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Summer in Paradise - Band 1

Teil 5

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Informationen

Jordan

Schon am Morgen meines Hochzeitstages bin ich in seltsamer Stimmung. Ich bin total hibbelig, muss was tun, räume den Geschirrspüler aus und zerschlage dabei versehentlich eine Tasse, schneide mich an einer der Scherben, schmeiße den Kaffeefilter neben den Mülleimer, schlage mir den Kopf beim Saubermachen an einer offenen Schublade an. Und das alles vor sieben Uhr morgens. Zum Glück bin ich allein in der Küche, sonst wäre mir das echt peinlich.

Gert kommt als erster in die Küche und nimmt sich Kaffee.

„Guten Morgen.“

„Guten Morgen, Jordan. Dass du heute schon auf bist?“

„Severin holt mich in einer halben Stunde ab. Wir gehen wandern.“

„Ach ja, richtig. Hast du Ausrüstung?“

„Was brauch ich denn da groß?“

„Gute Schuhe, eine warme Jacke, eine Mütze und viel zu Trinken. Außerdem einen Regenschutz, Wechselsocken, ein paar Kalorien ...“

„Okay … ich hab eine Flasche Wasser, eine Banane und meine Lederjacke ...“

„Ich geh mal kurz in den Dachboden. So kann ich dich nicht losmarschieren lassen.“

Zehn Minuten später kommt er mit seiner Berg-Ausrüstung in die Küche.

„Ich wollte eigentlich nicht auswandern“, lache ich.

„Ich wollte das alles eh mal wieder sortieren. Hier, probier die Jacke an. Die müsste lang genug sein.“

Ich schlüpfe in die rote Funktionsjacke. Sofort wird mir warm.

„Passt dir gut! Und hier die Mütze.“

„Brauche ich die wirklich?“, frage ich und begutachte den dicken Wollbommel skeptisch.

„Oben auf dem Berg ist es eiskalt. Du wirst froh sein, dass du sie dabei hast. Hier, jetzt der Rucksack.“

„Was soll ich in das Riesen-Teil denn alles rein tun?“

„Vier Liter Wasser, um den Flüssigkeitsverlust auszugleichen. Zwei Bananen, ein paar Scheiben Brot. Ersatzsocken, falls du nasse Füße bekommst. Ein Seil, nur für den Fall. Und natürlich einen Regenponcho. Das Wetter kann da oben sehr schnell umschlagen. Ansonsten natürlich noch einen kleinen Verbandskasten, das ist ja logisch. Schuhe in deiner Größe hab ich nicht, aber ich hoffe, du willst nicht ernsthaft mit diesen Turnschuhen auf den Berg?“

„Ich besitze nur Chucks ...“

„Dann zieh wenigstens dicke Wollsocken drunter. Am Berg ist es kalt.“

„Okay...“

David kommt verschlafen in die Küche als ich in voller Montur neben dem Küchentisch stehe.

Er lacht: „Dad, das ist doch total übertrieben. Und die Mütze! Ich muss das fotografieren. Ein Wüstenbewohner in den Bergen“, lacht er und schießt mit seinem Handy ein Foto.

Dann umarmt er mich und flüstert:

„Lass einfach alles sinnfreie in Severins Auto.“

Ich nicke verschwörerisch und verabschiede mich, um draußen auf Severin zu warten.

Severin kommt mit einem relativ neuen E-Auto angefahren. Er parkt und hilft mir, meinen Rucksack zu verstauen. Meine seltsam aufgekratzte Stimmung hält an. Ich erzähle Severin Geschichten von früher, aus der Bandzeit. Er erzählt von seiner ersten Zeit in Prag und wir stellen fest, dass er auf einem Festival war, auf dem wir auf der Europatour gespielt haben. Ich labere und labere und komme mir vor, als hätte ich zu viel Kaffee getrunken. Die zwei Stunden Fahrt sind deswegen auch ganz schön anstrengend. Für Severin, weil ich ihm ein Ohr abkaue und für mich, weil ich so lange still sitzen muss.

Endlich parken wir an einer E-Ladestation. Ich steige aus Severins Auto und schaue mich um. Überall sind Berge. Ich hab sowas noch nie gesehen.

„Willkommen in den Alpen.“

„Das ist der Hammer! Spürst du diese Kraft, hier? Spürst du das Alter? Die Zeit, die diese Berge gebraucht haben, um sich in die Höhe zu falten? Spürst du, wie klein wir sind?“, frage ich und hüpfe dabei auf und ab, um Energie loszuwerden.

„Hört sich an, als würdest du einen Song schreiben wollen“, lächelt er.

„Ich könnte ein ganzes Album hierüber schreiben. Wo gehen wir hin?“

„Zur Seilbahn.“

„Wie? Wir gehen da nicht selbst hoch?“

„Wir werden da oben noch genug rumlaufen können, keine Sorge. Die Talstation ist gleich da oben, zehn Minuten von hier.“

Wir schnallen uns die Rucksäcke um und laufen schweigend los. Ich muss mich sehr bemühen, endlich mal die Klappe zu halten.

Die Seilbahn-Gondel ist nicht gerade groß und nicht gerade neu. Dafür haben wir aber eine ganze für uns alleine.

