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Kartenhäuser

Teil 3

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Inhaltsverzeichnis

Traum und Realität

Als sie die Wohnung erreichten, war es schon Nachmittag. Die Zeit war schneller vergangen als es den Anschein gehabt hatte. Chris ließ sich erst mal auf das Sofa fallen und fächerte sich mit einem gefalteten Stück Papier Luft zu. „Ihr braucht dringend einen Ventilator oder noch besser eine Klimaanlage“, sagte er schnaufend. „Das ist ja wie in der Sauna hier.“

„Wenn du das bezahlen möchtest. Außerdem konnte ja keiner ahnen, dass es auf einmal so warm werden würde.“

„Ich muss mir langsam mal etwas zum Anziehen kaufen“, sagte Chris und sah an sich hinab. Pauls Sachen waren zwar nicht schlecht oder unbequem, aber irgendwie doch ein wenig zu groß.

„Allerdings. Das können wir gleich am Montag machen, wenn ich von der Arbeit komme.“

„Willst du wirklich mit?“

„Ich lasse dich doch nicht allein draußen rumlaufen. Schon gar nicht nach deiner Begegnung heute.“

Ach stimmt ja, dachte Chris und verdrehte die Augen. Er hat sich ja gestern schon Sorgen gemacht. Darauf lege ich es lieber nicht noch mal an.

Seufzend setzte sich Paul neben Chris und stellte die Obstschüssel von ihrem Picknick auf dem kleinen Tisch ab.

„Von dem langen Liegen in der Sonne bin ich richtig müde geworden“, sagte er.

„Ja, ich auch. Und ich glaube ich habe einen Sonnenbrand.“

Paul sah ihn vielsagend an.

„Was? Ich jammer doch gar nicht.“

„Trotzdem habe ich es dir gesagt.“

„Ja, ja.“

„Mir soll´s egal sein“, gähnte Paul und stand auf. „Ich muss mir ein neues T-Shirt anziehen.“

Er schloss die Tür seines Schlafzimmers hinter sich und öffnete den Kleiderschrank. Das alte T-Shirt landete auf dem Boden, dann schlüpfte er in ein neues. Für einen Moment setzte er sich auf die Bettkante und atmete einmal tief ein. Hoffentlich hatte Chris ihm seine Verwirrung nicht angemerkt. Paul verstand es ja selber nicht. Seit Chris so unerwartet seine Hand berührt hatte, herrschte Chaos in seinem Kopf. Bis dahin war alles super gewesen. Er hatte sich sogar darauf gefreut ein bisschen in der Sonne liegen zu können und sich um gar nichts kümmern zu müssen. Leider hatte das nicht lange angehalten. Ihre Hände so nah beieinander, das war ein eigenartiges Gefühl. So eigenartig, dass Pauls Hand scheinbar immer wieder die von Chris gesucht hatte. Beim ersten Mal war es ihm nicht mal aufgefallen, aber beim zweiten Mal konnte er nicht anders. Vielleicht hing es mit Chris` Geschichte zusammen, aber irgendetwas anderes war da auch noch. So erschütternd das für Paul auch sein mochte, es war nicht nur Mitgefühl. Dieses andere, unbekannte Etwas war seit dem letzten Abend da. Seit dieser plötzlichen Umarmung. Und das war es, was Paul zu schaffen machte. Einerseits fragte er sich, was in Chris vorging, und andererseits verstand er sich selber nicht mehr. Es konnte doch nicht sein, dass dieser Junge eine solche Wirkung auf ihn hatte. Auf einmal. Aber solange es nur bei diesen kleinen Berührungen bleiben würde, war ja nichts entschieden.

Der Tag konnte also erst mal ruhig und entspannt ausklingen. Paul hatte es ohnehin satt sich ständig Gedanken zu machen. Dann musste er es jetzt nur noch schaffen sie abzuschalten.

Chris hatte scheinbar von ihrem letzten Streit genug gehabt, denn er richtete sich ohne Widerspruch auf der Couch im Wohnzimmer ein. Trotzdem wachte Paul am nächsten Morgen erschrocken auf und vergewisserte sich, ob er allein in seinem Schlafzimmer war. Sein Blick wanderte von seinem Bett zu dem Sofa, aber alles war leer. Er war eindeutig allein. Erleichtert atmete er aus und ließ sich in die Kissen zurückfallen. In seinem Kopf schwirrten noch immer die Bilder eines völlig real wirkenden Traumes umher. Es war fast als hätte er den vorigen Tag noch mal aus einer anderen Perspektive erlebt, aber dann war es auch wieder ganz anders gewesen. Sein Traum-Ich war ihm überhaupt nicht ähnlich. Es tat Dinge, die Paul nicht mal im Traum einfallen würden. Na ja, anscheinend doch, denn das war ja ein Traum. Trotzdem. Es war merkwürdig so etwas zu sehen. Vor Allem, wenn es sich so echt anfühlte. Paul konnte sich an jedes Detail erinnern, an jedes Kribbeln, an jeden seiner Gedanken. Sogar jetzt, im Wachzustand, spürte er noch eine leichte Anspannung in seinem Körper und den ungewöhnlich schnellen Pulsschlag. Waren das nur die Nachwehen oder etwas ganz Anderes? Paul war sich ja nun darüber im Klaren, dass Chris eine gewisse Anziehung auf ihn ausübte, aber die konnte unmöglich so stark sein. Ihre Beziehung zueinander hatte sich ohnehin schon in eine Richtung entwickelt, die sich Paul vorher nie hätte vorstellen können. Da musste es doch irgendwo eine Grenze geben. Die Bilder aus dem Traum lagen jedenfalls weit jenseits davon. Was auch immer ihn dazu bewogen hatte mit Chris Hand in Hand zu gehen, mehr würde nicht passieren.

Wenn er doch nur wüsste, was Chris darüber dachte. Es wäre alles so viel einfacher, wenn sie sich aussprechen könnten, aber das traute Paul sich selbst nicht zu. Dann müsste er alles beichten, alles offen legen und das war unvorstellbar.

Als Paul aufstand und aus seinem Zimmer trat, lag Chris noch auf dem Sofa. Seine Augen waren geschlossen und sein Atem ging regelmäßig. Die Decke lag größtenteils auf dem Boden, nur die Beine und ein Stück vom Bauch waren noch bedeckt. Wahrscheinlich war es ihm in der Nacht zu warm geworden.

Paul schlich ins Bad und schloss die Tür leise hinter sich. Das lauwarme Duschwasser tat seiner sonnenstrapazierten Haut sehr gut. Anscheinend hatten sich die Strahlen unbemerkt doch einen Weg durch die Schicht aus Sonnencreme gesucht. Das behielt er aber besser für sich. Diese Genugtuung wollte er Chris nicht gönnen.

Mit einem Handtuch um die Hüften verließ er wenig später das Badezimmer. „Oh, hab ich dich geweckt?“, fragte er, als sein Blick auf Chris` waches, lächelndes Gesicht fiel.

„Nicht direkt.“

„Was soll das denn heißen?“

„Ich bin aufgewacht, als ich das Duschwasser gehört habe.“ Immer noch lächelte er. Es war ein merkwürdiges Lächeln, fand Paul.

