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Sommer 2006

Teil 2

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Am Feldweg fragte ich:

„Seit wann hab ich denn sturmfrei?“

„Notlügen sind gar keine richtigen Lügen …“

„Soso.“

„Dann noch einen schönen Abend, ihr zwei.“

Thorsten zwinkerte uns zu und schleppte Claudi mit fort.

„Gut eingefädelt.“

„Not macht erfinderisch …“

Er hakte sich bei mir unter.

„Das war doch jetzt gar nicht so schlimm, oder?“

„Zwischendurch wäre ich fast mal panisch geworden … und diese Stille! Total irre, und wie deine Eltern sich mit Blicken fast ausgezogen haben …“

„Wah! Erwähn das nie wieder.“

Ich kicherte vor mich hin.

„Ich glaube, meine Mutter mag dich. Sie hat dich immer von der Seite gemustert und so.“

„Ja? Das ist mir zum Glück nicht aufgefallen.“

„Mit Claudi und Thorsten redet sie nie so viel wie mit dir.“

„Mag ja sein, aber wenn sie wüsste, dass ich dich schon auf jedem Tisch im Haus gefickt habe, dann …“

„Ah! Gut dass du es sagst! Wir brauchen einen Tisch und Stühle. Fahren wir morgen nochmal Möbel shoppen? Dann können wir am Montag auch gleich die Couch liefern lassen und uns für ein Bett entscheiden.“

„Okay … aber wo willst du die Möbel denn lagern? Da fahren wir die ja spazieren. Wie wär’s, wenn wir das auf Montag verschieben?“

„Ich hab den Wohnungsschlüssel schon. Wir können das Zeug mit Papis Auto direkt hinbringen.“

„Nein?!“

„Doch!“

„Wuuu-huuu! Morgen wird eingezogen!“

„Oder zumindest mal damit angefangen.“

„Dann sollten wir bald ins Bett gehen.“

„Äh, es ist kurz nach neun. Das ist noch etwas früh zum schlafen …“

„Wer hat was von schlafen gesagt?“

„Bist du nicht auch total voll?“

„Aber ich vermiss dich so …“

„Wir haben vor gerade mal 48 Stunden das letzte mal miteinander geschlafen …“

„Das ist doch eeeeeewig her. Und wir hatten auch noch keinen Versöhnungssex.“

„Aber wir können doch nicht miteinander schlafen, solang Klara und deine Mum noch wach sind. Das merken die doch..“

„Na und? Die denken bestimmt nicht, dass wir ins Zimmer gehen, um uns gegenseitig was vorzulesen …“

„David! Du bist echt zu offenherzig mit dem ganzen Sex-Kram …“

„Und du bist niedlich, wenn dir was peinlich ist.“

Mum saß vor dem Fernseher, und zu meiner Überraschung war Klara auch da. Man sollte meinen, der letzte Schultag sollte gefeiert werden, und das sagte ich ihr auch.

„Jungs sind echt alle dämlich.“

„Oh-oh. Dein Neandertaler, hm?“

„Und Steffi Bauer.“

„Diese Schlampe.“

„David!“, zischte Mum.

„Er hat doch Recht! Die wusste genau, dass wir zusammen sind.“

„Warum steht noch kein Eis auf dem Tisch?“

„Wir haben keins mehr …“

„Oje, doppelt schrecklich. Naja, dann noch einen schönen Anti-Männer-Abend. Max und ich gehen hoch und … lesen uns gegenseitig was vor …“

Max stieß mich in die Rippen und meinte:

„So, verscherzt. Jetzt bleib ich auch hier und schau mir Thelma und Louise an. Jungs sind doof.“

Max war sofort willkommen, sie ließen ihn sogar in die Mitte.

„Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?“

„Der Film ist gut. Hab ich schon ewig nicht mehr gesehen …“

„Oh Mann …“

Ich ließ mich vor Max am Boden nieder und wartete auf den Abspann. Um zehn gingen wir endlich ins Bett.

Am nächsten Tag kauften wir ein Bett, Matratzen, Bettzeug, einen Tisch, vier Stühle und eine Ikea-Tüte voll Kleinkram. Außerdem gaben wir die Lieferung der Couch in Auftrag. Alles passte gerade so ins Auto.

„Sollen wir deinen Dad bitten, uns beim Tragen zu helfen?“

„Nein! … nein.“

„Warum nicht?“

„Weil er dann auch beim Aufbauen hilft und uns danach zum Essen einlädt und wir den ganzen Tag keine Sekunde mehr zu zweit sein können …“

„Oh … okay … na gut, dann pack mal an …“

Als alles oben war, rollten wir erst mal die Matratzen im Wohnzimmer aus …

„Wow.“

„Wir werden immer besser in dem Stellungswechsel-Zeug, hm?“

„Mhm.“

„Wir haben nichts zu trinken … und ich will duschen, aber wir haben keine Handtücher … und wie sollen wir die Möbel ohne Werkzeug aufbauen? Ich sag es nicht gern, aber ich glaub, wir brauchen doch deinen Dad …“

„Na gut … genug der Zweisamkeit …“

Dad half gerne, wie erwartet. Ich konnte mir gut vorstellen, dass er am Wochenende einsam war, ohne Familie, ohne Freunde … vielleicht hatte er ja eine Freundin. Frauenbesuch war keine Seltenheit gewesen, als er noch nebenan gewohnt hatte. Aber ich hatte nie zweimal die Gleiche gesehen. Ich sollte ihn bei Gelegenheit mal danach fragen …

Max und er unterhielten sich die ganze Zeit, während ich das Bett fast alleine aufbaute und die beiden nur ab und an zum Halten zu mir beorderte. Als alles erledigt war, kochte ich bei Dad Abendessen während die beiden zum Vermieter schauten, um noch ein paar Details zu klären. Ich hatte das Gefühl, dass es eher darum ging, sich ums Kochen zu drücken. Aber ich beschwerte mich nicht. Früher oder später würde ich Dad von Max und mir erzählen müssen, und dann konnte es nur von Vorteil sein, wie gut sie sich verstanden …

Am liebsten hätte ich gleich in der Wohnung übernachtet, aber wir hatten nicht mal unsere Zahnbürsten dabei … Also schlief jeder in seinem eigenen Bett, was ich nur überstand, weil ich wusste, dass die Nächte der Einsamkeit gezählt waren.

Am nächsten Tag folgte Max’ Kleiderschrank und die meisten seiner Klamotten. Ja, und klammheimlich auch ein paar von meinen. Von Sonntag auf Montag schliefen wir das erste Mal in der Wohnung und redeten ganz gefühlsduslig darüber, was für ein Glück wir doch hatten und wie anders alles hätte laufen können, wenn Max mich nicht angeschrieben hätte. So lange hatte ich mir gewünscht, zu jemandem zu gehören. Jemanden, der genau so war, wie ich. Und jetzt lag dieser schöne, kluge, witzige, freundliche Mann neben mir, der jeden meiner Gedanke erahnte, bevor ich ihn aussprach und immer wusste, was ich fühlte und was ich brauchte. Und er trug meinen Ring am Finger. Erstaunlicherweise hatte wir in dieser ersten Nacht keinen Sex. Wir küssten uns stundenlang und redeten. Als ich schon recht schläfrig war, meinte Max

„David?“

„Hm?“

„Jetzt ist später.“

„Häh?“

„Ich hab gesagt, dass ich dir später von meinem Praktikum erzähle.“

Jetzt war ich wieder hellwach.

„Was ist das für ein Praktikum? Du hast was von Strahlung erwähnt …“

„Ja, das stimmt. Aber das ist alles ganz sicher …“

„Darum hat Herr Comez auch Krebs bekommen …“

„Das kann Zufall gewesen sein und außerdem hat er ganz andere Sachen gemacht. Also, bevor du dich in etwas hineinsteigerst: Das Praktikum ist in einer Firma, die mit Hilfe von einer Strahlungsquelle Medikamente und Lebensmittel keimfrei macht. Und da bin ich in der Abteilung für Entwicklung. Ich hab eher was mit Fließband-Konstellationen zu tun, als mit der Strahlungsquelle, aber es ist trotzdem sehr interessant … und die Firma hat einen guten Ruf, auch in der Forschung. Da sind die sehr offen … Alles ist total sicher, das sind lauter Profis und ich bin nicht der kleinsten Strahlendosis ausgesetzt, weil die Art von Strahlung, die dort verwendet wird, ja in den Lebensmitteln und so gar keine Rückstände hinterlassen darf. Es gibt eben nur das Minuten-Fenster, und da befindet sich niemand auch nur in der Nähe …“

„Ich weiß nicht … muss das denn sein? ... Ich meine, willst du sowas später auch beruflich machen? Mit einem Praktikum kann ich ja vielleicht noch leben, aber …“

„Keine Ahnung, ich hab mich noch nicht entschieden. Wenn du willst, bekommst du eine Fabrik-Führung, damit du siehst, dass das Ganze wirklich absolut nicht gefährlich ist …“

„Okay … vielleicht wäre das eine gute Idee.“

„Ja, dann kann ich dir zeigen, was ich den ganzen Tag mache, das wird sicher lustig …“

„Mhm …“

„Du machst dir immer noch Sorgen, oder?“

„Ich weiß, ich führ mich auf wie eine Glucke … aber ich will eben nicht, … du weißt schon …“

„Ich weiß. Aber vertrau mir. Es besteht keine Gefahr.“

„Okay.“

„Okay. … Komm in meinen Arm.“

Ich kuschelte mich an ihn und umschlang ihn mit meinen Beinen. Ihm durfte nie wieder etwas passieren. Wenn ich ihn nur fest genug an mich drückte, dann konnte ich alles Unheil von ihm fernhalten.

Am Montag kamen Claudi und Thorsten vorbei, um sich die Wohnung anzusehen. Danach gingen wir zusammen einkaufen (Claudi schwatzte Max alle möglichen Innendeko-Artikel auf) und fuhren dann zurück nach Hause, nach Kleinding. Max ging zu seinen Eltern und ich kam in ein leeres Haus. Mum war arbeiten, und Klara? Genoss die Sommerferien. Ich beschloss, Paul und Jana zu mobilisieren und eine halbe Stunde später lagen wir am Weiher und ich erzählte wieder von der Wohnung.

Irgendwann unterbrach mich Jana.

„Willst du nicht mal nach den anderen fragen?“

„Warum?“

„Ähm, hallo? Du hast sie seit dem Abend bei Flo nicht mehr gesehen …“

„Habt ihr sie gesehen?“

„Ja, Freitagabend, Samstagabend … gestern Nachmittag …“

„Oh … okay … und?“

„Sie können nicht damit umgehen. Sie wissen nicht, was sie davon halten sollen …“

„Hm, naja, sie werden sich schon noch eine Meinung bilden …“

„Das ist alles? Willst du nicht nochmal mit ihnen reden?“

„Wozu? Entweder sie können es akzeptieren oder nicht. Ich hab keine Lust, mir darüber einen Kopf zu machen. Im letzten Jahr bin ich auch gut ohne sie ausgekommen …“

„Aber …“

Paul deutete Jana an, es gut sein zu lassen.

Ich überlegte krampfhaft, wie ich es anstellen konnte, dass ich Max sehen konnte. Als ich gerade aus der Dusche kam, klingelte es unten. Niemand sonst war da … sollte ich es klingeln lassen? Nein … ich wickelte mir ein Handtuch um die Hüften und lief zur Tür.

„HA-LLLO!“ Seine Augen wanderten über meinen fast nackten Körper.

„Max!“

„Ich bin hier um alle Teile des Paten anzuschauen.“

„Was?!“

„Zumindest denken das meine Eltern …“

„Du bleibst über Nacht?“

„Wenn das okay ist?“

Zur Antwort zog ich ihn an mich, ließ dabei das Handtuch fallen und schleifte Max die Treppe hoch in mein Zimmer.

„Ich kann euch hören!“

Max fuhr erschrocken zusammen.

„Danke, Schwesterherz! Dafür werde ich mich revanchieren!“

„Hey, sei froh, dass nicht Mum zuerst heimgekommen ist!“

Max war bereits dabei, sich wieder anzuziehen.

„Was machst du, ich war noch nicht mit dir fertig …“

„Da-vid …“

Ich verdrehte die Augen und schwor meiner Schwester nochmal Rache.

Um mich abzulenken, fing Max ein Gespräch an. Er erzählte unter anderem, dass die Couch geliefert worden war und er sie mit seiner Mum bereits so im Raum platziert hatte, dass das Chi günstig fließen konnte … Feng Shui, die neuste Leidenschaft von Frau Weller …

Als Mum heim kam, gab es Abendessen, und ich genoss es, Max in Mitten meiner Familie zu sehen. Bald würde er meine Familie sein. Meine eigene Familie. Wann war ich eigentlich erwachsen geworden?

Im Lauf der Woche brachten wir immer mehr von Max’ Sachen in die Wohnung, und einiges von meinem Zeug zu Dad. Max vereinbarte mit Claudi und Thorsten, dass wir am Freitagabend um die Häuser ziehen würden, jetzt, da wir uns keine Gedanken machen mussten, wie wir wieder zurück nach Kleinding kommen würden.

„Äh, toll … aber am Samstag hat mein Großvater Geburtstag. Um elf muss ich also spätestens zu Hause aufkreuzen, also muss ich mit dem Zug um fünf nach zehn fahren …“

„Oh, das hatte ich ja total vergessen …“

„Ja, hm …“

„Naja, dann machen wir eben um zwei Schluss …“

„Ich dachte, der Plan ist, genau das zu verhindern, weil wir jetzt nicht mehr mit der letzten S-Bahn nach Hause fahren müssten?“

„Ja schon … dann eben ein ander Mal …“

„Ach Quatsch. Ich kann ja um zwei zurückfahren und ihr zieht weiter... ist doch nichts dabei …“

Obwohl mir der Gedanke, einen vermutlich angetrunkenen Max mit Claudi allein zu lassen nicht sonderlich gefiel …

Bis zum Freitag war die Wohnung echt ordentlich ausstaffiert und sogar der Kühlschrank war voll. Als Claudi und Thorsten um acht kamen, stärkten wir uns erst mit Pasta und Pesto, dann ging es ans Vorglühen, wobei ich mich ganz bedacht zurückhielt, denn das einzige, was schlimmer war als eine Familienfeier war eine Familienfeier mit dickem Schädel. Dann zogen wir durch ein paar Kneipen, spielten Pool und Darts, unterhielten uns mit ein paar Leuten über die üblichen Kneipenthemen und betraten gegen Mitternacht einen Club in dem ganz annehmbare Musik lief und auch die Leute ganz okay waren. Cocktails, Tanzfläche, ein Blow-Job auf dem Klo … Bisher war ich mit dem Abend recht zufrieden, da wurde es auch schon Zeit, dass ich mich auf den Rückweg machte. Thorsten unterhielt sich schon seit einer Weile mit einem durchschnittlich aussehenden Mädchen … so viel am Stück hatte ich ihn noch nie reden hören, und Claudi hatte sich ein paar Kerle aufgerissen, die ihr Drinks ausgaben. Max kam noch mit raus.

„Na gut, dann wünsch ich dir noch einen schönen Abend …“

„Momentan sieht es nicht so vielversprechend aus … aber ich will die zwei auch nicht allein lassen …“

„Das kann ich schon verstehen … Okay, also wir sehen uns zu Hause.“

„Ja. Komm gut da an. Ich liebe dich, David.“

„Und ich dich.“

Mir fiel die Grimasse eines der Türsteher auf, als Max und ich uns küssten.

Zu Hause legte ich mich auf der Couch schlafen. Denn ich hatte mir überlegt, dass ansonsten Claudi bestimmt sowas sagen würde, wie „Die Couch ist zu klein für Thorsten und mich, das Bett ist doch groß genug für drei. Und ich wollte auf keinen Fall, dass Max neben Claudi schlief. Oh nein, kam nicht in die Tüte. Ich hatte mir ausgerechnet, dass Max sich zu mir auf die Couch gesellen würde …

Irgendwann nachts spürte ich weiche Lippen auf meinen und atmete alkoholischen Duft ein. Dann glitt ich sofort wieder ins Reich der Träume.

Als um kurz nach neun mein Handywecker klingelte, lag kein Max auf dem anderen Schenkel der Couch. Ich setzte mir Kaffee auf und fand meine Vermutung auf dem Weg ins Bad bestätigt. Alle drei lagen im Bett, friedlich schlummernd, Claudi in der Mitte. Tja, der Schuss war wohl nach hinten losgegangen. Ich musste mich beeilen und kam auch nicht an Max ran, um ihn zum Abschied zu küssen, da das Bett ja an beiden Seiten an Wände angrenzte. Also streichelte ich nur kurz sein Bein unter der Decke und ging. Der Tag hatte ja toll angefangen.