„Wow, der Ausblick! Lass uns ein Foto davon machen!“, schlage ich vor und merke selbst, dass ich total hibbelig bin – im Gegensatz zu Severin, der mal wieder die Ruhe selbst ist.

„Klar.“

Ich setze mich neben ihn und knipse ein Selfie mit dem Tal im Hintergrund. Dann will ich mich wieder auf meinen Platz gegenüber setzen.

„Warte“, bittet Severin und hält mich an der Schulter zurück. „Die Auffahrt dauert noch ein paar Minuten. Hast du Lust, eine Atemübung mit mir zu machen?“

„Äh …?“

„Schau in die Weite, genieß den Blick.“

„Okay ...“

„Und jetzt achte darauf, wie dein Atem fließt. Atme tief ein, richtig tief in den Bauch.“

Er legt seine Hand auf meinen Bauch, ganz selbstverständlich, fast wie ein Arzt. Ich versuche, so zu atmen, dass ich seine Hand hochhebe. Das kenn ich vom Stimmtraining.

„Lass deinen Atem fließen, tief wie das Tal. Und langsam, wie die Gondel.“

Ich schaue über das Tal und atme tief ein und aus. Ich werde ruhiger. Meine Gedanken werden ruhiger.

„Achte auf drei Geräusche, die du wahrnimmst und hör genau hin.“

Ich höre die Rollen der Gondel auf dem Drahtseil. Ich höre meinen Tinnitus. Und ich höre meinen Atem.

„Wir sind gleich da. Mach dich mal weit, richte dich auf, heb den Kopf, streck dich, werde munter.“

Ich gähne und strecke mich und fühle, wie die Energie in mich zurück kommt und ich mich auf die Bewegung bei der Wanderung freue. Aber die Energie ist jetzt anders als vor der Gondelfahrt. Jetzt ruhe ich mehr in mir, kann schweigend aussteigen und neben Severin hergehen, ohne ständig quasseln zu müssen. Ich sehe die Berge um uns herum, und das Tal, in dem wir gerade noch standen. Und ich sehe Wälder und Felsen und spüre den Wind in meinem Gesicht. Ich bleibe stehen, weil ein Gedanke mich aus der Entspannung holt. Eigentlich ein schöner Gedanke: Dylan würde es hier lieben. Wenn er hier bei mir wäre, würde er mir den Arm um die Hüfte schlingen und sagen, dass dieser Ausblick Kriege beenden könnte, weil er so friedlich ist. Weil er uns zeigt, worum es im Leben geht. Ich sehe seine leuchtenden Augen vor mir. Ich fühle den überschwänglichen Kuss, den er mir geben würde. Ich wünschte, er könnte mich jetzt in den Arm nehmen.

Severin steht neben mir und genießt den Ausblick. Er gibt mir den Raum, den ich gerade brauche, um meinen Gedanken nachzuhängen. Ich gehe weiter, als ich soweit bin. Der Weg führt durch ein schattiges Waldstück mit großen Steinbrocken und kleinen Rinnsalen, die Tauwasser vom Berg herunter bringen. Meine Jacke hält mich warm. Ich schmiege mich in den Kragen und atme die kalte Luft ein. Dylans warme Hände in meinem Nacken, wenn ich verspannt war.

Es dauert ungefähr eine halbe Stunde, bis wir aus dem Wald heraus kommen und die Sonne wieder auf uns scheint. Wir sehen das Tal wieder. Severin setzt sich auf einen Felsen in den Schneidersitz und schaut hinunter.

„Gib mir ein paar Minuten“, bittet er.

Seine Hände liegen mit den Handflächen nach oben auf seinen Knien und es sieht aus, als würde er Sonne tanken. Ich setze mich auf eine Bank ein paar Meter entfernt und trinke einen Schluck aus meiner Flasche. Ich beobachte die Wolken am Himmel und frage mich, ob Dylan von da oben runter schaut. Ich muss ein bisschen lachen, bei dem Gedanken.

Severin streckt sich und steht auf. Dann kommt er zu mir rüber und lächelt.

„Diesen Frieden finde ich sonst nirgendwo.“

„Ja, hier ist es still und die Welt ist, wie sie sein soll.“

Severin trinkt einen Schluck, dann sitzen wir still nebeneinander. Ich möchte ihm gerne erzählen, wie es mir geht. Aber ich bin nicht sicher, ob er das gerade hören will.

„Severin?“

„Hm?“, fragt er lächelnd.

