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Summer in Paradise - Band 2

Teil 5

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Inhaltsverzeichnis

Jordan

Ich sitze im Auto vor Davids Elternhaus und überlege schon seit Minuten, ob ich jetzt reingehe oder … nein, ich folge meinem Bauchgefühl und rufe meinen Vater an.

„Hey Jordan!“, freut er sich.

„Hey Dad … ich … ich wollte dich was fragen.“

„Okay …?“

„Wie, denkst du, wäre dein Leben verlaufen, wenn Mum damals nicht schwanger geworden wäre?“

„Darüber habe ich oft nachgedacht.“

„Und?“

„Und das ist einfach unvorstellbar. Mein ganzen Leben wäre anders. Ich hätte dich nicht, ich hätte deine Brüder nicht.“

„Aber vielleicht wärst du jetzt glücklicher?“

„Warum? Ich wäre trotzdem der älteste Sohn von Giuseppe Bonnano. Glück war nie das, was meine Eltern für mich wollten.“

„Sondern?“

„Fleiß, eine gute Ausbildung, ein anständiges Leben, die Geschäfte übernehmen …“

„Glaubst du, du wärst mit Mum zusammengeblieben?“

„Nein. Sie hätte das alles im Leben nicht mitgemacht. Sie ist ein viel zu guter Mensch dafür. Das hast du von ihr. Zum Glück.“

„Aber ich hab dein Leben sehr … durcheinandergewirbelt.“

„Ja, nicht nur einmal. Du hast mich auf so viele Arten herausgefordert, mich in Frage gestellt, mich dazu gebracht, mich selbst und alles, woran ich geglaubt habe in Frage zu stellen.“

„Da musst du dir doch manchmal gewünscht haben, dass du ein Kondom benutzt hättest ...“

„Jordan, was ist los?“

„Ich frag mich nur, ob es besser gewesen wäre, wenn ich nie ...“

„Geboren wäre?“, fragt er empört. „Nein, natürlich nicht! Die Welt ist besser dran mit dir.“

„Wirklich?“, frage ich überrascht.

„Natürlich, Jordan! Weißt du das denn nicht? Du bist so ziemlich das Beste, was ich jemals zustande gebracht habe. Ich bin verdammt stolz drauf, dass ich so einen talentierten und klugen Sohn habe, der immer zu seiner Meinung steht ohne dabei andere zu verletzen. Ich bin verdammt stolz, dich mit meinen Enkelkindern zu sehen. Du bist ein Vater, wie ich es gerne gewesen wäre.“

„Wirklich?“

„Es tut mir Leid, dass du das nicht weißt, Jordan.“

„Ich dachte, du siehst mich als Strafe Gottes.“

„Das hast du mich damals gefragt. An dem Tag, als … als er auf dich geschossen hat. Du hast mich gefragt, ob ich dich als Strafe Gottes ansehe.“

„Ich erinnere mich ...“

„Es tut mir so Leid, dass ich dich an diesem Tag nicht beschützen konnte.“

„Das weiß ich, Dad.“

„Warum stellst du mir solche Fragen? Beschäftigt dich etwas?“

„Es ist nur … ich fühle mich schuldig. Ich hab das Gefühl, die Leben von so vielen Menschen zerstört zu haben ...“

„Du? Wessen Leben hast du zerstört?“

„Dylans ...“

„Was? Nein! Wie kommst du auf sowas?“

„Er hat sich umgebracht.“

„Ja, aber dafür kannst du doch nichts.“

„Ich konnte ihm nicht helfen. Ich war nicht stark genug ...“

„Jordan, ich hab viel Zeit mit Dylan verbracht. Und mehr als einmal hat er gesagt, dass du sein Leben gerettet hast. Nicht nur das, du hast ihn wahnsinnig glücklich gemacht. Du hast ihm eine Familie geschenkt. Das war alles, was Dylan je wollte.“

„Aber es hat nicht gereicht ...“

„Er war krank. Er hat diese scheiß Krankheit geerbt ...“

„Es wäre meine Aufgabe gewesen, ihn da raus zu holen.“

„Jordan, er hatte keine Stimmungsschwankungen oder sowas, er war hochgradig schizophren. Du konntest das nicht ändern. Du hast alles menschenmögliche getan, um ihm zu helfen.“

„Ich fühle mich trotzdem schuldig ...“

„Zu unrecht. Jordan, ich mach mir Sorgen um dich. Du hörst dich nicht gut an. Ist David bei dir?“

„Ich bin vor dem Haus ...“

„Geh zu ihm und lass dich von ihm in den Arm nehmen.“

„Was, wenn ich sein Leben auch versaue?“

„Du hast kein Leben versaut. Nicht meines, nicht das deiner Mutter und nicht Dylans. Und bei David mach ich mir da auch keine Sorgen.“

„Weißt du eigentlich, was aus dem Pater damals geworden ist?“

„Pater Vendesso? Natürlich weiß ich das. Er ist immer noch der Gemeindepfarrer deiner Großmutter.“

„Das heißt, er hat einfach weitergemacht?“

„Ja, als wäre nie was gewesen. Was hast du erwartet? Dass er seine Berufung über Bord wirft?“

„Ich dachte … nein, ja, ich weiß nicht.“

„Siehst du? Du ruinierst keine Leben. Du machst Leben besser. Zumindest meines.“

„Danke Dad.“

„Alles gut?“

„Wird schon.“

Ich drücke die Klingel. Ein paar Sekunden später öffnet David schon und nimmt mich kommentarlos in den Arm. Ich stecke meine Nase in seine Locken und sauge seinen vertrauten Geruch ein. Zuhause. Er riecht nach Zuhause.

„Wie geht’s dir?“, fragt er.

„Besser. Aber nicht gut.“

„Kann ich was tun?“

„Umarmen hilft.“

Er umarmt mich noch mal.