Im Zug saß eine Horde lauter Teenager in meinem Abteil, die aus rauschenden Boxen Musik hörten und über Popstars diskutierten. Zu allem Überfluss tat mir trotz meiner Zurückhaltung am letzten Abend der Kopf weh. Das konnte ja heiter werden … Irgendwo unterwegs blieben wir dann auch noch ewig stehen und die Klimaanlage funktionierte wohl auch nicht. Punkt elf kam ich zu Hause an. Mum und Klara waren schon fertig und erklärten mich für verrückt, dass ich jetzt auch noch duschen wollte. Aber ich stank nach Schweiß und Alkoholdunst und hatte nicht vor, das den ganzen Tag so zu belassen.

„Zehn Minuten. Wir haben doch noch eine halbe Stunde.“

„Aber hinfahren müssen wir auch noch.“

„Das dauert auch maximal zehn Minuten. Jetzt hört auf zu diskutieren, sonst brauch ich nur noch länger.“

Ich beeilte mich, rutschte in der Dusche aus und konnte mich gerade noch an der Armatur festkrallen. Ja, der Tag wurde immer besser.

Im Auto fragte ich mich, ob diese Kuh wohl noch neben Max lag. Sie würde doch nichts bei ihm versuchen, wenn Thorsten dabei war, oder? Immer noch früh genug kamen wir kurz vor halb unter den ersten bei dem Wirt im Nachbarort an, bei dem meine Großeltern schon seit ich denken konnte ihre Feiern abhielten. Gut-deutsche Küche, Holzvertäfelungen überall und Bedienungen in Tracht. Ich wäre fast rückwärts wieder zur Türe raus, als ich sah, dass eine kleine Blaskapelle gerade aufbaute. Auch Klara machte ein genervtes Geräusch. Wir gratulierten meinem Großvater und begrüßten Dad. Neben ihm saß sein Bruder, also mein Onkel, mit seiner Familie. Meine beiden Kusinen hatten ihre Freunde dabei, mein Onkel stellte die beiden jungen Herren im Anzug stolz vor. Beide waren, wie meine Kusinen, Anfang 20, und beide sahen aus wie Banker oder BWL-Studenten. Und meine Großmutter umschwärmte sie geradezu, bis das Eintreffen neuer Gäste ihr die Zeit dazu nahm. Wir setzten uns, bekamen Sekt zum Anstoßen, führten ein paar uninteressante Gespräche, bis es endlich Essen gab. Mein Kopf fing wieder an, weh zu tun, was mir, trotz großem Hunger, das Essen versaute. Warum meldete sich Max nicht? Und warum waren meine Großeltern so begeistert von den schnöseligen Schwiegerenkeln? Und warum stand der Neandertaler meiner Schwester plötzlich am Tisch? Klara begrüßte ihn freudig und stellte ihn meinen Großeltern und Dad vor. Dieses Strahlen in den Augen meines Großvaters … das konnte ich überhaupt nicht einordnen.

Blasmusik, bah! Und mein Handy blieb stumm. Ein paar Festreden, rührselig und nostalgisch … Dann Kaffee und Kuchen. Irgendwie war es plötzlich halb vier geworden. Ich erzählte meinem Onkel gerade von meinen Studienplänen. Danach gingen alle ein wenig spazieren, ich kam in den Genuss, mich mit einer meiner Großtanten zu unterhalten. Hab ich erwähnt, dass ich bestimmt fünf Mal die Stunde nach einer Freundin gefragt wurde? Die frische Luft tat meinem Kopf gut, und endlich vibrierte mein Handy. Na also! Der Tag wurde endlich besser!

„Jetzt testen, der neue walk&surf Tarif … blablabla …“

Ach Scheiße, warum meldete er sich nicht endlich? Warum war er nicht an meiner Seite? Warum musste ich mir den ganzen Scheiß hier ohne ihn geben? Ach stimmt, weil wir zufällig beide ein Y-Chromosom besaßen …

Das kalte Buffet um sechs ging erstaunlich gut weg. Die Leute aßen und aßen und redeten und redeten, und fragten und fragten. Und Klara und meine Kusinen turtelten und zu allem Überfluss tanzten sie nach dem Abendessen zum Blechbläser-Walzer. Kotz. Ich musste an den Vorabend denken. Max und ich, wie wir uns in dem vollen Club langsam zur Musik bewegten …

„Na, ist dir langweilig?“

Meine Großmutter ließ sich auf den freien Stuhl neben mir sinken. Sie hatte den ersten Walzer mit ihrem Mann getanzt. Dann war dieser ihr offensichtlich abhanden gekommen.

„Warum hast du deine Freundin nicht mitgebracht. Deine Mutter hat dir doch gesagt, dass sie eingeladen war, oder?“

Ich wusste wirklich nicht mehr, was ich darauf sagen sollte. Warum musste ich immer lügen? Das war so anstrengend und machte mir einen bitteren Geschmack im Mund.

„Sie konnte leider nicht …“

„Ach wie schade. Ich würde sie wirklich gerne bald mal kennenlernen. Es sagt so viel über einen Menschen aus, was für einen Partner er sich sucht. Kirsten und Lydia waren sich schon immer ähnlich, und sie haben offenbar auch einen ähnlichen Männergeschmack. Adrett, höflich, ehrgeizig. Sie werden einmal gut versorgt sein. Und Klara und dieser große Kerl. Ich nehme an, sie sehnt sich nach Schutz, nach diesem schwierigen Jahr. Aber ich habe keine Ahnung, auf welchen Typ Frau du stehst... Beschreib sie mir doch mal.“

Ich war wirklich kurz davor, loszuheulen. Ich wollte nicht mehr lügen, aber trotzdem war ich ständig dazu gezwungen. Ich konnte das einfach nicht. Mein Kopf hämmerte dumpf im Takt der Kapelle.

„Willst du tanzen?“

Meine Großmutter war mehr als erstaunt über das Angebot und nahm gerne an. Ich überstand zwei Tänze, bis ein Dia-Vortrag vom ältesten Freund meines Großvaters an der Reihe war und alle sich setzten. Ich landete neben meinem Großvater.

Die Fotos begannen im Babyalter, mit den drei älteren Schwestern die alle auf skurrile Art gleich aussahen. Die Kindheit betrachtete ich relativ ungerührt. Militär-Zeit, dann die Hochzeit. Ich sah, wie mein Großvater nach der Hand seiner Frau griff. Das rührte mich dann doch. Die Geburt meines Onkels, dann mein Vater. Urlaubsfotos, oft auch mit der Familie des Vorträgers zusammen. Die Hochzeiten der Söhne, beide Male lag Großvaters Hand stolz auf der Schulter des Bräutigams.

„Wunderschöne Schwiegertöchter“, murmelte meine Großmutter.

Die Zwillingsgeburt … ich, meine Schwester. Fotos von Großvaters 60. Geburtstag.

Als die Leinwand dunkel wurde, flüsterte mein Großvater „ein gutes Leben“, und wischte sich die Augen. Als das Licht wieder an war und er sich bei seinem Freund bedankt hatte, kam er wieder zurück an den Tisch. Er zog vier Couverts hervor und gab jedem seiner Enkelkinder eines.

„Macht etwas Gutes mit dem Geld. Fahrt mit euren Lieben in Urlaub oder legt es an, um eine Basis für meine Urenkel zu haben.“

Wir bedankten uns alle überrascht und bei dem Gedanken an Urenkel wurde mir schummrig. Wie um noch Salz in die Wunde zu streuen, flüsterte mein Großvater mir zu:

„Und komm du als mein einziger Enkel nicht auf die Idee, den Namen deiner Frau anzunehmen. Neumodischer Unsinn. Lenz ist ein guter Name. Reich ihn weiter, damit was von mir bleibt, wenn ich nicht mehr da bin.“

Ich schluckte schwer und nickte, mit den Augen das Tischtuch fixierend. Verdammt. Was musste ich für diesen Mann mit dem Bilderbuch-Leben für eine herbe Enttäuschung sein. Meine Kopfschmerzen meldeten sich heftiger als zuvor zurück. Ich entschuldigte mich mit der Begründung, frische Luft schnappen zu wollen. Beim Hinausgehen griff ich mir eine frisch geköpfte Flasche Sekt. Die Dias liefen vor meinem inneren Auge nochmal ab. Genau das wollte ich doch auch. Genau das. Nur mit Max. Aber das sprengte einfach alle Konventionen im katholisch-konservativen Zweig meiner Familie. Als ich mich nochmal umdrehte, sah ich, dass mein Großvater Lydias Freund gerade eine Hand auf die Schulter legte, genau wie auf den Hochzeitsfotos seiner Söhne. Ich beeilte mich, hinaus in die Dunkelheit zu kommen, bevor die ersten Tränen über meine Wangen liefen. Früher hatte ich voll Zorn immer wieder eine unsichtbare Macht gefragt, warum ich nicht normal geboren worden sein konnte. Jetzt konnte ich mir das nicht mehr wünschen, denn nun gab es Max. Aber warum konnte das nicht als normal gesehen werden? Warum war ein Name so wichtig? Warum musste es diese Rollen geben … Ich setzte mich hinter dem Haus in eine Nische, nahm einen kräftigen Schluck und versuchte, meine Gedanken vom Rasen abzuhalten. Ich konzentrierte mich nur auf Max’ Nummer. Mailbox. Ein Stich ins Herz. Wut. Warum war er nicht für mich da? Hatte er sich von der Aussicht auf eine normale Beziehung mit Claudi zu etwas verleiten lassen? Hatte er sein Handy deshalb ausgemacht? Schwachsinn? Wie kam ich nur dazu, sowas überhaupt zu denken? Scheinbar drehte ich jetzt völlig durch. Er liebte mich, so wie ich ihn. Er würde nie absichtlich etwas tun, was mich verletzten könnte. Ihm konnte ich vertrauen. Immer. Ich rief nochmal an und hinterließ mit möglichst fester, freundlicher Stimme eine Nachricht, dass er mich anrufen sollte, ich vermisse ihn. Dann nahm ich einen tiefen Schluck aus der Flasche und begann, mich wieder vorzeigbar zu machen, auch wenn ich nicht vorhatte, sofort zurückzukehren.

Als ich gerade das Taschentuch verstaute, hörte ich Schritte. Ich zog mich weit in die Nische zurück. Keine Lust auf Gesellschaft. Eine Gestalt ging an mir vorbei. Mein Großvater. Keine drei Meter von mir entfernt blieb er stehen und zündete sich eine Zigarette an. Wenn seine Frau das sehen würde … Abrupt drehte er sich um.

„Wer ist denn da?“

„Ich.“

„David? Was machst du denn hier draußen?“

„Frische Luft … Krieg ich auch eine?“

„Ich wusste nicht, dass du rauchst.“

„Und ich wusste nicht, dass du wieder rauchst.“

Er kam rüber und ächzte leise, als er sich neben mir nieder ließ. Dann gab er mir eine Zigarette und Feuer.

„Danke.“

„Verrat es nicht deiner Großmutter … Also, was machst du wirklich hier draußen, mit dieser Flasche? Ist etwas nicht in Ordnung? Du hast heute schon den ganzen Tag irgendwie niedergeschlagen gewirkt. Ärger mit der Freundin?“

Ärgerlich blies ich die Luft aus.

„Nein, und wenn mich heute nochmal jemand nach einer Freundin fragt, dann laufe ich Amok!“

„Schon gut, dann hatte ich wohl falsche Informationen. Du hast also keine Freundin zurzeit. Kommt vor.“

„Können wir bitte nicht über dieses Thema reden? Mein Kopf tut weh und ich hab echt einen schlechten Tag.“

„Oh, tut mir Leid, das zu hören …“

Mein Handy klingelte. Da stand Max Handy! Endlich. Ich sprang auf und drückte die Annahmetaste.

„Hey, endlich …“

„Tut mir Leid, mein Akku war leer und das Ladegerät lag hier zu Hause. Wie geht’s dir? Wie ist die Feier?“

„Kannst du mich abholen?“

Ich fragte das, ohne zu denken. Das war es, was ich wollte. Von all den Leuten mit ihren neugierigen Fragen weg, und zusammen mit Max retten, was von dem Tag noch zu retten war.

„Klar, sicher. Ich kann in zehn Minuten bei dir sein. So schlimm da?“

„Mir geht’s nicht so gut.“

„Armer David. Dann bin ich gleich bei dir. Halt durch, ja?“

„Ja. Danke.“

„Kein Problem, mein Schatz.“

„Du hast mich Schatz genannt.“

„Langsam gewöhn ich mich dran. Ich mach mich auf den Weg und ich liebe dich.“

„Und ich dich. Bis gleich.“

Als ich mich umdrehte, erschrak ich fast, meinen Großvater ein paar Meter entfernt in der Nische sitzen zu sehen.

„So, du hast also keine Freundin? Die Verliebtheit steht dir ja ins Gesicht geschrieben. Dann kommt sie also gleich doch noch vorbei?“

Da kam ich nicht mehr raus. Und ich hatte mir dieses Netz selbst gesponnen. Wollte ich unbewusst etwa genau das? Dass mir die Wahl abgenommen wurde?

„Opa, hör mal, lass es gut sein.“

„Red mit mir, David. Was ist los? Warum willst du so plötzlich weg? Was hat dich so aus der Bahn geworfen? In den letzten Monaten hast du dich überhaupt nicht mehr sehen lassen. Und deine Stimmung wechselt von einer Sekunde auf die andere. Was ist denn nur los mit dir?“

„Ich kann einfach nicht mit dir drüber reden.“

„Was kann ich denn tun? Was willst du?“

„Ich will auch so einen Diavortrag zum 70.“

Er lachte kurz auf.

„Gut, ich bin mir sicher, das bekommst du hin.“

„Du verstehst das nicht. Ich will, dass du stolz auf mich bist.“

„Aber das bin ich doch. Und noch dazu, wo unsere Vorstellungen von einem guten Leben so ähnlich sind.“

Jetzt lachte ich auf.

„Nicht annähernd so ähnlich, wie du denkst. Darf ich dich was fragen?“

„Sicher.“

„Warum macht es dich so glücklich, Kirsten, Klara und Lydia mit ihren Freunden zu sehen?“

„Na weil ich jetzt weiß, wie es weitergeht. Jetzt weiß ich, wer höchstwahrscheinlich die Väter meiner Urenkel sein werden, oder zumindest kenne ich jetzt den Geschmack meiner Enkelinnen und bin zufrieden.“

„Warum?“

„Naja, also ich denke Klara können wir mal außen vor lassen, sie ist ohnehin noch zu jung. Aber Lydia und Kirsten haben eine gute Wahl getroffen. Steffen und Klaus sind kluge Männer mit guten Jobs.“

„Das ist alles? Geht es nicht darum, dass sie deine Enkelinnen glücklich machen?“

„Natürlich, und auf mich wirken die beiden glücklich.“

„Ich bin auch glücklich.“

„Du siehst gerade nicht sehr glücklich aus.“

„Das liegt aber nicht an meiner Beziehung … naja, irgendwie schon. Alles ist so kompliziert … aber wenn wir zu zweit sind, dann bin ich glücklich. Überglücklich. So glücklich, dass ich mein Glück überhaupt nicht fassen kann.“

„Aber warum sitzt du dann hier im Dunkeln und betrinkst dich?“

„Weil … das … das ist nicht so einfach zu erklären …“

„Ist sie mit jemand anderem zusammen?“

„Nein! Das Problem liegt nicht bei uns beiden …“

„Würde ich sie mögen?“

„Ich denke schon. Klug …. 1,2 im Abi. Witzig, freundlich, fröhlich, schlagfertig, fürsorglich, ehrlich … alles, was man sich nur wünschen kann.“

„Du hast nichts über ihr Äußeres gesagt.“

„Meiner Meinung nach der schönste Mensch auf Erden.“

„Und warum stellst du sie uns dann nicht endlich vor? So einen Schatz darf man doch nicht im Keller verstecken.“

„Also, wenn du wirklich willst, dann stell ich euch vor.“

„Na endlich.“

„Aber ich habe Bedingungen.“

„Die da wären?“

„Das bleibt unser Geheimnis. Kein Wort, nicht mal zu Oma. Vorerst zumindest. Und noch was …“

Ich zog das Couvert aus meiner Hosentasche und gab es ihm zurück.

„Was soll denn das? Das war ein Geschenk.“

„Gib es mir nachher wieder, wenn du es noch willst. Wenn nicht, dann akzeptiere ich das. Lass uns vor dem Haus warten.“

„David, langsam machst du mir Angst.“

„Nicht so viel Angst, wie ich gerade habe … Also, vergiss nicht, dass du mir Stillschweigen geschworen hast, egal was du davon hältst.“

„Mein Wort drauf.“

Als ich den BMW von Frau Weller anfahren sah, spannte sich jeder Muskel meines Körpers und ich machte mich bereit, einzusteigen, für den Fall, dass alles schief ginge. Und davon ging ich fast aus …

„Schickes Auto.“

„Mamas.“

Mein Großvater Pfiff anerkennend.

Max hielt direkt neben uns und stieg aus.

„Guten Tag Herr Lenz. Ich habe gehört, man darf gratulieren?“

Armer argloser Max.

„Ja, danke … ehm …“

Sie schüttelten sich die Hand.

