhaben und dass der Franz das sicherlich nicht wollte. Ich glaube, dass es denen piepegal ist, ob da wer mit dem Trecker rumgurkt oder nicht. Da denken die sich nix." Er stand auf und nahm die Bierflaschen mit. "Ich hol noch Bier, oder willst du was anderes?"

"Hm. Wir haben noch welches mit Schuss, die stehen hinten durch im Hauswirtschaftsraum im Kühlschrank."

Raimund beugte sich zu ihm herunter und verwirrte seine Gedanken, weil ihm die roten Haare schwer ins Gesicht fielen, er aber durch die Haargardine hindurch auf Lauri linste, während er die Pizzaschachteln aufhob. "Welches magst du denn? Das blaue oder das grüne Gift?"

Lauri lachte und teilte mit den Fingern die Haare, dann grinste er Raimund an. "Das grüne bitte, danke." In dem Moment klopfte es zweimal heftig an der Tür, bevor eine Mikrosekunde später auch schon Rebekka im Raum stand.

Lauri spürte, dass er rot wurde, Raimund richtete sich auf und starrte sie böse an. "Na, Hexe? Wo ist denn deine Kröte?"

Rebekka lachte künstlich und humorlos "Bist das nicht du? Ach… nein, du bist ja schon Lauris Kröte, ich vergaß." Sie trat kurz vor und riss Raimund einige Haare aus. "Danke, mehr wollte ich nicht." Sie drehte sich auf den Hacken um und stolzierte davon. Raimund und Lauri starrten ihr beide perplex hinterher.

"Aua! Was hat die denn für 'nen Auftrag?" Sauer rieb Raimund sich den Kopf.

Lauri grinste ihn an. "Hexe eben, die brauen dauernd Zaubertränke in letzter Zeit. Letzte Woche haben sie mir ein paar Haare ausgerissen. Da hab ich gesagt, dass sie bitte nächstes Mal welche aus der Bürste nehmen sollen."

Raimund blinzelte, dann zuckte er mit den Schultern. "Da können wir ja froh sein, dass die keine Spermaproben brauchen für was auch immer sie da zusammen kochen. Also ehrlich. Wenn ich gleich als Frosch wieder reingehüpft komme, Prinzessin, dann musst du mich küssen und erlösen, ja?"

Lauri lachte auf und nickte. Leider blieb Raimund natürlich in seiner gewohnten schlaksigen Gestalt, das Küssen musste vorerst ausfallen. Nach einigem nervösen Lauschen auf das Zimmer der Mädchen, in dem heftig gekichert wurde, schlichen sie sich aus dem Haus. Schon bald waren sie mit dunklen Jacken bekleidet und Taschenlampen sowie dank Lauris Eingebung mit Gartenhandschuhen bewaffnet auf dem Weg zum Osterfeuer.

Es war duster ringsum, die Straßenlaternen waren eben um Mitternacht alle ausgeschaltet. Nur weiter draußen, gleich am Feldrand, leuchteten ihnen die Lichter vom Eichenhof entgegen. Die komischen Leute waren wieder da, um eines ihrer Wochenendfeste zu veranstalten.

Schweigend stiefelte Lauri neben seinem Freund her, bis sie an das Feld kamen. Neben dem hoch aufgetürmten Haufen Astschnitt und einem Kontingent alter Tannenbäume stand der kleine Traktor vom Franz, die Schaufel gesenkt wie ein schlafendes Tier. Erschaudernd näherten sie sich dem Traktor und kletterten hinauf. Sie fanden den peinlich blöde versteckten Schlüssel und Lauri schob den gerade ins Zündschloss, als sie Stimmen hörten und zusammenzuckten.

Hastig ließ Raimund seine Taschenlampe verlöschen und duckte sich dichter an Lauri heran. "Da kommt wer", zischte er ihm dann ans Ohr. "Still."

Lauri hörte seinen Herzschlag dröhnen. Ihre Köpfe berührten sich, Raimund hatte ihm einen Arm um die Schultern gelegt. Es war schrecklich, so dicht zu sein und doch nicht dicht genug. Vorsichtig drehte Lauri sein Gesicht ein wenig, um auf Raimunds angespannte Miene zu blicken. Der sah mit schmalen Augen zum Feldweg hinüber und merkte nichts. Lauri lächelte und ließ ihre Gesichter noch etwas mehr zusammen driften. Er wollte gerade von der Nähe überfordert die Augen schließen, als Raimunds Finger sich einmal warnend in seinen Oberarm gruben.