„Also hab ich dich doch geweckt.“

„Wenn du meinst.“

Kopfschüttelnd zog Paul die Augenbrauen zusammen und ging wieder in sein Schlafzimmer, um sich etwas anzuziehen. Was sollte das denn? Dieses Verhalten erinnerte ihn sofort an ihre erste Begegnung auf dem Parkplatz. Chris hatte sich damals genauso merkwürdig aufgeführt und schon bei diesem ersten Gespräch hatte Paul ein eigenartiges Gefühl gehabt. Es war ihm alles so unecht und gespielt vorgekommen. Als wollte Chris irgendetwas verstecken. Aber was könnte er denn jetzt verstecken wollen?

Eine Jeans und ein T-Shirt landeten auf dem Bett, dazu noch ein paar Socken und eine Boxershorts. Dann fiel das Handtuch zu Boden und Paul schlüpfte nach und nach in die frischen Kleidungsstücke. Die Haare ließ er ausnahmsweise auch mal ungefönt.

Chris wollte an diesem Tag scheinbar gar nicht aufstehen, denn selbst als Paul das Frühstück fertig vorbereitet hatte, lag er noch auf der Couch und rührte sich nicht. Die Arme hatte er hinter dem Kopf verschränkt und die Augen waren wieder geschlossen. Erst als Paul ihn ansprach, schob er die Decke beiseite und stand auf.

„Du musst nicht frühstücken, wenn du nicht willst“, sagte Paul ein wenig ärgerlich.

„Ich will aber“, entgegnete Chris, ohne auf den scharfen Unterton zu achten. „Heute mal keine Lust zum Fönen gehabt?“

„Nein, aber es ist ja auch warm draußen.“

„Das war es gestern auch.“ Natürlich musste Chris diese Chance nutzen, Paul einen kleinen Seitenhieb zu geben. Denn sonst war es ja immer er, der zurechtgewiesen wurde. „Und einen Sonnenbrand hast du übrigens auch.“ Er lachte, aber dieses Mal sah es echt aus. Paul musste schmunzeln. Wie hatte er auch glauben können, dass es Chris nicht auffallen würde.

„Was du nicht sagst.“

„Tja, von jetzt an lasse ich mir von dir gar nichts mehr sagen.“

„Das hast du doch sowieso noch nie.“

Die merkwürdige Stimmung vom Morgen war schnell vergessen, während sie sich ausgelassen unterhielten und gegenseitig aufs Korn nahmen. Kaum zu glauben, dass sie sich erst vor zwei Wochen kennengerlernt hatten. Es hatte sich seitdem wirklich viel verändert.

Es war Sonntag und die Sonne schien warm auf die Erde. Zwei gute Gründe sich zu überlegen, was man mit dem freien Tag anfangen sollte. Während Paul noch überlegte, wusste Chris schon genau, wozu er Lust hatte. Allerdings würde er Paul wohl erst überreden müssen.

„Paul?“, fragte er vorsichtig.

„Hm?“

„Ich hab eine Idee, was wir machen könnten.“

„Das hört sich irgendwie gar nicht gut an. Wenn du an so etwas wie einen Freizeitpark gedacht hast, brauchst du gar nicht erst weiter reden.“

„Nicht wirklich. Aber ein bisschen Ähnlichkeit hat es damit schon.“

Paul überlegte einen Moment angestrengt und dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.

„Oh nein. Nicht heute. Morgen muss ich doch wieder arbeiten.“

„Bitte, bitte, bitte. Wir haben doch nichts anderes vor und ich würde so gerne mal wieder in den Zoo gehen. Du hast gesagt, dass wir es irgendwann mal machen, warum also nicht heute? Oder hast du einen anderen Vorschlag, was wir heute machen könnten?“

Paul hatte gewusst, dass Chris irgendwann wieder damit ankommen würde, aber doch nicht so schnell. Am liebsten hätte er es ewig vor sich her geschoben. Wer will denn schon am Sonntag bei seiner Arbeitsstelle auftauchen?

„Ach komm schon“, drängelte Chris weiter. „Es ist doch bestimmt mal ganz… erfrischend, wenn du durch den Zoo schlendern kannst, ohne arbeiten zu müssen.“

„Das mag ja sein, aber nicht heute.“

Eine Stunde später standen sie in der Schlange vor der Zookasse. Chris grinste breit und tapste ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, während Paul missmutig dreinschaute und sich fragte wie zum Teufel er sich dazu hatte überreden lassen können. Eigentlich hatte er die Argumente auf seiner Seite gehabt, aber geholfen hatte es ihm trotzdem nicht.

„Ich fasse es nicht, dass ich auch noch dafür bezahlen muss“, grummelte er. „Ich arbeite immerhin hier.“

„Aber heute bist du nur ein Besucher“, erinnerte ihn Chris.

„Na wunderbar. Dann müssen wir also doch nicht zu Affen rein? Ein Besucher darf das nämlich nicht.“

„Paul, glaubst du, dass du mir so einfach davonkommst?“

„Nein, nicht wirklich“, seufzte er.

„Dann hör auf so grummelig zu sein und freu dich einfach.“

„Worauf?“

„Auf einen schönen Tag. Mit mir.“ Chris stupste Paul an und schob ihn dann weiter zur Kasse, an der sie bezahlten und schließlich das Zoogelände betraten.

„Also?“, fragte Chris.

„Was also?“

„Wohin? Du bist hier derjenige, der mich rumführen soll.“

Na gut, dachte Paul und ging voran. Er führte Chris zuerst zu den Raubtieren und dann weiter zu den Vögeln. Es machte ihm mit der Zeit sogar auch Spaß, aber das wollte er eigentlich lieber nicht zugeben. Er wollte nicht, dass Chris dachte, er hätte einen Einfluss auf ihn. Der letzte Tag war ihm noch sehr gut in Erinnerung und er schimpfte mit sich selber, dass es einen Teil in ihm gab, der Chris wieder so nahe sein wollte. Ihre Hände waren jetzt so dicht beieinander, dass er nur die Finger ein bisschen strecken müsste, aber stattdessen steckte er sie in die Hosentaschen.

Chris stand vor einem Vogelkäfig und versuchte die Laute zu imitieren, was ihm sogar recht gut gelang. Im Käfig herrschte daher ein großes Durcheinander und Paul konnte ein Grinsen nicht mehr zurückhalten.

„Ich glaube die haben mich falsch verstanden“, kicherte Chris.

„Sieht so aus. Ich möchte gar nicht wissen du denen gerade erzählt hast.“

Chris lächelte ihn zur Antwort nur an.

„Was ist?“

Immer noch nur dieses Lächeln. Paul wurde unruhig.

„Wollen wir weiter gehen?“, fragte er und wandte sich in die andere Richtung.

„Gib’s zu“, sagte Chris und hakte seinen Arm bei Paul unter.

„Was?“, fragte dieser und schaute auf die Stelle, an der sich ihre Körper berührten. Es fühlte sich schön an. Viel zu schön, aber immerhin war es kein Händchenhalten. Also war es doch eigentlich in Ordnung, oder? Niemand würde sie deswegen anstarren. Es hatte gar nichts zu bedeuten.

„Dir gefällt das“, stellte Chris fest und Paul sah ihn erschrocken an.

„Was?“

„Na dieser Zoobesuch. Was dachtest du denn?“

„Ach so. Ja, das war vielleicht doch keine so schlechte Idee.“

Chris‘ Blick fiel jetzt ebenfalls auf ihre Arme und dann schlich sich ganz kurz ein Lächeln auf sein Gesicht. Erwischt, dachte er.

Sie schlenderten weiter zu den Rehen und Elchen, an den Bären und Wölfen vorbei, zu den Giraffen, Nashörnern und Elefanten und dann kamen sie am Affenhaus an. Chris wurde wieder ganz hibbelig, als er die Tiere durch die Gitter sah und zog Paul schnell hinter sich her.

