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Seelendorf

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Informationen

 

Seelendorf ist in Aufruhr. Das Wirtshaus ist so voll wie schon lange nicht mehr. Auf der Hutablage am Eingang zähle ich mindestens 30 Filzhüte. Sogar am Hirschgeweih hängen zwei. Dicht gedrängt sitzen oder stehen alle Anwesenden um den Stammtisch und hören zu, was unser Bürgermeister im tiefsten Bayrisch zu berichten weiß:

„So a Schand! Ois gerbt und ned a moi zur Trauerfeier ist der erschienen. A Schand!“

Inbrünstig schüttelt der Bürgermeister den Kopf. Die Abscheu steht ihm ins Gesicht geschrieben. In der Aufregung spuckt er sogar ein Stück Kautabak auf den Tisch.

Die anderen Männer johlen Beschimpfungen. Mein Blick fällt auf den einzigen freien Stuhl am Tisch. Er wird die nächsten Wochen leer bleiben. Symbolisch, um den verstorbenen Kaiser-Wirt zu ehren. So wie es aussieht, wird sein einziger Sohn und Erbe nicht den Platz seines Vaters einnehmen. Weder am Stammtisch, noch als Wirt. Fast genauso wichtig ist die Frage, was mit den vielen Äckern, Wiesen und Wäldern passieren wird, die dem Wirt gehört haben.

„Do wiss ma ja ned amoi, mit wem ma verhandeln miassn“, wirft der Hofinger Franz ein, der wie immer seinen Filzhut aufbehalten hat. Wahrscheinlich, um seine beginnende Glatze zu vertuschen. „So vui Bauland, des dad unsern Ort waidabringa!“

Zustimmendes Nicken in der Runde. Die meisten denken vermutlich an ihre Kinder und Enkel, die wegen des Baulandmangels am Ort – und vermutlich auch, weil das Leben in einer 1000-Seelen-Gemeinde nicht für jeden was ist – fort ziehen müssen. Ob der Erbe wohl vorhat, Grundstücke zu verkaufen? Eine Frage, die für mich als Bauunternehmer auch nicht ganz unwichtig ist.

„Kinder hod er ja koane oder woaß ma do wos?“, erkundigt sich der Hinterleitner Miche - der Älteste an unserem Stammtisch.

„A geh, wia dad jetzt der zu Kindern kemma? Des is doch a warma Bruada“, grinst der Franz mit Hut hämisch.

„Na, des glab i ned!“, schimpft der alte Miche. „Sowos gibt’s doch bei uns doda goned!“

Da scheinen sich alle einig zu sein und nicken einander eifrig zu. Nein, Schwule, sowas gibt es nur in der Großstadt!

Ich muss grinsen und nuschle in der Runde: „Do dads eich ihr wundern, wo‘s bei uns ois gibt“, trinke mein Bier aus und verabschiede mich: „I muaß ins Bett. Servus!“

„Pfia di, Christian. Und griaß dei Frau schee.“

 

Ich steige in mein Auto, drehe die Musik auf, so laut es geht und fahre die drei Straßen weiter, bis ich die Einfahrt meines Hauses sehe. Ich parke am Straßenrand, öffne das Handschuhfach und leere den Flachmann, der darin versteckt liegt. Dann massiere ich mir die schmerzenden Schläfen, stecke einen Kaugummi in den Mund und fahre in meine Garage.

Kaum geht das elektrische Tor hinter mir zu, fühle ich mich gefangen. Ich will nicht nach Hause kommen, in mein Leben. Ein Leben das von Streit und Schlafentzug geprägt ist. Von Vorwürfen und Anschuldigungen. Ich will nicht heim zu der Frau, die mal perfekt für mich war. Zu dem Sohn, den ich mir so sehr gewünscht habe. Zur eigenen Firma, für die ich Tag und Nacht arbeiten muss.

Ich höre das Kind schreien, fühle mich erdrückt, sehne mich nach Freiheit und habe sofort wieder Gewissensbisse. So darf ein Familienvater nicht denken.

Franziska steht neben dem Kinderbett und sieht resigniert aus. Und müde. Sehr sehr müde. Fast habe ich Mitleid mit ihr. Aber nur, bis sie mich ansieht, mit diesem Blick voller Hass und Zorn.

Sie blökt:

„Bist du besoffen?!“

„Nein…“

„Dann nimmst du ihn jetzt. Übrigens: Ich war heute beim Arzt. Du wirst noch mal Vater.“

Sie lässt mich und das schreiende Kind zurück und geht. Ich würde am liebsten mit meinem Sohn mitschreien, tue es aber nicht. Stattdessen nehme ich Xaver aus dem Bett und setze mich mit ihm in den Schaukelstuhl. Er ruft nach seiner Mama, aber die kommt nicht. Stattdessen muss er mit seinem besoffenen, unbeholfenen Vater vorlieb nehmen. Ich wünschte, ich hätte in den letzten eineinhalb Jahren mehr Zeit mit ihm verbracht. Dann wüsste ich jetzt vielleicht, was er braucht. Und was das Baby brauchen wird, dass auch noch kommt. Ob ich jemals im Leben wieder eine Nacht durchschlafen werde? Ich will einfach nur meine Augen schließen und nichts mehr wissen.


Ein paar Wochen später macht ein Gerücht die Runde: Der Erbe ist da. Angeblich. Hat irgendwer gehört. Der komplette Gemeinderat hat sich am Samstagabend am Stammtisch versammelt, um ihn in Augenschein zu nehmen. Doch er lässt sich nicht blicken. Ich versuche, mich nicht von der Nervosität um mich herum anstecken zu lassen. Die Kellnerinnen berichteten von ihrem ersten Zusammentreffen mit Severin Kaiser. Dürr sei er. Und langhaarig. Und sehr gerade heraus. Er hat ihnen gleich gesagt, dass er ihnen nicht versprechen kann, ob sie in ein paar Monaten noch einen Job haben. Er wisse noch nicht, wie es mit der Wirtschaft und dem Hof weitergehen soll. Aber er verstehe die Lage des Personals und wolle so viele von ihnen so lange wie möglich behalten. Auf seine Baugrundflächen hat ihn noch niemand angesprochen. Das will der Bürgermeister an diesem Abend persönlich übernehmen. Ein ganz schönes Theater. Ich bleibe eigentlich nur, um nicht nach Hause gehen zu müssen, zu meiner von Hormonen durchtränkten Frau.

Gegen halb zehn ist der neue Chef immer noch nicht auffindbar. Die Leute denken langsam ans heimfahren. Mein Handy klingelt. Meine Frau. Ich nehme den Anruf vorsichtshalber draußen entgegen.