Tatsächlich, da kam jemand. Zwei Männer, den Stimmen nach. Sie schimpften aufeinander ein und zischten sich zugleich gegenseitig an, bloß still zu sein. Es war fast lustig.

"Aua, Kalle, nu helf doch mal mehr mit hier!"

"Maik, ich bring dich um, wenn du im nächsten Jahr noch mal…"

"Nu mach mal halblang. Ich bin ja wohl nicht die erlauchte Dekoriermanikerin gewesen, die sich nicht entscheiden konnte, ob lila und silber oder gold und weinrot. Aua! Das Mistding macht das extra sag ich dir."

"Du hast eben die falschen Handschuhe angezogen. Aber mal ehrlich. Ist das nicht endpeinlich, in so einer Nacht- und Nebelaktion zum Osterfeuer raus zu müssen, bloß weil wir verpeilt haben, wann hier im Kaff die Bäume entsorgt werden?"

"Ach Gottele, wer war denn wieder so geil auf die Stadt und hatte es im neuen Jahr wieder mal nötig mit dem Skiurlaub? Hm? Da haben wir es bestimmt verpasst, mein Lieber."

"Ach, aber deine Renovierattacke in der Wohnung war nicht etwa schuld? Ich sage dir, wenn ich den Matsch nicht mehr von meinen Schuhen bekomme morgen, dann…"

"Still! Ich hab was gehört!"

Lauri hob den Kopf ein wenig und konnte zwei Männer sehen, die sich mit einem großen, wenn auch schon recht deutlich entnadelten Weihnachtsbaum abmühten. Er grinste. Hatten die doch tatsächlich den Abholtermin im Februar verpennt oder was? Die beiden mussten aus dem Eichenhof kommen. Leider konnte er im Dunklen so ziemlich gar nichts erkennen und eine große, kräftige Hand drückte seinen Kopf wieder tiefer, als die Männer dichter kamen.

Sie warfen ihre Tanne mit wenig Enthusiasmus gegen den Berg Äste und stapften, sich im Flüsterton streitend, davon.

Raimund lehnte sich so dicht, dass sein Mund Lauris Ohr berührte. In Sekunden bestand Lauris Körper aus Gänsehaut, er biss sich auf die Unterlippe und vernahm nur mit Mühe "Lass uns noch ein wenig warten, dann lassen wir den Traktor an und legen los."

Lauri richtete sich hastig wieder auf und rückte so weit von Raimund ab, wie es ihm in der engen Kabine möglich war. Er saß auf dem gefederten Fahrersitz, Raimund schräg hinter ihm auf einer Radkappe. Lauri hatte als kleiner Junge öfter mal mit dem Traktor über die Felder fahren dürfen, sodass er sich nun noch dunkel daran erinnerte, wie das ging und als Fahrer auserkoren war. Er atmete einmal tief durch und rieb sich die Finger. Er hatte seine Gartenhandschuhe ausgezogen, um mehr Gefühl für die Hebel für die Schaufel zu haben. Leichter Nieselregen hatte eingesetzt und kalte Luft zog ihm unangenehm um die Beine.

Er wollte gerade den Zündschlüssel wieder drehen, als Raimund fluchte, bevor er erneut seinen Kopf fasste und runter drückte. Dieses Mal landete Lauri mit der Wange auf Raimunds Knie und legte seufzend seine Arme darauf ab, um es gemütlicher zu haben. Als er Raimunds etwas heisere Stimme vernahm. "Sie kommen noch mal zurück. Können die nicht wegbleiben?!" hob er nur etwas die Schultern und kuschelte sich mit geschlossenen Augen an. So übel war das gar nicht. In Gedanken ging er die Worte durch, die er nach dieser Sache sagen wollte. Er musste es heute Nacht tun. Er musste Raimund von seinen Gefühlen berichten und diese schreckliche Unsicherheit aus der Welt schaffen.

Die beiden Männer wanderten erneut über die nadelnden Tannenbäume, Weihnachtsdekoration, Osterdekoration und Kleidung streitend bis zum Haufen hin und schleuderten eine weitere Tanne auf den Berg.

"Och, Maik! Jetzt regnet das auch noch. Komm, beeilen wir uns besser. Eine noch, dann haben wir das geschafft, nicht?"