„Das ist Max Weller. Seine Familie hat das Heider-Anwesen gekauft.“

„Ah natürlich. Und sie sind jetzt für Davids Freundin eingesprungen? Hat sie sich wieder nicht hergetraut? Das Mädchen scheint ja sehr schüchtern zu sein.“

Max schaute mich kurz ratlos an. Ich nahm all meinen Mut zusammen und trat neben ihn.

„Opa, wir haben auf niemand anderen gewartet. Max und ich, wir sind zusammen. Ich bin schwul.“

Ich weiß nicht, wer von den beiden überraschter schaute. Max versuchte ein freundliches Lächeln aufzusetzen. Naja, es war der Versuch, der zählte. Ich studierte die Gesichtszüge meines Großvaters und versuchte, darin zu lesen, was als nächstes passieren würde.

„Opa?“

„Ja, ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll. Das … mit sowas hab ich nicht gerechnet. Ich denke … ich sollte wieder zu den anderen Gästen.“

„Okay. Dann fahren wir … und vergiss nicht, was du versprochen hast.“

„Ja, nein. Ich weiß. Nehmt euch Kuchen mit.“

„Wir sollen da rein gehen?“

„Ja, nun, nicht zusammen … ich meine … das wäre … ich muss jetzt wirklich rein.“

Max schaute mich finster an.

„Was sollte das denn?!“

„Es ging nicht anders. Ich hab es einfach nicht mehr ausgehalten …“

„Ich dachte, sowas besprechen wir vorher! Dabei geht es schließlich nicht nur um dich. Was wenn Gerüchte durchsickern?“

„Er hat mir versprochen, mit niemandem darüber zu reden. Nicht mal mit seiner Frau. Und mein Großvater hält sein Wort.“

„Und was machen wir jetzt?“

„Ganz ehrlich? Wenn es nach mir ginge, dann würden wir jetzt da rein gehen, und zwar Arm in Arm, und ich würde dich meiner ganzen Familie als den vorstellen, der du bist. Mein Verlobter.“

„Bist du irre? Das halbe Kaff ist eingeladen! Einige kennen mich und meine Eltern! Auf keinen Fall.“

„Max, denk mal nach. Je länger wir es aufschieben desto schlimmer wird es. Ich will es hinter mich bringen. Ich will nicht mehr lügen. Der Tag heute war grauenhaft. Bitte, Max, denk drüber nach.“

„Nein! Nochmal: Auf keinen Fall! Ich kann das nicht. Auf keinen Fall so!“

„Okay. Beruhige dich. Dann komm so mit rein, damit ich mich verabschieden kann und ein Stück Schwarzwälder-Kirsch abstaube.“

„Ich warte hier draußen.“

„Wie du willst …“

Ich verabschiedete mich unzufrieden in die Runde. Als mein Blick auf Dad fiel, wusste ich, dass er der nächste auf der Liste war.

„Sag mal, Dad, hast du morgen Nachmittag schon was vor?“

„Nein, wieso? Braucht ihr Hilfe mit den Möbeln?“

„Nein, nein. Ich dachte, wir könnten vielleicht mal wieder Tennis spielen und danach was essen oder so …?“

„Klar. Ich kann bei den Plätzen bei mir in der Nähe reservieren. Vier bis sechs?“

„Ja, dann komm ich morgen Nachmittag zu dir.“

„Gut. Bis morgen. Und grüß Max.“

Ich fing einen überraschten Blick von meinem Großvater auf, den ich aber ignorierte. Den Kuchen vergaß ich.

Max saß hinter dem Steuer und starrte geradeaus.

„Bist du sauer?“

„Was denkst du denn?! Sowas kannst du nicht einfach alleine entscheiden!“

„Aber es war mein Großvater.“

„Ja, und ich hoffe er hält dicht. Aber dass du ernsthaft vorgeschlagen hast, da rein zu marschieren … das glaub ich einfach nicht.“

„Das war eine Kurzschlussreaktion. Ich hatte echt einen beschissenen Tag. Und wenn ich ehrlich hätte sein können, dann wäre er nicht halb so schlimm geworden …“

„Mein Tag war auch nicht grad toll, okay? Und wenn das hier rauskommt, dann kann ich mich als Waise betrachten, und glaub mir, das hätte noch viele, echt miese Tage zur Folge.“

„Wenn das hier rauskommt? Du redest, als wäre ich dein schmutziges kleines Geheimnis.“

„Bitte lass uns nicht so anfangen. Das hat nichts mit dir zu tun … es geht um meine Eltern.“

„So wie mit Sonia und Maya? Da hast du dich auch drüber hinweg gesetzt.“

„Ja, aber genauso im Geheimen! David, bitte. Versteh das doch. Mach es mir nicht noch schwerer.“

Ich schwieg, wir schwiegen beide. Bis wir vor meinem Haus parkten.

„Kommst du mit rein?“

„Heute nicht.“

„Was auch immer …“

Frustriert stieg ich aus und schlug die Autotür fester zu als nötig. An der Haustür stellte ich fest, dass ich keinen Schlüssel hatte. Wunderbar, und jetzt? Es konnte noch Stunden dauern, bis Mum und Klara nach Hause kamen … Max anrufen? Nein. Erstens: mein Stolz und Zweitens: Was würde das bringen? Er konnte den Schlüssel auch nicht herbei zaubern und mit zu ihm nach Hause kommen fiel wohl auch aus. Wahrscheinlich würde er mich nach diesem Eklat nie mehr in die Nähe seiner Eltern lassen, aus Angst vor einem unfreiwilligen Outing … Ich ging also ums Haus. Alle Türen waren gewissenhaft verschlossen. Wunderbar. Ich fand ein großes Handtuch, das ich mir um die Schultern wickelte und ein paar Sitzpolster. Die nahm ich mit zur Haustür, damit ich auch nicht verpasste, wann die Damen heimkamen. Warum besaßen die beiden eigentlich kein Handy? Ich machte es mir an die Tür gelehnt so bequem wie möglich. Dann fing ich an, über den Abend nachzudenken. Und da war es wieder: Das sichere Gefühl, dass alles gut werden würde, wenn ich nur nicht mehr lügen musste. Ich war durchaus bereit, einen Preis dafür zu bezahlen. Vermeintliche Freunde, die damit nicht klarkamen. Entfernte Verwandte, die ich vielleicht zweimal im Jahr sah... Die alle konnten mir gestohlen bleiben. Jeder Gedanke an die war nur unnötiges Gepäck. Es war Zeit, auszumisten, die Spreu vom Weizen zu trennen. Wo kam diese plötzliche Sicherheit her? Diese Radikalität? Vermutlich purer Selbstschutz, denn heute hatte ich einen Vorgeschmack bekommen auf das, was noch kommen könnte, und was das aus mir machen würde … und das durfte ich einfach nicht geschehen lassen.

„David? Was machst du denn hier draußen?“

Irritiert schaute ich auf zu Klara und Mum, plötzlich zitternd vor Kälte.

„Hast du dich ausgesperrt?“

„Ich bin schwul.“

„Ehm, ja … ist uns bekannt … alles okay, Schatz?“

„Ich bin schwul, und das soll jeder wissen.“

Klara schnüffelte an mir rum.

„Bist du betrunken?“

„Vor allem bin ich schwul.“

„Ja doch. Jetzt komm erst mal rein …“

„Ich geh gleich schlafen …“

„Okay, wie du willst.“

„Ich bin nicht betrunken.“

„Okay …“

„Gute Nacht.“

„Gut Nacht …“

Im Bett hielt ich es nicht lange aus. Ich beschloss, e-Mails zu checken … Ich wollte mit jemandem reden, aber niemand würde mich verstehen. Ich überlegte gerade, mich tatsächlich auf irgendeiner peinlichen Ratgeber-Seite zu registrieren, da fiel mir was Besseres ein. Jordan. Seine e-Mail-Adresse hing an der Pinnwand. Ich fing eine Mail an.

“Hey. You probably don’t remember me. We met at this BBQ with Nina. Well, just wanted to say ‘Hi’, actually. So: Hi. How are things? Well, greetings for now. Would be glad to hear from you. David”

Ich dachte nicht lange nach, sondern schickte die Nachricht einfach ab. Im nächsten Moment bereute ich das schon. So eine dämliche Nachricht … vermutlich würde er mich als Psycho abstempeln und einfach nicht antworten. Ich checkte noch ein paar Plattformen, beantwortete ein paar kurze Nachrichten und schaute ein paar dämliche Youtube-Videos, als mein Outlook eine neue e-Mail anzeigte. Von Jordan! Oh-Mein-Gott! Er hatte tatsächlich geantwortet. Und so schnell! Was mochte wohl drinstehen? Sowas wie ‚Verpiss dich, du Psycho.‘? Ach Quatsch. Ich musste mich dazu überwinden, die Nachricht zu öffnen. Als erstes sah ich, dass sie sehr kurz war.

‘My Skype-name is XXXXXX XX. Call me, if you want … and can.’

Nochmal: Oh-Mein-Gott. Ich startete sofort den Suchlauf und fand einen Account aus Kalifornien unter dem Namen. Einen recht anonym gehaltenen Account, den ich zu meinen Kontakten hinzufügte. Gleich darauf kam die Bestätigung und der grüne Haken, der zeigte, dass er online war. Sollte ich wirklich? Worüber sollte ich mit ihm reden? Aber wenn ich nicht anrief, dann würde er sich fragen, warum nicht. Er sah schließlich auch, dass ich online war … Ich tat es einfach, ich drückte auf die virtuelle Taste. Es klingelte zwei Mal, dann hörte ich seine melodische Stimme.

“Hey David.”

“Hi.”

Schon ging die Video-Übertragung an und ich sah ihn mit einem kleinen blonden Mädchen auf dem Schoß.

“Do you have a cam?”

“One sec …”

Jetzt sahen die beiden mich offensichtlich auch, denn das Kind deutete aufgeregt auf den Monitor und winkte. Ich winkte zurück, sie gluckste fröhlich.

“This is my little girl, Gwen.”

“Hi Gwen!”

“Hello!”

Sie winkte wieder, das machte ihr offensichtlich viel Spaß.

“I told her you are calling from very far away.”

“Yes, I am. And here it is night.”

Bei ihnen schien noch hell die Sonne.

“How late is it in Germany?”

“It’s almost midnight. Ouuuuhhh.”

“Ghost-Hour.”

Gwen vergrub ihr Gesicht in dem schwarzen, gut sitzenden Shirt ihres Vaters.

“Don’t worry, Sweety. Here it is not even three in the afternoon. Ah, and there are the others. Dylan, Josh? A call from Germany.”

Ein Teenager kam rechts hinten ins Bild, gab Jordan einen Kuss auf die Wange und schaute in die Kamera.

“Hi, I’m Josh.”

“I’m David.”

“Where are you?”

“Near Munich.”

“Wow, that’s far away … I’ve been to Germany once.”

“Really? Where?”

“Somewhere near the sea, can’t remember. I visited my Dad on Tour.”

“Wow, cool.”

“Yeah … well, I better help Dylan with the grocery … CU.”

“Okay, bye.”

Der Junge verschwand wieder rechts hinten aus dem Bild, gefolgt von seiner kleinen Schwester.

“Your son, right?”

“Precisely.”

“How old did you say he was?”

“13.”

“Looks older.”

“I know. Acts older too, which makes me feel older …Well, however. Thought your mail was kind of weird …”

“Yeah, weird night. Sorry about that …”

“Everything alright?”

“Don’t know … I feel kind of strange … long story.”

“Go on, then.”

“Really? Okay …”

Ich erzählte ihm, was passiert war. Er sagte, dass er wisse, wie ich mich fühle, und das glaubte ich ihm sofort und er schickte mir eine mp3 von einem Song, den er vor Jahren über dieses Thema geschrieben hatte. Als ich das Lied nebenbei laufen ließ, fühlte ich mich echt wie in dem Song ‘Killing me softly’. Stromin my pain with his fingers. Singin my life with his words. Killing me softly with his song und so weiter. Anschließend wusch er mir ein wenig den Kopf. Ich sollte bedenken, dass Max mir in der Beziehung ziemlich ausgeliefert war, und dass ich ihn nicht drängen durfte. Er sagte aber auch, dass Max mich im Gegenzug nicht davon abhalten durfte, allen meinen Leuten zu sagen, dass ich schwul bin. Ich sollte nur möglichst Max da raus lassen. Das war doch mal ein Kompromiss …

Ich bedankte mich gerade für den Rat, als wieder jemand ins Bild kam. Jemand, der so groß war, dass ich zuerst nur den langen, trainierten Körper sah. Jeans und ein dunkles, ärmelloses Shirt, und die Arme voller Tattoos. Eine angenehm dunkle Stimme fragte:

“Wanna shoot some hoops?”

“Yeah, right …”

“Didn’t think so … we’ll be back for dinner.”

“That’s in three hours.”

Der Riese beugte sich runter, um seine Arme um Jordan zu schlingen. Der Kerl war die Männlichkeit in Person. Harte, aber gleichmäßige Gesichtszüge markantes Kinn, Bartstoppeln die fast so lang waren wie die Stoppeln auf seinem Kopf.

“Is that thing on?”

“Yeah, say hi to David.”

“That’s so creepy … hi Dave …”

“Hi.”

“Well then … we’re off.”

“Okay, bye …”

Die beiden küssten sich kurz, am liebsten hätte ich ein Bildschirmfoto davon geknipst. Josh kam mit einem Ball herein, wieder gefolgt von seiner kleinen Schwester die scheinbar mitkommen wollte. Die vier diskutierten kurz, dann nahm Jordan Gwen auf den Schoß und versprach ihr, dass sie zusammen was viel tolleres unternehmen würden, als Körbe werfen. Das stimmte sie versöhnlich und sie bemerkte gar nicht, wie Josh und Dylan sich davonmachten.

“Well then … what do you wanna do?”

“Paint.”

“Okay, get your stuff, I’ll be right there …”

Schon flitzte sie los.

“Okay, David, as you can see …”

“Yeah, sure … thanks again, and congratulations to that family, really.”

“I know, I’m lucky … But so are you. Say hi to Max.”

“I will. Have a good time.”

“Thanks. Sleep well.”

“Thanks.”

Wir winkten uns zu und trennten die Verbindung. War es vielleicht doch möglich, dass zwei Männer zusammen eine normale Familie haben können? Jordan hatte es offensichtlich geschafft. Gut, nach allem, was ich so mitbekommen hab, ist auch nicht immer alles glatt gelaufen, aber das Endergebnis zählte. Ich beschloss also, auf seinen Rat zu hören. Outen ja, aber nur mich. Aber was war mit meinem Dad? Der würde sofort eins und eins zusammen zählen, wenn ich ständig bei Max rum hing. Ihm musste ich gleich die ganze Wahrheit sagen. Aber nicht, ohne das vorher mit Max besprochen zu haben … am besten gleich.

„Hallo David.“

„Hey. Tut mir Leid, falls ich dich geweckt hab …“

„Hast du nicht.“

„Okay, gut. … Ich wollte was mit dir besprechen …“

„Okay?“

„Ich geh morgen Nachmittag mit meinem Dad Tennis spielen und danach was essen. Ich denke, das wäre eine gute Gelegenheit, es ihm zu sagen.“

„Du hast es echt eilig, hm? Aber das ist deine Sache.“

„Also darf ich ihm von uns erzählen?“

„Das ist deine Entscheidung. Aber sag ihm auch, dass es Leute gibt, die davon nichts zu wissen brauchen.“

„Klar, mach ich. Okay … das war schon alles … Sieht dann wohl so aus, als würden wir uns morgen nicht sehen, oder? Vielleicht am Vormittag oder so?“

„Da hab ich noch was zu erledigen …“

„Was denn?“

„Lange Geschichte … Vielleicht aber abends … ich wäre vermutlich eh in der Wohnung, also wenn alles mit deinem Dad gut gelaufen ist … oder auch wenn es schlecht gelaufen ist … bin ich da.“

„Okay, danke.“

„Das ist ein großer Schritt …“

„Ja, aber ich hab irgendwie gar keine Angst. Ich weiß, dass es nötig ist, und ich weiß, dass ich dich hab und meine Mum … und selbst wenn Dad ausflippt, steh ich nicht auf der Straße … das Schlimmste was passieren kann, ist, dass ich eine Weile bei dir einziehen muss …“

„Oh, wie schrecklich.“

Wir kicherten beide.

„Na gut … dann schlaf gut, David.“

„Und du auch. Ich bin froh, dass du nicht mehr sauer bist … Hatte ich nicht mal den Vorsatz, mich nicht mehr im Ärger von dir zu trennen?“

„Ja, da war mal was … aber lass uns über die ganze Sache mal in Ruhe reden. Vielleicht morgen Abend oder so.“

„Okay, bis morgen, mein Herz.“

„Bis morgen.“

Ich schlief endlich mal wieder so richtig aus, dann aß ich mit Mum und Klara zu Mittag.

„Warum bist du gestern nicht mit zu Max gefahren? Du musst ja fast drei Stunden auf uns gewartet haben …“

„Wir hatten eine kleine Auseinandersetzung … aber nichts schlimmes.“

„Ach so …“

„Worüber?“

„Klara, das geht uns nichts an. Es sei denn, du willst drüber reden?“

„Keine Ahnung … hat Opa sich noch irgendwie seltsam benommen?“

„Nicht dass es mir aufgefallen wäre. Warum fragst du?“

„Ich hab ihm von Max und mir erzählt.“

Die beiden machten große Augen.