„Wo hast du die Feuchttücher hin?“, dröhnt es mir statt einer Begrüßung entgegen.

„Wie bitte?“

„Du hast doch welche gekauft, oder?“

„Wenn sie auf der Liste standen …?“

„Natürlich standen sie drauf!“

„Dann hab ich sie auch gekauft.“

„Und wo hast du sie hingepackt?“

„Na unter den Wickeltisch …?“

„Da sind sie aber nicht.“

„Dann schau doch mal hinter der Badtür nach, vielleicht hab ich sie ja versehentlich …“

„Ich kann jetzt nicht rumsuchen! Sag mir einfach, wo sie sind. Oder komm heim und such sie! Ich hab hier ein Kind das weint, weil es nicht schlafen kann. Und der Grund ist eine volle Windel! Also komm jetzt und such die verdammten Tücher, die du sonstwohin geschmissen hast!“

„Mei, dann nimm halt einen nassen Lappen. Der tut’s doch auch. Ich kann hier jetzt noch nicht weg …“, lüge ich.

„Dieser scheiß Gemeinderat! Ständig bist du unterwegs und ich hock hier daheim und …“

Ich beschließe, dass es Zeit ist, meinen Charme spielen zu lassen:

„Du, Spatzerl, ich muss wieder rein. Können ma reden, wenn ich wieder daheim bin?“

„Ja, wenn du überhaupt mal wieder heim kommst!“, entgegnet sie schon etwas versöhnlicher.

„Bis später, Mauserl!“

„Ja, ciao.“

Ich bin mir ziemlich sicher, dass Feuchttücher NICHT auf der Einkaufsliste gestanden haben. Mir fällt der frisch aufgefüllte Flachmann in meinem Auto ein. Den kann ich jetzt gut vertragen. Das Zeug ist zwar warm, aber vielleicht haut es dann besser rein …

 

Auf dem Weg zurück in die Wirtschaft fällt mir etwas auf, das anders ist als sonst. Der Vorgarten ist nicht beleuchtet und auch der Weg, der neben dem Haus entlang führt, ist dunkel. Und ich höre Musik. Nein, das ist zu viel gesagt. Eigentlich sind es nur ein paar einzelne Töne. Ich bin neugierig geworden und folge dem dunklen Weg ein Stück um’s Haus. Neben einer kleinen Gartenleuchte sitzt eine Gestalt auf dem Boden und bläst in etwas hinein, das aussieht wie eine Mini-Flöte. Ich höre für einen Moment einfach nur zu. Dann werde ich bemerkt:

„Hallo?“, fragt eine dunkle Stimme.

„Entschuldigung. Ich wollt nicht stören. Ich hab nur die Musik gehört …“

„Soll ich dir auch eine schnitzen?“

Ich trete näher und erkenne, dass die Flöte in Wahrheit nur ein kleines Ästchen ist.

„Aus dem Teil kamen die ganzen Töne?“, frage ich ungläubig.

„Das ist eine Holunderflöte. Mein Vater hat mir beigebracht, die zu bauen. Spielen konnte er sie aber nicht. Das hab ich mir selber beigebracht.“

„Dann bist du der neue Chef hier?“, will ich wissen und versuche, im Halbdunkeln mehr zu erkennen.

Der Mann lacht kurz auf:

„Wenn ich das wüsste … ich bin jedenfalls Severin.“

„Christian Berger aus dem Gemeinderat“, stelle ich mich vor.

Wir schütteln uns kurz die Hände. Er hat einen sehr weichen Händedruck. So als hätte er Angst, jemandem weh zu tun.

„Kommst du mit rein?“, will ich wissen. „Die warten alle auf dich.“

„Ich weiß. Aber ich hab noch keine Entscheidung getroffen.“

„Naja, heute Abend wirst du wahrscheinlich auch keine mehr treffen oder?“, witzle ich.

Er zuckt die Schultern:

„Wer weiß. Ich warte auf eine Eingebung.“

„Ist das dein Ernst?!“, platze ich heraus und muss mir einen Lacher verkneifen.

Er lacht: „Naja, das ist vielleicht etwas zu viel gesagt. Aber es ist so: Im Kopf bin ich die Vor- und Nachteile schon tausendmal durchgegangen. Und eigentlich weiß ich, was die vernünftigste Entscheidung wäre.“

„Nämlich?“

„Das hier alles an einen Investor zu verkaufen, der alles platt macht und dreißig Einfamilienhäuser baut. Mit dem Geld aus dem Verkauf könnte ich nicht nur meine Bar und meine Wohnung abbezahlen, ich könnte sogar irgendwo anders ganz von vorne anfangen.“

„Aber?“

Er lacht:

„Aber das hier ist mein Zuhause. Bisher wusste ich gar nicht, wie viel mir das bedeutet.“

„Oh …“, mache ich, weil ich ahne, dass die Pläne vom Herrn Bürgermeister nicht aufgehen werden. Der Kerl wird nicht verkaufen, da bin ich mir ziemlich sicher.

„Du bist aus dem Gemeinderat. Was rätst du mir?“, fragt er mich gerade heraus.

„Schwierig. Ich vertrete die Interessen der Gemeinde. Und wir brauchen dringend Wohnraum für junge Familien. Sonst ziehen uns alle weg. Aber wenn ich mir vorstelle, mein Elternhaus würde platt gemacht werden, dann läuft es mir auch eiskalt den Rücken runter.“

„Und was ist mit einer Generalsanierung?“, will er wissen.

„Ich weiß nicht, ob du’s weißt, aber ich bin der Chef vom Baugeschäft Berger hier am Ort. Und ich muss dir sagen, eine Sanierung lohnt nicht. Allein schon aus energetischer Sicht. Aber auch weil das Haus kein vernünftiges Fundament hat und im Wasser steht. Die Wirtschaft hat’s hinter sich. Auch von der Küchenausstattung her. Da ist nicht mehr viel zu holen …“

„Okay“, antwortet er etwas geknickt. „Danke für deine Ehrlichkeit.“

„Darf ich dir noch was raten?“, frage ich.

„Natürlich …“

„Geh da jetzt rein und stell dich vor. Gib dem Gemeinderat eine Runde Freibier aus und betone, dass sie am Stammtisch jederzeit weiter willkommen sind. Und sag ihnen auch, dass dir viel am Gebäude liegt und dass du noch Bedenkzeit brauchst, um für dich - aber auch für die Gemeinde einen gute Lösung zu finden.“

„Christian?“

Ich mag die Art, wie er meinen Namen sagt.