„Bist du sicher, dass wir da reingehen dürfen?“, fragte er.

„Willst du doch nicht mehr?“

„Bist du verrückt? Ich will nur nicht, dass du Ärger bekommst.“

„Matze ist doch auch da. Also können wir beide aufpassen, dass du keinen Blödsinn machst.“

„Haha.“

Paul führte Chris zur Hintertür und stellte ihm seinen Kollegen vor, der gerade mit der Käfigsäuberung fertig geworden war. Matze sah ganz anders aus als Chris ihn sich vorgestellt hatte. Er hatte lange schwarze Haare, die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren und seine Ohren waren voll mit silbernen Ringen. Genau das Gegenteil von Paul. Die beiden sahen nebeneinander echt merkwürdig aus.

„Ich gehe erst mal allein rein und sage dir dann, wenn du nachkommen kannst, okay?“, fragte Paul an Chris gewandt und öffnete die Tür.

„Ja, ist gut.“

Die Affen schienen sich wirklich zu freuen, ihren anderen Pfleger zu sehen und turnten sofort auf ihm rum.

„Paul mochten sie schon immer besonders gern“, sagte Matze. „Wahrscheinlich würden sie mich gar nicht beachten, wenn sie nicht so toll mit meinen Haaren spielen könnten.“

„Woran liegt das?“

„Dass sie Paul lieber mögen? Keine Ahnung. Muss irgendwie so ein Gespür sein. Ich kenne Paul ja nicht wirklich. Er muss wohl irgendwas Besonderes an sich haben. Die Tiere spüren das.“

„Und er mag sie auch“, sagte Chris.

„Ja. Die sind für ihn wie eine Familie. Ich glaube er hat mehr Probleme mit Menschen.“

„Ja, kann sein.“

Irgendetwas an dieser Aussage machte Chris traurig. Er hatte noch nie richtig darüber nachgedacht, dass Paul ziemlich einsam sein musste.

„Woher kennt ihr euch?“, fragte Matze.

„Ich hatte einige Schwierigkeiten und Paul hat mir geholfen. Seitdem wohne ich bei ihm.“

In dem Moment winkte Paul Chris zu.

„Na dann, viel Spaß mit den kleinen Biestern“, meint Matze und hielt Chris die Tür auf.

„Am besten setzt du dich neben mich, damit sie sich an dich gewöhnen können“, sagte Paul und deutete auf den Baumstamm, auf dem er saß. Chris tat es genauso und fragte sich, woran es wohl lag, dass Paul in diesem Augenblick nicht davor zurückschreckte, ihn so nahe bei sich zu haben.

Die kleinen Äffchen zogen sich erst ein Stück zurück und kamen erst nach und nach dichter an den Fremden heran und zupften vorsichtig an seinem T-Shirt. Paul benutzten sie dafür als Startpunkt. Einer der jüngsten Affen traute sich dann als Erster, auf Chris‘ Schulter zu hüpfen und wuschelte in seinen Haaren herum. Danach kamen dann immer mehr der schüchternen Tiere auf ihn zu und begutachteten ihn neugierig.

Paul sah sich das Ganze fröhlich lachend mit an. Es musste also an der Umgebung liegen, überlegte Chris. Vielleicht war das hier so eine Art Zufluchtsort für ihn, an dem alles von ihm abfiel. Und vielleicht…

Chris legte seine Hand auf die von Paul, die zwischen ihnen auf dem Baumstamm lag. Sie sahen sich kurz an, dann senkte Paul den Blick, zog seine Hand aber nicht weg.

Eine Weile blieben sie noch bei den Affen, bis sie beide Hunger bekamen und beschlossen wieder nach Hause zu fahren.

„Was hältst du davon, wenn wir grillen?“, fragte Paul, als er die Wohnungstür aufschloss.

„Habt ihr denn Fleisch da und was man sonst noch alles dafür braucht?“, fragte Chris zweifelnd. „Immerhin ist heute Sonntag. Einkaufen fällt also ins Wasser.“

„Tom hat erst vor Kurzem alles besorgt. Da wusste er allerdings noch nicht, dass er am Wochenende gar nicht da sein würde.“

„Und du willst das jetzt einfach wegfuttern?“

„Ich kann es ja morgen alles wieder neu kaufen.“

„Aber halt mich da raus, wenn Tom sauer wird.“

„Okay“, sagte Paul und lächelte zufrieden.

„Ich hätte nie gedacht, dass du so eine unverschämte Seite hast, Paul.“

„Du hast eben einen schlechten Einfluss auf mich.“

„Haha.“

Das heitere Lachen half Paul über seinen Schatten zu springen und Chris als ganz normalen Jungen zu betrachten. War es denn nicht besser, dass sie sich so gut verstanden? Und wenn er ehrlich war, hatte sein beängstigender Traum doch etwas Wahres gehabt. Chris hatte sein langweiliges und fast schon steriles Leben um einiges fröhlicher und unbeschwerter gemacht. Er fühlte sich freier und irgendwie jünger. Chris hatte so etwas Chaotisches und trotzdem unheimlich Liebenswertes an sich, das Paul immer mitzureißen schien. Und dieser Tag war auch wirklich schön gewesen, auch wenn er das ja eigentlich nicht zugeben wollte. Er wusste jetzt, dass Chris niemals etwas tun würde, das ihm unangenehm sein könnte. Da war er sich absolut sicher. Er hatte es noch nie ausgenutzt, wenn er in Pauls Nähe war.

Chris beschwerte sich über die Arbeit, die Paul ihm aufgetragen hatte. Er sollte das Gemüse für den kleinen Salat schneiden, den sie zu dem Fleisch essen wollten. Dabei waren auch frische Zwiebeln und es dauerte nicht lange bis die ersten Tränen flossen. Chris schniefte und musste sich zwischendurch immer wieder die Nase putzen.

„Das ist nicht fair“, schimpfte er. „Das Brennen hört gar nicht mehr auf und du findest das auch noch lustig.“

„Du musst durch den Mund atmen, dann ist es nicht so schlimm.“

„Was meinst du, was ich die ganz Zeit versuche?!“

„Gleich hast du`s doch geschafft.“ Paul grinste immer noch schadenfroh, während er das Fleisch in einer selbstgemachten Soße baden ließ. Die Kartoffeln hatte er vorher abgeschrubbt und in Alufolie gewickelt. Sobald Chris mit dem Salat fertig sein würde, konnten sie anfangen. Der Grill stand schon einsatzbereit auf seinem Platz und wartete nur darauf benutzt zu werden.

Chris hatte immer noch ein schlechtes Gewissen, als sie das Fleisch schließlich auf das Grillrost legten.