„Und, wie hat er reagiert?“

„Überrascht, verwirrt … und dann ist er abgezogen. Nicht wütend abgezogen, eher so, als könnte er mit der Situation einfach nicht umgehen …“

„Okay … hätte schlimmer sein können, oder?“

„Vermutlich.“

„Warum hast du es ihm gesagt?“

„Er hat mich wegen einer Freundin gelöchert und ich hatte an dem Tag einfach schon zu oft deswegen lügen müssen …“

„Verstehe …“

„Heute sag ich es Dad, nach dem Tennis, beim Essen …“

„Ich bin sicher, dein Vater wird dir keine Probleme machen.“

„Beruhigend. Immerhin soll ich die nächsten paar Jahre bei ihm wohnen …“

„Du kannst auch jederzeit hier bleiben, das weißt du.“

„Ach Mama, wenn dann zieht er wohl eher zu Max!“

„Oh, ja richtig … Allerdings müsstet ihr das dann auch irgendwie seinen Eltern erklären, oder? Ist er immer noch nicht soweit, mit ihnen darüber zu sprechen?“

„Wenn er sagen würde, dass er Zeit braucht, dann käme ich ja damit klar, aber er hat geplant, es sie überhaupt nie wissen zu lassen.“

„Warum habe ich das Gefühl, dass eure ‚Auseinandersetzung‘ genau darum ging?“

„Da hängt einfach so viel dran. Ich meine es ist ja nicht so, dass wir uns nur vor seinen Eltern verstellen müssen, was ja schon schlimm genug ist. Wir müssen ständig abwägen, wen wir es wissen lassen und wo doch was durchsickern könnte. Max kann ja machen, was er will. Aber ich werde alle wissen lassen, dass ich schwul bin.“

Die beiden schauten mich wieder mit großen Augen an. Klara fand ihre Sprache als erste wieder.

„Wir stehen hinter dir, aber das weißt du ja.“

„Trotzdem gut das zu hören.“

„Und was sagt Max dazu?“

„Der weiß noch nicht wirklich was davon.“

„Ich meine, seine Eltern könnten Lunte riechen …“

„Ihr Sohn hat eben einen guten Freund, der schwul ist. Mein Gott, soll vorkommen. Davon werde ich mich nicht abbringen lassen.“

„Wie du meinst, das ist wohl allein deine Entscheidung.“

Ich war froh, dass Mum und ich uns da einig waren.

Nach einer Stunde am PC packte ich mein Tennis-Zeug zusammen und war kurz nach drei bei Dad, der ebenfalls zusammenpackte. Zu Fuß machten wir uns auf den Weg. Ja zugegeben, langsam wurde ich nervös, aber ich war froh, dass er guter Stimmung zu sein schien. Er erzählte noch ein paar Verwandtschafts-Geschichten, die er am Vorabend erfahren hatte und erwähnte, dass er die Freunde meiner Kusinen nicht besonders sympathisch fand.

„Was ist denn dieser Bert für ein Typ?“

„Wer?“

„Der Freund deiner Schwester. Sag mal …“

„Ja sorry, ich hab seinen Namen halt noch nicht aufgeschnappt … Keine Ahnung, mir ist er nicht grad sympathisch … und was ich so gehört habe, hat er sich auch schon den ein oder anderen Fehltritt geleistet … Ich glaub nicht, dass das lang hält. Irgendwann kommt Klara zur Vernunft …“

„Hoffentlich …“

Ich dachte daran, dass ich vorgehabt hatte, meinen Dad nach einer Freundin zu fragen, und das Thema war gerade günstig …

„Sag mal, muss ich mich eigentlich auf häufigen Damenbesuch einstellen, wenn ich bei dir wohne?“

Er grinste.

„Ach, mal sehen, schon möglich. Und wie sieht es bei dir aus?“

„So ähnlich.“

Ich grinste zurück. Dad meinte:

„Na da haben wir uns ja beim Essen einiges zu erzählen …“

Oh ja, allerdings, dachte ich mir im Stillen.

Nach dem Aufwärmen, auf das mein Vater immer bestand, lieferten wir uns ein erbittertes Match … naja, zumindest aus meiner Sicht. Dad kam zwar ins Schwitzen, aber wirkliche Mühe bereitete ich ihm als Gegner nicht. Er lobte mich trotzdem, als ich s mal schaffte, ein Spiel zu gewinnen, so dass es am Ende 6:0 6:1 für ihn stand.

„Du hast nicht so viel verlernt, wie ich befürchtet habe.“

„Das ist wie Fahrradfahren“, entgegnete ich großspurig.

„Vielleicht kannst du mit Max ja öfter hier spielen, ist ja doch ganz in der Nähe.“

„Hey, ich suche Gegner, keine Opfer. Auch wenn Max sonst alles kann, auf dem Tennisplatz ist er ein blutiger Anfänger. Ich werde wohl doch auf meinen alten Herrn zurückgreifen müssen.“

„Schön. Ich hatte schon befürchtet, dich komplett an Max abtreten zu müssen, sobald ihr beide im selben Haus wohnt … So, also, da hinten sind die Duschen. Wollen wir dann gleich hier essen, oder heimgehen und das Auto holen?“

„Also ich finde, aus der Sportgaststätte kommt ein verlockender Duft raus …“

Damit war das entschieden.

Wir bestellten zweimal Schnitzel mit Pommes und zwei Weißbier. Mein Vater schaute zwar überrascht, aber das Bier brauchte ich jetzt echt …

Während dem Essen gab ich mir noch eine Schonfrist. Schließlich wollte ich Dad nicht mit vollem Mund das wichtigste Geständnis meines Lebens machen. Dann bestellte er sich noch ein Bier und ich mir Eis.

„Also, Sohn, dann erzähl doch mal, auf was für Damenbesuch hab ich mich denn einzustellen?“

„Du zuerst.“

„Na schön … Also es gibt da eine Dame, die ich in letzter Zeit öfter getroffen habe. Rosi. Und wenn sich die Dinge weiter so entwickeln, dann stell ich sie dir vermutlich bald vor. Vielleicht bei einem Abendessen. Deine Herzdame kann sich dann gerne anschließen. Zwei auf einen Streich.“

„Hm … ja.“

Jetzt war es soweit. Ich steckte den Löffel ins Eis, setzte mich gerade hin und sagte es, wie ich es mir überlegt hatte, gerade heraus.

„Dad, ich habe keine Herzdame. Ich bin schwul.“

Er verschluckte sich an seinem eigenen Speichel. Dann:

„Ist das dein Ernst? Seit wann?“

„Schon immer.“

„Aber deine Freundinnen … Jana …“

„Klägliche Versuche, die Einsamkeit zu bekämpfen und mir selbst was zu beweisen.“

„Sicher? Aber du hast nie … du wirkst nicht so.“

„Ändert nichts an der Tatsache. Ich steh auf Jungs. Definitiv.“

Er wollte die Hoffnung noch nicht aufgeben.

„Ehm … aber … du bist noch jung … sowas kann sich ändern.“

„Nein Dad, ich weiß, was ich will. Mum war auch erst 20 als ihr euch kennengelernt habt. Nimm es einfach als Tatsache hin, okay?“

„Muss ich wohl.“

„Ist das für dich ein Problem?“

„Ich werde mich nicht einmischen. Ich hätte es mir nicht so ausgesucht, aber du bist scheinbar alt genug, zu wissen, was du tust.“

Ihm kam wohl ein plötzlicher Gedanke.

„Schützt du dich auch? In deiner … Situation ist das noch viel wichtiger.“

„Ja Dad. Wir haben uns testen lassen.“

„Wir?“

„Mein Freund und ich.“

„Aber trotzdem musst du dich schützen. Du kannst nicht wissen, ob der …“

„Dad! Nicht. Beende ja nicht diesen Satz. Ich vertraue ihm. Er ist nicht bloß irgendein Typ. Wir lieben uns, wir sind uns treu und wir wollen für immer zusammen bleiben.“

Ich zeigte ihm meinen Ring.

„Du … du hast dich verlobt? Mit einem Mann? Ist das dein Ernst?“

„Mir war noch nie im Leben etwas ernster. Ich liebe ihn über alles. Er macht mich glücklich. Zum ersten Mal fühlt es sich richtig an.“

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“

„Gratuliere, lass uns darauf anstoßen? Oder was würdest du sagen, wenn ich dir erzählen würde, dass ich mich mit einer Frau verlobt habe?“

„Ich würde dir einen Vortrag über die Tragweite dieser Bindung halten und darauf bestehen, sie kennenzulernen.“

„Den Vortrag hör ich mir gerne an, auch wenn mir bewusst ist, wie wichtig die Entscheidung war. Und was das Kennenlernen betrifft … also gilt das auch für meinen Verlobten?“

„Ich denke schon …“

„Vorneweg: Seine Familie weiß nicht über uns Bescheid. Du musst mir also versprechen, nicht rum zu erzählen, wer es ist.“

„Natürlich. Also kenn ich ihn?“

„Allerdings. Und wenn du noch ein wenig darüber nachdenkst, mit wem ich in den letzten Monaten jede freie Minute verbracht habe …“

„Max?“

„Ja, Max ist mein Max.“

Er schien … erleichtert?

„Max ist ein guter Kerl.“

Ich nickte und fügte hinzu:

„Sonst hätte ich jetzt nicht diesen Ring am Finger.“

Es folgten ein paar Sekunden Stille. Dann:

„Lass uns zahlen und auf dem Heimweg darüber reden.“

„Okay, wie du willst, Dad.“

„Also … seit wann weißt du es?“

„Dass ich schwul bin? Eigentlich schon immer … seit ich angefangen habe, mir über solche Dinge Gedanken zu machen.“

„Also hattest du auch vor Max schon Freunde?“

„Nein, das hat sich nie ergeben … ich hab mich auch lange dagegen gewehrt. Wollte euch nicht enttäuschen und so …“

Er hielt mich am Arm zurück und wir blieben stehen.

„Ich bin nicht von dir enttäuscht. Ich bin überrascht und es macht mir ein bisschen Angst, dass dein … Lebensstil so anders sein wird als das, was ich kenne … Ich weiß nicht, ob unsere Erziehung dich darauf vorbereitet hat. Das ist einfach nicht das Leben, auf das wir dich vorbereitet haben …“

„Dad, du kennst Max. Und du kennst mich. Wir wollen nichts Außergewöhnliches. Wir sind ein ganz normales Paar. Alles, was du mir über Beziehungen beigebracht hast, über Respekt, Treue und Ehrlichkeit, das hab ich mir zu Herzen genommen.“

Er klopfte mir auf die Schulter und wir setzten uns wieder in Bewegung.

„Wie lange seid ihr schon zusammen?“

Auf die Frage hatte ich gewartet und ich wusste, dass die Antwort ihm nicht gefallen würde …

„Seit Anfang Juni …“

„Zwei Monate erst? Und da redest du von Verlobung?“

„Zwei intensive Monate. Und ich weiß einfach, dass er der Richtige ist.“

Er schaute mich skeptisch an, beschloss dann aber, erst mal nichts mehr dazu zu sagen.

„Ich hab es Opa gestern gesagt.“

Zu meinem Erstaunen lachte er los.

„Wirklich? Deshalb war er so blass, nachdem du weg warst. Naja … immerhin hast du deine 5000 Euro schon abgesahnt. Was hast du eigentlich mit dem Geld vor? Für Urenkel aufsparen fällt wohl flach, oder?“

„Fünftau ….Oh je …“

„Was denn?“

„Ich hab ihm das Couvert ungeöffnet zurückgegeben …“

„Oh je …“

„Ich hab ihm gesagt, er soll es mir später geben, nachdem er die Wahrheit kennt. Irgendwie hab ich das dumpfe Gefühl, dass ich das Geld in den Wind geschossen hab …“

„Ach, mal sehen … Was würdest du denn mit dem Geld machen?“

Ich überlegte kurz.

„Ich würde Max anbieten, die Miete zu bezahlen, damit er endlich nicht mehr von seinen Eltern abhängig ist. Vielleicht traut er sich dann endlich, es ihnen zu sagen …“

„Verstehe. Aber lange würde das nicht reichen.“

„Ich weiß. Ich hab auch noch etwas gespart. Die Jahre im Restaurant haben doch was abgeworfen. Und dann sind da noch die Unterhaltszahlungen von dir … und ich such mir hier natürlich wieder einen Job. Ich denke, wir würden ganz gut über die Runden kommen …“

„Dir ist es ernst damit, oder?“

„Natürlich. Ich will, dass er endlich er selbst sein kann, auch vor seinen Eltern …“

„Das war bestimmt nicht leicht für dich, all die Jahre …“

„Nein … aber das ist ja jetzt Vergangenheit.“

„Ich bin froh, dass du es mir endlich gesagt hast. Wer weiß es noch?“

„Niemand weiß es lange. Ich hab erst damit rausgerückt, als ich schon eine Weile mit Max zusammen war. Klara, Cora, Mum, Paul, Jana, ein paar andere Freunde und natürlich seit neuestem Opa.“

„Und bei Max?“

„Nur seine beiden besten Freunde.“

„Und das stört dich?“

„Auf Dauer schon, ja …“

„Hm. Gib ihm noch etwas Zeit.“

„Ich hab vor, mich komplett zu outen, Dad. Natürlich nur mich, nicht ihn.“

„Da hängt er aber trotzdem mit drin. Habt ihr das schon besprochen?“

„Noch nicht, aber das mach ich natürlich bald …“

„Ist Max hier?“

„Er ist in der Wohnung und wartet auf Nachricht, ob du mir den Kopf abgerissen hast …“

„Wollt ihr beide noch einen Film mit mir schauen? Oder wollt ihr lieber … du weißt schon …“

„ …allein sein? Dazu haben wir auch danach noch Gelegenheit. Was für einen Film?“

„Die Reisen des jungen Che.“

„Cool. Ich schreib ihm gleich mal …“

‚Ganz okay gelaufen. Jetzt dvd bei dad. kommst du in 10 min. runter?‘

Gleich darauf bekam ich die Antwort: ‚Klar, wenn auch mit einem mulmigen Gefühl …‘

„Und, was sagt er?“

„Er hat Schiss.“

„Das ist auch besser so. Als zukünftiger Schwiegersohn hat er nicht viel zu lachen.“

„Soso? Ich kann mich nicht erinnern, dass du Bernd gestern das Leben schwer gemacht hast.“

„Ach bitte! An dem wären meine subtilen Drohungen doch verschwendet gewesen. Max hingegen wird mich schon verstehen.“

„Sei nachsichtig, ja? Du magst ihn, vergiss das nicht …“

Mein Dad grinste breit.

„Nun, jetzt gelten etwas andere Maßstäbe. Ich muss doch herausfinden, ob seine Absichten ehrenhaft sind …“

„Davon kannst du ausgehen. Weißt du noch?“

Ich zeigte ihm nochmal den Ring. Danach zog er mich ein wenig damit auf, wie er Max das Leben schwer machen würde. Natürlich nahm ich das nicht ernst. Ich war froh, dass er sein Späße trieb, denn das war ein gutes Zeichen.

Als wir die Treppe hochkamen, saß Max schon vor der Wohnungstür und sprang sofort mit geschrecktem Blick auf. Meinem Vater saß mal wieder der Schalk im Nacken.

„Ah, Max!“

„Guten Abend, Herr Lenz.“

„Warum so förmlich? Nenn mich Gert.“

„Okay, danke, Gert …“

„Also dürfen wir bei unserem Videoabend deine Gesellschaft genießen?“

„Ehm, ja … ich dachte …“

„Natürlich, gern doch. Wenn es dich nicht stört, dass sich das Gespräch die meiste Zeit um Davids Liebesleben dreht. Also Sohn, was wolltest du gerade sagen? Du kamst nur bis ‚Papa ich bin sch …’. Was wolltest du denn sagen?“

Max wurde bleich und schaute mich verstört und auch etwas wütend an. Dad gab mir mit einem Blick zu verstehen, dass ich gefälligst darauf einzusteigen hatte. Na schön …

„Ich wollte sagen: Papa, ich bin schwul und mit Max zusammen.“

Mein Dad zog eine finstere Miene auf und trat einen Schritt auf Max zu.

„Stimmt das?“

Er zögerte, nickte dann aber mutig.

„Soso. Sag mal Max, warum hast du dir dafür ausgerechnet meinen Sohn ausgesucht? Warum suchst du dir nicht jemanden, der genau so … schlau ist wie du?“

Max war kurz davor, panisch zu werden. Dann ließ er sich den Satz nochmal durch den Kopf gehen, man konnte fast die Rädchen in seinem Kopf rattern hören und er fragte nur:

„Was?“

Mein Dad konnte sein Grinsen kaum noch verbergen.