„Ja?“

„Du bist ein guter Berater. Danke.“

Als wir zusammen vor das Haus unter die Hoflampe treten, sehen wir uns gegenseitig zum ersten Mal richtig. Eigentlich sollte ich ihn nicht so auffällig mustern, aber ihm scheint es nichts auszumachen. Er grinst:

 

„Du schaust auf jeden Fall nach Großstadt aus.“

Er ist wirklich sehr dünn und trägt dazu auch noch Kleidung die das betont. Eine schmale Jeans und ein enges, schwarzes T-Shirt. Seine Arme sind tätowiert. Seine Haare fallen fast bis auf die Schultern und sind durchzogen von den ersten grauen Strähnen. Das ist auch das einzige, das er von seinem Vater hat, der ebenfalls sehr früh ergraut ist. Sonst kann man sich nicht vorstellen, dass der stämmige, laute Wirt sein Vater gewesen sein soll.

„Du siehst aus, als würdest du mich noch was fragen wollen“, bemerkt Severin.

Ich hätte da tatsächlich noch einige Fragen, aber es gehört sich nicht, sie zu stellen. Deshalb schüttle ich den Kopf.

„Gehen wir rein“, sage ich stattdessen.

 

Die Mischung aus Zigarettenrauch, Bierausdünstungen und Männerschweiß, die uns beim Betreten des Gastraums entgegenschlägt, sehe ich zum ersten Mal mit fremden Augen. Für Severin Kaiser sind wir vermutlich nur ein Haufen altmodischer Hinterweltler. So wie er für uns nur ein arroganter Stoderer ist, der keinen Anstand hat. Im Raum wird es schlagartig still. Die meisten beäugen Severin skeptisch bis verachtend. Er schaut kurz hilfesuchend zu mir, aber irgendwas hält mich davon ab, mich auf seine Seite zu stellen. Mir ist im selben Moment klar, wie dumm das ist. Ich könnte ihn einfach vorstellen, um die seltsame Stille zu entschärfen. Aber ich tue es nicht. Stattdessen setze ich mich an meinen Platz am Stammtisch und warte darauf, dass der Bürgermeister seine Fassung wiedererlangt. Das dauert zum Glück nicht lange. Der Chef begrüßt Severin professionell und stellt ihn vor. Dann übergibt er ihm das Wort.

Severin blickt in die Runde. Er zögert, bevor er anfängt zu reden. Aber als er dann redet, wirkt er sehr selbstbewusst und kein bisschen eingeschüchtert.

„Liebe Seelendorfer. Ich weiß, ihr erhofft euch von mir, dass ich euch die Gastwirtschaft und die Hofstelle überlasse als Baugrund. Aber das kann ich leider nicht. Weil ich meine Heimat nicht einfach so abreißen kann. Ich bin dafür verantwortlich. Und ich will was drauß machen, auf das ich stolz sein kann. Deshalb werde ich keinen Investor suchen, sondern mich selbst drum kümmern, dass hier etwas entsteht, das für die Leute gut ist. Was genau, das weiß ich noch nicht. Aber ich lass es euch wissen. Einen schönen Abend.“

Er dreht sich zum gehen. Dann besinnt er sich:

„Ach und der Stammtisch bleibt natürlich so lange wie möglich erhalten. Und als Zeichen meiner Gastfreundschaft möchte ich euch alle einladen. Die nächste Runde Bio-Smoothies geht auf mich. Dauert nur kurz, die werden frisch gemacht. Schönen Abend euch allen.“

Damit lässt er uns ziemlich verdattert sitzen. Aber recht schnell haben die ersten ihre Fassung wiedererlangt und fangen an zu schimpfen. Als die grünen Bio-Smoothies serviert werden, sind die meisten schon gegangen. Nur der Bürgermeister, die einzige weibliche Gemeinderätin Silvia Vogtleitner und ich sind noch geblieben. Die Smoothies schmecken. Vor allem mit einem ordentlichen Schuss Klaren aus dem Flachmann des Bürgermeisters.


Der Stammtisch findet ab sofort nicht mehr beim Kaiser-Wirt statt, sondern reihum in privaten Küchen. Meine Frau stellt gleich klar, dass sie unser Haus dafür nicht zur Verfügung stellt. Auf die Frage, wie ich denn dann da stehe, vor den Kollegen, zuckt sie nur gehässig grinsend mit den Schultern.

Über Severin Kaiser hört man, dass er was plant, aber keinem sagt, was genau er vor hat.


Einige Wochen später sitze ich nach einem harten Tag auf der Baustelle im Büro und erledige Schreibkram. Es ist erst kurz vor sieben, aber mir fallen ständig die Augen zu. Außerdem bringt mein Rücken mich um. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich mich hinsetzen soll. Dass meine grantige, schwangere Frau alle zehn Minuten anruft und fragt, wann ich endlich heim komme, hilft überhaupt nicht. Ich mache mir gerade noch ein Bier auf, als es klingelt. Ich vermute stark, dass jetzt meine liebe Franziska mit einem schreienden Kind vor der Tür steht. Dementsprechend zünftig mache ich auf. Aber da steht nicht meine Frau, sondern Severin Kaiser.

„Wie siehst du denn aus?“, fragt er, bevor ich ihn überhaupt begrüßen kann.

„Rückenschmerzen“, ächze ich.

„Hast du Wirbelsäulenprobleme?“, will er wissen.

„Nein, nur Verspannungen. Aber heute ist es besonders schlimm.“

„Darf ich?“, fragt er und ich bitte ihn rein.

„Magst du ein Bier?“, biete ich ihm an und führe ihn in mein Büro.

„Danke, ich trinke nicht.“

„Sicher, dass du der Sohn vom Kaiser-Wirt bist?“, frage ich, beiße mir aber gleich wieder auf die Zunge.

Aber er lacht:

„Zum Glück hab ich nicht viel von ihm. Dafür sterbe ich mit 71 vielleicht nicht an einem Herzanfall…“

„Was führt dich her?“, will ich wissen.

„Ich wollte dir ein paar Pläne zeigen. Für die Hofstelle. Aber ich kann auch wann anders wiederkommen, wenn es dir jetzt nicht gut geht.“

„Schon okay. Lass sehen.“

Aber ich kann mir einen Schmerzlaut nicht verkneifen, als ich mich hinsetze.

„Christian, du solltest was tun wegen deinen Verspannungen.“

„Was zum Beispiel? Schon wieder zum Spritzen rennen?“

„Nein, Schmerzmittel sind keine Dauerlösung. Warst du schon mal bei einer Physiotherapie?“

„Keine Zeit für sowas.“

Er nickt:

„Verstehe. Aber weißt du, der Stress ist auf Dauer Gift für dich. Willst du wirklich deine Gesundheit auf’s Spiel setzen?“

„Jetzt dramatisiert das mal nicht… Jeder hat mal Rückenschmerzen.“

„Ich war eine Zeit lang selbstständig als Heilpraktiker. Ich hatte viele Patienten mit schmerzhaften Verspannungen. Deshalb kenne ich den ein oder anderen Trick. Darf ich mal fühlen?“

Er streckt seine eleganten, schmalen Hände in Richtung meines Rückens aus. Ich bin kurz etwas verunsichert. Aber er lächelt mich professionell an, wie mein Zahnarzt wenn er merkt, dass ich Angst vor dem Bohren habe. Deshalb nicke ich.