„Die Kinder essen gerade zu Abend. Hast du Hunger?“

„Ich hab im Gasthaus gegessen … mit Eugen.“

„Wie ist er so?“

„Sehr sympathisch. Und ein ziemlich guter Therapeut, glaub ich. Und er ist ziemlich verliebt in Severin ...“

„Äh … ist das … ich meine ...“

„Das beruht auf Gegenseitigkeit.“

„Aber Christian ...“

„Ja, das ist alles kompliziert. Obwohl es eigentlich ganz einfach sein könnte. Drei Leute, die sich lieben, ein Vierter, der dazu kommt ...“

„Was ist daran einfach?“

„Liebe ist Liebe. Das ist einfach.“

„Okay … ich glaube, du weißt, dass es für mich nicht so einfach wäre ...“

„Ist ja auch irrelevant“, säusle ich und küsse ihn.

Wir bringen zusammen die Kinder ins Bett und setzen uns zu Gert und Mona, um Karten zu spielen. Ich merke, dass die beiden Fragen haben, sich aber nicht trauen, sie zu stellen.

„Ihr könnt ruhig fragen, wo ich war und warum ...“

„Wir wollen dir nicht zu nahe treten, es ist nur, du wirkst oft ...“

„Depressiv? Ängstlich? In schlimme Gedanken versunken? Ja, bin ich.“

„Hast du einen guten Arzt?“, will Gert wissen.

„Ja, aber die Medikamente wirken nicht so gut wie sie sollten. Und Beruhigungsmittel kommen nicht in Frage, wegen meiner Sucht-Vergangenheit.“

„Was kann man dann tun?“, fragt Mona.

„Gutes Essen, viel Schlaf, viel Sport, wenig Stress ...“

„Wir könnten morgen zusammen joggen gehen“, schlägt Gert vor.

„Und ich mache ab jetzt jeden Tag frischen Obstsalat“, erklärt Mona.

„Ihr seid wirklich lieb ...“

Ich hab etwas Angst vor der Nacht, aber David gibt mir im Bett eine Massage, die mich so sehr entspannt, dass ich dabei tief und fest einschlafe.

Gert und ich starten am nächsten Morgen um sieben zu einer gemeinsamen Jogging-Tour Richtung See. Er legt ein gemäßigtes Tempo vor, so dass wir uns gut unterhalten können.

„Drei Kilometer hin, drei zurück, das reicht für den Anfang, oder?“

„Das sind dann knapp vier Meilen insgesamt, oder?“, frage ich.

„1,8 plus 1,8, ja.“

„Krieg ich hin. Zuhause mach ich jeden zweiten Tag sechs Meilen.“

„Trainierst du auf einen Marathon oder was?“, schnauft Gert. „Bist du überhaupt schon außer Atem?“

„Geht“, grinse ich.

„Ich wäre auch gern noch mal jung“, lacht er.

Wir laufen gemächlich zu dem See, an dem David und ich gezeltet haben. Die Morgensonne glitzert im Wasser und ein paar Enten quaken. Idylle pur.

„Hier hab ich als Kind schwimmen gelernt. Und hier hab ich meinen Kindern schwimmen beigebracht“, schnauft Gert und verlangsamt seine Schritte, um sich umzusehen.

„Gwen kann noch nicht richtig schwimmen.“

„Mit neun?“

„Die letzten zwei Jahre waren hart, ohne Nikki und mit den drei Kleinen. Wir haben im Meer geübt und sie schafft es, sich über Wasser zu halten, mehr aber auch nicht.“

„In dem Alter hatte Klara schon den Bronze-Freischwimmer.“

„Den was?“

„Egal, ich würde jedenfalls gerne mit ihr üben. Und wenn die Zwillinge so weit sind, dann auch mit ihnen. Wusstest du, dass ertrinken die häufigste Todesursache bei Kindern ist?“

„In den USA dicht gefolgt von Schusswaffen.“

„Krankes Land.“

„Schon ziemlich … Ich bin froh, dass die Kinder hier aufwachsen. Die Welt ist hier noch ziemlich in Ordnung. Kaum Obdachlosigkeit, keine Gangs, kaum Drogen ...“

„Das Dorfleben hat auch Vorteile, ja. Ich hätte nicht in der Stadt wohnen wollten.“

„Du warst immer hier in Kleinding, oder?“

„Ich war zumindest nie weit weg. Ich brauche meine Wurzeln. Genau wie David. Deshalb bin ich auch sehr froh, dass er heim kommt.“

„Eichhörnchen!“

„Tatsächlich.“

Wir laufen schweigend um den See. Die Stille, die Kälte, der Frieden hier.

Auf dem Heimweg hat Gert ganz schön zu kämpfen. Unterhalten kann er sich jedenfalls nicht mehr. Ich versuche, mir nicht anmerken zu lassen, dass ich locker nochmal die gleiche Strecke schaffen würde und bleibe immer schön neben ihm.

„Gert, Griaß di!“

Ein Ehepaar in Gerts Alter macht wohl gerade einen Morgenspaziergang. Er mit Schirmmütze und Trachtenjacke, sie mit Pelzkragen.

„Griaß eich!“, schnauft Gert und bleibt stehen.

Ich verstehe von dem Smalltalk der folgt nur sehr wenig. Was ich aber deutlich verstehe, ist, dass Gert mich als seinen zukünftigen Schwiegersohn vorstellt. Ich schüttle die Hände.

„Ach, die Klara heiratet?“

„Nein, der David.“

Erstmal sind die beiden sichtlich verwirrt. Dann erklärt Gert:

„Ihr wisst doch, dass unser Bub schwul ist, oder?“

Man sieht richtig, wir die beiden erst absolut überfahren sind, dann aber schnell versuchen, ihre Mimik wieder in den Griff zu kriegen und freundlich nicken. Das Gespräch ist danach relativ schnell um.