„Danke, dass du mich mit hier hoch genommen hast.“

„Wie fühlst du dich?“

„So als wäre ich nah an Dylan dran. So als könnte ich seine Hand spüren. So als würde er mich ansehen.“

„Heute ist der Jahrestag eurer Verbindung. Ich glaube, dass eure Seelen sich an diesem Tag finden, egal wo sie sind.“

„Das ist eine schöne Vorstellung.“

„Wenn er jetzt hier bei dir wäre, nicht ich, was würdest du sagen? Was würdest du tun?“

Ich überlege, ob ich mich auf das Rollenspiel einlassen will und spüre, dass es Sachen gibt, die ungesagt geblieben sind. Also drehe ich mich zu Severin und schaue ihn an:

„Ich würde ihm sagen, dass … dass alles gut wird. Ich würde ihm versprechen, dass seine Kinder bei mir sicher sind. Und dass ich ihnen niemals ein schlechtes Wort über ihren Vater sagen werde. Aber ich wäre auch wütend. Ich würde fragen, warum. Ich will wissen, warum er das getan hat. Warum er mich verlassen hat. So endgültig. Vielleicht, wenn ich nochmal in seine Augen schauen könnte, wenn ich darin sehen könnte, dass er bereut, was er getan hat, dann könnte ich ihm vielleicht verzeihen. Vielleicht könnte ich dann diese Wut endlich loslassen. Vielleicht könnte ich dann zur nächsten Phase übergehen. Vielleicht könnte ich dann akzeptieren, was geschehen ist und beginnen, zu heilen? Vielleicht könnte ich dann glücklich sein, ohne Schattenseite? Vielleicht könnte ich dann das Gute, das wir hatten, behalten und das Schlechte loslassen? Aber ich hab niemanden mehr, auf den ich wütend sein kann.“

„Sei wütend, Jordan. Du hast jedes Recht dazu.“

„Du hattest kein Recht, einfach zu verschwinden!“, schreie ich in den Himmel. „Du hattest kein Recht, alleine so eine Entscheidung zu treffen! Und du hast dich geirrt! Für die Kinder wäre ein kranker Vater besser gewesen als gar keiner! Du hast dich geirrt, ich hätte das durchgestanden, dich so zu sehen! Wenn du mich nicht weggestoßen hättest, dann wäre ich geblieben! Wenn du nicht ständig versucht hättest, mich zu beschützen, dann hätte ICH DICH beschützen können!!“

Mein Zeigefinger sticht hart und vorwurfsvoll gegen seine Brust.

„Du sturer Idiot! Ich hab alles mit dir geteilt und du hast mich nie wirklich hinter deine Mauer gelassen! Ich hasse das! Ich wäre so gerne für dich da gewesen! Ich hätte das geschafft, aber du hast mich nicht gelassen. Ich hab mich so schwach gefühlt. Du hast mich so schwach gemacht!“

Er hält mich fest. Ich weine und schimpfe. Und er hält mich einfach nur fest. Bis ich nicht mehr weinen muss. Bis ich nicht mehr schimpfen muss.

Natürlich ist mir klar, dass da nicht Dylan sitzt, sondern Severin. Aber es tut gut, das alles endlich laut zu sagen. Es tut gut, mir vorzustellen, dass Dylan mich festhält. Wir atmen im gleichen Takt, das hilft mir, mich zu beruhigen. Unsere Brustkörbe sind nah aneinander gepresst. Seine Lungen füllen sich, meine leeren sich. Wir halten uns fest. Langsam kommt mein Geist wieder in der Realität an und mir wird bewusst, wie nah ich Severin bin. Er sitzt auf mir, umschlingt mich mit den Beinen und den Armen, und ich ihn.

„Das ist Tantra“, flüstert er.

„Das ist schräg“, flüstere ich zurück.

„Stimmt, für den Kopf ist es schräg. Für die Seele ist es heilsam. Bist du bereit, dich zu lösen?“

Ich nicke.

„Okay, zuerst sollten wir uns anschauen“, schlägt er vor. „Dazu musst du dein Gesicht aus meiner Kapuze lösen“, lacht er.

„Mir ist das peinlich ...“

„Schau mich an, Jordan“, bittet er.

Ich löse mich also ein Stück von ihm und schaue in sein Gesicht. Er lächelt sein offenes, sympathisches Lächeln.

„Hey“, lächle ich.

„Hey. … Als nächstes sind die Arme dran. Bereit?“

„Ja.“

Wir lassen uns los.

„Ich klettere jetzt von dir runter“, lacht er und ich bin froh, dass er die Situation auch witzig findet.

Er setzt sich neben mich und wir schauen gemeinsam in die Ferne. Ich atme ein paar Mal tief durch und spüre in mich hinein.

„Jetzt ist es besser“, spüre ich.

„Du hast dich sehr schnell öffnen können.“

„Bin ich also ein Tantra-Talent?“, grinse ich.

„Ich glaube, du bist ein Überlebenskünstler. Im besten Sinne.“

„Ich dachte immer, Tantra bedeutet Gruppensex auf Indisch.“

„Ja, das glauben leider Viele und lassen sich dadurch einiges entgehen.“

„An Sex hab ich gerade zumindest überhaupt nicht gedacht.“

„Ja, das ist auch nicht das Ziel.“

„Was ist dann das Ziel?“

„Das Ziel ist, Körper und Geist nicht mehr als unabhängig voneinander wahrzunehmen. Das Ziel ist, Energie strömen zu lassen. Das Ziel ist in deinem Fall Heilung.“

„Aber für's Bett hast du auch Tipps parat, oder?“, grinse ich.

„Auf jeden Fall. Aber jetzt gehen wir erstmal die nächste Etappe. Da gibt es dann Brotzeit.“

Der Weg wird steiniger und mit den Chucks spüre ich jede Unebenheit. Severin muss immer öfter auf mich warten.