„Beug dich nach vorne. Genau so.“

Er fährt forschend über meinen Rücken nach unten. Manchmal hält er inne, rüttelt ein bisschen, fährt dann weiter. Ich versuche, mich zu entspannen.

„Lass einfach alles hängen“, verlangt er.

Meine Arme fühlen sich warm an, meine Fingerspitzen kribbeln ein bisschen. Er bringt mich mit einer leichten Bewegung dazu, aufzustehen. Dann deutet er mir an, dass ich mich auf den Boden legen soll. Ich zögere nicht, denn was er da macht, tut wirklich gut. Ich spüre kaum noch Schmerzen. Seine Hände drücken kraftvoll in meine Rippen. Er rüttelt und schüttelt, bis ich das Zeitgefühl verliere. Mein Atem fließt ganz von selbst. Ich spüre meinen Körper fast nicht mehr. Fühle mich frei. Fühle nur seine Hände, wie sie über mich gleiten. Über meinen Rücken, meinen Nacken und meine Arme. Meine Anspannung löst sich. Nicht nur die im Rücken. Auch meine innere Anspannung. Mein Brustkorb bebt. Ich bemerke, dass ich weine. Mir ist das peinlich. Ich stehe auf. Severins Blick ist nicht hämisch oder vorwurfsvoll. Sondern völlig offen.

„Tut mir Leid“, sage ich.

„Muss es nicht. Das passiert oft.“

„Du bringst öfter Menschen durch deine Massagen zum Weinen?“, frage ich ungläubig.

Er lächelt:

„Körper und Geist sind sehr eng verwoben. Wenn dir dein Körper sagt, du kannst jetzt loslassen und dich entspannen, dann fährt auch dein Geist seine Schutzmechanismen runter. Und du kannst dich gehen lassen.“

„Ich will mich aber nicht gehen lassen …“

„Ich weiß, du hast das Gefühl, dann die Kontrolle zu verlieren. Aber wenn du jemals reden möchtest, dann komm zu mir. Okay?“

Ich nicke und verabschiede mich kurz ins Badezimmer. Dort bemerke ich, dass meine Rückenschmerzen wie weggeblasen sind. Draußen schüttle ich Severin die Hand und bedanke mich überschwänglich. Er lächelt nur sein offenes, professionelles Lächeln. Dann legt er eine Aktenmappe auf den Tisch und rollt einen Plan seines Flurstücks aus.

„Ich habe mich mit einem befreundeten Architekten zusammengesetzt und das hier entworfen: Das ist ein Gemeinschaftswohnhaus.“

Das modern geplante, dreistöckige Haus steht an der Stelle des alten Hofgebäudes. Aber so ganz schlau werde ich daraus nicht.

„Sollen das Studentenzimmer werden?“

„Nein, das ist meine Vision von einem guten Leben.“

In der folgenden Stunde erzählt er mir mit leuchtenden Augen sehr detailreich, was er sich vorstellt. Eine Art Kommune. Menschen, die zusammen leben und arbeiten. Mit Gemeinschaftswaschräumen und Gemeinschaftswohnräumen, aber auch mit eigenen Schlafräumen für Einzelne, Paare und sogar Familien. Gekocht wird zusammen, es gibt Kursräume für Yoga oder Kunstunterricht oder jede andere Art von Gruppenaktivität. Draußen gibt es Gärten und Platz für Nutztiere wie Hühner und ein paar Kühe. Und im vorderen Bereich könnte die Gaststätte erhalten bleiben, inklusive der Fremdenzimmer, die er dann für Tagungsgäste Nutzen will. Ringsum gibt es noch einige Felder, die von den ungefähr 50 Bewohnern der Anlage bewirtschaftet werden könnten. Sein kleines Paradies, nennt er das. Und ich verstehe, was ihn so begeistert. Aber eine wichtige Frage bleibt:

„Wie willst du das finanzieren?“

„Mit viel Eigenleistung. Und mit dem Verkauf der Grundstücke, die ich in den Nachbargemeinden geerbt habe. Und mit Asylbewerbern und Senioren.“

„Hä?“

„Ich hab schon mit dem Landratsamt geredet. In unsere Fremdenzimmer ziehen bald 25 Asylbewerber ein. Und ein Teil des neuen Gebäudes wird seniorenfreundlich gebaut. Die alten Leute werden Teilhaber auf Lebenszeit. Ihre Zimmer und einen Großteil der Gemeinschaftsräume finanzieren wir so.“

„Moment: Du willst Asylbewerber nach Seelendorf holen?!“

„Ein bisschen mehr Weltoffenheit schadet der Gemeinde überhaupt nicht. Zusätzlich kommen vor allem alleinstehende Männer. Die meisten von ihnen werden einen Job auf dem Hof annehmen wollen. Das ist Unterstützung, die Gold wert ist. Ich hab auch schon alles mit meinem Finanzberater durchkalkuliert …“

„Du hast einen Finanzberater?“

„Ich bin selbstständig seit ich 20 bin. Also, ja.“

„Als Heilpraktiker?“

„Nein, erst war ich Unternehmensberater, dann hatte ich eine Yoga-Schule, dann hab ich die Ausbildung zum Heilpraktiker gemacht und seit einigen Jahren betreibe ich in Prag eine Wellness-Bar.“

Ich stutze erstmal und muss meine Gedanken neu sortieren. Das war viel Info auf einmal.

„Und warum bist du zu mir gekommen?“, frage ich schließlich.

„Weil ich möchte, dass du mit mir und dem Architekten die Hochbau-Planungen machst. Und – wenn du ein gutes Angebot ablieferst – auch mit uns baust.“

„Du glaubst doch nicht, dass du ein mehrstöckiges Gebäude hier genehmigt bekommst?“

„Das Landratsamt hat signalisiert, dass das geht. Zumindest mit Flachdach.“

„Und wo willst du die 50 Stellplätze unterkriegen?“

„Wir werden keine Autos haben. Nur Fahrräder.“

„Es gibt keine Ausnahmen von der Stellplatz-Satzung.“

„Das ist noch so ein Punkt, bei dem ich deine Unterstützung bräuchte …“, gibt er zu.

„Und was hab ich davon?“

„Gratis-Massagen wann immer du Beschwerden hast“, antwortet er sofort.