„Danke“, lächle ich ihn an.

„Wofür?“

„Dass du zu mir stehst.“

„Natürlich. Was soll ich denn machen? So tun, als wärst du nur ein Freund der Familie? Du bist der Papa meiner Enkelkinder. Und das darf auch jeder wissen.“

„Ich würde dich jetzt echt gern umarmen, wenn ich nicht so schwitzen würde ...“, lache ich.

Er klopft mir auf die Schulter und läuft weiter.

Es dauert aber nicht lange und wir treffen das nächste flanierende Paar.

„Guten Morgen, Gert!

„Guten Morgen, ihr zwei.“

Die Frau wechselt sofort ins Englische.

„Du musst Jordan sein. Guten Morgen. Ich bin Annegret, eine Freundin von Mona. Ich hab schon viel von dir gehört.“

„Guten Morgen und vielen Dank für's Englisch-Sprechen. Ich tu mich mit Bayerisch noch schwer.“

„Das wird schon. Und ihr joggt ein bisschen?“

„Ich muss ja fit bleiben, für die Enkelkinder“, grinst Gert stolz. „Die Rennen mir ja sonst davon.“

Wir plaudern noch kurz und ich erfahre, dass Annegret die Mutter von Flo, einem Schulkameraden von David ist. Sie hat auch schon zwei Enkelkinder, die aber leider nicht in Kleinding wohnen. Ich freue mich jedenfalls, dass es hier auch normale Leute gibt, denen nicht die Gesichtszüge entgleisen wenn jemand das Wort „schwul“ gebraucht. Ich hab wirklich ein überraschend gutes Gefühl, hier in der bayerischen Provinz.

Nach einer Dusche bekomme ich von Mona Obstsalat serviert und von David einen Guten-Morgen-Kuss dazu. Ich fühle mich wohl. Mir geht es gut. Der gestrige Tag ist nur noch eine schwache Erinnerung. Ich schreibe Eugen eine Nachricht:

„Sport gemacht, gesund gefrühstückt, fühle mich wie neugeboren. Wie war deine Nacht?“

Seine Antwort kommt sofort:

„Meine Nacht war eine ziemliche Achterbahn. Es freut mich, dass es dir heute gut geht. Schon Zeitung gelesen?“

„Wo ist die Zeitung von heute?“, frage ich in die Runde.

„Noch nicht reingeholt, vor lauter Joggen. Ich hol sie“, meint Gert.

„Nein, bleib sitzen. Ich geh schon“, biete David an.

David

Im Garten zwitschern die Vögel, die Sonne bricht durch den Hochnebel und ein lauer Wind weht. Ich nehme die beiden Zeitungen aus dem Zeitungsrohr und rolle die erste auf. Auf der Titelseite ist ein Bild von Jordan vom Konzert im Paradies. Darüber steht in fetten Lettern:

„Ein gefallener Stern im Paradies“. Ich fange an, den Artikel zu lesen. Die Geschichte, die erzählt wird, ist, dass ein skandalträchtiger Rockstar jetzt nach Seelendorf zieht. Jordan Bonnano sei immer wieder in die Schlagzeilen geraten wegen Drogen, seiner Homosexualität und Gerüchten über Verbindungen zur rechten Szene und sogar zur Mafia. Zuletzt sei der Selbstmord seines Ehemannes Thema in den Boulevardblättern gewesen. Jetzt sucht der gefallene Stern Zuflucht und Ruhe im Paradies in Seelendorf, wo er gemeinsam mit seinem Partner David Lenz eine Gaststätte eröffnen will. Am Ende dann noch ein kurzer Satz dazu, dass 12.000 Euro für eine Familie in Not gesammelten wurden. Nicht zu fassen, was diese Zeitungsfuzzis aus dem Konzert gemacht haben! Ich hole die andere Zeitung heraus. Da finde ich den Bericht auf Seite drei. Und die Überschrift lautet: „Gemeinsam für eine Familie in Not“. Und das Foto von Jordan ist viel besser. Künstlerischer. Ich überlege, ob ich das Kleindinger Echo verschwinden lassen kann. Aber mein Dad würde mit Sicherheit sofort losziehen und sich beim Bäcker eine Ausgabe kaufen. Ich gehe also nach drinnen und lege den guten Bericht auf den Frühstückstisch. Mein Vater übersetzt für Jordan und alle freuen sich, vor allem auch über den Aufruf für weitere Spenden.

„Und das Echo?“, fragt mein Vater.

„Das hat etwas mehr Richtung Boulevard berichtet“, sage ich und lege die Zeitung in die Mitte.

„Oh ...“, macht mein Vater.

„Was?“, fragt Jordan und versucht, aus der Überschrift schlau zu werden.

Ich übersetze ihm den ganzen Bericht. Er wird immer kleiner auf seinem Stuhl.

„...So bleibt die Frage, ob Bonanno im Paradies sesshaft werden wird, oder ob es sich nur um eine weitere Station im bewegten Leben des 34-Jährigen handelt. Die Zeit wird es zeigen.“

Mein Vater haut ein paar Schimpfworte raus und stapft zum Telefon.

„Schatz …?“

Jordan schüttelt den Kopf, macht klar, dass er grad nicht drüber reden kann.

Mein Vater verlangt am Telefon den Abo-Service und erklärt, dass er sein Abo des Echos nach 30 Jahren mit sofortiger Wirkung kündigt. Wenn er Boulevard lesen wollen würde, würde er die Bunte abonnieren. Er gibt kurz seine Daten durch und legt dann auf.

„Es tut mir Leid, dass alle eure Freunde und Bekannten jetzt beim Frühstück dieses Zeug über mich lesen … Es tut mir Leid, dass das jetzt alles auf euch zurückfällt.“

„Jordan, du kannst doch nichts dafür, dass diese Schmierfinken so einen Müll schreiben ...“, erkläre ich.