„Brauchst du eine Pause?“

„Nein, geht schon.“

Er hält mir die Hand hin, um mich auf den Felsen zu ziehen, auf dem er auf mich gewartet hat.

„Schau dir diese Aussicht an“, sagt er als ich oben stehe und lässt meine Hand los.

Ich spüre, dass ich enttäuscht bin. Nicht über die Aussicht. Sondern darüber, dass er die Verbindung kappt. Anders kann ich es nicht ausdrücken. Ich fühle mich verbunden mit dem Leben, wenn Severin meine Hand hält. Deshalb greife ich wieder danach. Erstaunt schaut er mich an. Ich muss grinsen, denn es gelingt nicht leicht, Severin aus der Ruhe zu bringen.

„Ich kann es dir nicht genau erklären. Aber deine Hand zu halten, tut mir gut.“

„Warum?“

„Weil ich selbst gerade nicht so viel Gutes in mir habe. Ich hab nur Trauer und Wut. Aber du hast diese Liebe für die Welt und die Menschen. Und als du mich vorhin gehalten hast, da habe ich das gespürt. Auch gerade, als du mich hochgezogen hast, da war die Verbindung wieder da. Und ich will nicht, dass die abreißt.“

Er drückt meine Hand:

„Ich verstehe das. Aber trotzdem ist es mir ganz wichtig, das klar zu sagen: Alles Sexuelle ist zwischen uns Tabu.“

„Ja, das ist es auch nicht, was ich will.“

Er nimmt auch meine zweite Hand und schaut mich an:

„Ich fühle die Verbindung auch. Und das ist mir so stark mit noch nicht vielen Menschen passiert. Deshalb macht es mir ein bisschen Angst.“

„Wovor hast du Angst?“

„Ich habe Angst davor, dass ich nicht rechtzeitig merke, wenn ich zu weit gehe.“

„Ehrlich gesagt werde ich aus dem Ganzen noch nicht richtig schlau. Bisher hab ich so eine Verbindung zu Menschen nur aufbauen können, wenn ich mit ihnen geschlafen habe … oder wenn ich zumindest verliebt war. Aber bei dir ist es was anderes. So als wärst du mein Kanal. Mein Lehrer, der mir zeigt, was ich gerade brauche, damit es mir besser geht.“

„Das finde ich schön.“

„Ich glaube aber, dass das von Außen nicht zu verstehen ist. Ich glaube nicht, dass David und Christian verstehen würden, warum wir händchenhaltend auf einem Felsen stehen und uns tief in die Augen schauen.“

Er lacht:

„Nein, wir verhalten uns ganz schön schräg.“

„Ich bin froh, dass du das auch so siehst ...“

„Lass uns weiter gehen“, schlägt er vor. „Ich hab Hunger.“

Wir springen gemeinsam vom Felsen und gehen weiter – er lässt meine Hand nicht los.

Es fällt mir schwer, nicht zu reden. Und es fällt mir schwer, Severin nicht anzusehen. Aber er scheint in eigenen Gedanken versunken zu sein. Also gehe ich schweigend neben ihm her.

„Tur mir Leid“, sagt er nach einer Weile.

„Was tut dir Leid?“

„Ich bin grad nicht so richtig bei dir. Mir geht so Vieles durch den Kopf.“

„Willst du es mir erzählen?“

„Ich will dich nicht mit meinem Kram belasten.“

Ich bleibe stehen und bringe ihn dazu, mich anzusehen.

„Versuch nicht, mich zu beschützen. Du gibst mir damit das Gefühl, schwach zu sein. Genau wie Dylan.“

Er streicht sich die Haare aus dem Gesicht und seufzt:

„Du hast Recht, tut mir Leid. Ich bin es nur gewohnt, sowas alleine hinzukriegen … Manchmal hab ich an mich selbst andere Ansprüche als an andere …“

„Was geht in dir vor?“

„Ich weigere mich, zu trauern. Aber das ist vermutlich nicht gesund.“

„Trauern um wen?“

„Meinen Vater. Er ist letztes Jahr gestorben. Sehr überraschend. Aber wir hatten schon sehr lange keinen Kontakt mehr. Er hat mich in meiner Kindheit sehr schlecht behandelt. Er hat es nicht verdient, dass ich um ihn trauere.“

„Aber du bist traurig?“

„Zuerst war ich einfach nur erleichtert, dass es ihn nicht mehr gibt. Aber nach einigen Monaten kam die Traurigkeit. Weil mit ihm auch jede Hoffnung gegangen ist, dass er irgendwann der Vater wird, den ich mir wünsche. Dass ich auch nur ein Mal aus seinem Mund höre, dass er stolz auf mich ist. Ich schaue mir das Paradies immer öfter durch seine Augen an und frage mich, ob er mich vielleicht dafür endlich mal gelobt hätte. Mein erwachsenes Ich ärgert sich darüber, dass ich immer noch dem Mann gefallen will, der mich als Kind verprügelt hat. Aber das Kind in mir …“

Er redet nicht weiter.

„Das Kind in dir will einfach nur, dass der der auf dich hätte aufpassen sollen, dich endlich beschützt? Dich endlich versteht? Dich endlich mag?“

Er nickt und lässt sich von mir in den Arm nehmen.