Ich halte das erst für einen Scherz. Aber Severin scheint das ernst zu meinen.

„Ich denke drüber nach“, antworte ich schließlich.

Damit gibt er sich zufrieden, sammelt seine Papiere ein und verabschiedet sich.

 

Weil es schon ziemlich spät ist, als ich nach Hause komme, gehe ich gar nicht erst ins Schlafzimmer, sondern schlafe im Gästezimmer. Und zwar sieben himmlische Stunden am Stück. Am Morgen fühle ich mich so erholt und entspannt, wie schon lange nicht mehr. Selbst Franziska kann mir das nicht vermiesen. Ich trinke in Ruhe meinen Kaffee, esse sogar eine Scheibe Toast und bin pünktlich auf die Minute auf unserer momentanen Großbaustelle, wo das Dach eingedeckt wird. Erst am Nachmittag, als ich schwer hebe, merke ich meinen Rücken wieder. Innerhalb von zehn Minuten kann ich mich kaum noch rühren. Ich beschließe, statt zum Arzt zu Severin Kaiser zu gehen.

 

Das Gasthaus ist abgeschlossen, deshalb gehe ich zur Hofstelle. Aber auch da finde ich niemanden. Mir fällt wieder ein, wo ich Severin zum ersten Mal getroffen habe. Und tatsächlich finde ich ihn neben dem Holunderstrauch. Er sitzt im Schneidersitz im hohen Gras und scheint zu meditieren. Mein erster Impuls ist, schnell wieder zu gehen, denn ich habe das Gefühl, dass ich kein Recht habe, ihn so zu sehen. Vor allem, weil er fast nackt ist. Er trägt nur eine kurze Hose und eine Kette mit einem Holzanhänger. Was ist das? Ein Buchstabe? Nein, es ist ein kleiner Holz-Embryo. Warum trägt man sowas? Mir wird bewusst, dass ich viel zu nah an Severin dran stehe. Ich will mich gerade rückwärts davon schleichen, als er die Augen öffnet. Er lächelt sofort:

„Christian. Schön, dich zu sehen.“

Ich weiß nicht genau, wie ich mich fühlen soll. Peinlich berührt? Ertappt? Vermutlich wäre das angemessen. Aber ich freue mich einfach nur über die herzliche Begrüßung.

„Grüß dich. Ich wollte dich nicht stören.“

„Das macht nichts. Wie geht’s dir?“

„Deine Massage hat wirklich gut geholfen. Aber heute auf der Baustelle …“

„Hast du dich überfordert?“, fragt er mit einem kleinen Lächeln.

Ich nicke ein bisschen schuldbewusst.

„Leg dich zu mir“, bittet er.

„Einfach so ins Gras?“

„Möchtest du eine Decke?“

„Nein, geht schon“, antworte ich aus Höflichkeit.

„Christian, sag mir, was du brauchst. Vergiss, was sich gehört. Du bist hier willkommen. Und ich will, dass du dich wohlfühlst.“

Ich fühle mich ertappt, widerstehe aber dem Impuls, zu behaupten, ich bräuchte wirklich keine Decke:

„Etwas zum drauflegen wäre toll. Und ein Schluck Wasser.“

Er freut sich sichtlich über meine Ehrlichkeit.

„Bin gleich wieder da. Zieh dich schon mal so weit aus, wie es dir angenehm ist.“

Und damit verschwindet er um’s Haus. Er ist schon ein seltsamer Vogel.

Er bringt mir einem regenbogenfarbene Decke und einen Krug voll Wasser mit zwei Gläsern. Als wir getrunken haben, deutet er mir an, mich hinzulegen. Ausgezogen habe ich nichts. Aber ich mache den Knopf meiner Hose auf. Dann legt er los. Dieses Mal bin ich schon nach wenigen Sekunden tief entspannt. Und dieses Mal weine ich nicht. Dieses Mal scheine ich einzuschlafen. Als ich aufwache, weil ich keine Hände mehr auf mir spüre, fühle ich mich wie neu geboren.

„Du bist ein Zauberer“, sage ich zu Severin, der neben mir sitzt und in die Ferne schaut.

Dieses Mal scheint sein Lächeln irgendwie aufgesetzt. Ich beschließe nach kurzem Zögern, nachzufragen:

„Was ist los?“

Er schaut mich nachdenklich an, dann fragt er:

„Kann ich dir etwas anvertrauen?“

Ich weiß sofort, dass es was Ernstes ist. Deshalb zögere ich kurz. Schließlich sage ich aber:

„Ja, das kannst du.“

„Dieser Ort hier … ich habe so viele Erinnerungen … und die meisten sind nicht gut. Wenn der eigene Vater stirbt, wird man erst so richtig erwachsen. Und frei. Ich sollte ein schlechtes Gewissen haben, weil ich so denke. Aber das habe ich nicht. Ich fühle keine Trauer, keine Betroffenheit. Nur Befreiung. Trotz der vielen hundert Kilometer, die die letzten eineinhalb Jahrzehnte zwischen mir und meinem Vater gelegen haben, habe ich deutlich gespürt, wie mir eine Last von den Schultern gefallen ist. Nie wieder werde ich den vorwurfsvollen Tonfall meines Vaters hören müssen, nie wieder den verständnislosen Blick sehen. Nie wieder werde ich mich selber dafür hassen, dass es mich schert. Dass es mich trifft, wenn mein Vater sagt, er wünsche sich einen anderen Sohn. Einen normalen. Einen anständigen. Millionen Mal habe ich mir selbst geschworen, dass ich ab jetzt nichts mehr drauf geben würde. Nicht mehr nach der Anerkennung meines Vaters streben würden. Vergeblich. Erst jetzt – mit 38 Jahren – bin ich davon befreit worden. Nicht aus eigener Kraft, sondern durch einen Herzanfall, der meinen Vater aus dem Leben gerissen hatte. Ein Dorf in Trauer. Ein bedeutender Bürger der Gemeinschaft entrissen. Eine Wirtschaft ohne Wirt. Ich weiß, für euch ist es ein großer Verlust. Aber ich fühle mich einfach nur frei.“

Er sitzt neben mir, den Kopf gesenkt und die Knie mit seinen Armen umschlossen. Ich spüre seine innere Zerrissenheit mit jeder Faser meines Körpers. Ich denke an den Wirt und daran, wie oft er gesagt hat, er wünschte sich, ich wäre sein Sohn. Ein angesehener Mann, Gemeinderat, Bauunternehmer. Ich habe mich damals geschmeichelt gefühlt. Und mich gleichzeitig geschämt. Weil keiner mich wirklich kennt. Weil keiner weiß, wer ich gerne sein möchte, dass ich ihnen nur einer Fassade zeige. Ich bin das genaue Gegenteil von Severin. Er ist mutig, ich bin feige. Aber jetzt sitzt er vor mir und weiß nicht, was er tun soll. Ich weiß es:

„Du musst doch alles abreißen. Auch die Wirtschaft.“

Überrascht sieht er mich an. Dann nickt er:

„Ich muss den Geist der Vergangenheit verscheuchen. Nur dann kann ich hier bleiben und neu anfangen. Ich hatte in den letzten Tagen Panikattacken. Die hatte ich nicht mehr, seit ich hier weggezogen bin. Die Erinnerungen machen mich kaputt.“

Ich spüre Wut in mir aufsteigen. Wut auf den alten Kaiser.