„Doch, ich hätte damit rechnen müssen, dass die Presse hier genau so sensations-geil ist wie in L.A. Ich hätte dieses Konzert nicht machen sollen...“

„Du hast damit einer Familie mit vier Kindern in großer Not geholfen.“

„Ja, und dafür wird unsere Familie jetzt im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Alle Eltern und Erzieherinnen im Kindergarten haben das jetzt gelesen. Alle Seelendorfer, alle hier in Kleinding … die glauben jetzt alle, dass ich ein rechtsradikaler Verbrecher bin.“

Es klingelt. Dabei ist es grad mal acht Uhr morgens. Meine Mutter geht zur Tür. Mein Großvater kommt mit einer Ausgabe des Echos herein.

„Habt ihr das gelesen?“, fragt er aufgebracht. „Mein Telefon hat schon sturmgeklingelt, heute früh. Die Leute fragen mich, ob ich mir die Mafia in die Familie geholt hab. Oder einen Rechten. Da steht mein Name in der Zeitung!“

„Jetzt mal langsam“, findet mein Vater. „Wer hat bei dir angerufen?“

„Der halbe Stammtisch und sogar der Burger aus Seelendorf. Die haben alle heute Morgen die Zeitung aufgeschlagen und Lenz gelesen! Neben diesem ganzen schlimmen Zeug.“

Ich bin froh, dass Jordan nicht versteht, was mein Großvater da vom Stapel lässt. Es klingelt schon wieder. Meine Mum macht auf. Max kommt mit einer Ausgabe des Echo herein.

„Habt ihr das schon gesehen?“

„Scheinbar hat es die ganze Welt schon gesehen ...“

„Was macht ihr dagegen?“, fragt er an Jordan gewandt.

„Was sollen wir machen? Es stimmt ja alles, was da steht.“

„Die unterstellen dir, ein Rechter zu sein! Die unterstellen dir, Mafia zu sein!“

„Nein, sie schreiben, dass mir eine Verbindung unterstellt wurde. Und das stimmt ja. Juristisch ist das wasserdicht. So viel hab ich inzwischen über das Presserecht gelernt ...“

„Willst du dich denn nicht wehren?“, fragt Max empört.

„Mit welchem Ziel? Es ist doch zu spät. Die Leute haben das jetzt alles gelesen und damit haben sie es im Kopf. Das kriegt man da nicht mehr raus.“

„Hey, wo ist dein Kampfgeist, Junge?“, fragt mein Vater.

„Irgendwo auf dem Weg verloren gegangen“, zuckt er die Schultern. „Ich leg mich noch ein bisschen hin. Joggen war anstrengend.“

Damit lässt er die ganze Versammlung stehen.

„Lass ihn gehen“, rät mir meine Mutter, als ich hinterher will. „Er muss das erstmal verdauen.“

Ich bin so verdammt wütend! Und mein Großvater steht grad da und ist das perfekte Opfer:

„Echt, Opa. Musste das sein?! Kannst du nicht erst mit mir reden bevor du hier rein platzt und mir vorwirft, dass ich deinen Namen in den Dreck ziehe?! Traust du mir echt zu, dass ich mit Jordan zusammen wäre, wenn da was dran wäre?!“

„Die Zeitung wird ja wohl kaum was schreiben, das nicht stimmt.“

„Hey!“, fährt mein Vater dazwischen. „Jetzt holt mal tief Luft, alle beide. Die Zeitung muss sich verkaufen, deshalb steht da sehr wohl mal was überspitztes drin. Jordan ist ein guter Kerl. Er ist weder rechts, noch kriminell. Und er gehört jetzt zu dieser Familie. Deshalb stehen wir geschlossen hinter ihm. Egal wie unangenehm das wird. Wir kämpfen uns da durch.“

„Aber was wenn Jordan gar nicht kämpfen will?“, fragt meine Mutter. „Was, wenn er gerade keine Kraft hat, für seinen Ruf zu kämpfen? Was, wenn es ihm eigentlich sogar egal ist, was die Leute denken? Was, wenn ihr und euer blöder Namensstolz eigentlich der Grund seid, dass er so geknickt ist? Was, wenn es ihm bloß darum geht, dass er euch enttäuscht hat?“

Jordans Handy klingelt auf dem Tisch. Severin. Ich gehe dran:

„Hey, ich bin's, David.“

„Habt ihr das Echo schon gelesen?“

„Ja. Warte, ich stelle dich auf laut. Hier tagt grad der Krisenrat.“

„Ich fahre in die Redaktion und verlange eine Richtigstellung und einen Spendenaufruf. Kommt wer mit?“, fragt Severin kämpferisch.

„Auf jeden Fall“, sagt mein Großvater mit geballten Fäusten.

„Ich bin auch dabei“, verkündet mein Vater.

„Ich auch“, erklärt Max.

„Und Jordan?“, fragt Severin.

„Ich glaube nicht, dass er mitkommt ...“

„Wie hat er es aufgenommen?“

„Resigniert. Er hat gesagt, man könne es eh nicht mehr ändern und ist zurück ins Bett gegangen ...“

„Okay … das hört sich gar nicht nach ihm an ...“

„Nein, eigentlich scheut er keinen Konflikt ...“

„Machst du dir Sorgen?“, fragt Severin.

„Nicht mehr als gewöhnlich ...“

„Was? Warte, ja doch … Eugen würde gerne mit dir sprechen.“

„Okay, ich mach mal den Lautsprecher aus.“

„Hallo?“

„Hey Eugen … ich bin David.“

„Hallo David. Ich bin nicht mehr auf Lautsprecher, oder?“

„Nein.“

„Kannst du bitte zu Jordan gehen und nach ihm sehen?“

„Ehm ...“

„Nur zur Sicherheit.“

„Okay ...“

Ich gehe die Treppe hoch.