„Ich mag dich“, flüstere ich. „Und ich verstehe dich. Ich halte dich fest und beschütze dich.“

Er wird ganz weich in meinen Armen. Er entspannt sich und lässt es zu, zu weinen. Ich verstehe ihn so gut. Mein Großvater und der Hass, den ich für ihn empfinde. Und gleichzeitig bin ich traurig, dass Milo und Anthony ihren Vater verloren haben. Und ich bin traurig, dass ich nie die Chance hatte, meinem Großvater gegenüberzutreten und ihm zu zeigen, dass er keine Macht über mich hat. Dass er mich nicht verändert hat. Dass ich immer noch schwul bin und stolz darauf. Ich habe dieses Gespräch so oft in meinem Kopf geführt. Ich habe mir vorgestellt, wie ich vor ihm stehe, eineinhalb Köpfe größer als er. Ich habe mir vorgestellt, wie ich ihm sage, was ich ihm zu sagen habe und dabei Dylans Hand halte. Ich habe mir vorgestellt, wie sich etwas ändert in seinem Blick. Wie er sich schämt für das, was er getan hat. Ich habe mir ausgemalt, wie es wäre, seine ehrliche Entschuldigung zu hören. Vermutlich wäre das nie passiert, selbst wenn er hundert Jahre alt geworden wäre. Aber mit ihm ist auch die Hoffnung darauf gestorben. Mir wird klar, warum ich Mama Maria treffen möchte. Ich will wenigstens aus ihrem Mund diese Entschuldigung hören. Ich will wenigstens ihr zeigen, wer ich bin. Und ich habe Angst, dass sie mich nicht akzeptiert. Dass sie mir die Schuld gibt dafür, dass ihr Mann ins Gefängnis musste. Ich habe Angst davor, dass mich die Vorwürfe, die sie mir machen könnte, treffen. Weil ich weiß, dass ich nicht der Enkel war, den sie sich gewünscht hat. Weil ich wirklich ein schlechter Mensch war, damals. Ich hab sie als Teenager beklaut und beleidigt. Ich habe ihren Priester verführt, und was das in seinem Leben anrichtet, war mir egal. Ich habe Xander betrogen und ihm geglaubt, dass es ihn nicht verletzt hat. Und dabei hab ich erwartet, dass alle mich akzeptieren wie ich bin und mir nicht sagen, was für ein Idiot ich bin.

Wir atmen wieder gemeinsam. Seine Brust füllt sich, während meine sich leert. Nach einigen Atemzügen scheint er ruhiger geworden zu sein. Er schaut mich an, sein Gesicht nahe vor meinem. Ich erkenne da einen Impuls bei ihm, nur für einen Moment. Er überlegt, mich zu küssen. Dann zieht er sich schnell zurück.

„Ach verdammt, Jordan. Warum muss du du sein? Warum kann ich diese Verbindung nicht mit einem alten, hässlichen Kerl haben?“

„Warte, vielleicht hilft das:“

Ich hole die Bommelmütze aus dem Rucksack und setze sie auf. Severin fängt an zu lachen. Laut und herzlich:

„Ja, das wird helfen.“

Wir gehen weiter, ohne uns an den Händen zu halten. Nach einigen Metern bleibt Severin wieder stehen, schaut mich an, schaut auf die Mütze, grinst. Dann wird er ernst.

„Hast du das für uns beide im Griff?“

„Was meinst du?“

„Kannst du dafür sorgen, dass wir keinen Scheiß bauen?“

„Du meinst, ob ich rechtzeitig die Bremse ziehen kann, falls wir eine Grenze überschreiten?“

„Ja. Ich trau mir selbst nämlich gerade nicht zu, das zu schaffen.“

„Ich bin eher dafür bekannt, Grenzen zu überschreiten, als sie zu verteidigen … Aber wenn du mich drum bittest, Severin, dann mach ich das. Ich passe für uns beide auf.“

„Versprochen?“

„Versprochen.“

Er nickt zufrieden und gibt mir die Hand:

„Es ist nicht mehr weit. Vielleicht noch zwanzig Minuten.“

Wir begegnen die ganze Zeit über niemandem. Und auch die Hütte liegt verlassen an einer Felsenschlucht. Ich schaue über das Terrassengeländer in die Tiefe.

„Wow, da geht es ganz schön runter.“

„Komm da weg, das macht mich nervös ...“

„Höhenangst?“, grinse ich.

„Ganz schlimm“, nickt er.

Wir setzen uns einander gegenüber an einen Holztisch und packen aus, was wir dabei haben. Wasser, Bananen, Butterbrot, Gurken, Käse und Severin hat seine eingelegten Pilze dabei, die ich im Paradies schon probiert habe.

„Mmmmh, die sind soooo gut.“

„Die mache ich auch immer, wenn ich jemanden verführen will“, grinst er.