„Meinst du, dass Tom sehr sauer wird?“

„Ach was. Ich hab doch gesagt, dass ich morgen alles neu einkaufe. Warum sollten wir uns denn keinen schönen Abend machen, mit dem Fleisch, das sonst womöglich niemand mehr hätte essen können?“

„Stimmt auch wieder.“

„Wir haben nur leider nichts Besonderes zu Trinken da. Das wollte Tom wohl später kaufen.“

„Egal. Solange ich meinen Eistee hab, bin ich glücklich.“

„Was du an diesem eklig klebrigen Zeug findest, kann ich überhaupt nicht verstehen. Wie das schon riecht.“

„Umso besser.“

Mit vollen Tellern setzten sie sich schließlich an den kleinen Tisch und genossen die weite Sicht. Auch von hier aus konnte man den kleinen Park sehen und die Menschen, die dort spazieren gingen. Es waren eindeutig mehr als am Tag zuvor. Beim dem Anblick fragten sich beide, ob Chris jemals wieder so unbeschwert nach draußen würde gehen können. Man merkte ihm jetzt schon an, dass er es in der Wohnung kaum noch aushielt, wie sollte es denn dann in ein paar Monaten aussehen? Wenn sich die Situation nicht bessern würde, wäre er wahrscheinlich gezwungen in eine andere Stadt zu ziehen. So weit weg wie nur möglich. Irgendwo hin, wo ihn niemand kannte und er sich wieder frei bewegen könnte. Paul wollte und konnte sich allerdings schon gar nicht mehr vorstellen wie sein Leben ohne Chris weitergehen würde. Bei all dem Streit und der eigenartigen Spannung verstanden sie sich doch sehr gut und lachten viel gemeinsam. Die Neckereien und Chris` quirlige Art würden Paul auf jeden Fall sehr fehlen. Und nicht nur das. Paul hatte Chris‘ Berührungen in den letzten Tagen so genossen, dass er auch darauf nicht mehr verzichten wollte. Das würde er selbstverständlich niemals zugeben und er würde auch nie danach fragen, aber abstreiten konnte er es auch nicht. Nicht mehr.

Aber genug der trüben Gedanken. Paul versuchte sich wieder auf das Essen zu konzentrieren. Chris erzählte gerade noch mehr oder weniger längere Geschichten von seiner Vergangenheit. Er war früher, im Grundschulalter, einmal auf einen Baum geklettert und kam nicht mehr herunter. Eigentlich hatte er sich nur verstecken wollen und hielt den Baum für das beste Versteck überhaupt. Als er bemerkt hatte, dass er ohne Hilfe nicht mehr runter kam, hatte er lautstark nach den anderen gerufen und sein Vater musste zu ihm auf den Baum steigen und mit ihm wieder herunter klettern. Am nächsten Tag war Chris wieder auf denselben Baum geklettert und allein wieder herunter gekommen. Er hatte sich genau gemerkt wie sein Vater ihn runter gebracht hatte und wollte es selber noch einmal ausprobieren. Paul schüttelte den Kopf, als er das hörte.

Die Sonne wanderte am Himmel entlang und wollte gerade die Schatten der angrenzenden Häuser auf den winzigen Balkon werfen, doch Paul und Chris hatten sich schon wieder in die Wohnung zurückgezogen. Sie saßen mit gefüllten Mägen bei Paul auf dem Sofa und sahen sich einen Film im Fernsehen an. Besonders spannend war er nicht, deswegen wunderte sich Paul auch nicht, dass Chris bald die Augen zufielen. Aus irgendeinem Grund mochte er es, Chris beim Schlafen zuzusehen. Vielleicht, weil man nur dann das Kind in ihm sehen konnte. Ganz unschuldig und ohne Sorgen. Paul wollte gerade aufstehen, um ins Bad zu gehen, hatte aber nicht damit gerechnet, dass sich durch diese Bewegung ein ganzer Körper an ihn lehnen würde. Er blickte erschrocken zur Seite und sah Chris` Kopf, der auf seine Schulter gefallen war. Die strubbeligen Haare berührten fast sein Gesicht und der warme Atem streifte in regelmäßigen Abständen seinen Arm. Angestrengt bemühte sich Paul wieder dem Film zu folgen, aber das war angesichts dieser Situation vollkommen unmöglich. Die plötzliche Nähe brachte sein gesamtes Herz-Kreislauf-System durcheinander und setzte seinen Körper unter Strom. Jede noch so kleine Bewegung von Chris ließ seinen Herzschlag für einen kleinen Moment aussetzen, damit er danach umso deutlicher in Pauls Ohren pochen konnte. Wieder riskierte Paul einen Blick auf Chris und sofort war da wieder dieser Drang vom vorigen Tag. Er streckte eine Hand aus und strich ganz vorsichtig ein paar Haarsträhnen aus Chris` schlafendem Gesicht. Ein großer Teil in ihm rebellierte dagegen, aber der größere konnte einfach nicht anders. Seine Hand war wie eingeschlafen, so sehr kribbelte es unter der Haut. Aber nach der langen Quälerei musste er jetzt einfach das tun, was sein Gefühl ihm sagte. Und das schrie geradezu danach, Chris so nahe zu sein wie nur möglich. Endlich. Diese Einsicht traf Paul so unerwartet, dass es ihm schon fast weh tat.

Er hob einen Arm und legte ihn um Chris, der sich im Schlaf sofort an ihn kuschelte. Die andere Hand suchte nach der, die sie schon im Park gehalten hatte und schlüpfte vorsichtig zwischen Daumen und Handfläche.

Es war fast wie an dem Abend ihres Streits. Chris hatte schon geschlafen, als Paul sich leise ins Bad geschlichen hatte. Genau wie jetzt hatte er bewegungslos da gelegen und gleichmäßig geatmet. Auf dem Rückweg aus dem Badezimmer war Paul neben ihm stehen geblieben und hatte einen Augenblick nachdenken müssen, um nichts Unüberlegtes zu tun. Die Tatsache, dass Chris schon geschlafen hatte, ließ ihn dann schließlich doch eine Hand ausstrecken und vorsichtig das Sonnentattoo in seinem Nacken berühren. Schon an diesem Abend hatte Paul das wohlige Schaudern gespürt, das immer dann auftauchte, wenn er Chris besonders nahe war.

Irgendetwas musste das bedeuten, aber Paul war sich noch immer nicht ganz sicher, ob er es zulassen könnte. Auch wenn Chris nicht schlief. Es war schwierig für ihn das zu akzeptieren, was ihn diese Dinge tun ließ. Eigentlich hatte man ihm genau das beigebracht, aber in ganz anderen Dimensionen. Bisher war er immer der Meinung gewesen, es gäbe nur eine Möglichkeit diese Gefühle auszuleben, aber seit er Chris kannte, war es ihm von Tag zu Tag schwerer gefallen sich daran zu halten. Dabei war es doch eigentlich egal, oder? War denn nicht jeder Mensch allein für seine Gefühle verantwortlich? Was hielt ihn davon ab das zu tun, wonach ihm gerade war? Er musste sich vor niemandem rechtfertigen, außer vor sich selbst. Und das war schon schwierig genug.

„Paul?“ Chris streckte sich und gähnte. „Bin ich eingeschlafen?“ Dann bemerkte er, dass er nicht am Sofa, sondern an Paul lehnte und sah ihn erschrocken an. „Entschuldigung“, sagte er leise und wollte sich gerade aufsetzen, als Paul ihn wieder zurück zog.

„Macht nichts“, sagte dieser und legte seine Hand wieder in die von Chris.

„Aber...“, begann Chris zögernd, „ich dachte...“

„Das dachte ich auch.“

„Sonst hast du dich immer zurückgezogen, wenn ich dir zu nahe gekommen bin.“

„Ich weiß.“

„Warum jetzt nicht?“

„Das ist eine gute Frage“, seufzte Paul und sah auf ihre verschlungenen Finger. Er wusste nicht wie er seinen plötzlichen Sinneswandel erklären sollte, wenn er es doch selber nicht verstand. Würde Chris ihn nicht für verrückt halten?

„Ich wusste nicht, was dann passieren würde“, sagte er wahrheitsgemäß. „Aber jetzt kann ich nicht mehr anders.“ Unsicher sah er Chris an. Er grinste.