„Er ist im Bad“, flüstere ich. „Ich höre die Dusche laufen. Komisch, eigentlich hatte er vorhin schon geduscht ...“

„Kannst du rein?“

„Er hat abgesperrt.“

„Klopf mal an.“

„Eugen, was soll das eigentlich?“

„Ich will nur hören, ob er antwortet.“

„Denkst du, er könnte sich was antun?“

„Ich will nur hören, ob er antwortet“, wiederholt Eugen stoisch.

Ich klopfe. Keine Antwort.

„Jordan?“

Immer noch keine Antwort.

„Kannst du die Tür von außen aufmachen?“

„Ist das nicht übertrieben?“

„Kannst du?“

„Ich hol eine Münze, damit kann ich das Schloss drehen ...“

Ich suche kurz in meinem Zimmer nach einer Münze. Als ich eine gefunden habe, klopfe ich noch mal lauter.

„Jordan?“

„... Bin gleich draußen.“

„Er hat geantwortet“, sage ich ins Telefon.

„Okay … Severin und ich sind grad schon im Auto, wir sind in ein paar Minuten da.“

„Also soll ich nicht rein gehen?“

„Ich weiß nicht, David. Ich hab ein blödes Gefühl ...“

Jordan schließt die Tür auf. Er ist pitschnass und in ein Handtuch gewickelt.

„Brauchst du was aus dem Bad?“, fragt er.

„Nein, ich wollte nur sehen, ob es dir gut geht.“

„Ich trockne mich kurz ab, dann können wir reden, okay?“

„Okay.“

Jordan verschwindet wieder im Bad.

„Hast du das gehört? Ihm geht es gut.“

„Okay. Wir sind trotzdem gleich da, damit Severin seine Mitstreiter aufgabeln kann.“

Ein paar Minuten später kommt Jordan angezogen aus dem Bad, als es unten gerade klingelt.

„Das ist Severin, der meinen Vater, Max und meinen Großvater abholt, um in die Redaktion zu fahren. Und ehrlich gesagt möchte ich da auch mit und den Presseleuten ein paar Takte über Qualitätsjournalismus erzählen.“

„Okay … ich bleibe dann hier bei den Zwillingen.“

„Das kann auch meine Mum machen. Komm doch mit.“

„Das ist nicht mein Ding ...“

„Okay … Geht es dir einigermaßen? Oder soll ich lieber bei dir bleiben?“

„Nein, ist schon gut. Ich mach mit den Zwillingen einen kleinen Spaziergang, wenn sie gefrühstückt haben.“

„Okay … kommst du dann noch kurz mit runter?“

„Ja ...“

Unten stehen schon Severin und Eugen im Hausflur. Die Horde aus dem Wohnzimmer kommt auch gerade heraus. Mein Vater schiebt alle zur Haustür. Ich lasse Jordan bei meiner Mutter und Eugen zurück und werfe ihm noch einen Luftkuss zu.

Jordan

Mona wedelt mit dem Babyfon:

„Kaum zu glauben, dass die beiden den ganzen Tumult verschlafen haben, oder?“

„Ich würde gern ein bisschen spazieren gehen. Kannst du die Zwillinge übernehmen?“

„Sicher. Mach, was dir gut tut. Ich hab hier alles im Griff.“

„Danke, Mona.“

Ich bedeute Eugen mit einem Blick, dass er herzlich willkommen ist, mit mir zu gehen. Ich schmeiße mir meine Lederjacke über und trete vors Haus, wo ich mir erstmal eine Zigarette anzünde.

„Die brauch ich jetzt“, sage ich entschuldigend.

„Nachvollziehbar.“

„Müssen wir reden?“

„Nein, ich biete dir nur an, zuzuhören ...“

„Und wenn ich keine Lust auf Reden habe?“

„Dann gehen wir einfach ein Stück schweigend nebeneinander her. Könnte etwas seltsam werden, aber was soll's?“, grinst er.

„Denkst du, ich hätte mitfahren sollen und für eine Richtigstellung kämpfen?“

„Ist dir eine Richtigstellung wichtig?“

„Mir ist wichtig, dass David und seine Familie keine Probleme bekommen, meinetwegen.“

„Passt natürlich gut in dein Weltbild, oder? Dass wegen deiner Vergangenheit und der Gerüchte um dich jetzt der Name Lenz durch den Schmutz gezogen wird. Vermutlich gibst du dir selbst die Schuld dran?“

„Bin ich nicht schuld? Ich meine, die meisten meiner Skandale waren hausgemacht.“

„Aber Verbindungen zur rechten Szene, hast du dazu nichts zu sagen?“

„Doch, klar. Dazu hab ich zu sagen, dass Dylan mehr Skin-Kids von der Straße geholt hat als sonst jemand in L.A. und dass meine Familie von Rechten angegriffen wurde, unser Haus zerstört. Und dass ich meine akademische Karriere der Frage widme, wie es in der Szene zu Gewaltbereitschaft und Radikalisierung kommt, welche Gruppendynamik da eine Rolle spielen kann und wie man Menschen da wieder rausholen kann. Das ist meine Verbindung zur rechten Szene. Und nicht – wie angedeutet – irgendwie als Sympathisant.“

„Wow, es tut gut, Kampfgeist in deinen Augen zu sehen. Ich hab mir heute Morgen wirklich Sorgen um dich gemacht ...“

Ich schaue ihn ein bisschen prüfend an, dann entscheide ich, dass ich ihm vertraue.