„Was hat dir der Kerl angetan?“

„Das ist kompliziert. Er hat versucht, mich zu verformen. Mich zu jemandem zu machen, der ich nicht bin.“

„Hat er dich geschlagen?“

Severin lacht auf:

„Die Schläge waren nicht das, was mich fast gebrochen hätte. Er hat mir immer das Gefühl gegeben, nicht richtig zu sein. Ja, ein Monster zu sein.“

„Weil du schwul bist?“, frage ich vorsichtig.

„Weil ich nicht getan habe, was sich gehört. Und weil ich nicht so leben wollte, wie er. Weil ich nicht stark war. Weil ich psychische Probleme hatte, wie meine Mutter. Einfach, weil ich nicht der Sohn war, den er sich gewünscht hat.“

„Du bist sehr stark, Severin. Wie du dem Gemeinderat gegenübergetreten bist und was du hier auf die Beine stellen willst …“

„Das ist das Nächste: Wieso um alles in der Welt, hat er mir alles vererbt? Warum nicht seiner zweiten Frau? Warum nicht der Kirche oder der Gemeinde? Warum mir, dem verlorenen Sohn? Ich glaube, das war sein letzter Versuch, mich doch noch dazu zu bringen, sein Leben zu übernehmen. So zu leben, wie es sich gehört. Der letzte Versuch, mich doch noch zu kontrollieren. Plötzlich fühle ich mich alles andere als frei.“

„Dann mach dich frei. Lass uns alles abreißen. Scheiß auf die Wirtschaft. Setzen wir deine Vision um. Zeigen wir es den alten Herren.“

Er schaut mich mit einer Mischung aus Erstaunen und Dankbarkeit an. Ich bekomme Gänsehaut.

„Ich will dir was zeigen“, sagt er plötzlich und zieht mich auf die Beine.

„Wo gehen wir hin?“

„Zu meinem Lieblingsort auf der ganzen Welt. Schnapp dir ein Fahrrad.“

Ich bin schon ewig nicht mehr Rad gefahren. Dementsprechend wacklig fahre ich auch hinter Severin her. Mir fällt auf, dass es langsam dämmert. Mein Handy liegt im Auto. Ich bin einfach weg von der Baustelle. Franziska wartet sicher auch schon auf mich …

„Wie weit fahren wir?“, frage ich.

„Bis zum Waldrand.“

Einige Leute schauen uns hinterher. Das wird für Dorfgespräche sorgen. Der Berger und der halbnackte Kaiser fahren mit dem Rad in den Wald …

 

Wir stellen unsere Räder an einem Baum ab. Dann deutet Severin den Hang hinauf:

„Da müssen wir rauf.“

„Du bist barfuß. Da sind überall Brombeeren und anderes Stachelzeug.“

„Scheiße, daran hab ich nicht gedacht. Naja, wird schon gehen.“

Aber schon nach ein paar Metern ist kein Durchkommen mehr.

„Autsch!“, macht er und hat drei blutige Striemen am Schienbein. „Ich glaub, das wird nichts …“

„Doch!“, beschließe ich. „Spring rauf.“

„Du willst mich huckepack den Berg hoch tragen?“

„Ja, aber nur, wenn du mir da oben dann wieder eine Massage gibst.“

„Weißt du, der Sinn der Massagen ist es nicht, dass du deinen Rücken schinden kannst …“

„Willst du da jetzt hoch oder nicht?“, grinse ich.

„Na schön…“

Er steigt auf und ich bringe ihn sicher durch die Brombeeren. Das erinnert mich an die erste Zeit mit meiner Frau. Ich hab sie oft getragen. Damals wollte ich ihr die Welt zu Füßen legen …

Dort, wo der Waldboden moosig wird, kann Severin wieder selbst laufen. Es geht ein kleines Stück steil bergauf. Wir müssen auf allen Vieren klettern. Dann werden die Bäume lichter. Plötzlich stehen wir auf einer kleinen Blumenwiese, die auf drei Seiten von Bäumen umgeben ist. Nach oben hin sieht man weite Felder. Kein Zeichen von Zivilisation ist in Sicht.

„Wow!“

„Jaaaaah“, seufzt er und lässt sich ins Gras fallen. „Elefant“, ruft er plötzlich.

Ich folge seinem Blick in den Himmel. Tatsächlich. Da schwebt eine Elefantenwolke. Ich lege mich neben ihn und schaue in den orangenen Abendhimmel.

„Hier ist es wunderschön“, finde ich.

„Ja, aber verrat es niemanden. Ich habe hier oben noch nie jemanden getroffen. Ich glaube, keiner weiß von diesem Ort …“

„Wem gehört er?“

„Jetzt mir.“

„Wieso hast du mir das gezeigt?“

„Weil wir jetzt Partner sind.“

Ich drehe mich auf die Seite, lächle ihn an. Ich fühle mich, als wäre es vorherbestimmt gewesen, dass ich bei dem Projekt mitmache. Und als wäre es vorbestimmt gewesen, dass Severin in mein Leben kommt. Ich fühle mich glücklich. So glücklich, dass ich es ihm sagen muss:

„Ich finde es wirklich schön, dass du jetzt hier bist.“

Er lächelt mich an. Aber dann wird er wieder ernst:

„Ich muss dir was erklären …“

„Ja…?“

„Ich habe mir selbst mal geschworen, mich für nichts was ich fühle zu entschuldigen oder gar zu schämen.“

„Okay …“

„Gerade fühle ich den starken Drang, dich zu küssen …“

Ich merke, wie mein Gesicht rot wird und setze mich auf. Severin setzt sich ebenfalls hin:

„Ich werde mich nicht dafür entschuldigen. Du bist ein schöner Mann. Und ich mag dich.“

„Ich mag dich auch …“, stammle ich.

„Aber?“

„Aber … das gehört sich nicht“, flüstere ich.