„Wärst du böse, wenn ich dir sage, dass ich es schon lange wusste?“

„Was?“

„Na ja... dass du dich in mich verliebt hast.“

Paul stockte der Atem. Er konnte nicht glauben, was er da gerade gehört hatte. „Aber das...“, begann er und zog die Augenbrauen zusammen. Sein Blick war gedankenverloren auf den Fernsehbildschirm gerichtet.

Chris lachte in sich hinein, nahm Pauls Gesicht in beide Hände und küsste ihn auf den Mund. „Ich liebe dich auch“, sagte er immer noch kichernd.

Endlich fand auch Paul seine Fassung wieder und lächelte. Warum hatte er nur so lange gewartet? Er zog Chris auf seinen Schoß und drückte ihn ganz fest an sich. Wie schon am Freitagabend klammerte Chris sich an ihn, nur dass es dieses Mal wirklich etwas zu bedeuten hatte.

„Du hast recht“, sagte Paul und strich so liebevoll durch Chris` Haare, dass beide die Spannung wie kaltes Wasser durch ihre Körper strömen spürten.

„Womit?“

„Ich liebe dich wirklich.“

„Siehst du“, flüsterte Chris und löste sich ein Stück weit von Paul. Sie sahen sich solange an bis die Hand, die immernoch in Chris` Nacken lag, ihn langsam näher zu Paul heran zog und den Abstand zwischen ihren Gesichtern immer mehr verringerte. Doch bevor sich ihre Lippen berühren konnten, hörten sie Geräusche von der Haustür und kurz darauf Toms Stimme.

„Wir sind wieder da!“

Der erste Tag

Seufzend ließen beide den Kopf hängen und rückten widerwillig ein Stück auseinander. Nur den Griff ihrer Hände mochten sie nicht lösen.

„Müssen wir sie begrüßen?“, fragte Chris.

„Die würden sowieso im nächsten Moment hier reinplatzen. Dann können wir ihnen den Weg auch ersparen.“

„Na gut.“

Paul stand zuerst auf und zog Chris hinter sich her. An der Tür holte er noch einmal tief Luft und wollte gerade nach der Klinke greifen, doch Chris hielt ihn zurück. „Einen Moment noch“, sagte er und drückte Paul gegen die Tür. Ein freches Lächeln huschte über seine Lippen bevor sie sich auf Pauls legten. So nah beieinander vergaßen beide einfach alles um sich herum, vor Allem die Zeit, die während ihres Kusses verging. Sie waren zu sehr damit beschäftigt zu genießen und alles einzusaugen. Da war so viel, was sie nachholen wollten. Das merkten sie sofort, als sie sich schwer atmend voneinander lösten. Paul grinste.

„Das war aber nicht nur ein Moment“, hauchte er.

„Egal. Komm.“

Mit einem breiten Lächeln gingen sie ins Wohnzimmer, wo Tom und Jane es sich schon gemütlich gemacht hatten.

„Da freut sich aber jemand uns zu sehen“, sagte Tom strahlend. „Wie ich sehe, habt ihr es zwei Tage ohne uns auch ganz gut ausgehalten.“

„Kann man so sagen“, bestätigte Paul.

„Wir dachten schon ihr schlagt euch gegenseitig die Köpfe ein.“

„Was bitte?“, fragte Chris irritiert.

„Nach dem Krach am Freitag hatte ich echt ein schlechtes Gewissen, euch allein zu lassen.“

„Jetzt übertreibst du aber“, schaltete Jane sich ein. „Die beiden sind doch keine Kinder mehr.“

„Trotzdem“, maulte Tom. „Es kann ja nicht schaden, sich ein bisschen Sorgen zu machen.“

„Vielen Dank auch“, sagte Paul sarkastisch und versuchte das Thema zu wechseln. „Wie war denn euer Wochenende?“

„Reden wir nicht darüber“, sagte Tom und rollte mit den Augen. Jane musste sich ihr Lachen verkneifen, zwinkerte Paul und Chris aber einmal kurz zu. Recht so, dachte Paul, wurde das Gefühl aber nicht los, dass Jane das Wochenende ganz bewusste so gelegt hatte, damit er mit Chris allein sein konnte. Aber wahrscheinlich würde er die Wahrheit nie herausfinden.

Verschlafen gähnte Paul und streckte sich einmal der Länge nach. Erst als er sich umdrehen und weiterschlafen wollte, spürte er den Kopf, der auf seiner Schulter lag und die Arme, die seinen Körper umschlossen. Er sah zur Seite und entdeckte den friedlich schlafenden Chris neben sich. Sofort kehrten die Erinnerungen an den vergangenen Abend zurück und ein wohliger Schauer huschte über seine Haut. Genau genommen hatte sich gar nicht so wahnsinnig viel verändert. Die Gefühle waren vorher auch schon da gewesen, nur hatte er sie falsch gedeutet. Und dann war wiederum auch alles anders. Er musste jetzt nichts mehr verstecken und konnte Chris nahe sein, wann immer er wollte. Er hob eine Hand und strich Chris vorsichtig eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Keine Regung. Er schlief wie ein Stein. Paul sah auf die Uhr.

„Verdammt!“, fluchte er und schlug die Decke zurück. Vorbei war es mit der idyllischen Aufwachphase, denn auch Chris saß nun, aufgeschreckt durch Pauls Schrei, senkrecht im Bett.

„Mensch, Paul! Kannst du mich nicht etwas sanfter wecken!“, nörgelte er und ließ sich wieder zurückfallen. „Es ist doch erst halb acht.“

„Erst ist gut! In einer halben Stunde muss ich im Zoo sein. Das habe ich total vergessen.“

„Oha, dann musst du dich aber beeilen, oder?“

„Was meinst du, was ich gerade tue!“

„Dich beeilen?“

„Sehr witzig.“

Paul sprang in seine Klamotten, eilte aus dem Zimmer und kam kurz darauf wieder zurück, um doch ein anderes T-Shirt anzuziehen.

„Warum guckst du so komisch?“, fragte er Chris, nachdem er kurz zu ihm rüber gesehen und dessen schmollenden Gesichtsausdruck bemerkt hatte.

„Ich habe nicht einmal einen Guten-Morgen-Kuss bekommen! Geht das jetzt jeden Tag so?“

Paul ging auf ihn zu und strich ihm sanft über die Wange, bevor er ihn küsste.

„Schon besser“, sagte Chris grinsend und zog Paul zu sich aufs Bett. „Kannst du dich nicht krank melden?“

„Nein. Matze hat Urlaub und wenn ich auch nicht arbeite, kümmert sich keiner um die Affen.“

„Soso.“, sagte Chris, stand auf und ging aus dem Zimmer. Im Wohnzimmer holte Paul ihn ein.

„Nicht böse sein“, sagte er und zupfte an Chris` Haaren, die vom Schlafen ganz verstrubbelt waren. „Aber ich muss jetzt los.“

„Wehe dir, wenn du nicht so schnell wie möglich wieder zurück bist. Ich möchte mir jetzt endlich mal etwas zum Anziehen kaufen“, drohte Chris.

„Stimmt, das wollten wir ja schon längst getan haben.“

„Hattest du das etwa vergessen?“

„Wie könnte ich?!“

„Dann ist ja gut.“

„Bis später.“

„Beeil dich!“

„Schon mal was von Dienstschichten gehört?“, fragte Paul, während er die Wohnungstür öffnete.