„Du hast dir zurecht Sorgen gemacht. Ich stand vorhin mit einer Klinge in der Dusche. Ich hab mir das Gefühl vorgestellt, wenn ich die Klinge in meiner Kniekehle benutze. Und da hat was in mir geklickt, etwas hat sich geändert. Mir war klar, dass ich nicht mehr dieser Jordan bin, von früher. Ich kann die Angst aushalten, ich kann dran arbeiten, herauszufinden, was mich wirklich bewegt – ohne sofort alle schlechten Emotionen wegmachen zu müssen. Ich bin stark genug, das auszuhalten und vielleicht sogar Energie draus zu ziehen. Nicht für David, nicht für meine Kinder, sondern weil ich es mir selbst schulde. Ich hab meinem Körper schon genug zugemutet. Und meiner Seele auch. Ich hab es verdient, dass es mir besser geht. Ich will mich selbst nicht mehr bestrafen. Ich will mich selbst nicht mehr hassen. Ich will mir selbst helfen.“

Eugen strahlt mich an:

„Ich bin froh, dass ich nicht dein Therapeut bin. Deshalb kann ich jetzt das tun.“

Er umarmt mich herzlich und sagt:

„Herzlichen Glückwunsch. Du bist heute ein großes Stück näher ans Glück gekommen.“

„Danke für deine Hilfe dabei. Und jetzt will ich in die Redaktion und denen zeigen, wer ich wirklich bin.“

„Richtig so!“, strahlt er.

David

Wir quetschen uns alle fünf in Max' BMW. Links von mir sitzt mein Vater, rechts Severin. Mein Großvater thront auf dem Beifahrersitz. Alle reden wild durcheinander, darüber, wie die Presselandschaft zunehmend verkommt, darüber, dass die sozialen Medien Schuld sind, dass die Zeitungen draufgehen, darüber, dass Journalisten früher mal einen Ehrenkodex hatten. Als wir vor dem Zeitungsgebäude aussteigen, sind wir ein eingeschworenes Team. Wir halten kurz Kriegsrat und beschließen, direkt zum Chefredakteur zu marschieren. Wenn man uns lässt. Wir landen erst mal an einem Empfangstresen bei zwei älteren Damen, denen mein Vater schildert, warum wir hier sind. Sie winken sofort ab:

„Gerade ist Redaktionskonferenz. Kommen sie nachmittags wieder, wenn die Ausgabe für morgen fertig ist.“

Aber so leicht lassen wir uns nicht abspeisen. Wir diskutieren fleißig weiter – drehen uns dabei aber im Kreis.

Auf einmal stehen Jordan und Eugen da.

„Redaktionskonferenz“, erklärt Severin ihnen. „Wir sollen am Nachmittag wiederkommen.“

„Ist doch ideal“, findet Jordan. „Dann sind gerade alle beisammen.“

Er geht unbeirrt weiter, die Empfangsdamen rufen ihm hinterher, dass das nicht geht. Davon lässt er sich aber nicht abhalten, sondern geht durch eine Glastür. Wir laufen alle schnell hinterher.

Der Konferenzraum ist gleich im Erdgeschoss. Etwa 25 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sitzen im Kreis um einen großen Tisch und hören einem älteren Mann dabei zu, wie er von einem geplanten Artikel über ein Feuerwehrfest erzählt.

Jordan

„Guten Morgen, die Herrschaften. Mein Name ist Jordan Handerson und ich werde Ihnen jetzt fünf Minuten ihrer Zeit klauen. - Darf ich mal, vielen Dank. Das hier ist die heutige Ausgabe ihrer Zeitung. Und das hier ist mein Gesicht. Sehen sie? Wollen wir doch mal sehen, was da steht. Entschuldigung, mein Deutsch ist schlecht, aber hier: Da steht es. Kontakt zur rechten Szene. Mafia. Homosexuell. Naja, immerhin habt ihr eins von drei richtig, hm? War ja ein ganz schöner Aufmacher, diese Titelgeschichte. Jetzt mal eine Frage: Wer von euch hält sich für einen seriösen Journalisten, Hände hoch. Was? Nur zwei? Drei? Der Rest nicht? Ah, doch, gell. Alle? Das ist gut. Und Hand hoch, wer denkt, es sollte über Fakten berichtet werden, nicht über Gerüchte? Oh, das sind Viele. Gegenstimmen? Keine? Super. Ich bin hier, um euch die Fakten über mich zu liefern. Wir werden uns noch oft begegnen, denn – wie ihr ganz richtig geschrieben habt, werde ich mit meinem Partner – David, wink mal! Seht ihr, das ist David Lenz. Kam in eurem Artikel auch vor. Damit ihr mal ein Gesicht zum Namen habt. Also, jedenfalls werden David und ich eine Gaststätte in Seelendorf eröffnen. Mit einem Veranstaltungssaal. Da werdet ihr viel zu berichten haben, aus unserem Saal. Konzerte, Vereinsfeiern, Lesungen, Parties. Ist doch dann auch immer schön, zu wissen, mit wem man es zu tun hat. Also, Fakt eins über mich: Pressearbeit kann ich. Wer ist denn verantwortlich für euren Kulturteil? Du? Hey, warte, ich komm mal rüber. Hi, ich bin Jordan.“

„Konstantin.“

„Hallo Konstantin. Lust auf ein Interview? Ich geb dir 500 Wörter zu meinen Lieblingsalben in der Musikgeschichte, kurzweilig, amüsant und gut online zu vermarkten. Was meinst du? Lust, mal über was anderes als über Schützenfeste und 50-Jahr-Feiern zu berichten?“

„Ähm, sicher. Gerne ...“

„Habt ihr auch eine Life-Style-Sparte? Nein? Noch nicht?“

„Wird gerade diskutiert.“

„Macht das! Das wollen die Leute lesen! Hey, eine Idee dazu: Wusstet ihr, dass wir im Paradies rein vegetarisch leben? Wöchentlich ein vegetarischen Rezept aus dem Paradies, wie klingt das? Würden wir hinkriegen, oder, Severin?“