„Ah, du wolltest mir noch Tantra-Tipps für's Bett geben.“

„Stimmt. Also, eigentlich kann man da drei Seminartage damit füllen – und 500 Euro pro Person verlangen. Aber weil es du bist.“

„Du gibst Sex-Seminare?“

„Tantra ist nicht nur was Sexuelles. Aber ja.“

„Im Paradies?“

„Nein, bisher noch nicht. Ich glaub, dafür ist Seelendorf noch nicht bereit. In Prag hatte ich jeden Monat ein Wochenendseminar. Momentan miete ich mich in eine Therapeuten-Praxis in München ein. Die von Eugen, du weißt schon.“

„Der Lover deiner Frau?“

„Genau. Vermutlich wäre es übrigens nicht so ratsam, dir ihn als Therapeuten zu empfehlen. Ich fände das seltsam, mit allem was zwischen uns beiden vor sich geht ...“

„Ja, verstehe ich. Kannst du ihn vielleicht fragen, wen er sonst empfehlen kann? Ich hätte gerne schon jemanden, wenn ich im September komme. Falls irgendwas Akutes ist.“

„Ich frag ihn.“

„So, und jetzt zu den Tantra-Tipps. Oder fühlst du dich nicht wohl dabei, mit mir über Sex zu sprechen?“

„Doch. Ich muss nur überlegen, wie ich es dir erkläre, ohne es dir zu zeigen.“

„Zeigst du jedem deiner Teilnehmer wie es geht …?“

„Nein, das wäre Prostitution. Oder würde zumindest unter dieses Gesetz fallen. Weil ich mich für sexuelle Handlungen bezahlen lassen würde. Ich mache oft Paar-Seminare. Da sind dann also 3 oder 4 Paare bei mir und probieren, was ihnen gefällt.“

„Und du … schaust ihnen dabei zu?“

„Nicht einfach so. Wir haben meistens drei Tage zusammen. Am ersten Tag geht es darum, sich kennenzulernen, Vertrauen zu fassen und sich auf Tantra einzustimmen. Mit gutem Essen, Meditation, Atemübungen. Am Ende des zweiten Tages fühlen sich die meisten wohl damit, nackt zu sein und sich massieren zu lassen. Und am dritten Tag möchten die Paare dann meistens auch Sex haben. Nicht alle, aber viele. Es gibt auch die Möglichkeit, sich dafür zurückzuziehen. Aber tatsächlich ist in der Runde dann meist so viel Vertrauen da, dass alle in einem Raum sind. Ich weiß, wenn man nicht in der Situation dabei ist und mitbekommt, wie sich die Menschen darauf einlassen, dann wirkt das befremdlich.“

„Naja, nein, an sich nicht. Ich hatte schon Sex mit anderen Leuten im Raum. Aber … dass es so institutionalisiert ist, das finde ich seltsam. Ich meine, Sex in einem Kurs lernen, das ist irgendwie seltsam.“

„Eigentlich ist es eher wie ein Persönlichkeits-Bildungs-Workshop. Sex ist nicht das Ziel. Verbundenheit ist das Ziel. Mitgefühl. Das kann auch ohne Sexualität gelingen. Wie du bei uns siehst.“

„Aber die Teilnehmer sind doch dann Paare, die ihr Sexleben aufbessern wollen, oder?“

„Meistens ist das die oberflächliche Erwartung. Aber oft stellt sich raus, dass die Partner irgendwann im Alltag den Kontakt zu sich selbst und zueinander verloren haben. Und ich helfe ihnen, diesen Kontakt wieder aufzubauen.“

„Okay, jetzt mal konkret: Was lernt man bei dir?“, frage ich und nehme mir noch einen von den eingelegten Pilzen.

„Tantra bedeutet Zusammenhang. Es geht darum, Spiritualität und Sinnlichkeit zu verbinden. Innere Vorgänge können Handlungen bewegen. Und Handlungen können innere Vorgänge bewegen.“

„Das hab ich vorhin erfahren.“

„Ja, das war - wie gesagt - ganz schön intensiv für den Einstieg. Mir ist es wichtig, dass die Menschen lernen, achtsam zu sein. Deshalb gebe ich ihnen einiges Handwerkszeug mit. Verschiedenen Übungen und Meditationen, die ihnen helfen, bei sich und in der Gegenwart zu bleiben.“

„Das kenn ich aus dem therapeutischen Bereich auch alles. Das vorhin in der Gondel, mit den drei Geräuschen.“

„Genau. Aber natürlich war das nur eine schnelle Übung. Es geht darum, alle Sinne anzusprechen. Was siehst du? Was riechst du? Was fühlst du auf der Haut? Was fühlst du in deinem Körper. Eigentlich braucht man dafür viel Zeit. Bis zu zwei Stunden.“

„Da würde ich mich langweilen.“

„Was ist Langeweile? Was passiert dabei in dir?“

„Ich würde denken, ich könnte die Zeit besser nutzen. Irgendwas erledigen, das ich jetzt aufschiebe ...“

„Das verstehe ich gut. Ich kennen die Gedanken auch. Aber ich schenke mir dann bewusst diese zwei Stunden Zeit. Ohne Handy, ohne Störungen. Ich stelle einen Wecker und weiß, dass ich danach noch Gelegenheit habe, alles zu tun, was getan werden muss. Und ich weiß, dass ich es besser und lieber tun werden, wenn ich diese zwei Stunden für mich hatte.“