„Ganz so doof bin ich auch nicht!“

„Dann muss ich mir ja keine Sorgen machen.“

Ein letzter Kuss, dann machte Paul sich auf den Weg.

Der Verkehr war so nervtötend wie schon lange nicht mehr, aber selbst das störte ihn an diesem Morgen nicht. Er sah nach vorn, konzentrierte sich aufs Fahren und war trotzdem ganz wo anders. Diese neue, unbekannte Situation musste erst ihren Platz in seinem Leben finden und das war bei Pauls routiniertem Tagesablauf nunmal besonders schwierig und bedurfte einiger gründlicher Überlegungen. Er hatte noch nie zuvor verschlafen. Der vergangene Abend hatte ihn völlig unerwartet aus der Bahn geworfen und in einen rosa-roten Raum gesperrt. Die Tür war nicht verschlossen, aber die Willenskraft sie zu öffnen hatte er nicht. Im Moment saß er in der hintersten Ecke und versuchte sich zurechtzufinden. Vor Kurzem hatte er noch außen vor der Tür gesessen und insgeheim darauf gewartet, dass sie sich öffnet.

Die Ampel vor ihm sprang auf Rot um und er blieb an der Haltelinie stehen. Einige Fußgänger überquerten die Kreuzung und verteilten sich am anderen Ende in verschiedene Richtungen. Einer von ihnen sah Chris ein wenig ähnlich. Paul starrte ihm nach. Nein. Die Augen waren anders. Chris` Augen lebten. Wie sagt man? Die Augen sind der Spiegel zur Seele eines Menschen? Paul hatte diesen Satz immer als kitschig empfunden, aber auf Chris traf es allemal zu.

Die Ampel schaltete zurück auf Grün und Paul fuhr die letzten Meter zum Zooparkplatz.

So früh morgens ist es im Zoo am schönsten. Die Besucher laufen noch nicht in Scharen übers Gelände und es ist angenehm still. Die Mitarbeiter können sich untereinander ungestört unterhalten und allmählich alle Tiere aus ihren Nachtquartieren lassen. Paul war im Affenhaus an diesem Tag ganz allein. Er bereitete das Frühstück vor und säuberte das Gehege gründlich, bevor er das Futter hinstellte. Affen haben ihn schon immer interessiert. Als Kind nur, weil er sie niedlich fand, und als Erwachsener schließlich, weil sie dem Menschen in so vielem ähneln. Manchmal sieht man Dinge bei Affen, die sich auf Menschen übertragen lassen und findet ab und zu sogar einige Antworten.

Paul war ganz froh, dass er sich heute nicht mit allzu vielen Kollegen unterhalten musste. Es fiel ihm sehr schwer seine außerordentlich gute Laune zu verbergen und hätte den Grund dafür nicht unbedingt jedem unter die Nase reiben wollen.

Obwohl ihm seine Arbeit immer sehr viel Spaß machte, war er an diesem Tag besonders froh, als es 16 Uhr war und er den Zoo verlassen konnte. Seine Ablösung war ausnahmsweise mal pünktlich erschienen.

Jetzt schnell nach Hause, etwas essen und dann auf zum „Shoppen“. Ein Einkaufsbummel mit Chris würde sicher lustig, aber höchstwahrscheinlich auch sehr anstrengend und zeitaufwendig werden. Ganz ungefährlich war es auch nicht, offen in der Stadt umherzuspazieren. Was, wenn Chris erkannt wurde und derjenige ihn bei seinem Ex-Chef, Zuhälter oder wie man das nennt, auffliegen ließ?

Diese Gedanken noch immer im Kopf, öffnete Paul die Wohnungstür und hatte auch sofort ein zappelndes Etwas am Hals hängen.

„Da bist du ja endlich!“, sprach es und zog Paul den Mantel von den Schultern, um ihn anschließend irgendwo in die Ecke zu werfen.

„Äh... ja...“, setzte Paul an, doch Chris hielt ihm schon einen Finger an die Lippen, der kurz darauf von seinem Mund abgelöst wurde, und zog Paul langsam Richtung Wohnzimmer. Gerade noch etwas überrumpelt von der stürmischen Begrüßung, erwiderte Paul den Kuss.

„Willst du mich jetzt jeden Tag so überfallen?“

„Warum nicht? Ich hab dich eben vermisst.“

„Ich war doch nur ein paar Stunden weg“, sagte Paul und ließ sich aufs Sofa fallen. Chris setzte sich neben ihn und stützte sein Kinn auf Pauls Schulter. Ihre Nasenspitzen berührten sich fast, so nah waren sich ihre Gesichter.

„Soll ich es lieber sein lassen?“, fragte Chris und sah Paul zweifelnd an. So ganz vertraute er noch nicht darauf, dass Paul ebenso empfand wie er. Beziehungsweise, dass er die gleichen Vorstellungen hatte.

Auf einmal hörten sie hinter sich ein Räuspern.

„Was sieht man denn da?!“

Blitzschnell rückten sie auseinander und drehten sich um. In der Tür stand Tom, der sie frech angrinste.

„Ich wusste es!“, sagte er.

„Du wusstest was?“, fragte Paul sichtlich verunsichert.

„Dass du schwul bist.“

Irritiert von diesen deutlichen Worten starrte Paul ihn an. „Und woher?“

„Ich hab´s einfach vermutet. Diese ganze Heimlichtuerei, die Sache mit dem Schlafplatz und die Streitereien. Euer Verhalten war so merkwürdig, dass ich mir meine Gedanken gemacht habe.“

Chris und Paul sagten nichts. Sie hätten den Zeitpunkt, an dem sie es Tom und Jane sagen wollten, gerne selber ausgesucht. Und das hätte garantiert noch eine Weile gedauert.

„Zieht nicht so lange Gesichter“, versuchte Tom sie aufzumuntern. „Ich finde das völlig in Ordnung und Jane ganz sicher auch. Ich glaube eher, dass ihr die gar nicht mehr loswerdet, wenn sie davon erfährt.“

Etwas unwohl fühlten sich die beiden Ertappten trotzdem und machten sich so schnell wie möglich auf den Weg in die Stadt, nachdem sie etwas gegessen hatten.

„Das war echt peinlich“, sagte Paul, als sie nebeneinander durch die Fußgängerzone schlenderten. „Wir müssen uns wirklich besser beherrschen. Bei Tom weiß man nie.“

„Ach was, war doch nicht so schlimm. Du hast ihn doch gehört, es stört ihn nicht.“

„Ihn nicht, aber mich!“

„Wir hätten es ihnen sowieso sagen müssen“, sagte Chris.

„Aber jetzt doch noch nicht und auf eine andere Art und Weise.“

„Wieso denn jetzt noch nicht? Ist doch egal wann.“

„Ich hätte es eben gerne selber entschieden.“

Aber Chris ließ nicht locker. Er machte sich immer noch Gedanken über Pauls Absichten und die Tatsache, dass er sich schwer tat, ihre Beziehung öffentlich zu machen, zeigte doch, dass er sich selber noch nicht sicher war. Chris blieb stehen. „Ist es dir nur peinlich oder willst du es nicht offen zeigen, weil du in Wirklichkeit gar nicht...“

„Stopp.“ Paul ging einen Schritt auf Chris zu. „Du willst doch nicht etwa behaupten, dass es mir nicht ernst ist, oder?“

„Ist es dir denn ernst?“

„Was soll das denn jetzt? Gestern hast du selber noch behauptet, du wüsstest schon lange, was in mir vorgeht.“

„Na und? Man kann sich auch mal irren.“

„Glaubst du das wirklich?“

„Ich weiß nicht. Ich bin aus dir noch nie schlau geworden.“

„Das hast du schon mal gesagt.“

„Dann gib mir doch mal eine vernünftige Antwort“, forderte Chris verärgert. „Warum willst du nicht, dass Tom und Jane von uns wissen?“

„Das hab ich nie behauptet. Ich wollte es ihnen nur selber sagen.“

„Aber noch nicht jetzt“, wiederholte Chris die Worte von Paul.