„Ich frage mich eben, was ein Superhirn wie du von so einem Hallodri wie meinem Sohn will. Ich meine, kannst du dich mit ihm überhaupt richtig unterhalten?“

„Nochmal, was? Soll das ein Scherz sein?“

„Ganz genau.“

Max’ Gesichtszüge entgleisten merklich.

„Das … oh Mann!“

Dad reichte ihm die Hand und bedeutete mir, ihn endlich zu begrüßen.

„Mann, David, du Verräter.“

„Sorry, familiäre Verpflichtungen …“

Ich umarmte ihn kurz, schließlich hatte ich ihn in den letzten zwei Tagen kaum gesehen. Dad sperrte die Tür auf.

„Kommt schon rein. Sonst löst ihr bei den Nachbarn noch einen Skandal aus!“, erklärte er schmunzelnd. Ich schlang Max einen Arm um die Hüfte und führte ihn rein, während er immer noch ein wenig schmollte.

„Nimm es meinem Sohn nicht übel. Er wollte mich nur gnädig stimmen. Setzt euch. Was wollt ihr trinken? Bleibst du bei Bier, David?“

Max warf mir einen drohenden Blick zu und ich verlangte lieber eine Cola. Mein Dad prustete los.

„Also spätesten jetzt hätte ich von selbst gemerkt, dass ihr ein Paar seid.“

Das rang uns ebenfalls ein Lachen ab und Max entspannte sich langsam merklich. Ich wagte es sogar, nach seiner Hand zu greifen, die er auf seinem Oberschenkel ruhen ließ. Der Blick meines Vaters blieb kurz an unseren Händen haften, genauer gesagt an den Ringen.

„David hat mir erzählt, ihr hättet euch verlobt.“

„Ja, das stimmt. Hätte ich … also ich habe keine Ahnung, ob das aus der Mode ist, aber hätte ich bei ihnen um Erlaubnis bitten sollen oder sowas?“

Er schaute so unsicher drein, dass er das wohl ernst meinen musste. Und zu meiner Überraschung schien mein Vater den Gedanken nicht so abwegig zu finden.

„Vielleicht nicht um meine Erlaubnis, aber vielleicht um meinen Segen.“

„Und was muss ich tun, um diesen Segen zu bekommen?“

Ich rechnete fest damit, dass Dad jetzt gleich irgendeinen Spruch brachte, von wegen ‚du musst mir deine Seele verkaufen‘ oder so. Aber ich irrte mich, er blieb ernst.

„Ich denke wir könnten damit anfangen, dass du mir ein paar Fragen beantwortest und dann werde ich wohl noch einen längeren Monolog halten, und danach sehen wir erst mal weiter.“

Was sollte das denn jetzt?

„Dad, ich glaub wirklich nicht …“

„Schon gut, David. Da erscheint mir nur fair. Stellen Sie ihre Fragen, Herr Lenz, ich meine … Gert.“

Dad lehnte sich in seinem Sessel, der uns gegenüber stand, vor und machte eine nachdenkliche Geste mit den Händen.

„Ihr seid beide sehr jung. Warum habt ihr es so eilig?“

„Womit denn?“

„Mit dem Festlegen.“

„Ganz ehrlich? Das gibt mir Sicherheit. Und ich sehe dieses Festlegen auch nicht als Kompromiss oder so. Ich habe kein Problem damit zu wissen, dass ich für den Rest meines Lebens nur noch ihren Sohn küssen werde. Ich halte mein Glück fest und bin dankbar.“

„Gute Antwort.“

Max atmete hörbar auf und ich legte meinen Arm um ihn.

„Wie stellt ihr euch das weiter vor? Die Frage geht an beide.“

Trotzdem antwortete Max.

„Na ganz normal eben. Wir studieren, leben halbwegs zusammen, teilen uns den Alltag, fahren vielleicht mal weg, … Und wenn wir dann nach dem Studium auf eigenen Beinen stehen, dann heiraten wir. Oder vielmehr lassen wir uns als eheähnliche Gemeinschaft eintragen. Aber bis dahin vergehen wohl noch einige Jahre. Bis 25 sind wir ja zum Beispiel bei den Eltern mitversichert, also ist das schon mal kein Problem … Aber wenn sie mich fragen, wo ich mich heute in fünf Jahren sehe, dann ist meine Antwort: Neben meinem Ehemann, David Lenz.“

Ich schluckte und auch mein Vater sagte für den Moment nichts. Dann holte mein Vater tief Luft und begann mit seinem Vortrag über die Formel für eine glückliche Beziehung. Wir hörten aufmerksam zu, aber das Meiste davon hatte wir auch selbst schon geschnallt: Reden, reden, reden. Das war das A und O. Respekt, Loyalität, Einfühlungsvermögen … Einen ähnlichen Vortrag hatte ich schon von Jordan bekommen …

„Na schön … ich glaube, mehr hab ich vorerst nicht zu sagen … das ging jetzt alles irgendwie sehr schnell … Gerade macht mein Sohn Abi, und im Jahr drauf verlobt er sich schon … Wo sind nur die letzten 20 Jahre hin? Und was wird aus der hübschen Schwiegertochter, die ich mir immer gewünscht habe?“

„Na du kannst ja noch auf Klara hoffen“, platzte es aus mir hervor.

„Meinst du, dass sie der Neandertaler so abschreckt?“

Mein Dad wusste offensichtlich sofort, wen Max damit meinte und grinste. Dann beschwerte er sich aber doch.

„Also wenigstens von einem meiner Kinder erwarte ich Enkel … und da hab ich eigentlich stark auf dich gehofft, David. Ich meine, du konntest schon immer gut mit Kindern …“

„Ja, ich weiß … man kann eben nicht alles haben.“

Max strich mir aufmunternd über die Wange.

„Na das bleibt wohl abzuwarten, hm?“

„Ihr habt schon über Kinder gesprochen?“

Mein Vater war sichtlich überrascht.

„Naja, Lebensentwürfe aufeinander abstimmen ist recht sinnvoll, wenn man sich verlobt …“

„Und ihr wollt Kinder?“

Wir nickten beide. Ich ließ mir nicht anmerken, wie überrascht ich selbst davon war. Das würde den Auftritt irgendwie ruinieren …

„Das freut mich … Also, mit Che wird das heute wohl nichts mehr, was?“

Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es bereits Schlafenszeit war, zumindest für jemanden, der morgen früh raus musste.

„Oh, wie spät?! Na gut, Dad, dann lassen wir dich mal in Ruhe. Wir sehen uns dann wohl morgen Abend oder so?“

„Ja, bis dahin hab ich das Ganze auch mal auf mich wirken lassen. Gute Nacht, ihr zwei.“

Kaum war unsere Wohnungstüre hinter uns ins Schloss gefallen, fiel mir Max auch schon um den Hals und keine Minute später machten wir uns im Bett aneinander zu schaffen.

„Hat … er … uns …jetzt … sei-nen Se-gen ge …“

„Nicht von Eltern reden. Dreh dich um …“

„A-ber, mmmmh …“

„Geht’s?“

„Mhm.“

„Schön?“

„Ooh … jah.“

Das Ganze dauerte nur ein paar Minuten, dann durchfuhr mich dieses angenehme Zucken und ich sackte über Max zusammen und knabberte nur noch leicht an seinem Ohrläppchen.

„David?“

„Hm?“

„Darf ich jetzt wieder über Eltern reden?“

„Mhpf …“

Ich legte mich seitlich neben ihn und beobachtete vergnügt, dass er nicht wagte, sich ebenfalls auf die Seite zu drehen, um keine Sauerei zu veranstalten. Als er meine Belustigung bemerkte, formte er seine Augen zu Schlitzen und knurrte mich ein wenig an. Ich spürte, wie ich schon wieder scharf wurde, aber jetzt war wohl erst mal ‚reden‘ angesagt.

„Dein Vater hat es gut aufgenommen, oder?“

„Ja, wie erwartet“, meinte ich lässig, obwohl ich mir da nicht immer so sicher gewesen war.

„Tu nicht so cool, du hattest ganz schön Bammel.“

Tja, er kannte mich einfach zu gut …Wir gingen erst mal duschen, dann machte ich Tee und wir setzten uns auf die Couch. Ich schaute mich erst mal um. Max und seine Eltern hatten in den letzten Tagen viel Zeug hergebracht. Langsam sah es richtig wohnlich aus.

„Hier lässt sich’s aushalten, hm?“

„Allerdings. Fehlt nur noch dein PC.“

„Der bleibt wohl zu Hause. Ich schaff mir einen Laptop an, den kann ich auch mit in die Uni nehmen …“

„Echt? Krass! Wo nimmst du denn das Geld dazu her?“

„Geburtstagsgeld von meinen Großeltern und so …“

„Ja stimmt. Noch fünf Tage, dann ist es ja soweit. Dann bist du kein Teenager mehr.“

„Jaja, ich fühl mich schon alt genug …“

„Ach ja, ich hab gestern wohl 5000 Euro in den Sand gesetzt …“

Ich erzählte ihm die Geschichte und brachte das Thema so geschickt auf mein geplantes Coming Out.

„Bisher hat das alles so gut hingehauen. Am liebsten würde ich gleich so weiter machen …“

„Wem willst du es denn noch sagen?“

„Meiner Großmutter zum Beispiel. … Ehrlich gesagt … am liebsten allen.“

„David, das hatten wir doch schon …“

„Du verstehst nicht: Ich will allen sagen, dass ich schwul bin. Mit dir muss das Ganze nichts zu tun haben …“

„Über diese Möglichkeit hab ich auch schon nachgedacht …“

„Und, was hältst du davon?“

„Ich kann dir da nicht reinreden, das ist deine Sache.“

„Max, es gibt kein ‚meine Sache‘ mehr, nur noch ‚unsere Sache‘.“

„Naja … anfangs dachte ich, dass das nur alles komplizierter machen würde … aber andererseits … meine Eltern sind so ahnungslos, dass sie vermutlich nicht den Schluss von dir zu mir ziehen würden … und so hätte ich die Möglichkeit, das Thema mal anzuschneiden und zu sehen, wie sie reagieren …“

„Also bist du einverstanden?“

„Mein Kopf sagt nein, aber mein Bauchgefühl sagt, dass das der richtige nächste Schritt ist.“

Ich fiel ihm um den Hals und küsste ihn stürmisch.

„Sag mal, was hat es eigentlich mit den Stoppeln auf sich? Hattest du heut früh keine Zeit zum rasieren?“

„Hm, doch … ich dachte nur, ich probier mal was Neues.“

Ich musterte die kupferfarbenen Stoppeln auf Kinn und Wangen.

„Und wie lang soll das werden?“

„Mal sehen, wie es aussieht …Stört’s dich beim küssen?“

„Bisher nicht, fühlt sich lustig an …“

„Na gut, mal sehen, wie das in den nächsten Tagen ist … Und wegen heute Vormittag … Ich glaub, ich muss dir da noch was erzählen …“

„So, was denn?“

„Gestern … also, wir haben ja zu dritt im Bett geschlafen … weil du dich auf der Couch breitgemacht hattest … jedenfalls …“

„Claudi hat sich an dich ran gemacht!“

„Sie war betrunken und so …“

Ich sprang auf.

„Ach Schwachsinn, das hat dieses Flittchen doch schon ewig geplant! Die will uns schon eine ganze Weile auseinander bringen. Mach die Augen auf, Max. Sie hat dir sogar geraten, mit mir Schluss zu machen!“

„Ich weiß … du hast Recht …“

„Was hat sie gemacht?“

„Ist doch egal …“

„Max! Rück raus!“

Er stand auf du nahm meine Hände.

„Sie hat versucht … mir einen zu blasen …“

Das war krasser als alles, was ich mir ausgemalt hatte. Ich tobte! Wie konnte sie das wagen?!

„Diese Schlampe! Diese Irre!“

„David, beruhig dich erst mal wieder …“

„Nein, echt nicht! Wie soll ich mich denn da noch beruhigen?! Wie weit ist sie gegangen?“

„Weit genug dass ich aufgewacht bin … und erst mal checken musste, dass das nicht du bist und dass Thorsten neben uns schläft und so … ich hab sie ganz schön angeschrien … und sie ist aus der Wohnung gelaufen … und heute früh haben wir nochmal geredet … war schon hart … jedenfalls … hab ich ihr gesagt, dass ich sie vorerst nicht sehen will … Also mach dir keine Sorgen.“

Da sah ich den Schmerz in seinen Augen … er hatte vermutlich seine beste Freundin verloren …

„Tut mir Leid, dass das so gelaufen ist.“

„Ja, mir auch …“

„Kann ich was tun?“

„Lass uns einfach nicht mehr drüber reden, okay?“

„Okay. Ich liebe dich, Max. Und ich vertrau dir. Wegen mir musst du also nicht den Kontakt abbrechen.“

„Das ist doch nicht wegen dir! Kannst du dir vorstellen, wie ich mich dabei gefühlt hab? Lassen wir’s gut sein, okay?“

„Okay.“

„Thorsten hat sich heute mit dem Mädel getroffen, das er am Freitag kennengelernt hat. Da scheint was zu gehen, … bin schon gespannt, was er zu berichten hat …“

„Soso, stille Wasser, hm?“

„Jep.“

„Was willst du morgen machen?“

„Mich nach Laptops umschauen … und abends würd ich gern unter die Leute kommen …“

„Was hast du dir vorgestellt?“

„Kino oder so, oder eine Studentenkneipe … um schon mal einen Vorgeschmack zu bekommen …“

„Wie stehst du zum Flags?“

„Wozu?“

„Das ist das Lokal, das die beiden im Gesundheitsamt uns empfohlen haben …“

„Ein Schwulenladen? Echt, da willst du hin?“

„Ich hab das mal gegoogelt und das wirkt eigentlich ganz nett. Ne Mischung aus Bistro und Pub … Wir könnten da ja zumindest mal ganz harmlos zu Abend essen. Wenn’s uns nicht taugt, sind wir sofort wieder weg.“

„Naja, gut, von mir aus.“

„Liegt übrigens auf unserer Tramlinie …“

„Du hast aber gut recherchiert.“

Ja das hatte ich, aber ich wusste selbst nicht, warum eigentlich. Eigentlich war dieses Pride-Zeug nicht so meins … aber das Pärchen damals schien nett zu sein. Max schob seine Hand in den Bund meiner Shorts.

„Dann führst du mich also morgen zum Essen aus? Und was hast du dir für Freitag überlegt?“

„Da werde ich dir jeden Wunsch von den Augen ablesen.“

„Was kannst du jetzt lesen?“

Seine wunderbaren grünen Augen funkelten mich wollüstig an.

„Du willst ins Schlafzimmer gehen.“

„Falsch. In die Küche. Mal sehen, was der neue Tisch so aushält …“

Wir schliefen aus, frühstückten auf dem Balkon und schauten uns die ganze Zeit verliebt an.

„Das gestern war wirklich … ich weiß kein passendes Adjektiv.“

„Ja, das war es …“

„Wenn der Sex weiterhin immer noch besser wird, dann kann ich dich bald nicht mehr aus der Wohnung lassen, David. Am liebsten würde ich den ganzen Tag nichts anderes machen … wobei … wo ist denn der Mediamarkt-Prospekt? Ich wollte mir das eine Notebook nochmal anschaun …“

Das war mal wieder typisch Max. In den romantischsten Situationen kam plötzlich so ein Bruch und er war wieder dieses Zahlen-jonglierende Genie und alles andere war vergessen. Während er sich also in die technischen Details vertiefte, räumte ich schon mal ab.

Bis zwei waren wir unterwegs und Max hatte sich tatsächlich für ein Modell entschieden, das er, weil es billiger ist, im Internet bestellen wollte, aber eben erst nächste Woche, wenn seine Kasse gefüllt war. Während unseres ganzen Einkaufsbummels hatte er sich mir nicht einmal körperlich genähert, was er nachholte, gleich als die Wohnungstür zu war.

„Warte mal … willst du das jetzt immer so machen? Sollen wir uns hier verkriechen? Ich dachte, wir waren uns einig, dass es in der Großstadt anders wird …“

„Aber was, wenn jemand der uns kennt uns zufällig sieht und es weitertratscht?“

„Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit?“

„In der Fußgängerzone: sehr groß. Heute Abend hör ich nicht auf, deine Hand zu halten, versprochen.“

„Na schön …“

Wir hängten noch ein paar Bilder auf, schraubten Regale an die Wand, was halt noch alles anstand. Dann duschten wir (zusammen, was wie immer etwas länger dauerte …) und machten uns zum Abendessen fertig.

„Du siehst gut aus.“

„Ach Quatsch …“

Max wusste wirklich nicht, wie hübsch er war … mehr als es ihm immer wieder sagen, konnte ich auch nicht.

„Doch, mein Herz. Sogar trotz der Brille.“

„Ach so … soll ich noch schnell Linsen reintun?“

„Lieber nicht. Sonst reißen sich die Typen nachher noch mehr um dich.“

„Jetzt hör aber auf. Wer von uns beiden wird denn ständig angemacht?“

„Na gut … lassen wir das. Können wir los?“

„Klar.“

Auf der Treppe begegneten wir Dad, der scheinbar ebenfalls gerade los wollte. Er war auffällig schick gekleidet.