Da reichte es Raimund offensichtlich. Er sprang auf und vom Traktor runter. "Halt! Jetzt reichts aber!"

Die beiden Männer schrien auf und hielten sich in einer total lustigen, spiegelverkehrten Geste einer mit links, der andere mit rechts die Hand ans Herz. Dann sahen sie Raimund eher neugierig an und kamen ein paar Schritte näher. Sie bezeichneten ihn als niedlichen Halbstarken, was Lauri eine Kicherattacke bescherte. Raimund plusterte sich auf und bestrafte sie sofort. Er hielt den beiden einen Vortrag darüber, wie viele kleine Tiere in den Osterfeuern verbrannten in jedem Jahr.

"Und alles nur, weil die Leute zu faul sind, die Haufen noch einmal etwas umzuschichten!"

"Ja", meinte der eine unsicher und blinzelte Lauri und Raimund freundlich an. "Das ist natürlich tragisch…"

"Genau! Und daher werden wir jetzt etwas tun!"

"Wir?!" Die beiden Männer starrten sie aufgeschreckt an.

Raimund nickte und stellte sich vor, während er seine Hand aushielt. "Raimund, das ist mein Freund Lauri. Er fährt den Traktor, wir zerren die Äste hin und her und schauen, dass wir die Tiere wegbringen."

"Ich bin Maik und das ist mein Freund Karsten", ergab sich nach einem Seufzen der kleinere der beiden Männer in sein Schicksal.

Lauri trat dichter und reichte auch beiden die Hand, was dazu führte, dass er von ihnen mit Baumharz eingesaut wurde. Der Nieselregen durchweichte seine Klamotten schon so langsam. Davon gereizt fragte er Raimund "Und jetzt? Soll ich loslegen oder was?"

"Ja. Du machst dein Ding mit dem Traktor und wir gehen erst mal aus dem Weg."

Lauri kletterte hoch und ließ den Traktor an, die Männer traten mit Raimund zusammen in den Schutz des nächsten Knicks, wo sie sich unterhielten und mal hierhin und mal dorthin wiesen. Offensichtlich ging es um den Resthof. Der gehörte also wirklich diesen Typen? Ihnen beiden? Nachdenklich fuhr Lauri zur Probe etwas vor und zurück, bevor er die Schaufel senkte, einfach mal in den Haufen hinein grub und damit dann zurücksetzte. Der Plan funktionierte ganz gut und Lauri machte weiter damit.

Nach einer Weile hatte er mit dem Traktor ein heilloses Chaos veranstaltet. Die Baumstümpfe lagen verstreut, die aufgehäuften Tannen und Zweige vom letzten Strauchschnitt verstreuten sich locker in gewissem Umkreis.

Raimund war auf jeden Fall begeistert. Er sprang auf den Traktor "Du kannst echt mit dem Ding umgehen, du erstaunst mich immer wieder."

Hoheitsvoll nickte Lauri dazu nur und zog sich die Handschuhe über. Er ließ die Lampen brennen und in deren blassgelbem Licht sowie dem Licht ihrer Taschenlampen durchsuchten sie den Haufen auf Tiere. Die Lage war sehr ernüchternd. Sie fanden ein paar Mäuse oder ähnliches Kleines, die sich sehr hastig verzogen, aber keinen Hasen, keinen Igel und auch sonst nichts spannendes bis auf eine Tüte untergemogelten Müll von irgendjemandem, den Raimund zur Seite legte. "Der ist von Müllers, den legen wir denen gleich auf dem Rückweg vor die Tür, dann freuen die sich bestimmt." Böse grinste er und der Mann, den der andere immer Kalle nannte, kicherte, dass er Raimund nicht zum Feind haben wollte.

Seufzend schlug Lauri nach einer Stunde Schufterei vor, die Zweige wieder halbwegs zusammenzuschieben. Ein Blick auf seine Armbanduhr zeigte ihm halb drei am Morgen. Raimund stimmte zu und Maik und Karsten, die sich sehr wacker geschlagen hatten, stöhnten erleichtert auf und gingen mit Raimund ihre letzte und größte Tanne holen, um die mit auf den Haufen zu werfen. Lauri arbeitete währenddessen mit dem Traktor etwas an dem Chaos.  