„Genau.“

„Aber was stört dich so daran es öffentlich zu machen?“

Paul schnaufte und ging ein paar Meter weiter. Dann kam er wieder zurück, nahm Chris` Gesicht in beide Hände und küsste ihn einmal kurz auf den Mund.

„Ist dir das öffentlich genug?“ Seine Stimme war wieder leiser und seine Wangen verfärbten sich ein wenig. Chris war völlig verdattert.

„Das geht mir nur alles ein bisschen schnell. Du kannst das wahrscheinlich nicht verstehen, weil du schon seit Jahren... so lebst.“ Pauls Hände lagen jetzt auf Chris´ Schultern. Er sah sich verlegen um, aber niemand schien diese doch etwas außergewöhnliche Situation wahrgenommen zu haben. Jedenfalls starrte sie keiner der Fußgänger an.

„Tut mir leid“, sagte Chris etwas kleinlaut. „Ich fand nur deine Reaktion vorhin so komisch, als ich dich begrüßt habe.“

„Das kann man schon gar nicht mehr Begrüßung nennen. Das war ein ganz klarer Überfall.“

„Das finde ich eben nicht. Warum darf ich dich nicht küssen, wenn ich mich freue dich wiederzusehen?“

„Natürlich darfst du das. Ich war nur ziemlich überrascht. Bisher hat sich nie jemand dafür interessiert, ob ich lange arbeite oder nicht.“

„Dann musst du dich jetzt aber ganz schön umstellen.“ Endlich konnte Chris wieder lachen. Vielleicht konnte er Pauls Hemmung nicht ganz nachvollziehen, aber immerhin war ihm jetzt klar, dass Paul seine Zeit brauchte, um sich an diese neue Situation zu gewöhnen. Wahrscheinlich wollte er tatsächlich zu schnell zu viel.

„Das merke ich auch gerade. Aber lass uns nicht mehr darüber reden, sonst haben die Geschäfte gleich zu.“

„Okay.“

Wie Paul vorhergesagt hatte, waren sie eine ganze Weile unterwegs, hatten allerdings auch viel Spaß beim Anprobieren der verrücktesten Kleidungsstücke. Chris hatte ein fast schon unheimliches Talent dafür, selbst die fürchterlichsten Klamotten gut aussehen zu lassen, sobald er sie trug. Für Paul bedeutete das, dass er häufig mal seinen Blick abwenden musste, um sich nicht vor der gesamten Kundschaft zu outen. Chris bedachte ihn jedes Mal mit einem Schmunzeln und freute sich insgeheim über die Bestätigung, dass er doch eine gewisse Wirkung auf Paul hatte.

Nach gefühlten zehn Stunden verließen sie das letzte Geschäft und stellten fest, dass es bereits dunkel geworden war.

„Puh, ich glaube wir müssen langsam aufhören. Mein Portemonnaie ist schon viel zu dünn“, bemerkte Chris.

„Dann hab ich meine Sachen ja endlich wieder für mich.“

„Nicht ganz. Ich brauche noch ein ganz normales T-Shirt und Shorts oder soll ich nackig schlafen?“

„Warum nicht“, sagte Paul und erschrak im Nachhinein selber, als ihm seine Worte wie ein Echo durch den Kopf hallten. Über dieses Thema hatten sie bisher noch kein Wort verloren. Aber angesichts ihrer außergewöhnlichen Situation war das wohl auch mehr als verständlich. Chris musste erstmal mit seiner Vergangenheit abschließen und für Paul war es nunmal etwas ganz Neues, mit einem Mann zusammen zu sein. Und überhaupt waren sie ja gerade erst einen Tag zusammen.

Chris ließ sich nichts anmerken. Er grinste Paul nur überrascht von der Seite an, während dieser beschämt auf den Boden sah.

„Sind wir aber anzüglich heute Herr Flemming! Und das nach dem Vorfall am Nachmittag“, sagte er und knuffte Paul in die Seite.

„Sorry, ich wollte nicht... “

„Stopp! Fang jetzt bloß nicht an, dich für irgendetwas Absurdes zu entschuldigen!“

„Aber... “

Ein drohender Blick von Chris und Paul zog es vor den Satz nicht zu beenden.

„Lass uns nach Hause gehen, ich bin schon müde“, sagte er stattdessen und ging voraus.

„Ja, ich auch.“

„Was uns wohl erwartet, wenn wir nach Hause kommen? Ich hoffe nicht, dass Tom und Jane so viel Wirbel darum machen. Ich hab nämlich keine Lust denen alles zu erklären.“

„Aber das sind doch deine Freunde. Sie wollen eben wissen wie es dir geht. Sei lieber froh, dass es ihnen egal ist, wer in deinem Bett schläft.“

„Wieso wer schläft denn da?“, fragte Paul mit einer Unschuldsmine.

„Wenn du so weiter machst, gar keiner.“

„Dann muss ich mir ja auch keine Sorgen machen.“

Wenn sie nicht mitten in der Stadt gewesen wären, hätte Chris Paul auf der Stelle beide Arme um den Hals geschlungen und ihn geküsst. Das Verlangen danach war so groß, dass er stattdessen auf seine Füße schaute und vergeblich versuchte an etwas Anderes zu denken. In seinen Fingern kribbelte es, also steckte er sie in seine Hosentasche.

„Bist du nervös?“, fragte Paul.

„Nein, wieso?“

„Du bist irgendwie so hibbelig.“

„Nein, ich hab nur…“ Chris suchte nach einer passenden Ausrede. Er wollte Paul nicht mit seinen Gedanken überfordern, sodass er sich zu irgendetwas gezwungen fühlen würde. Dafür war es eindeutig zu früh und er wollte auf keinen Fall etwas falsch machen.

„Ich hab nur Hunger. Dann werde ich manchmal ein bisschen zittrig.“

„Ach so. Dann sehen wir mal zu, dass wir nach Hause kommen, oder?“

„Unbedingt.“

Als sie in die Wohnung kamen, war es eigenartigerweise ganz still und es war auch niemand zu sehen. Ob Tom und Jane ausgegangen waren?

„Scheint so, als ob niemand da ist“, sagte Paul. Er zog sich die Schuhe aus und ging in die Küche. „Was möchtest du denn essen?“

„Ganz egal. Ich gehe eben duschen, okay?“

„Ja, mach das.“

Paul legte Brot und Aufschnitt bereit und zog sich dann im Schlafzimmer um. Er mochte abends nicht gerne in Jeans oder anderen eher unbequemen Sachen sein und schlüpfte daher häufig schon früh in seine Schlafkleidung.

Als Chris aus dem Bad kam, nur mit einem Handtuch um die Hüften, konnte Paul nicht anders als auf ihn zuzugehen und sein Gesicht in beide Hände zu nehmen. Er sah Chris an, ohne etwas zu sagen. Er wartete einfach nur ab.

„Willst du testen wie lange ich es aushalte, ohne dich zu küssen?“, fragte Chris.