„Ah, hallo ihr zwei, wohin des Weges?“

„Max führt mich zum Essen aus.“

„So? Irgendein besonderer Anlass?“

„Dafür brauch ich doch keinen Anlass“, meinte er und nahm meine Hand.

Mein Vater lächelte und ging mit uns die Stufen runter.

„Und du? Rosi?“

„Ganz genau.“

„Wann stellst du sie uns denn mal vor?“

„Na mal sehen, was sich ergibt. Schönen Abend, euch beiden.“

„Ebenfalls.“

Er zwinkerte uns noch zu und machte sich auf den Weg in die Tiefgarage.

Eine viertel Stunde später stiegen wir aus der Tram und ich führte Max dahin, wo ich das Flags vermutete und es auch tatsächlich fand. Wir waren erstaunt. Der Laden war echt groß und recht voll. Es gab eine Bar, ein paar Bistro-Tische und viele normale Tische. An den Wänden hingen ein paar Regenbogenfahnen, ansonsten war alles ganz ‚normal‘. Wir setzten uns an einen freien Tisch. Max studierte gleich mal die Speisekarte, während ich meinen Blick noch ein bisschen umherschweifen ließ. Die Kundschaft war bunt gemischt. Ich sah ein paar händchenhaltende Männer, aber auch einige gemischte Paare. Auch vom Alter her war von Teenies bis gut über 50 alles dabei. Die Stimmung war genau die richtige Mischung aus ruhigem Restaurant und geselligem Pub. Ja, hier gefiel es mir. Im Hintergrund lief Gitarrenmusik, aber man konnte sich trotzdem noch bei normaler Lautstärke unterhalten. Da kam auch schon ein Kellner, der sich bemühte, nicht gestresst zu wirken und höflich fragte:

„Na, was kann ich euch bringen?“

„Eine Cola und eine Apfelschorle?“

Ich nickte. Ja, Max wusste, was ich wollte. Okay, das war jetzt auch nicht so schwer, aber ich fand es trotzdem toll.

„Habt ihr euch schon für was zu essen entschieden?“

„Nein, ich glaub da brauchen wir noch eine Minute.“

„Okay, Getränke kommen sofort.“

Ich schaute dem Kerl noch hinterher. Er sah gut aus. Groß, sehr schlank, gut sitzende Kleidung … vielleicht ein klein wenig zu offensichtlich schwul für meinen Geschmack.

„Gefällt er dir?“

„Hm, was?... Ehm …“

„Hey, das ist schon okay. Gucken darfst du. Ich guck ja auch. Also, ist er dein Typ?“

Ich zuckte die Schultern.

„Etwas zu feminin vielleicht, aber so rein optisch macht er schon was her. Und auf wen guckst du?“

„Hm, mal sehen … ah. Da … neun Uhr, von dir aus. Der mit dem grünen Shirt.“

Da stand ein Kerl Mitte 20, recht muskulös, sehr männlich. Ich fühlte mich plötzlich sehr … knabenhaft …

„Hey, das war nur ein Beispiel. Deinen Körper find ich auch toll. Der da würde mir vermutlich eher Angst machen …und jetzt schau mal in die Speisekarte. Ich nehm glaub ich Chili con Carne.“

Ein paar Minuten später wurde unsere Bestellung aufgenommen. Von einem anderen Typen, recht jung und unsicher. Und sehr gestresst. Vermutlich war er neu und die Bude war voll. Ich schaute mich um und sah nur drei Kellner. Jeder hatte bestimmt zehn Tische zu versorgen. Ich hatte echt Mitleid mit ihnen. Irgendwie schafften sie es aber, dass wir nach 20 Minuten das Essen auf dem Tisch hatten. Inzwischen wirkte allerdings auch unser erster Kellner etwas gestresst. Die am Nebentisch wurden langsam grummlig, weil sie seit zehn Minuten nach der Rechnung verlangten.

„Ja natürlich, ich bin gleich bei euch.“

Klirrr!

Der Neue hatte einen Teller Nudeln fallen lassen. Eine Mordssauerei.

„Auch das noch.“

Und dann kam auch noch ein Schwung neue Leute.

„Hilfe … und jeden Moment kommt der Chef …“, murmelte er.

„Sagt, wenn ihr noch was braucht, Jungs.“

„Einen Job,“ sagte ich, ohne nachzudenken. „Und ich hab das Gefühl, euch fehlt ein Kellner.“

„Boah, kannst du aushelfen? Dann leg ich auch ein gutes Wort beim Chef für dich ein.“

„Klar, ich nehm mal die Getränke der neuen auf … Oh, Schatz … ist das okay?“

„Ja klar, das Chaos kann man sich ja nicht mit anschaun. Aber schade um deine Nudeln …“

„Die gehen aufs Haus. Ich bin Noah“, sagte der Kellner schnell.

„David.“

„Max.“

„Also dann, auf geht’s.“

Ich holte mir von der Küche Schreibzeug und schon war ich in meinem Element. Ich kannte zwar die Kürzel hier nicht aber dann schrieb ich eben den ganzen Namen hin. Auch die Tischnummern musste ich halt nachträglich einfügen, aber das lief schon. Zwischendurch schaute ich bei Max vorbei, der sich inzwischen über meine Nudeln hermachte.

„Wo isst du das nur alles hin?“

„Morgen geh ich laufen …“

„Sonst alles okay? Willst du noch ne Cola? Nachspeise? Kaffee?“

„Tee. Da gibt’s Yogi-Tee.“

„Kommt sofort.“

„Ja, daran könnt ich mich gewöhnen …“

„Vergiss es. Privates und berufliches muss man trennen.“

„Och … oh, ich glaub, da will jemand zahlen …“

„Ja … bis bald, mein Herz.“

Als ich das nächste Mal zu ihm rüberschaute, saß das grün-shirtige Muskelpaket bei ihm am Tisch und sie unterhielten sich angeregt. Noah tauchte hinter mir auf.

„Oho. Tja, das hat man davon, wenn man sich so einen schnuckeligen Kerl anlacht. Da muss man mit Konkurrenz rechnen. Pass gut auf ihn auf. Niels ist berüchtigt dafür, gern mal anderen den Kerl auszuspannen.“

„Ach, da mach ich mir keine Sorgen.“

„Ja, ich seh’s. So, zurück an die Arbeit.“

Gegen halb zehn wurde es ruhiger. Max unterhielt sich schon eine gute Stunde mit diesem Niels. Gerade wollte ich rüber gehen und mein Territorium markieren, da kam der Chef. Noah schnappte mich gleich mal und zerrte mich vor ihn.

„Hey Boss. Das ist David. Er hat uns heute den Arsch gerettet.“

„So? Wie das?“

„Ich bin nur eingesprungen, war kein großes Ding …“

„Und das, obwohl er eigentlich ein Date hatte! Chef, wir brauchen ihn. Die beiden Neuen bemühen sich zwar, aber sie haben’s einfach noch nicht drauf. Im Gegensatz zu David.“

„Ja? Hast du Erfahrungen?“

„Meine Tante hat ein Restaurant. Ich hab da fast fünf Jahre gearbeitet.“

„Also wenn das so ist … suchst du ’nen Job?“

„Allerdings. Hier würde es mir auch gut gefallen …“

„Na dann, willkommen im Team. Halt dich an Noah. Er ist hier der Chef, wenn ich weg bin. Dann stellt nachher gleich noch den neuen Dienstplan zusammen. Und Steffi braucht ihr nicht so viele Schichten abzugeben. Die hat uns heute ganz schön hängen lassen …“

„Alles klar, Boss.“

„Dankeschön.“

Er verschwand in der Küche.

„Okay, das ging ja leicht …“

„Ja, wir sind grad etwas unterbesetzt. Aber jetzt wird es ja wieder ruhiger. Also, wie schaut’s bei dir grad so aus? Wann hast du Zeit?“

„Eigentlich immer.“

„Schön, dann brauch ich dich auch nicht bei der Einteilung. Dann kümmere dich mal wieder um deinen Max.“

„Sicher?“

„Klar, geh schon, sonst kommt Niels noch auf dumme Gedanken. Und holt euch noch Schokokuchen und Kaffee. Heut geht alles aufs Haus.“

„Cool, danke.“

Ich kam also mit einem Tablett mit dampfendem Kaffee und saftigem Schokokuchen am Tisch an.

„Na ihr zwei …“

„Oh, hey. Wie lang musst du denn noch schuften?“

„Bin fertig und hab Kaffee und Kuchen umsonst. Interesse?“

„Durchaus. Setz dich. Das ist übrigens Niels.“

„Hallo David, schon viel von dir gehört. Naja, dann verzieh ich mich mal. Schönen Abend noch.“

„Gleichfalls.“

Na immerhin; aufdringlich war der nicht …

„Also, David? Hast du’s gut überstanden?“

„Ja, hat Spaß gemacht. Alle hier sind recht nett. Und die in der Küche sind ein eingespieltes Team. Der Chef hat mir einen Job angeboten. Sieht so aus, als würde ich jetzt hier arbeiten.“

„Echt? Cool! Hier ist es echt ganz nett.“

„Allerdings.“

„Aber ich befürchte, wenn ich oft hier rum häng, dann reicht Laufen allein auch nicht mehr. Niels hat von ’nem günstigen Studio hier in der Nähe erzählt. Vielleicht schau ich mir das mal an.“

„Solang du kein zweiter Arnold wirst, soll mir das recht sein.“

„Niels studiert übrigens auch Physik, jetzt dann im siebten Semester. Wir haben schon abgemacht, dass er mir mal alles zeigt und so.“

„So? Interessant …“

„Eifersüchtig?“

„Iwo …“

„Und wie sind die Kollegen?“

Wir blieben noch eine halbe Stunde sitzen, Noah kam noch mit dem Dienstplan und Papierkram und dann machten wir uns händchenhaltend auf den Heimweg.

„Weißt du, von dem Gehalt und mit dem Trinkgeld … und dann auch noch Dads Unterhaltszahlungen … ich glaub ich kann sagen, finanziell recht unabhängig zu sein.“

„Gut …“

„Weißt du, ich sag das, weil ich wirklich gern offiziell mit dir zusammenziehen würde …“

„David, nicht schon wieder …“

„Überleg doch mal. Ich kann die Miete ganz allein bezahlen, und du hast dein Stipendium. Du musst dir keine Sorgen mehr machen, dass deine Eltern dir die Geldzufuhr kappen. Wenn du unabhängig von ihnen bist, dann kannst du ihnen auch das von uns sagen.“

„Sag mal spinnst du?! Glaubst du, ich mach das wegen der Kohle?!“

„Ich … ja … nein … keine Ahnung. Nicht?“

„Lass es einfach endlich gut sein, David! Du kannst machen, was du willst, und wenn du es der ganzen Welt erzählen willst, dann halt ich dich nicht auf. Aber lass mich da raus, ein für alle Mal!“

„Okay … is ja gut.“

„Versteh’s doch endlich …“

„Okay.“

Am Dienstag hatte ich die Mittags- und die Abendschicht zusammen mit Noah und den beiden ‚Neuen‘ Alex und Danny. Zwischendurch beschlossen wir, dass die Jungs die fünf Tische auch alleine handhaben konnten und Noah überredete mich, mit ihm in die Innenstadt zu kommen. Er brauchte dringend ein paar neue Hosen … Im ‚Planet Munich‘ saß ich also vor den Kabinen und beurteilte alle paar Minuten den Sitz einer Jeans. Noah fand drei Stück und bezahlte mal eben knapp 200 Euro.

„Wo nimmst du denn die Kohle her?“

„Ich arbeite halt viel und gutsitzende Jeans sind eine gute Investition, findest du nicht?“

„In wie fern?“

„Das hab ich in ein paar Wochen an Trinkgeld wieder drin. Du solltest deine Arbeitskleidung auch mal überdenken …“

„Meinst du?“

„Klar! Deine Shirts könnten schon ein paar Nummern kleiner sein …“

„Na ich weiß nicht …“

„Doch komm, wir kleiden dich jetzt neu ein!“

Bei H&M ließ ich einen Fuffi und hatte dafür eng anliegende Shirts für eine ganze Woche. Ich war echt schon gespannt, ob sich das am Trinkgeld bemerkbar machen würde … Wir schlenderten zum Stachus und irgendwann hakte Noah sich wie selbstverständlich bei mir unter. Das war keine Anmache oder so. nur eine freundschaftliche Geste. Wenn zwei Frauen so durch die Fußgängerzone gehen, hält man sie doch auch nicht für ein Paar. Einige Leute schauten komisch, aber mehr auch nicht.

„Wie war eigentlich dein Coming out so, Noah?“

Er lachte.

„Glaubst du echt, das war nötig? Wie lang hast du gebraucht, um zu merken, dass ich schwul bin?“

„Nicht lang … Also hast du keine guten Ratschläge für mich?“

„Du bist noch nicht out? Soll ich … also ist das hier okay?“

„Ja klar. Meine Familie weiß auch bescheid. Aber so Leute wie Nachbarn und entfernte Verwandte, Bekannte …Wie lass ich’s die wissen?“

„Sei halt einfach du selbst. Darum geht es doch …“

„Ja schon, aber Max soll da nicht mit reingezogen werden …“

„Verstehe … das ist echt blöd … also ich weiß von Leuten, die ne Rundmail ans ganze Adressbuch geschrieben haben …“

„Ja, an sowas hab ich auch schon gedacht … aber das is auch irgendwie seltsam …und erreicht auch nicht alle …“

„Du könntest dich auch einfach etwas schwuler verhalten …“

„Ich dachte es geht darum, ich selbst zu sein …?“

„Ja, stimmt … dann gibt’s da noch die ‘Nobody knows I’m gay’-Shirts …“

„Das hält ja wohl jeder für ’nen Scherz …“

„Du bist echt schwierig …“

„Am besten wäre es, wenn jetzt von irgendwo her meine Nachbarin auftauchen würde. Frau Kramer tratscht sehr gern und dann wüsste es bald das ganze Dorf.“

„Und wenn sie nicht kommt, dann müssen wir eben zu ihr …“

„Du meinst …“

„Wenn es dir ernst damit ist und Max nichts dagegen hat …“

„Das wäre wohl der leichteste Weg … Ich glaub, ich schlag ihm das mal vor … also, wenn das für dich echt okay ist …“

„Ja klar, kein Ding.“

Max kam zum Abendessen ins Flags und danach setzte ich mich noch eine Weile zu ihm.

„Also, was steht die Woche noch so an?“

„Keine Ahnung, wann musst du denn arbeiten?“

„Morgen so wie heute, am Donnerstag nur Mittag und Freitag, Samstag gar nicht. Sonntag erst abends wieder.“

„Willst du übers Wochenende heim?“

„Kommt drauf an, wo du deinen Geburtstag verbringen willst.“

„Meine Verwandtschaft rückt zum Kaffee an, also …“

„Oh.“

„Ja, ich weiß … aber am Vormittag … da liest du mir jeden Wunsch von den Augen ab, richtig?“

„Logo. Und wie lang bleiben die so?“

„Bis nach dem Abendessen. Und Thorsten und Claudi sind auch eingeladen … und du natürlich.“

„Ach so? Na wunderbar, das wird bestimmt spannend …“

„Hör mal, mach wegen Claudi keinen Stress, okay?“

„Nein, keine Angst, ich kann mir das schon verkneifen, ich macht dir da nicht noch mehr Sorgen als du ohnehin schon hast. Also schlafen wir dann getrennt?“

„Auf keinen Fall. Danach machen wir noch was zusammen, keine Ahnung was … Weiher oder so. Du kannst auch Paul und Jana fragen, ob die sich anschließen wollen. Die hast du auch schon ne Weile nicht gesehen.“

„Ja? Cool. Und dann schläfst du bei mir?“

„Auf jeden Fall.“

„Gut …“

Noah huschte gerade mit einem beladenen Tablett vorbei. Er trug eine neue Jeans, die ich natürlich begutachten musste.

„Ehm, also … verstehst du dich gut mit den Kollegen?“

Worauf das abzielte, war offensichtlich.

„Vor allem mit Noah, ja. Wir waren heute Nachmittag für ne Stunde zusammen shoppen. Hab mir ein paar neue Shirts geleistet und er hat sich unter anderem die Jeans gekauft. Sitzt gut, was?“

„Du willst mich wohl eifersüchtig machen, hm? Vergiss es, klappt nicht. Ich vertrau dir.“

„Ach verdammt. Hihi. Jedenfalls hab ich ihm von meinen Coming out-Plänen erzählt und da ist uns eine Idee gekommen …“

„Ja?“

„Wenn … also … würde es dich stören, wenn der Eindruck entstehen würde, dass ich was mit Noah hab? Also nur so, damit alle Bescheid wissen …?“

Ich erklärte ihm, was wir uns überlegt hatten.