Nach einer guten halben Stunde hatte Lauri das Gröbste wiederhergestellt und stellte den Traktor aus. Als er von dort oben runtergesprungen war, landete er genau neben Raimund. Der stand genau neben diesen beiden etwas älteren Männern und die knutschten sich gerade wie verrückt. Sie passten total gut zueinander, das fand Lauri, auch wenn er sie anstarrte und nichts zu sagen wusste. Der etwas größere, Karsten, hatte den anderen mit einem Lachen an sich gezogen und knutschte ihn gerade noch einmal auf den Mund, als die beiden sich der Blicke bewusst wurden.

Maik fuhr sich nervös in die etwas schütteren Haare und blickte zwischen Lauri und Raimund hin und her. "Tut uns leid. Bei so romantisch verwegenen Sachen, da überkommt es Kalle und mich nu doch hin und wieder noch."

"Seid ihr so richtig zusammen?" fragte Raimund sie aufgeräumt und schlug den Weg nach Hause ein. Im Gehen umfing er Lauris Handgelenk und zog ihn mit sich.

Karsten legte den Arm um seinen Freund. "So richtig und total. Wir sind schon seit Ewigkeiten ein Team. Au, Maiki, seit fast zwanzig Jahren geht das schon mit uns, was?"

"Stimmt, Kalle, stimmt", gähnte Maik und streckte sich. Dann blickte er Raimund an. "Und ihr zwei?"

Raimund sah von Maiks Gesicht zu Lauri, dann zu ihren Händen hinunter. Seit einigen Schritten hatte er Lauris Finger mit festem Griff umschlossen. Wie verbrannt ließ er die Hand los. "Wir sind nicht…" verwirrt stockte er und blickte zu Lauri zurück.

"Wir sind Freunde", sagte Lauri leise. Er konnte seiner eigenen Stimme anhören, dass es für ihn eine Enttäuschung war.

Doch Raimund nickte eifrig und erzählte den beiden Männern sehr wortreich davon, wie er als Kind einer inkonsequenten Chaotin zum Ziehkind zweier zu reich geratener Zahnärzte wurde. "Und seitdem sind wir Geschwister. Gewissermaßen ist er mein Bruder."

Lauri nickte müde. "Blutsbruder sogar", erinnerte er schwach und pulte missmutig am Baumharz an seinen Fingern.

Raimund lachte. "Das war endpeinlich. Wie bei Winnetou und so. Wir haben das auch gemacht. Scheiße, das hat echt weh getan damals."

Lauris Finger glitten zu der feinen Narbe auf seinem Daumenballen, die er von dieser romantischen Idiotie zurückbehalten hatte. Die Unterhaltung der anderen driftete zu verschiedenen Themen weiter. Tatsächlich hatten die beiden Männer den Resthof als Wochenendhaus gekauft. Unter der Woche lebten sie in der Stadt und hatten dort eine Maisonettewohnung. Aber die Wochenenden, vor allen Dingen im Sommer und an Weihnachten, verbrachten sie gern in dem romantischen Haus im Dorf.

"Wir bewohnen nur den Scheunenteil. Das restliche Haus haben wir vermietet an eine Lektorin und die ist dort immer unter der Woche und arbeitet und fährt am Wochenende in die Stadt. Sie ist nicht mehr so gut zu Fuß und mag die Leute hier im Dorf nicht näher kennenlernen, das ist ihr zu viel Geschwätz. Sag sie jedenfalls. Für uns ist das mit ihr perfekt. Wir begegnen uns auf diese Art kaum. Sie hat halt viel Besuch hier, der sich auf dem Land erholen will und wir feiern hier gern unsere Feten."

"Deswegen wusste im Dorf niemand, wer wirklich dort wohnt." Raimund blieb am Feldrand stehen, wo ein Trampelpfad zum Resthof zurückführte. "Kommt ihr morgen zum Osterfeuer?"

"Ja. Das denke ich, werden wir tun." Maik strahlte Lauri derart freudig an, dass Lauri sich ein Lächeln abrang. In seinem Inneren liefen schwarze Gedanken und Verzweiflung zusammen. Raimund wollte ihn als Bruder um sich haben, als Freund. Mehr aber nicht. Mehr war ihm sogar unheimlich. Allein wie er die Hand losgelassen hatte eben. Aber wie konnte Lauri ihm denn jetzt die Gefühle gestehen? Er war zu feige, er war zu nervös und er war zu pessimistisch dazu.