Er nickt verständnisvoll:

„Ja, an dem Punkt war ich auch mal.“

„Ich bin verheiratet …“

„Das hab ich vermutet, ja.“ Er klopft kurz gegen den Ring an meinem Finger. „Bist du glücklich?“

Ich muss lachen:

„Nein, überhaupt nicht.“

„Warum bleibst du dann verheiratet?“

„Weil ich Verpflichtungen habe. Das Haus, das Kind …“

„Du fühlst dich gefangen …?“, mutmaßt er.

„Das trifft es.“

Er weiß scheinbar nichts dazu zu sagen, sondern schaut mich nur mitleidig an.

„Ich glaube, ich bin Alkoholiker“, platzt es aus mir heraus.

Er hat wieder seinen Therapeuten-Blick drauf, mitfühlend und offen und bittet:

„Kannst du mir sagen, wie du darauf kommst?“

„Ich trinke jeden Tag. Meistens schon vor der Mittagspause. Wenn ich nicht trinke, fühle ich mich schlecht. Ich trinke, um meine Ehe zu ertragen. Und den Stress und die Verantwortung in der Firma. Ich trinke auch oft heimlich, nicht nur ein Bier mit Kollegen. Sondern Hochprozentiges.“

„Wie lange geht das schon so?“

„Seit der Geburt meines Sohnes vor eineinhalb Jahren. Davor konnte ich wenigstens zuhause meine Ruhe haben …“

„Willst du etwas an deinem Trinkverhalten ändern?“

„Ich glaube, ich muss. Mein Körper macht das nicht mehr lange mit. Und es löst auch keine Probleme, sondern betäubt sie nur …“

„Das ist schon mal eine wichtige Erkenntnis. Aber was würde deine Probleme denn lösen?“, fragt er nach.

Da muss ich nicht lange nachdenken:

„Wenn meine Frau mal wieder normal werden würde. Und wenn sie nicht schon wieder schwanger wäre. Und wenn ich in der Firma jemanden hätte, der auch Verantwortung übernimmt.“

„Dann arbeite an deinen Problemen. Vielleicht sieht es jetzt so aus, als könntest du wenig tun. Aber wenn du anfängst, dann löst sich einiges auf. So wie deine Verspannungen.“

„Kannst du mich noch mal massieren?“, bitte ich, weil mir nicht mehr nach reden ist.

„Natürlich. Leg dich hin.“

Dieses Mal knöpfe ich mein Hemd auf und lege es ab.

Seine Hände berühren zum ersten Mal direkt meine Haut. Diese warmen, weichen Hände, die es so gut mit mir meinen. Er massiert meinen Nacken, meine Schultern, mein Kreuz. Alles kribbelt. Ich liebe diese Berührungen. Er rüttelt und bewegt meine Hüften hin und her. Meine Hose rutscht immer tiefer. Das ist mir sehr bewusst. Ich spüre sein langes Haar über meinen Rücken gleiten. Er beugt sich wohl über mich. Ich fange an zu zittern, zu vibrieren. Ich gebe einen wohligen Laut von mir, als ich spüre, dass er sich auf meine Oberschenkel setzt und mit beiden Händen mein Steißbein massiert. Von da an spüre ich seine Hände kaum noch. Wellen der Entzückung rollen durch meinen ganzen Körper. Ich keuche laut und kehlig, halte mich nicht zurück, verliere jedes Zeitgefühl. Ich bewege mich mit seinen Händen, lasse die Hüften kreisen, versenke mein Gesicht im Gras. Jeder Muskel meines Körpers spannt sich an. In einem plötzlichen Impuls drücke ich mich nach oben, komme. Komme, wie ich noch nie im Leben gekommen bin. Friere und schwitze und mit einem Mal erschlaffe ich. Alles an mir. Ich liege da und kann mich nicht mehr bewegen, habe Angst zu atmen. Meine Haut fühlt sich an, als würden Ameisen über meinen ganzen Körper laufen. Jede Berührung wäre jetzt unerträglich.

Langsam komme ich wieder zu mir, fange vorsichtig an, mich zu bewegen, mich zu strecken. Ich fühle mich nicht müde, im Gegenteil. Ich bin hellwach und voller Energie. Ich richte mich auf. Severin liegt neben mir und sieht sich die Wolken am immer dunkler werdenden Himmel an.

„Was war das?“, flüstere ich.

Er lächelt mich an:

„Das, mein Lieber, war ein Big Draw. Du hast es geschafft, die Energie, die beim Orgasmus normalerweise nach außen fließt, in dir zu behalten und auf deinen ganzen Körper zu verteilen.“

„Ich hab gar nichts gemacht. Das warst du, Severin.“

„Wir beide“, lächelt er und will mich küssen.

Aber das kann ich nicht zulassen. Ich weiche zurück. Nur für eine Sekunde flackert in seinen Augen Enttäuschung auf. Dann sieht er mich wieder mit seinem verständnisvollen, offenen Blick an. Doch ich erkenne, dass das nur eine Fassade ist. Er will mehr von mir. Mehr als ich ihm geben kann.

„Ich muss jetzt gehen“, erkläre ich bestimmt und etwas zu laut.

„Christian, ich … ich wollte dir nicht zu nahe treten…“

„Bist du nicht“, lüge ich und ziehe mein Hemd wieder an.

„Es tut mir wirklich Leid“, erklärt er.

„Nein, mir tut es Leid. Ich gehe jetzt einfach. Bis dann“, stammle ich und betrete den Wald.

Es ist schon recht dunkel unter den Bäumen. Ich muss sehr aufpassen, dass ich den steilen Hang nicht hinunterrutsche. Nach einigen Minuten komme ich zu der Passage mit den Brombeeren. Da fällt es mir ein: Ohne mich kommt Severin hier nicht mehr weg! Es wird immer dunkler und kühler und ich habe ihn ohne irgendwelche Ausrüstung einfach alleine gelassen. Das kann ich nicht machen. Ich muss zurück zu ihm. Also steige ich noch einmal den steilen Hang hinauf und sehe bald die Blumenwiese wieder, die inzwischen fast nur noch vom Vollmond erhellt wird. Severin liegt immer noch an der gleichen Stelle im Gras. Er hat mich noch nicht bemerkt. Ich höre ihn laut atmen. Er … er ist komplett nackt und scheint … ja, er befriedigt sich selbst. Ich kann nicht wegsehen. Es ist schon so lange her, dass ich einen nackten Mann gesehen habe. Zu Studienzeiten, da gab es jemanden. Aber dann kam Franziska. Sie war nicht nur die vernünftigere Wahl, ich habe mich damals auch Hals über Kopf in sie verliebt. Seither habe ich niemand anderen mehr angeschaut. Bis heute. Jetzt kann ich nicht anders. Ich sehe den flachen Bauch, die männliche Brust, die sich schnell bewegende Hand. Ich muss näher ran, gehe noch ein paar Schritte. Severin hat die Augen offen, sieht mich an, hört nicht auf. Es scheint ihm nichts auszumachen, dass ich ihn beobachte. Im Gegenteil, er wendet sich mir mehr zu, so dass ich ihn besser sehen kann. Seine Geräusche durchdringen mich völlig. Ich stelle mir vor, was er spürt, wie schamlos er sich selbst Freude bereitet, wie genau er sich kennt und weiß, was ihm gut tut. Sein Mund öffnet sich, er schnappt nach Luft, krümmt den Rücken, hebt das Becken, keucht und kommt.