„Das ist schon irgendwie seltsam … aber andererseits … es geht ja nur um den äußeren Schein, und offiziell hab ich ja keine Besitzansprüche auf dich … Also geht das wohl okay … irgendwie …“

„Ja? Echt? Danke! Du bist der verständnisvollste Freund überhaupt! Dann plan ich nachher gleich mal mit Noah. Danke, mein Herz! Ich muss weiter machen. Ich lieb dich, wir sehen uns zu Hause, ja?“

„Klar.“

Ich sagte Noah im Vorbeigehen, dass ich Max’ Erlaubnis eingeholt hatte, und er ging gleich mal rüber um noch kurz mit ihm zu reden, dann verabschiedeten sie sich lachend und Max machte sich auf den Nachhauseweg.

Zu Hause führte ich Max meine neuen Shirts vor und er fand sie toll, auch wenn er nicht so begeistert von ihrem Zweck war, mein Trinkgeld zu erhöhen.

In den nächsten Tagen arbeitete ich einen Plan aus. Am Donnerstagabend führte ich Max ins Kino aus, die Spätvorstellung. Um viertel vor zwölf kamen wir nach Hause, machten eine Flasche Wein auf und hatten sie halb leer, als es zwölf schlug. Nach dem Geburtstagskuss durfte Max sich wünschen, wie und wo wir Sex hatten. Um halb zwei legten wir uns schlafen.

Um halb zehn weckte Max mich und wollte endlich Geschenke. Ein neues PC-Spiel, ein Lederarmband, das meinem sehr ähnlich war, ein paar Boxershorts, die ich mit den Biberbrüdern bedrucken hatte lassen und ein zweiseitiger Brief, der Max Tränen in die Augen steigen ließ. Danach noch ein lange, emotionaler Kuss und dann machte ich Pfannkuchen.

Um halb eins machten wir uns auf den Weg nach Hause. Max hatte das Drittauto seiner Eltern vor dem Haus stehen, der Golf gehörte jetzt inoffiziell ihm. Wir hatten vereinbart, zuerst zu meinen Großeltern zu fahren um Oma endlich ‚meine Freundin‘ vorzustellen, was Max etwas nervös machte, mich seltsamerweise gar nicht. Die beiden saßen, wie erwartet, gerade im Garten beim Kaffee. Als wir ums Haus kamen, wurde mein Großvater merklich blasser.

„David! Hallo! Dass man dich auch mal wieder sieht!“

Mein Großmutter kam freudig auf uns zu und gab mir, nachdem ich mich ein Stück runtergebeugt hatte, einen Kuss auf die Wange.

„Wollt ihr en Stück Kuchen mitessen?“

„Nein danke, wir müssen auch gleich wieder weiter, zu Kaffee und Kuchen bei Max zu Hause. Er hat nämlich Geburtstag.“

Er warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu. Ach, er war ja so bescheiden …

„Tatsächlich? Na dann alles Gute, Max. Wie alt wirst du denn?“

„Ich werde 20.“

„Sehr schön. Und ich kann euch wirklich keinen Kuchen anbieten?“

„Nein, danke, Oma. Wir sind eigentlich nur hier, weil wir dir etwas sagen wollten.“

„So, na dann setzt euch wenigstens kurz.“

Gesagt, getan. Meine Großmutter schaute uns erwartungsvoll an.

„Also, es ist so. Ich wollte dir endlich sagen, mit wen ich zusammen bin.“

„Das ist ja schön, kenn ich sie etwa?“

Mein Großvater verspannte sich sichtlich.

„Ich bin mit Max zusammen. Wir sind schwul.“

Das erste, was meine Oma tat, war einen schnellen Blick zu meinem Großvater zu werfen. Der lächelte zu meinem Erstaunen, wenn auch etwas verkrampft.

„Also darum hast du so ein Geheimnis daraus gemacht.“

„Wir wollen nicht, dass es an die große Glocke gehängt wird. Max’Eltern sollen davon nichts erfahren, also bitte erzähl es nicht weiter.“

„Nein, natürlich, wenn ihr das so wollt.“

„Du kannst ruhig weitererzählen, dass ich schwul bin, nur nicht, dass ich mit Max zusammen bin.“

„Verstehe, so ist das also …und ihr wollt sicher keinen Kuchen? Oder Kaffee?“

„Nein, danke. Oma, alles okay?“

„Ja sicher, ich bin eben überrascht. Man hört ja oft davon, aber dass es dann die eigene Familie betrifft … Jedenfalls bist du erwachsen und mit wem du zusammen bist ist ganz alleine deine Entscheidung, richtig, Vater?“

Mein Großvater schrak leicht auf.

„Ja … ja, so ist es wohl. Würdest du mich einen Moment begleiten, David?“

„Ja, klar …“

Er führte mich ins Wohnzimmer und kramte ein Couvert aus einem Schubfach der Schrankwand.

„Du weißt sicher inzwischen, wie viel das ist. Ich habe eine große Summe Festgeld herausbekommen, das ich in deinem Alter angelegt hatte. Ich hoffe, du benutzt es weise.“

„Ich werde es festlegen bis ich Kinder habe. Wir wollen nämlich Kinder, Opa. Es gibt Möglichkeiten …“

Zu meinem Erstaunen zog er mich in eine Umarmung.

„Ich will doch nur meine Enkel glücklich wissen. Wenn dieser Junge dich glücklich macht, dann ist er mir jederzeit willkommen.“

„Danke, Opa.“

„So und jetzt macht euch auf den Weg zu seiner Familie.“

„Okay. Bis bald. Danke nochmal.“

„Schon gut, schon gut.“

Wir hielten noch bei der Bank, wo ich das Geld einzahlte, und machten uns auf den Weg zu Max. Ich war von der Reaktion meiner Großeltern so gestärkt, dass mir nicht mal die Erwartung, einen Nachmittag mit Claudi und den Wellers zu verbringen, was anhaben konnte. Bisher schien noch alles friedlich, noch war niemand da. Frau Weller zog Max sofort in eine Umarmung.

„Alles Gute, mein Liebling. Oh, lässt du dir jetzt einen Bart stehen?“

„Tja, Isa, unser Junge wird erwachsen. Alles Gute, mein Sohn.“

„Dankeschön.“

Bald darauf rückten die Weller-Großeltern und eine Tante mütterlicherseits mit Mann und zwei verzogenen Bälgern an. Kein Wunder, dass Max was gegen Kinder hatte … Und dann tauchten Thorsten und eine schuldbewusst dreinblickende Claudi auf.

„Amelie kommt wie immer zu spät“, merkte Herr Weller senior an.

Max bemerkte meinen fragenden Blick.

„Die Schwester meines Vaters.“

Es stellte sich heraus, dass Amelie viel jünger als Herr Weller war, Mitte 30, dunkelrot gefärbte Haare, Ethno-Stil. Sie war wohl das schwarze Schaf der Familie. Sofort nach dem ihre dritte Tasse Kaffee leer war, stand die auf und ging zum Pool, um eine zu rauchen. Zu meinem Erstaunen erhoben sich Max, Thorsten und Claudi ebenfalls, also trottete ich hinterher. Claudi setzte sich dicht neben Amelie. Irgendwie waren die zwei der gleiche Typ und sie verstanden sich auch prächtig.

„Was ist denn zwischen euch beiden los?“, fragte Amelie plötzlich und schaute zwischen Max und Claudi hin und her.

„Was meinst du?“

„Verkauft mich nicht für blöd. Für gewöhnlich hängt ihr die ganze Zeit aneinander und heute habt ihr noch nicht einmal miteinander gesprochen außer ‚Gib mir mal bitte den Zucker‘. Also, was ist los? Habt ihr Streit?“

„Müssen wir das jetzt breittreten?“, fragte Max säuerlich.

„Ich mach mir eben Sorgen. Ich will meinen Neffen eben fröhlich sehen. Bei euch gab es immer was zu lachen und das hat mich solche nervigen Familientreffen überstehen lassen. Also, was ist los?“

„Jemand ist zwischen uns gekommen.“ bellte Claudi.

„Was soll denn der Scheiß bitte?“

„Ist doch so!“

„Das ist nicht das Problem. Das Problem ist, dass du plötzlich ausgetickt bist.“

„Ausgetickt nennst du das?“

„Allerdings! Wie soll ich mich dir gegenüber nach der Nummer denn noch normal verhalten?“

Die Tante schaltete sich wieder ein:

„Ich seh schon, ihr habt noch einiges zu besprechen. Wir sollten den beiden ne Minute geben, Jungs.“

Das sah ich aber anders:

„Ich denke, hier ist alles gesagt.“

„Misch dich nicht ein, David!“, fauchte Claudi mich an.

„Klar, mich geht das Ganze auch überhaupt nichts an, hab ich vergessen.“

„Tut’s auch nicht! Oder kannst du einen Grund nennen, warum du dich einmischen darfst?“

„Verdammt, glaubst du echt, du kannst so was abziehen und ich steh in der Ecke und dreh Däumchen?“

„Was willst du denn sonst tun, hm? Ich glaub im Moment bist du recht machtlos.“

Und damit hatte sie verdammt noch mal Recht. Ich konnte nicht mal sagen was ich dachte. Ich konnte nicht sagen, dass sie gefälligst die Finger von meinem Freund lassen sollte und ich konnte noch nicht mal erklären, warum ich mich überhaupt einmischte. Das tat echt weh. Ich ließ resignierend die Schultern hängen.

„Es ist wohl am besten, wenn ich mich verabschiede. Ich gehör hier nicht hin …“

„Jetzt David … warte doch …“

„Nein, schon okay … das hier ist eine Feier für Familie und alte Freunde. Beides bin ich offensichtlich nicht. Meld’ dich, wenn das hier vorbei ist. Bis später …“

„David …“

„Lass ihn doch gehen.“

„Verdammt, Claudi, kannst du nicht ein Mal die Schnauze halten?! Sonst kannst du dich auch gleich verpissen.“

Stille. Ich ging um die Hausecke. Max’ Stimme war dicht hinter mir.

„Bitte bleib. Sei nicht sauer.“

Ich fühlte seine Hand auf meiner Schulter, drehte mich langsam um und sagte ganz leise:

„Ich bin nicht sauer, mein Herz. Ich kann hier nur einfach nicht bleiben. Nicht so. Es tut mir Leid, ich will dir keine Schwierigkeiten machen. Ich schaff das hier bloß grad nicht.“

„Du weinst … und ich kann dich nicht in den Arm nehmen.“

„Vielleicht können wir uns später sehen. Aber grad jetzt muss ich wirklich nach Hause.“

„Okay.“

„Sag deinen Eltern danke für die Einladung, aber jetzt musste ich zum Abendessen nach Hause oder so. Tut mir Leid, ich will keine Szene machen. Ich geh einfach …“

„Okay. Wir sehen uns nachher. So bald ich kann.“

„Ja …“

Fuck! Dreck! Wie ich das alles hasse! Wut, Enttäuschung, Traurigkeit. Einfach nur schnell nach Hause, vorbei an Mum und Klara, die mich komisch anschauten, einfach nur noch in mein Bett. Ich habe geheult wie ein kleines Kind. Weil ich machtlos war, weil es unfair war, weil Max nicht zu mir steht. Warum konnte ich mich nicht in jemanden wie Noah verlieben? Kaum hatte ich den Gedanken gedacht, weinte ich vor Schuldgefühlen. Weil ich zu viel von Max erwartete und weil ich ihm gegenüber nicht loyaler war. Meine Gedanken kreisten, rasten … langsam musste ich seltener schluchzen. Es dämmerte, wie ich feststellte, als ich unter meiner Decke hervorlugte. Und es klingelte. Max konnte das wohl noch nicht sein. Aber ein paar Minuten später hörte ich meine Zimmertür aufgehen und jemand kroch zu mir ins Bett. Max’ Geruch stieg mir in die Nase, aber er sagte nichts. Er schmiegte sich nur an mich und begann ebenfalls, leise zu schluchzen. Ich wusste sofort, was passiert war. Er hatte es seiner Familie gesagt. Ich drehte mich zu ihm, wischte ein paar Tränen fort und nahm ihn in den Arm. Ich dachte, ich würde mich erleichtert fühlen, aber Max sah so mitgenommen aus …

Nach einer Weile löste er sich aus meiner Umarmung.

„Ich hab …“

„Ich weiß.“

„Es war schrecklich.“

„Tut mir Leid. Ich hätte da sein müssen.“

„So war es besser, glaub mir. Mein Vater wäre vermutlich auf dich losgegangen.“

„Hat er dir was getan?“

Max schüttelte den Kopf. Ich fragte weiter:

„Kannst du mir schon erzählen, was passiert ist?“

„Brüllen, Vorwürfe, Schimpfwörter, Enterbung … Meine Großeltern sind weggefahren … mein Vater war total von Sinnen. Meine Mutter hat geweint und geschrien abwechselnd. Und mein Vater hat gesagt, dass er froh ist, dass ich nicht wirklich sein Sohn bin. Amelie ist mit mir weggefahren. Direkt zur Bank. Da haben wir so viel wie möglich auf dein Konto überwiesen und sichergestellt, dass meine Eltern nicht von heute auf morgen meine Konten plündern können. Amelie hat gesagt, das wichtigste ist erstmal, dass ich finanziell versorgt bin … Jetzt sitzt sie unten bei deiner Mutter. Sie ist plötzlich so pragmatisch … und ich hab plötzlich keine Eltern mehr.“

„Ach Liebling, die beruhigen sich bestimmt …“

„Nein. Du hast sie nicht erlebt. Das war’s.“

„Ich bin für dich da, mein Herz. Auch wenn ich sie nicht ersetzten kann, du bist nicht allein. Du hast mich und du hast auch Sonia und Maya und das Baby.“

„Ich weiß … aber es tut trotzdem so weh.“

„Natürlich …“

Ich hielt ihn noch ein paar Minuten fest, dann meinte er:

„Wir sollten langsam mal runter schauen …“

Mum nahm mich erst mal in den Arm.

„Wir bekommen das schon wieder hin. Ihr bleibt bis morgen erst mal hier.“

Dad stand auch plötzlich da. Er umarmte tatsächlich Max und redete leise auf ihn ein. Gott, was bin ich dankbar für meine Eltern.

Wir besprachen die wichtigsten Dinge. Das mit dem Mietvertrag würde sich wohl leicht lösen lassen, Max’ restliche Sachen würden wir in ein paar Tagen holen, am Montag würde er nochmal zur Bank gehen. Alles in Allem hatte er schon einiges auf der hohen Kante und würde auch alleine klar kommen. Trotzdem bestand ich darauf, mit in den Mietvertrag zu kommen und die Hälfte der Miete zu bezahlen. Irgendwann verabschiedete sich Amelie und wir gingen hoch.

„Ich glaub nicht, dass ich jetzt schlafen kann.“

„Ich auch nicht … aber fertig bin ich irgendwie schon … wollen wir uns einfach hinlegen?“

„Wie soll’s denn jetzt weitergehen, David?“

„Wir ziehen offiziell zusammen, du fängst am ersten dein Praktikum an, dann studierst du … ich schau ob ich den Platz bekomme, ansonsten arbeite ich halt noch ein Jahr Vollzeit. Wir können zwar keine großen Sprünge machen, aber ausgehen wird uns das Geld auch nicht. Wir sind versorgt, darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen.“

„Was ist mit Weihnachten? Wo soll ich denn Weihnachten verbringen?“

„Na hier natürlich. Außerdem ist da noch lange hin. Und du könntest dich mal bei Sonia melden. Jetzt hält dich doch nichts mehr ab, oder?“

„Nein … ach, keine Ahnung, irgendwie ist alles so unwirklich. Ich weiß gar nicht, warum ich mir so viele Sorgen mache … eigentlich hab ich ja echt alles, was ich brauche …“

„Und außerdem hast du Geburtstag …“

„Stimmt, das hab ich ja völlig vergessen …“

„Darf ich dich küssen?“

Er kicherte.

„Natürlich, sei nicht albern.“

„Dein Bart kitzelt.“

„Soll ich mich rasieren?“

„Nein, du siehst damit so erwachsen aus …“

„Und das ist gut?“

„Das markiert einen neuen Abschnitt …“

Am nächsten Tag war Max nicht vor Mittag aus dem Bett zu kriegen. Mum und ich kochten schon mal und redeten nochmal über alles, was passiert war. Irgendwie hatte ich meiner Mutter bisher wohl noch nichts von der Verlobung erzählt. Sie war sehr überrascht, aber auch erfreut. Und sie ersparte mir einen weiteren Vortrag darüber, was das bedeutete.

„Ich denke, du machst das alles schon ganz gut. Und schau mal, wer da angeschlichen kommt.“

„Morgen …“

Max sah ja dermaßen zerknautscht aus.

„Hallo mein Herz. Schau, Essen ist schon so gut wie fertig. Und das Wetter ist auch schön. Wir könnten zum Weiher fahren, wenn du Lust hast.“

„Mal sehen …“

Tatsächlich ließ Max sich von Klara und mir mitschleifen. Er bekam Dads Rad, das noch im Keller stand. Die Sonne brannte vom Himmel, kein Wölkchen war zu sehen und ich fuhr mit meinem Herz zum Weiher. Hach, das Leben ist doch schön. Wir schlenderten zum ruhigen Ufer. Tja, und da lagen sie. Meine lieben Freunde. Flo, Chrissy, Tom, Michi, Anne, Jenny, Julia, Paul und Jana.