Karsten trat zu ihm und drückte seine Hand, um ihn noch einmal mit Baumharz einzuschmieren. "Das wird schon, Lauri. Gib ihm eine Chance, ja?"

"Was?" Verwirrt starrte Lauri den Männern hinterher, die mit gesenkten Köpfen über den Pfad davonliefen. Mit einem Mal unendlich müde drehte er sich um und stapfte den Weg ins Dorf zurück. Raimund folgte ihm schweigend. Irgendwie war der Abend schon wieder nicht gelaufen, wie Lauri sich das gedacht hatte. Er machte wilde Ideen von Raimund mit, dachte, dass er dafür im Austausch dann einmal die Chance haben würde, ihm seine komischen, anstrengenden, neuen Gefühle mitzuteilen, aber was bekam er? Muskelkater und Baumharz an die Finger.

"Hey, renn nicht so!" Eine Hand legte sich auf seine Schulter und machte ihm die Nässe noch deutlicher.

Lauri schüttelte sie ab. "Lass mich, ich bin müde!"

Er beschleunigte den Schritt noch, aber wurde erneut aufgehalten. "Hey, ist es wegen der beiden?"

"Wieso?" Lauri ging weiter, aber langsamer.

"Na weil du so komisch bist, seit sie aufgetaucht sind. Ist es weil sie sich geküsst haben? Hey, denen geb ich auf jeden Fall meine Unterschriftenliste!"

"Du und deine scheiß Aktionen immer!"

"Besser, als den Kopf in den Sand zu stecken!"

"Was? Ich mach doch mit, aber immer und immer wieder… irgendwann muss man doch auch mal was normales machen!"

"Was denn?"

Lauri verschränkte die Arme. "Keine Ahnung."

"Knutschen, wie die beiden vielleicht?" Lauernd starrte Raimund ihn an, dann lachte er und Lauri wurde knallrot. An Raimunds Lachen zerbröselte seine Hoffnung sofort wieder und es tat verdammt weh.

Er drehte sich in einer schnellen Pirouette fort und lief wieder schneller. "Arsch."

"Bitte, ich hab es nicht so gemeint."

"Oberarsch!" Lauri lief schneller. Und Raimund kam wegen des Müllerschen Müllsacks nicht so schnell nach. Er holte ihn erst kurz vor dem Haus wieder ein.

Da sie so rannten, Raimund immer etwas hinter Lauri her und immer noch über ihn lachend, kamen sie immerhin schnell wieder zum Haus. Raimund nahm ihn weiterhin nicht ernst. Typisch. War Lauri mal zickig, perlte das einfach auf Raimunds harter Schale ab. Der zog sich die Gummistiefel aus und hängte seine Jacke über die Heizung. "Meine Klamotten sind durch, Lauri, deine auch. Lass uns den Kram gleich in die Waschmaschine werfen, okay? Ich kümmere mich auch morgen darum. Haste gesehen? Dieser Kalle hatte nur Straßenschuhe, die kann der doch morgen wegwerfen, wieso haben die keine vernünftigen Gummistiefel gehabt?"

Lauri streifte immer noch gereizt schweigend die Stiefel von den Füßen und zerrte sich wütend über sich selber und seine bescheuerten Gefühle für Raimund die nassen Sachen vom Körper. "Ich hole Handtücher", grummelte er dann schließlich und stapfte in Unterwäsche zum Gästebad. Als er in ein Handtuch gewickelt in den Hauswirtschaftsraum zurückkam, stand Raimund dort mittlerweile fast nackt umher und wuschelte sich durch die langen roten Haare.

Verlangend blickte Lauri seinem Freund einmal auf die Brust und den Rücken entlang, als dieser sich zur Waschmaschine wandte. Doch Raimund kam im nächsten Moment wieder hoch und ihre Blicke begegneten sich. Hastig bewarf Lauri ihn mit einem Handtuch und drehte sich zur Tür. "Ich geh schon mal…" Er kam nicht weit. Eine warme Hand auf seiner nackten Schulter hielt ihn auf. Lauri erstarrte. Weniger als Hautkontakt brauchte er kaum etwas in diesem Moment. Er wollte Abstand, um seine Fassung zurückzubekommen. Etwas heiser fragte er mit Blick auf die Tür "Was denn noch?!"

Raimund lehnte sich dichter und sah ihn von der Seite her an. "Ja", flüsterte er dann leise.

"Was?!"