„Okay, ja, hört sich an, als könnte man sich das einrichten.“

„Wenn ich zum Beispiel weiß, dass Christian am Samstag zu Hause ist und nicht auf eine Baustelle muss, dann sorge ich schon am Freitagabend für gutes Essen und dafür, dass wir die Gelegenheit haben, ein bisschen entspannte Zeit zusammen zu haben. Und am Samstag versuche ich, unsere Sinne zu weiten. Ich zünde Kerzen an, mache das Licht gemütlich, drehe die Heizung etwas hoch. Ich benutze Duftöl für die Wohnung und für meinen Körper. Ich lasse entspannte Musik laufen. Ich schaffe eine Atmosphäre, in der man sich geborgen fühlt. In der man sich öffnen kann.“

„Hört sich sehr schön an. Für die ganze Familie.“

„Ja, natürlich. Manchmal sind in dieser Phase auch die Kinder bei uns und auf sie wirkt das auch alles entspannend. Auch Massagen sind toll für Kinder. Spielerische Pizza-Massagen zum Beispiel. Und warme Suppe zum Abendessen. Als Nachspeise Obst und Käse. Nachts schlafen die Kinder immer bei Franzi im Haus. Das heißt, Christian und ich sind sicher ungestört und können uns Zeit nehmen. Auf Meditationen kann Christian sich nur schwer einlassen, aber wir kommen gut in Kontakt durch Blicke. Wir setzen uns einander gegenüber und schauen uns für ein paar Minuten einfach nur in die Augen. Dadurch können wir uns unserer Gefühle füreinander bewusst werden. Und wir schaffen es, den Alltag hinter uns zu lassen und beieinander zu sein. Man muss als Paar einfach ein bisschen ausprobieren, was funktioniert.“

„Die Atem-Sache ...“

„Ja, bei uns ist es die Atem-Sache.“

„Was kommt dann?“

„Massagen. Kurz gesagt: Viel Öl, der ganze Körper, ohne Ziel. Alles ist erlaubt, nichts muss.“

„Hört sich gut an. Dafür nimmt man sich viel zu wenig Zeit ...“

„Ja, das ist so. Überhaupt nehmen wir uns oft viel zu wenig Zeit, um mit unseren Mitmenschen in Kontakt zu treten. Das ist übrigens sehr wichtig, in dieser Phase. Dass der Kontakt nicht mehr unterbrochen wird. Der Körperkontakt symbolisiert hier auch die Energie, die zwischen Menschen fließt.“

„Ich hab das vorhin wirklich gespürt, als du meine Hand losgelassen hast“, sage ich überrascht.

„Ja, hast du.“

„Ich würde das alles gern für esoterischen Unfug halten, aber ich hab das gespürt“, wiederhole ich.

„Ja, ich tu mich auch schwer mit Dingen, die nicht rational zu erklären sind. Aber ich hab jetzt so oft gesehen, dass es funktioniert, dass ich keine Erklärungen mehr brauche.“

„Okay, gutes Essen, Entspannung, Kontakt, Massagen … und dann?“

„Dann haben wir meistens Lust, miteinander zu schlafen. Hier ist es Übungssache, dass man nicht nur daran denkt, wie man am schnellsten zum Orgasmus kommt. Sondern dass man die Verbundenheit genießt. Dass man in der Situation bleibt und nicht an die Steuererklärung denkt, die man noch machen muss. Dass man den eigenen Körper ausprobiert, dass man den Körper des Partners erforscht. Der Weg ist das Ziel.“

„Ja, hört sich ja ganz gut an. Aber … eigentlich ist schon das Ziel das Ziel, oder?“

„Manchmal will man auch einfach dringend einen Orgasmus erleben, klar. Wenn es mir sehr schlecht geht, dann will ich das oft. Um mich wenigstens für kurze Zeit gut zu fühlen. Und weil mein Gehirn dann leergefegt wird.“

„Das war bei mir am Tag meiner Panikattacken so“, erzähle ich.

„Ja, in der Situation kenne ich das auch. Auch da helfen die Atemübungen. Nicht nur beim sich beruhigen. Auch um den Orgasmus zu intensivieren.“

„Wie?“

„Spiel mit deiner Atmung, lerne, welchen Effekt es hat. Auch, welchen Effekt es hat, nicht zu seufzen, nicht zu stöhnen, wenn du kommst. Ein bisschen wie einen Nieser zurückhalten, so kann man es sich vielleicht vorstellen.“

„Was passiert dann?“

„Probier es aus.“

„Mach ich, bei Gelegenheit...“

„Aber wie gesagt, der Orgasmus sollte nicht das Ziel sein, sondern ein angenehmer Nebeneffekt, der passieren darf aber nicht muss.“

Ich stecke mir noch einen Pilz in den Mund.

„Gibst du David das Rezept?“

„Sicher“, lächelt er. „Und jetzt setz deine Mütze wieder auf.“

„Zu Befehl“, lache ich und lecke mir das Öl vom Finger.