„Und jetzt?“, fragte mich Klara und schaute mich erwartungsvoll an.

„Jetzt gehen wir freundlich grüßend an ihnen vorbei und legen uns so weit weg wie möglich.“

Tja, wenn das mal funktioniert hätte …

„Yo, David!“

„Hey Leute …“

„Dass man dich auch mal wieder sieht!“

„Ja, viel zu tun …“

„Wohnst du jetzt schon in München?“

„So gut wie … Hab auch schon ’nen Job und so …“

„Echt, wo denn?“

„In so ’nem Laden, als Kellner wieder …“

„Jetzt setzt euch schon, wir sind ja noch gar nicht richtig zum quatschen gekommen.“

Flo war wie immer sehr hartnäckig. Max schaute mich ein bisschen ängstlich an, Klara knallte sich gleich mal neben Paul, der mich aufmunternd anlächelte. Die Stimmung war auf seltsame Weise gespannt. Ich entschied mich für die direkte Tour.

„Hört mal, Max und ich hatten gestern schon genug Ärger. Wenn ihr also vorhabt, uns irgendwelche Schwierigkeiten zu machen …“

„Ach David, wir haben halt ne Weile gebraucht, um den Schock zu überwinden. Jetzt setzt euch schon, ihr Turteltäubchen.“

Die meisten lachten. Ich warf einen Blick zu Max. Seine Mundwinkel zeigten ebenfalls leicht nach oben. Na schön. Ich breitete also mein großes Handtuch aus und Max und ich ließen uns darauf nieder.

„Zigarette?“, bot mir Chrissy an.

„Ich rauch nicht mehr, danke.“

„Tatsächlich?“

Sie schielte zu Max rüber und grinste.

„Danke Max, der Herr hier hat mich früher fast arm gemacht. Ständig hat er sich bei mir durchgeschnorrt.“

„Gern geschehen.“

Max lächelte! Ich musste ihn einfach küssen und er küsste mich zurück.

„Also, was hattet ihr gestern für Ärger?“, fragte Flo.

Ich warf Max einen Blick zu und zu meinem Erstaunen sagte er:

„Ich hab’s meiner Familie gesagt. Und die haben es alles andere als gut aufgenommen.“

„Das ist echt Scheiße, Mann … und jetzt?“

„Naja, David und ich teilen uns die Miete und …“

„Ihr wohnt also so richtig zusammen?“, fragte Chrissy begeistert und warf Flo einen wehmütigen Blick zu. Der erklärte:

„Wir suchen auch eine kleine Wohnung zusammen. Ist aber nicht so leicht.“

„Wo geht ihr denn hin?“

„Na München, wusstest du das nicht? Ich mach Informatik und Chrissy Mediengestaltung.“

„Cool, dann sehen wir uns wohl öfter.“

Jana meldete sich ebenfalls zu Wort.

„Ich mach Lehramt Englisch, Französisch und Schulpsychologie. Das ist ohne NC. Ich hab schon ein Zimmer in ’ner WG gefunden. Mich wirst du also auch nicht los …“

Bei den anderen war das noch nicht entschieden. Aber auch Paul hatte sich für einen Studienplatz in München beworben. Alle erzählten von ihren Plänen und Klara schmiss sich irgendwie volle Kanne an Paul ran. Ich wusste nicht so recht, wie ich das finden sollte, aber er schien nichts dagegen zu haben. Chrissy und Max kicherten ständig miteinander und ich ließ mir von Jana von einem Kerl vorschwärmen, den sie aufgerissen hatte. Natürlich schwammen Max und ich noch zu ‚unserer‘ Insel rüber und machten ein bisschen rum, aus Nostalgie.

Als wir nach Hause kamen, stand mein Vater mit meinen Großeltern an deren Gartenzaun.

„Ah, ihr seht erholt aus.“

„War ein toller Nachmittag.“

„Dein Großvater hat dir was zu sagen.“

„Oh?“

„Gert hat uns gerade erzählt, was gestern passiert ist und uns tut das sehr Leid. Wir wollen euch ein bisschen unter die Arme greifen.“

„Das habt ihr doch schon, mit dem Geld und eurem Verständnis.“

„Nein, nein. Wenn ihr wirklich unabhängig sein wollt, dann braucht ihr mehr als das. Und deshalb will ich dir den alten Golf überlassen.“

„Was? Aber du hast ihn immer so gehegt.“

„Du hast ihn mit mir überholt. Er steht dir zu. Und auf die Art kannst du öfter mal hier vorbei schauen, wenn du in der Großstadt wohnst. Die Versicherung übernehmen wir natürlich auch, bis dein Studium abgeschlossen ist. Nur um einen Stellplatz und Benzin musst du dich selbst kümmern.“

„Wow, das ist … danke, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll …“

„Schon gut, Junge. Und Max, Willkommen in der Familie. Ich habe gehört, dass ihr euch verlobt habt.“

Klara kippte aus den Latschen.

„Was habt ihr?!“

„Oh, hab ich das noch nicht erwähnt? Die Ringe liegen in meinem Zimmer …“

„Krass …“

„Wir sollten es deiner Mum auch noch sagen, fällt mir ein …“ merkte Max an.

„Das hab ich heute Mittag schon gemacht. So aus dem Affekt …“

„Ach so, na gut. Und, wie hat sie reagiert?“, fragte er fast ängstlich.

„Erfreut, wie sonst? Mach dir nicht immer so viele Gedanken, Max.“

Am Abend gingen wir zum Grillen zu Flo. Max schien Spaß zu haben und ich sowieso. Naja, und Paul und Klara hatten auch Spaß. Oh Mann. Naja, wenigstens war der Neandertaler damit wohl aus dem Rennen … Und dann gab es mal wieder eine Wahrheitsrunde. Irgendwer schlug das Motto „heimlich verknallt“ vor. Und die erste Frage, die die Runde machte war, ob man schon mal heimlich in eine Person des eigenen Geschlechts verknallt war, aus aktuellem Anlass. Flo verneinte lässig und zog Chrissy auf seinen Schoß. Er merkte auch gleich an, dass er nichts dagegen hätte, wenn Chrissy mal mit einem Mädel experimentieren wollte, solange er dabei zusehen durfte. Chrissy sagte aber, dass sie daran kein Interesse habe. Tom verneinte ebenfalls betont lässig. Anne grinste und lächelte Julia schief an.

„Naja, man experimentiert natürlich rum, aber verknallt, ne.“

Julia schloss sich dieser Antwort gleich an und Tom ermunterte sie, doch noch ein wenig mehr zu experimentieren, am besten gleich jetzt. Sie zeigten ihm nur den Stinkefinger. Dann war ich dran.

„Nö, noch nie.“

Max piekste mich in die Rippen.

„Na gut, na gut, ein bisschen verschossen vielleicht.“

„Das mit Max zählt nicht. Das ist nicht heimlich.“

„Jetzt vielleicht nicht mehr.“

„Zählt jedenfalls nicht. Du warst garantiert schon mal heimlich in ’nen Kerl verknallt.“

„Schon möglich.“

„In wen?“

„Das gehört ja wohl echt nicht zur Frage.“

„Na gut, also, Max?“

„Oft, klar. In Kerle aus meiner Klasse oder so halt … aber daraus geworden ist nie was. Hab auch nie einem was davon erzählt.“

„Jana?“

„Nö, Mädels sind mir zu zickig.“

„Michi?“

„Nope. Ich steh nicht auf Schwänze.“

Ja, unser kleiner Weiberheld …

„Jenny?“

„Ich würd das schon gern mal ausprobieren, aber bisher hat sich’s nicht ergeben …“

Die Jungs guckten sie begeistert an. Mein Gott …

„Klara?“

„Ein Homosexueller pro Familie reicht ja wohl, oder? Also ne.“

„Und zu guter letzt: Paul?“

„Ja, also … äh …“

Jetzt hatte er unsere ungeteilte Aufmerksamkeit.

„Also mit 15 oder so … da gab’s mal was in der Art …“

„Echt jetzt?“

Ich war ziemlich baff. Ungefähr zu der Zeit war ich nämlich in ihn verknallt.

„In wen?“

„Das musstest du auch nicht sagen!“

„Dann ist das jetzt eben die neue Runde. Jetzt sagt schon. Beide!“, drängelte Chrissy.

„Du zuerst“, sagte ich schnell.

„Nein du.“

„Nein du.“

„Du.“

„Nein du zuerst.“

„Nein ich meine du. In dich David.“

„Fuck, echt jetzt?“

Max lachte neben mir los.

„Na wenn du das gewusst hättest, hm?“

„Oh Mann, warum hast du denn nie was gesagt?“

„Bist du irre? Ich hatte die Hosen gestrichen voll. Ich dachte, wenn du’s rauskriegst, dann war’s das mit unserer Freundschaft …“

„Ja, das Gleiche hab ich auch gedacht.“

Paul schaute mich ungläubig an.

„Tja, Glück für mich“, meinte Max, drückte mir einen Schmatz auf die Lippen und machte sich noch ein Bier auf.

Am nächsten Morgen planten wir, den Wellers einen Besuch abzustatten, deshalb ließen wir es nicht zu spät werden. Als wir uns von allen verabschiedeten, strahlte Max richtig. Er hatte sich gut mit meinen Freunden amüsiert, sie hatten uns akzeptiert, und ich war überglücklich, Max lächeln zu sehen.

Am nächsten Morgen lächelte er nicht mehr, sondern starrte angespannt Löcher in die Luft. Mein Dad hatte angeboten, die restlichen Sachen bei den Wellers abzuholen, aber Max wollte das selbst erledigen, und das ließ ich ihn bestimmt nicht alleine machen.

Als wir zum Frühstück runter kamen, saß mein Vater mit am Tisch.

„Äh, was machst du denn hier?“

„Ich wünsch dir auch einen guten Morgen. Und deine Mutter hat mich freundlicherweise eingeladen.“

Ich warf Klara einen verständnislosen Blick zu, den sie erwiderte. Meine Eltern waren tatsächlich freundlich zueinander. Da sollte mal einer durchblicken. Max schnitt ein Brötchen auseinander und verstrich das Nutella ungefähr zehn Minuten lang, bis er es einfach auf seinem Teller liegen ließ und wieder Löcher in die Luft starrte. Anscheinend war ich nicht der Einzige, dem das auffiel.

„Willst du denn gar nichts essen?“, fragte meine Mum besorgt.

„Ähm, ja, doch …“

Demonstrativ biss er einmal von seinem Brötchen ab und kaute, bis das Ganze schon ein matschiger Brei sein musste.

„Mein Angebot steht, Max. Ich kann das für euch erledigen. Mein Auto ist eh größer.“

„Naja, vielleicht, wenn es ihnen wirklich nichts ausmacht … dann könnten wir ja zusammen hinfahren …“

„Klar, und nenn mich endlich Gert.“

„Ich komm aber trotzdem mit, Max.“

„Das weiß ich ja zu schätzen, aber das macht die Sache bestimmt nur komplizierter …“

„Was denken denn deine Eltern von mir, wenn ich nicht zu dir stehe, sondern mich lieber irgendwo verkrieche? Also für einen Feigling sollen sie mich nicht auch noch halten …“

Eine viertel Stunde später machten wir uns mit zwei Autos und jeder Menge Umzugskartons auf den Weg. Max wollte seine Eltern nicht vorher anrufen. Er befürchtete tatsächlich, dass sie sonst sein Zeug wegschaffen würden oder sonst was. Und außerdem hofften wir, dass sie vielleicht gar nicht zu Hause waren und wir ungestört alles zusammenpacken konnten. Pustekuchen. Alle Autos waren da, also klingelten wir freundlicherweise. Der Vorhang in der Küche bewegte sich, aber niemand machte auf.

„Ich hab den Schlüssel, also“, rief Max.

Keine Antwort. Er wartete noch ein paar Sekunden, dann sperrte er auf. Die Küchentür war zu, niemand war zu sehen. Tja, na schön.

Eine Viertel Stunde später verstauten wir Max’ PC und drei große Kartons in Dads Auto. Die Wellers hatten sich tatsächlich die ganze Zeit über in der Küche versteckt. Total irre.

Zu Hause (in unserer neuen Wohnung) machten wir gleich alles mit Herrn Kolber klar. Dann musste ich zur Arbeit. Am Montag stellte Max einen Nachsendeantrag bei der Post und telefonierte nochmal mit der Bank. Abends kam Thorsten mit seiner neuen Freundin vorbei. Hach wie süß, gut dass ich arbeiten musste. Mit den beiden konnte man ja kaum noch normal reden. Da schneite dann das Paar ins Flags, das Max und ich im Gesundheitsamt kennengelernt hatten. Die waren natürlich recht erstaunt darüber, von mir bedient zu werden aber gaben ordentlich Trinkgeld.

Am Dienstag kamen Max und Dad ins Flags, um mit mir Abend zu essen. Ich fragte mal nach, wann ich denn jetzt die Rosi mal zu Gesicht bekommen würde.

„Schnee von gestern.“

„So?“

„Ja.“

Damit war das Thema wieder gegessen. Er erzählte noch, dass Klara jetzt im Restaurant aushalf. The next generation, oder so. Über Paul als neuen Schwiegersohn in spe war er mäßig begeistert.

Max hatte inzwischen auch mit Sonia telefoniert und ihr alles erzählt. Er wollte sich bald mal wieder mit ihr treffen. Und auch sein leiblicher Vater wollte ihn gern mal kennenlernen. Max’ Studienplatzbescheid war in der Post, sein Praktikum begann, wir bekamen Nachbarn in die Wohnung nebenan. Ein Studentenpärchen in unserem Alter. Er Maschinenbauer, sie Sozialpädagogin. Wir verstanden uns sofort gut und liehen uns gegenseitig ständig irgendwelche Zutaten aus. Dann kam auch der Bescheid, dass ich im Nachrückverfahren war. Langsam wurde es spannend. Am 11. September war der Brief in der Post. Allein konnte ich das auf keinen Fall aufmachen. Ab in die U-Bahn und ab zu Max! Zwanzig Minuten später stand ich vor dem Tor der Firma, bei der Max sein Praktikum machte und wurde tatsächlich eingelassen. Kurz vor zwölf also suchte ich die Kantine, da würde er früher oder später auftauchen. Ich platzierte mich mit Blick auf den Eingang und musste zehn Minuten warten, bis mein Freund in einem grauen Kittel mit anderen Grau-Kittel-Trägern hereinkam. Hm, irgendwie bekam ich plötzlich Zweifel. War es okay, dass ich hier unangemeldet auftauchte? Würde er wollen, dass ich einen auf Kumpel machte vor seinen Kollegen? Ein paar waren schon älteren Jahrganges. Was wenn er Schwierigkeiten bekam? Vielleicht sollte ich mich einfach wieder verziehen? Ich hatte mich der Illusion hingegeben, dass wir die Geheimhaltung hinter uns gelassen hatten, aber würde das wirklich je der Fall sein?

„David?“

„Hey … ich … ist es okay, dass ich hier bin?“

„Sicher, was ist los? Ist was passiert?“

Max’ Kollegen waren inzwischen zu einem Tisch weitergegangen.

„Ich hab Post bekommen.“

„ZVS?“

Ich nickte.

„Und? Mach’s nicht so spannend!“

„Ich hab noch nicht aufgemacht.“

„Worauf wartest du? Mach schon!!“

„Ja doch … Okay.“

Ich überflog das Schreiben.

„Das ist eine Zusage! Da steht der Einschreibungstermin und so. Ich hab den Platz! Ich hab ihn!“

„Yeah, wusst ich’s doch! Komm her, mein Schatz.“

Ich fiel ihm um den Hals und bald drückte er mir einen Kuss auf die Lippen.

„Mein ganz eigener Psychologe. Sehr praktisch. Ich bin stolz auf dich, David.“

Noch mehr knutschen.

„So, dann stell ich dir mal ein paar Kollegen vor.“

Und das tat er dann, und einige meinten, dass es schön ist, mich endlich kennenzulernen, sie hätten ja schon so viel von mir gehört. Und Charlotte lud uns sogar zu einem Pärchen-Gesellschaftsspiele-Abend bei sich ein, wie ein ganz normales Paar.

Ende September lernten wir Thomas kennen, Max’ leiblichen Vater. Max war optisch eine (sehr gelungene) Mischung aus ihm und Sonia, ansonsten waren sie doch recht unterschiedlich aber verstanden sich gut.

Die Wellers bekamen zu Weihnachten eine Karte, aber zurück kam nichts, nicht dass wir das erwartet hatten. Dafür bekamen wir eine Karte von Claudi. Ein paar Tage später trafen die beiden sich auf einen Kaffee. Claudi studiert in Göttingen. Aber wenn sie in der Gegend ist, schauen sie und ihr Fabio vorbei. Letztendlich ist es doch alles so gelaufen wie wir es uns vorgestellt haben, auch wenn Max bis heute immer noch nicht mit seinen Eltern gesprochen hat. Vielleicht kommt das ja noch. Wir überlegen uns gerade, ob wir uns einen Wellensittich anschaffen sollen.

Ende

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