"Das ist die Antwort auf alle Fragen, die du nie fragst, gleich wie sehr ich darauf warte." Immer noch nur dieses Flüstern, das Lauri durch die Wirbelsäule rieselte und bis in den Magen. Forschend betrachtete Raimund ihn, dann nahm er die noch immer eiskalten und dreckigen Finger von Lauri auf und küsste ihn sachte auf die Fingerrücken.

Der Begriff Gänsehaut bekam für Lauri in genau diesem Augenblick eine gänzlich neue Bedeutung. Erschaudernd drehte er sich halb um und lehnte sich gegen die Tür. "Aber… wieso…? Seit wann?"

Raimund lehnte sich neben ihm an und tastete seine Finger entlang, die er sachte mit seiner Hand umschloss. Dann zuckte er mit den Schultern und blickte zu Boden. "Schon immer natürlich." Er lächelte. "Seit ich dich zum ersten Mal gesehen hab. Ich war gut vier und du gerade drei Jahre alt. Das weiß ich noch wie heute."

Unsicher starrte Lauri auf die Waschmaschine, dann in Raimunds Gesicht zurück, dann auf ihre Hände runter. "Und eben? Wieso hast du mich nie…? Ich meine, du hast nie was gesagt."

"Lauri, das musst doch sogar du sehen! Du bist… die verdammte Prinzessin! Herrgott noch einmal! Ich bin nur der Knecht." Mit einer hilflosen Geste deutete Raimund um sich. "Ich war mir schon immer sicher, dass du mein Bruder sein willst, mehr nicht. Elisa passt zu dir, oder Tim. Die sind die passenden Prinzen. Sie können Geschenke geben und das Leben mit dir leben, das du gewohnt bist, das du verdienst. Ich nie, ich bin nur ein…"

"Hör auf! Du bist… alles!" Atemlos starrte Lauri ihm in die verwirrt aufgerissenen Augen. Mit rotem Kopf wandte er sich ab. So leidenschaftlich hatte er nicht sein wollen. Doch dann gab er sich einen Ruck und sah Raimund erneut in die schelmischen blauen Augen. "Für mich, Rai, immer", flüsterte er heiser, im nächsten Moment umarmten sie einander fest.

Es fühlte sich herrlich an, aber leider froren sie beide zu sehr für mehr Romantik. Zitternd schob Lauri Raimunds herrlichen Körper von sich. "Ich bin morgen krank und du bist schuld!" knatschte er vom Hochgefühl in seinem Herzen unbeeinflusst und wandte sich ab, um in sein Badezimmer davon zu gehen.

Raimund folgte ihm schweigend. Erst als sie nebeneinander im Bad standen und sich im Spiegel erblickten, beide etwas desorientiert in das grelle Licht blinzelnd, kam für Lauri die nächste Ernüchterung. Er sah an seinem Körper entlang, weich, eben gerade etwas zu mollig und eben nicht sonderlich attraktiv. Nachdem er seine Kontaktlinsen aus den Augen gefischt und die Brille wieder auf der Nase hatte, fühlte er sich noch unscheinbarer. Er warf einen scheuen Seitenblick auf Raimunds muskulösen Oberkörper, die kräftigen sicheren Hände, seine breiten Schultern und die langen Beine, während Raimund das heiße Wasser aufdrehte und mit Bürste und Seife begann, seine Finger energisch vom Harz und Dreck zu befreien.

"Rai?"

"Hm. Hier, du kannst die Seife haben. Dank der Handschuhe geht es eigentlich. Wegen Maik und Kalle hab ich nur total viel Harz an den Fingern. Was mussten die auch Blautannen nehmen."

"Rai, bist du wirklich… ich meine, hast du mich echt gern?" Lauri schrubbte energisch an seinen Fingern und hob wegen der Stille unsicher den Blick in den Spiegel.

Raimund starrte ihn aus seinen gnadenlosen schmalen Augen an. "Nein. Gern haben… pah!"

"Was?"

Raimund seufzte und trocknete sich die Finger an seinem Handtuch um die Hüften ab. Das machte ihn offenbar auf die mangelhafte Bekleidung aufmerksam. Er ging zu seiner Tasche und wandte sich ab, um sich eine Shorts und ein T-Shirt herauszunehmen. "Ich hab dich nicht gern, Lauri."