„Auf jeden Fall.“

„Und was wollen die Leute noch lesen? Dramen. Glaubt mir, mit Dramen kenn ich mich aus. Da kann ich euch ein ganzes Buch füllen. Wie ist es, rauszufinden, dass der eigenen Opa ein Gangsterboss ist? Wie ist es, jemanden zu heiraten, der Aussteiger aus der rechten Szene ist und fast täglich Morddrohungen bekommt? Und wie ist es, als Punk in die bayerische Provinz zu ziehen? Wechseln die Leute mit ihren Dackeln die Straßenseite, wenn sie einen sehen? Oder auch etwas politischer: Wie ist es, sich als schwuler Mann in Bayern ein Baby zu wünschen? Welche Möglichkeiten hat man da eigentlich und ist das alles richtig wie es ist? Mach ich euch aus dem Stegreif je 2000 Wörter draus. Alles kein Ding. Meine einzige Bedingung: Fragt mich. Redet MIT mir, nicht über mich. Lasst mich zu Wort kommen. Checkt die Fakten mit mir ab. Den Pressekontakt findet ihr auf meiner Homepage. Oder ihr schreibt mir einfach bei Facebook. Wir sind doch Kollegen, lasst uns zusammenarbeiten, hm? So … jetzt noch eine kurze Fragerunde, falls was unklar geblieben ist. Und dann geht es weiter mit der Redaktionskonferenz. Also … Fragen? Ja, Konstantin?“

„Was ist denn dein Lieblingsalbum aller Zeiten?“

„Uuuh, ganz schwere Frage. Es gibt da sicher fünf oder sechs. Aber wenn ich wählen muss, dann ist das Pink Floyd. Wish you were here. Oder doch Appetite for Destruction? Ja, doch. Guns'n Roses schlägt Pink Floyd. Wer hatte sonst noch die Hand gehoben? Ja, du?“

„Können wir ein Foto für Social Media machen?“

„Sicher, aber den Text bitte durch meine Pressestelle freigeben lassen. Einfach eine Mail an media@venice-music.com schreiben. Ihr kriegt innerhalb weniger Stunden eine Antwort.“

„Hier so mit dem ganzen Kultur-Team?“

„Klar.“

Wir machen ein Selfie.

„Fertig. Sieht gut aus.“

„Ja, passt. Sonst noch Fragen? Nein? Gut, dann wünsch ich euch noch frohes Schaffen und auf gute Zusammenarbeit! Servus!“

Das Redaktions-Team klatscht. Und meine Meute klatscht auch.

„Gemma?“, frage ich auf Bayrisch.

David strahlt mich an und hakt sich bei mir unter. Die Damen vom Empfang lachen und heben etwas drohend den Zeigefinger. Draußen auf dem Parkplatz umarmen mich alle. Gert lacht:

„Ich bin echt stolz auf dich. Du hast offiziell die Erlaubnis, meinen Namen zu tragen.“

Davids Großvater gratuliert mir und schüttelt mir herzlich die Hand. Der Chefredakteur kommt raus auf den Parkplatz. Er nimmt mich beiseite.

„Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen. Der Artikel hätte so in dieser Form nicht erscheinen dürfen. Ich war gestern familiär bedingt verhindert und der Ressortleiter hat den Artikel des Freiberuflers einfach durchgewunken. Das tut mir wirklich sehr Leid. Das entspricht definitiv nicht meinen journalistischen Ansprüchen und auch nicht denen unserer Zeitung. Ich hoffe, wir werden trotzdem gut zusammenarbeiten können. Und ich möchte auch gerne eine Richtigstellung drucken, in der Sie selbst zu Wort kommen. Wenn wir heute Nachmittag telefonieren können, wäre das Interview in der Ausgabe übermorgen. Was meinen Sie?“

„Gerne. Hier ist meine Karte. Bitte geben Sie die Nummer nicht weiter.“

„Gut, dann kontaktiere ich Sie immer direkt. Vielen Dank für Ihren Besuch. Das war wirklich … imposant. Schon mal über eine Karriere in der Politik nachgedacht?“

„Politik-Beratung und PR-Beratung ist eher meins. Ich schreibe Reden lieber als sie selbst zu halten.“

„Falls Sie in der Richtung mal einen Job suchen, sagen Sie Bescheid. Meine Frau arbeitet auch auf dem Gebiet.“

„Danke, vielleicht komm ich drauf zurück. Gut, dann auf gute Zusammenarbeit und Sie melden sich heute Nachmittag?“

„Genau. Vielen Dank. Und liebe Familie Lenz, ich hoffe, ihr Abo kann dann doch bestehen bleiben?“

Gert grinst:

„Na gut, dann wollen wir mal nicht so sein.“

Mona, Davids Großmutter und die Zwillinge erwarten uns Zuhause schon mit Kaffee und Apfelkuchen für alle. Ich sitze inmitten von all diesen lieben Leuten und weiß, dass Bayern meine neue Heimat ist. David hält meine Hand, während er mit seinem Großvater über den Golf fachsimpelt. Severin und Gert reden über Tennis und Max, Eugen und Mona sprechen darüber, wie es mit Max' Mutter weitergeht und wie man dafür sorgen kann, dass sie nicht nur bekommt was sie braucht, sondern wieder neuen Lebensmut fasst. Davids Großmutter liest Jake ein Buch vor und April sitzt auf meinem Schoß und strahlt.

„Papa? Können wir hier bleiben?“

„Wir müssen nochmal zurück nach L.A. um all unsere Sachen zu holen und uns von allen dort zu verabschieden. Aber dann kommen wir wieder hierher und bleiben für immer da.“

„Jaaaa!“

Severin lächelt immer wieder unsicher zu mir rüber. Ich weiß, dass ich mich noch mit ihm aussprechen muss, bevor wir zurückfliegen. Eugen legt seinen Arm um ihn:

„Sollen wir langsam zurück fahren?“

Severin schmiegt sich in seine Umarmung.

„Okay.“

„Ich komm kurz mit raus“, erkläre ich, während die beiden sich von der Runde verabschieden.