„So ähnlich.“

„Und wie genau?“

„Ich will sehen wie lange ich es aushalte.“

Chris grinste. „Und wie machst du dich?“

„Gar nicht gut.“

Paul lächelte und zog Chris` Gesicht zu seinem heran. Als sich ihre Lippen berührten, schlang Chris beide Arme um Paul und vergrub die Finger in seinem Shirt. In dieser Wohnung konnte er immerhin tun, was er wollte. Hier mussten sie sich nicht verstecken.

„Ich dachte du hast so großen Hunger.“

„Egal“, sagte Chris und legte seine Lippen an Pauls Hals. Paul strich kurz durch seine nassen Haare und schob ihn dann ein Stück von sich.

„Lass uns was essen. Ich hab jetzt auch Hunger.“

Chris sah ihn einen Moment verwirrt an, lächelte dann aber und nickte. Hatte er sich denn nicht vorgenommen, dass er Paul nicht überfordern wollte? Es war viel schwieriger als er sich das vorgestellt hatte.

Paul war erleichtert, als Chris ihm zustimmte und sie sich an den Tisch setzten. Er hatte auf einmal so ein merkwürdiges Gefühl gehabt – fast wie ein schlechtes Gewissen – und dann hielt er es für das Beste, dass sie wieder etwas Abstand bekamen. Beinahe hätte es nicht funktioniert. Es war schwerer sich von Chris fern zu halten als er vermutet hätte.

Sie gingen früh ins Bett, weil Paul am nächsten Morgen wieder früh aufstehen musste, aber er konnte nicht schlafen. Chris lag so dicht neben ihm, dass er die Wärme seines Körpers spüren und den Duft seines Duschgels riechen konnte. Die strubbeligen Haare waren immer noch ein bisschen feucht, wie immer. Seine Lippen waren ein wenig geöffnet und Paul hörte das leise, regelmäßige Atmen. Es machte geradezu süchtig diesem Jungen beim Schlafen zuzusehen. Mal lächelte er, dann zog er plötzlich die Augenbrauen zusammen und manchmal rümpfte er die Nase ganz niedlich, sodass Paul unwillkürlich grinsen musste. Ein Wechselbad der Gefühle. Entweder war er belustigt über Chris` Mimik oder er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er den Körper neben sich so sehr begehrte. Was war denn bloß in ihn gefahren, dass ihm Chris auf einmal so viel bedeutete? Noch nie hatte er so eine starke Anziehung gespürt. Es war alles so neu. Und die Tatsache, dass er seine Gefühle jetzt nicht mehr verheimlichen musste, half da auch nicht weiter. Jetzt wo er praktisch alles tun konnte, fiel es ihm in manchen Situationen sehr schwer sich zurückzuhalten. Wieder fragte er sich, warum er nur so lange gewartet hatte.

Vorsichtig, wie schon am Morgen zuvor, strich Paul Chris eine Haarsträhne aus dem Gesicht und beobachtete ihn noch eine Weile. Dann schlug er die Bettdecke leise zur Seite, stand auf und setzte sich auf die breite, hell erleuchtete Fensterbank, um ein wenig Abstand zu gewinnen. Die Fensterscheibe beschlug von innen, als er seinen Kopf dagegen lehnte und sein Atem das Glas streifte. Wie sollte es weitergehen?

„Paul?“

„Hm?“ Er blickte nicht auf, sondern sah weiter aus dem Fenster in die nächtliche Stille.

„Was machst du?“

„Ich kann nicht schlafen.“

„Kein Wunder, wenn du da in der Kälte sitzt“, gähnte Chris.

„Es ist besser hier.“

„Was ist besser?“

Paul antwortete nicht. Sein Blick ruhte weiterhin auf der Landschaft unter ihm, doch Chris hatte Recht. Es war hier lange nicht so warm und gemütlich wie neben ihm unter der Decke, aber dorthin wollte Paul nicht zurück. Das heißt, er wollte schon, aber ihm war nicht ganz klar, was dann geschehen würde. Was also sollte er tun? Den Rest der Nacht auf dem Fensterbrett verbringen oder zurück zu Chris? Beides lief letztendlich auf eine schlaflose Nacht hinaus.

„Komm doch wieder her. Du musst morgen früh aufstehen.“

Paul sah auf. Ein Fehler, denn nun war die Entscheidung gefallen. Er löste sich von der kalten Glasscheibe und schlich unsicher zurück unter die Decke.

„Du bist ganz kalt geworden“, schimpfte Chris und rückte näher an ihn heran. Zwei schützende Arme umschlangen Pauls Körper und strichen leicht über seinen Rücken, während zwei warme, weiche Lippen seinen Hals berührten. Oder war es seine Stirn, oder die Wangen, oder seinen Mund? Schwer zu sagen, wenn sich der ganze Körper auf einmal wie betäubt anfühlte und durch jede Ader Brausepulver zu fließen schien. Das Kribbeln wollte einfach nicht nachlassen und auch Pauls schlechtes Gewissen hinderte ihn nun nicht mehr daran, die ihm zukommenden Zärtlichkeiten zu erwidern. Er nahm Chris` Gesicht in beide Hände und beobachtete mit klopfendem Herzen wie sich dessen Augenlider schlossen und er sich langsam zurück auf den weichen Stoff der Bettlaken fallen ließ. Ihre Lippen berührten sich noch bevor Chris` Kopf auf die Kissen gesunken war und sich die beiden Körper eng aneinander schmiegten.

Pauls Unsicherheit sowie die letzten Zweifel und Gewissensbisse verschwanden sofort, als Chris` Hände unter sein Shirt wanderten und sanft über seinen Bauch strichen. Er öffnete seine Augen für einen kurzen Moment und sah in das schönste lächelnde Gesicht, das er jemals gesehen hatte. Er liebte diesen Menschen. Ganz sicher. Besonders, wenn sie sich so nahe waren wie in diesem Augenblick und ganz unbefangen über den Körper des anderen streichen konnten. Sie mussten nichts sagen, nichts erklären. Sie mussten sich nur ansehen und wussten, was den anderen bewegte. Körperliche Nähe war nunmal nicht alles, das hatte Paul in den letzten Tagen gelernt. Viel wichtiger war es, den anderen wahrzunehmen und darauf zu achten, was man spürt, wenn man sich in die Augen sieht. Der Spiegel zur Seele, das waren sie tatsächlich, und sie verrieten alles über ihren Besitzer, wenn man nur genau hinsah. Was Paul spürte, als er in Chris` Augen sah, waren Liebe und Vertrauen. Chris vertraute ihm und das tat Paul nun auch. Er dachte nicht mehr darüber nach, ob es falsch war, was er tat. Solange Chris ihn anlächelte, konnte es überhaupt nicht falsch sein.

Er strich ihm sanft mit einer Hand übers Gesicht und durch die Haare, während die andere zum Saum seines T-Shirts wanderte und sich darunter schob. Je höher sich Pauls Hand tastete, desto mehr Haut wurde sichtbar und schließlich zog er Chris das Shirt über den Kopf. Es landete auf dem Boden, so wie kurz darauf auch das von Paul.

Der Mond, der alles in blassblaues Licht tauchte und lange, dunkle Schatten auf ihre Körper warf, war schweigsamer Zeuge des Ganzen. Er bewegte sich kaum merklich auf seiner Bahn und verschwand erst hinter einem der Fensterbalken, als sich die beiden erschöpft in die Arme fielen und so schließlich einschliefen.

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