Lauri hatte ihm im Spiegel auf den Hintern gestarrt und nur noch mäßig enthusiastisch an seinen Fingern geschrubbt. Er schreckte zusammen. "Wie? Aber, was hast du eben…?"

Raimund seufzte abgrundtief und reichte Lauri seinen dunkelblauen Schlafanzug von der Heizung. Hastig zog Lauri sich den über, die Kälte hatte sich aber auch meilenweit in seinen Körper gefressen. Als er sich umdrehte, kniete Raimund vor ihm und nahm seine Hand. "Hör auf so dumm zu sein. Gern haben. Ich bin natürlich total verliebt."

Lauri holte Luft, aber etwas anderes kam ihm zuvor. Die Badezimmertür schwang auf und darin erschienen Karen und Rebekka, die beiden Neuhexen, und starrten sie aus schwarzumrandeten Augen an. Sie bekamen keine Chance, etwas zu tun oder zu sagen. Karen riss die Arme hoch und schrie Rebekka an. "Du nichtsnutzige Tante! Scheiße! Nun schau dir diese Sauerei an und alles, weil du unbedingt noch von Raimund für deinen verdammten Voodoo Haare haben musstest! Ich fasse es nicht! Der Zauber ist schief gelaufen!"

Raimund blickte auf und starrte die beiden böse an, aber ließ Lauris Finger nicht gehen. "Ihr Weiber stört hier, aber ganz gewaltig. Schiebt ab, oder ich werd ungemütlich!"

"Klappe, Raimund, du Kröte!" Rebekka stemmte eine Hand auf die Hüfte und wandte sich an Karen. "Ich kann nichts dafür, Karen! Echt nicht. Die Haare von ihm sind hier in meinem Beutel, und ich habe sie nicht verwechselt! Außerdem hatten wir den Trank doch schon neulich gebraut. Hast du was mit Elisa verbockt oder so?!"

Lauri hob eine Hand, aber Karen unterbrach seine Frage mit einem wütenden "Und jetzt?! Jetzt ist der Zauber voll in die Hose gegangen, aber voll. Schau sie dir allein an! Oh mein Gott! Das ist nicht mehr zum Aushalten. Da war mir der Zustand von vorher ja lieber. Können wir einen Umkehrzauber versuchen?"

Müde rieb Rebekka sich die Augen und verschmierte ihr Make-up. "Erst beim nächsten Vollmond, bis dahin hat Lauri sicherlich schon seine Unschuld verloren, wie wir die rote Kröte kennen."

Lauri stemmte eine Faust in die Seite. "Jetzt langts mir aber! Was ist denn überhaupt los?"

Karen starrte böse. "Wir haben dir einen Liebestrank gemischt, dir und Elisa. Beim letzten Vollmond haben wir sie und dich damit versehen und es fing alles gut an. Die wollte sofort was von dir und ihr habt euch nett unterhalten. Und diesen Vollmond wollte ich den Zauber beenden, damit es so richtig was wird, aber irgendetwas ist schief gelaufen."

"Liebestrank? Zauber?"

"Damit du endlich mal eine Freundin hast und nicht mehr so endpeinlich mit der roten Pestfliege abhängst. Aber Rebekka wollte unbedingt noch Raimunds Haare für irgendwas verwenden und dabei muss etwas schief gelaufen sein. Schaut euch an! Vorher seid ihr wenigstens als Freunde rumgezogen, aber jetzt… Gott! Raimund hat irgendwie etwas von dem Trank für dich oder Elisa bekommen, oder er würde sich nicht so bescheuert benehmen. Ist doch klar!"

"Wo war der Trank denn drin?"

"In deinem Kakao morgens. Heute Abend zur Sicherheit in deinem Bier."

Rebekka zog die Brauen zusammen. "Vielleicht hat der Alkohol gestört, Karen?"

Raimund grinste die zwei an. "Ah. Das ist es wohl." Er fasste sich ans Herz. "Ich hab mit Lauri zusammen Kakao getrunken und heute Abend das Bier verwechselt, deswegen will ich ihn unbedingt küssen, schon den ganzen Abend. Na, da brauche ich mich jetzt ja nicht mehr schämen, denn ich weiß, der Zauber ist schuld." Er sprang in die Senkrechte und umarmte Lauri fest, um ihn tüchtig auf den Mund zu knutschen. Die Mädchen schrien hysterisch auf.