„Vielen Dank, dass ihr mich heute unterstützt habt“, sage ich draußen.

„Du warst wirklich grandios“, findet Severin. „Ich bin froh, dass du dich gewehrt hast.“

„Severin … ich … ich will nicht wegfliegen, ohne dass wir geklärt haben, wie wir zueinander stehen ...“

„Okay …“

Er schaut mich ziemlich ängstlich an.

„Severin, in einem anderen Universum … da sind wir beide uns vielleicht früher begegnet, auf meiner Europatour, vielleicht auf dem Festival damals … oder in deiner Bar in Prag oder … was weiß ich. Und in diesem Universum hab ich mich vermutlich aus dem Stand unsterblich in dich verknallt und diese seltsame kosmische Verbundenheit, die wir spüren, hätte eine ganz andere Richtung genommen. Aber hier und jetzt in diesem Universum, da kann ich das nicht machen. Da kann ich es nicht zulassen, auch wenn ich es spüre. In diesem Universum ist es David und nur David.“

„Ich verstehe ...“

„Severin, ich will wirklich, dass wir Freunde werden. Glaubst du, du kannst das aushalten?“

Er seufzt:

„Ich muss wohl lernen, das auszuhalten.“

„Wie lief es mit Christian?“

Severin rauft sich die Haare und bedeutet Eugen, dass er gern antworten darf.

„Christian war sehr … emotional drauf, gestern.“

„Wütend“, wirft Severin ein.

„Ja, wütend und er konnte sich der Idee, dass es nichts über die Gefühle zwischen zwei Menschen aussagen muss, wenn einer der beiden auch noch jemand anderen liebt, nicht wirklich öffnen ...“

„Er wollte nicht mal richtig zuhören“, ergänzt Severin.

„Das ist aber auch arg kopflastig gedacht. Ihr werdet ihn nicht mit Argumenten und Ideen überzeugen können ...“

„Wie dann?“, will Severin wissen.

„Mit Mitgefühl. Ich stand schon mal da, wo Christian jetzt steht. Mein Exfreund hat mir nach einiger Zeit eröffnet, dass er nebenbei immer noch mit seiner Freundin zusammen ist und daran auch nichts ändern will. Dass das nichts mit seinen Gefühlen für mich zu tun hat, hat er immer wieder gesagt, aber das kam bei mir nicht an. Ich hatte noch nie die Erfahrung gemacht, zwei Menschen gleichzeitig zu lieben. Für mich war klar, wenn er sie liebt, kann er mich nicht lieben. Für mich war klar, dass er gegen die Regeln spielt. Dass er sich die Welt hinbiegen will, damit er sich nicht entscheiden muss … Letztendlich hab ich mich auf eine Dreierbeziehung eingelassen, aber ich kam mir dabei irgendwie erpresst vor. Und lange gehalten hat das auch nicht. Sie blieben immer das Paar und ich das Anhängsel.“

„Aber Christian ist doch kein Anhängsel! Das sind doch verblödete Konventionen, die uns eingetrichtert wurden!“

„Ja, Severin, aber die sind sehr tief in uns drin. Ob das jetzt richtig oder falsch ist, das ist einfach so. Ich will eure Beziehung aber auch gar nicht mit meiner damals gleichstellen. Das war alles viel unreifer als bei euch. Ihr beide wisst ja sehr klar, was ihr wollt und macht es aus freien Stücken, aber Christian ist einfach in der Außenseiterposition. Ich verstehe, dass ihm das Angst macht ...“

„Wie sollen wir es ihn denn leichter machen?“, fragt Eugen.

„Gebt ihm möglichst viel Kontrolle und die Sicherheit, dass er Severin auf keinen Fall verlieren wird. Dann baut ihr zumindest ein paar Widerstände ab ...“

„Ich glaub, das ist ein guter Tipp“, meint Severin und umarmt mich kurz.

Eugen fügt dazu:

„Und fahr mit ihm weg, nur ihr beide, ein paar Tage lang. Einfach mal in einem anderen Umfeld sein, nicht hier, wo ihr eure Kindheit verbracht habt ...“

„Vielleicht wäre das hilfreich, ja … Jordan, dankeschön. Bis bald.“

Er umarmt mich kurz und geht Richtung Auto. Eugen bedeutet Severin, schon mal vorzugehen. Dann schaut er mich prüfend an.

„Du siehst aus, als ginge es dir gut.“

„Mir geht es grad auch gut. Ich freu mich sehr drauf, hier zu leben.“

„Du weißt, du kannst jederzeit bei mir anrufen.“

„Ich weiß. Danke, Eugen.“

„Wir sehen uns im Herbst“, grinst er.

Drinnen wird gerade eifrig auf deutsch diskutiert.

„Was ist los?“, frage ich.

„Alle hier haben sich gewundert, wegen Eugen und Severin. Ich hab versucht zu erklären, was genau da läuft. Und naja, meine Eltern und Großeltern sind grad leicht geschockt.“

„Und ich auch“, ergänzt Max.

„Ich verstehe ...“

„Geht's dir nicht so?“, fragt mich Mona.

Ich seufze: „Naja, ich könnte mir nicht vorstellen, in einer Poly-Beziehung zu leben. Aber ich konnte mir mit 18 auch nicht vorstellen, mich in einen Mann zu verlieben. Mit 20 konnte ich mir nicht vorstellen, jemals Kinder zu bekommen. Und vor zwei Jahren konnte ich mir nicht vorstellen, jemals ohne Dylan glücklich sein zu können. Und vor allem konnte ich mir vor ein paar Wochen noch nicht vorstellen, jemals in ein bayerisches Dorf zu ziehen. Und jetzt schaut mich an. Man weiß nie, was das Leben bringt. Deshalb sag ich: Leben und leben lassen.“

„Gesprochen, wie ein echter Bayer“, lacht Mona.

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