„Quäl mich nicht. Ich weiß schon, was ich mir entgehen lasse.“

„Für Christian.“

„Ja, aber trotzdem. Für mich hängt das nicht zusammen. Selbst wenn ich mit dir schlafen würde, würde das nichts über mich und Christian aussagen. Es würde was über dich und mich aussagen und darüber, dass wir wahnsinnig ähnlich schwingen und das sicher absolut genial im Bett wäre ...“

„Aber Christian würde das anders sehen. Und David im Übrigen auch. Und mein toter Ehemann, der von da oben aus zuschaut und den ich sehr verletzt habe, als ich ihm fremdgegangen bin.“

„Genau. Und deshalb hörst du jetzt auf, dir die Finger zu lecken und setzt die peinliche Pudelmütze wieder auf.“

„Wenn ich die vor acht Jahren schon gehabt hätte, wäre ich nicht angeschossen worden“, sage ich und setze das Teil auf.

„Willst du davon erzählen?“

„Warum nicht, das macht auch schon keinen Unterschied mehr, bei allem, was wir heute schon auf den Tisch gepackt haben.“

„… Das war es dann, an mehr erinnere ich mich nicht. Nur an den Schmerz als ich im Krankenhaus aufgewacht bin. Und die Angst, weil ich mich an nichts erinnern konnte, und meinen Körper, der mir nicht mehr gehorcht hat. Mich wieder auf die Beine zu kämpfen und dabei die Hoffnung nicht zu verlieren, das war das Schwerste, was ich je durchstehen musste.“

Severin hat sich neben mich gesetzt, während ich erzählt habe. Er drückt meine Hand ganz fest und schaut mich fassungslos an.

„Ich hatte keine Ahnung, was genau die Hintergründe waren. Ich wusste nur aus der Presse, dass dein Großvater auf dich geschossen hat. Ich dachte, es hieß, weil du seine Mafia-Geschichten öffentlich machen wolltest ...“

„Nein, das haben sich die Magazine damals ausgedacht.“

„Ich hatte auch keine Ahnung, dass er zwei Kugeln auf dich abgefeuert hat. Das kommt ja einer Hinrichtung gleich.“

„Ja, er wollte mich töten. Nicht im Affekt. Bewusst.“

Ich bin recht gefasst, Severin überhaupt nicht. Er ist so wütend, wie ich ihn noch nie erlebt habe.

„Und was ist mit ihm passiert?“

„Er war im Gefängnis, bis er auf eine Palliativstation verlegt wurde. Scheinbar hatte er ein schlimmes Ende. Mit Amputationen und so weiter.“

„Geschieht ihm recht“, erklärt Severin mit Hass in seinen Augen. „Jordan, dieser Kerl, ich würde ihn eigenhändig töten, wenn er nicht schon tot wäre.“

„Du reagierst anders als ich gedacht habe. Ich dachte, du würdest mir zu Mitgefühl raten. Damit ich den Hass loslassen kann, der mir selbst nicht gut tut.“

„Mitgefühl hat man mit Menschen, nicht mit Monstern. Und wenn du sagst, du wünschtest, du hättest die Pudelmütze damals schon gehabt, dann heißt das, du siehst den Blowjob als Auslöser?“

„Ja, natürlich.“

„Nein. Absolut nicht. Nicht jeder, der einem Priester einen bläst, wird erschossen. Aber jeder, der zwei Kugeln auf sein Enkelkind abfeuert, ist ein Monster. Das ist die Ursache. Du trägst keine Verantwortung. Du bist das Opfer.“

Er sagt das in einem Ton, der keinen Widerspruch duldet. Und ich glaube ihm. Und dass ich das auf einmal glauben kann, ist eine große Erleichterung. Ich hole tief Luft, so als hätte ich seit Jahren nicht mehr richtig Atmen können.

„Atmen?“, fragt er.

Ich nicke und er nimmt mich in den Arm. Ein und aus. Ein und aus. Ein und aus. Bis ich ruhig werde. Und vor allem: Bis er ruhig wird.

„Lust, noch ein Stück höher zu steigen?“

„Sicher.“

Wir packen alles wieder in unsere Rucksäcke und marschieren schweigend nebeneinander her. Severin bietet mir seine Hand an. Ich nehme sie gerne.

Eine halbe Stunde geht es steil bergauf. Nach dem Essen merke ich, dass mein Körper jetzt eigentlich lieber auf der Couch faulenzen würde.

„Die Anstrengung lohnt sich“, schnauft Severin. „Da oben ist man dem Himmel nah.“

Die Wolken hängen schon fast über unseren Köpfen. Wir klettern schon mehr als wir gehen. Es gibt kaum noch Vegetation hier oben, nur Felsen. Und plötzlich sind wir da. An der höchsten Stelle weit und breit. Am Gipfel. Ich berühre das Kreuz, das hier steht und schaue auf die umliegenden Berge hinab. Ich schaue hoch in die grauen Wolken. Es ist fast als könnte ich sie berühren. Ich war dem Himmel noch nie so nah.

„Dylan?“, rufe ich. „Dylan, wenn du mich hörst: Ich liebe dich. Und ich verzeihe dir. Ich weiß, du wolltest immer nur die Kinder und mich beschützen. Uns geht es gut. Du kannst jetzt gehen. Du musst nicht mehr auf uns aufpassen. Uns wird es gut gehen.“

In der Ferne zuckt ein Blitz über den Himmel. Die Wolken werden immer dunkler.

„Wir sollten zusehen, dass wir zur Bergstation kommen.“

Ich nicke und schaue mich noch einmal zu allen Seiten um. Uns wird es gut gehen.

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