Lauri taumelte zum Klositz zurück und ließ sich fallen, dann hob er den Kopf und blickte seine Schwester strafend an. "So ein Scheiß, Karen! Liebestrank! Und das von dir, also echt!"

"Ja, aber…"

"Ich bin schwul, war ich schon immer, werd ich immer sein. Da kannste noch so hexen. Elisa langweilt mich, davon einmal abgesehen. Ich mag sie, aber das war es. Wir spielen Golf zusammen, mehr würde ich nie mit ihr machen. Ich war schon immer in Raimund verliebt. Ich vermute mal schwer, dass sich das auch nicht so schnell ändern wird."

Auf diesen Vortrag hin herrschte einen Augenblick lang gespenstische Stille im Badezimmer. Mit rotem Kopf bat Lauri in diese Stille hinein. "Und jetzt möchte ich bitte schlafen gehen, der Tag war anstrengend genug."

Raimund grinste, auch etwas rot an den Ohren. "Chef hat gesprochen, schiebt ab!"

Darauf verzogen sich die beiden angehenden Hexen tuschelnd und flüsternd und Lauri zog sich mit einem matten Seufzen am Waschbeckenrand hoch, um sich die Zähne zu putzen. "Kein Wunder, dass das Bier scheiße geschmeckt hat. Ich hoffe, dass da kein Gift drin war. Nicht dass ich noch Haarausfall oder…"

Eine Hand strich um seine Brust herum und unterbrach seine Rede. Raimund war heiser, als er leise sagte "Lauri, bist du wirklich sicher, dass du mich gern hast?"

"Gern haben? Pah!" imitierte Lauri seinen Freund und grinste. Er deutete mit seiner Zahnbürste auf Raimunds Brust. "Ich bin in dich verliebt und das hab ich auch so gesagt. Das haste jetzt von deinen ganzen Aktionen!" Energisch stellte er sich der Zahnschrubberei und blendete Raimund etwas aus, auch wenn der neben ihm stand und nachdenklich und weniger enthusiastisch seine Zähne putzte.

Lauri wich ihm hastig aus und ging ins Bett, als Raimund noch mal pinkeln gehen wollte. Von dort sah er seinem Freund mit leicht pochendem Herzen entgegen. Raimund schritt jedoch erst einmal zur Zimmertür und drehte mit Nachdruck den Schlüssel. "So. Die Hexen haben erst mal Pause."

Lauri lachte, dann rückte er etwas zur Seite und klopfte neben sich auf das Bett. Sie sahen sich in die Augen und grinsten sich beide an. Gleich darauf legte Raimund sich zu Lauri und ruckelte sich zurecht. Hastig löschte Lauri das Licht über ihren Köpfen und legte sich starr hin.

"Hey, Rai, weißt du noch früher, als wir Kinder waren? Da hast du immer bei mir geschlafen, wenn Judith mal wieder einen verrückten Mann da hatte."

"Ja. Das weiß ich noch. Da haben wir immer Arm in Arm geschlafen."

"Hm. Das war schön." Lauri brauchte nichts mehr sagen, Raimunds Arm schob sich unter seinem Kopf durch und er konnte sich nach kurzem Zögern anschmiegen. Während sie wärmer wurden, spürte er Raimunds große Hände über seine Schulter streicheln. "Du? Rai?"

"Hm."

"Findest du mich nicht irgendwie… hässlich?"

Raimund bewegte sich etwas, um sich neben Lauri aufzustützen. "Prinzessin, du bist die Schönste im ganzen Land", sagte er dann schmachtend und hingebungsvoll.

"Arsch. Ernsthaft. Ich bin so moppelig und dann diese dämliche Brille und die…"

"Hör schon auf. Du weißt genau, dass das nicht stimmt. Du bist wunderschön. Außerdem sehe ich mit meinen roten Haaren ja wohl total bescheuert aus. Ich bin glücklich und froh, dass du es mit mir aushältst."

"Du bist doch total attraktiv! Dein Körper allein…"

"So? Mein Körper?" Es klang lauernd. "Führ das ruhig aus, Lauri."

Die Hitze in seinem Gesicht hinderte Lauri nicht daran, seinen Freund in die Seite zu knuffen. "Küss mich lieber, anstelle es mir so unromantisch schwer zu machen."

"Ich dachte, du befiehlst mir das nie", schmachtete Raimund daraufhin, dann tastete er sich im Dunkeln dichter, bis ihre Lippen sich fanden.

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