Fast bin ich enttäuscht, dass das Schauspiel so schnell vorbei ist. Aber ich habe es sehr genossen. Der Gedanke erschreckt mich. Ich wende mich ab, während Severin aufsteht und seine Hose wieder anzieht. Nach einigen Sekunden legt er mir die Hand auf die Schulter. Ich habe Angst davor, mich zu ihm zu drehen. Ich glaube nicht, dass ich ihm noch in die Augen schauen kann.

„Warum bist du zurückgekommen?“, fragt er leise.

„Ich … mir ist eingefallen, dass du ohne Schuhe nicht durch die Brombeeren durch kannst …“

Seine Hand liegt immer noch auf meiner Schulter. Er dreht mich vorsichtig zu sich. Ich schaue seine Füße an, kann den Kopf nicht heben.

„Christian? Bitte sieh mich an.“

Ich nehme all meinen Mut zusammen und schaue ihm in die Augen. Aber was ich da sehe, macht mir noch mehr Angst. Ich sehe eine Härte, ein Unverständnis, das ich in Severins Augen niemals vermutet hätte.

„Christian, du hast offensichtlich viele private Probleme. Ich denke, es wird das Beste sein, wenn du dich erst mal damit befasst. Ich melde mich bei dir, wenn ich das Angebot deiner Firma brauche. Solange wünsche ich dir viel Kraft. Ich gehe jetzt. Weiter den Berg hinauf kommt man über einige Felder zu der kleinen Bergkapelle. Von da aus führt eine gepflasterte Straße ins Dorf. Ich komme also klar. Pass auf dich auf.“

Die Distanz, die er da zwischen uns aufbaut, tut mir schrecklich weh. Er dreht mir den Rücken zu und geht. Ich stehe mitten auf der Wiese und fühle mich total verloren. Ich weiß, was ich will, aber ich kann es mir nicht holen. Dieser verdammte Anstand! Dieses Pflichtgefühl! Dieses Gefängnis, das ich mir selbst gebaut habe. Ich hasse es. Ich hasse den Mann, der ich geworden bin. Ich hasse mein Leben. Das hier, genau in dieser Sekunde, das ist der Moment, in dem sich der Verlauf meines weiteren Lebens entscheidet. Genau jetzt habe ich die Chance, auszusteigen. Ich brauche noch ein paar Sekunden länger, um den Mut zu finden, dann renne ich los.

„Severin, warte!“

Er verlangsamt seine Schritte. Dann bleibt er stehen und wendet sich zu mir. Ich sehe es in seinen Augen. All die Verletzungen, die er in seinem Leben erfahren hat. Seine verletzte Würde, aber auch die Kraft, die er in sich hat. Den Mut, seinen eigenen Weg zu gehen. Das zu tun, was ihn glücklich macht. Langsam gehe ich auf ihn zu. Ich streiche ihm sein Haar zurück, genieße diese kleine Berührung endlos und will mehr. Er schmiegt seine Wange an meine Hand, scheint hin und her gerissen, zwischen dem Impuls, sich selbst vor mir zu schützen, vor dem, was ich ihm antun könnte. Doch auf der anderen Seite steht dieser starke Drang, den auch ich empfinde. Etwas zieht uns zusammen. Unsere Fußspitzen berühren sich. Dann unsere Knie. Schließlich unsere Nasenspitzen.

„Was machst du nur mit mir?“, flüstert er kaum hörbar.

„Ich lasse dich in mein Herz“, flüstere ich zurück.

Wir umarmen uns. Halten uns gegenseitig. Ich spüre seinen Herzschlag an meiner Brust. Seine Hände auf meinem Rücken, seine Tränen auf meiner Wange. Ich spüre ihn, wie ich noch nie einen Menschen gespürt habe. Wir müssen uns nicht küssen, wir müssen einander nur ansehen um die wundervollsten Gefühle in uns auszulösen. Der Moment ist magisch und ich werde ihn nicht vergessen, solange ich lebe.

 

Heim zu kommen ist an diesem Abend nicht schlimm. Denn jetzt habe ich jemanden, bei dem ich Zuflucht finden kann. Deshalb lässt sich der Alltag und der Streit besser ertragen. In dieser Nacht schlafe ich auf dem dicken Teppich neben dem Bett meines Sohnes und halte seine kleine Hand. Ich erzähle ihm leise von Severin und von der Blumenwiese und davon, wie schön es ist, sich geborgen zu fühlen und wie gut es tut, sich anderen Menschen zu öffnen und Akzeptanz zu finden. Ich verspreche meinem Kind, dass er sich darauf verlassen kann, dass sein Vater ihn immer lieben wird, egal wie viel Mist er baut. Dann schlafen wir beide ein und wachen erst auf, weil Franziska ins Zimmer kommt, ein Rollo hochzieht und helles Tageslicht herein lässt.

„Guten Morgen, ihr zwei“, flüstert sie und ich merke sofort, dass sie gute Laune hat.

Sie ist schon angezogen und geschminkt und riecht nach frischem Kaffee.

„Das Frühstück wartet auf euch Schlafmützen.“

„Wie spät ist es?“, frage ich verschlafen.

„Keine Sorge, ich hab schon Bescheid gesagt, dass du erst um neun auf der Baustelle bist.

„Danke …“

„Das war eine tolle Nacht. Ich hab neun Stunden am Stück geschlafen und bin ohne Übelkeit aufgewacht. Danke, dass du das gemacht hast.“

Sie küsst meine Wange. Das hat sie seit Tagen – oder Wochen? - nicht mehr getan.


Nach dem Frühstück kann ich noch in Ruhe duschen, bevor ich um neun auf der Baustelle sein muss. Dort geht mir heute alles besonders leicht von der Hand. Die Stimmung ist gut, die Männer arbeiten vernünftig und zügig und der Subunternehmer, den ich zum ersten Mal angeheuert habe, weiß, was er tut und werkelt selbstständig vor sich hin. Meine Gedanken können immer öfter nicht anders, als zu Severin abzuschweifen. Ich habe eine Idee.

„Leute, wir essen heut beim Kaiser-Wirt!“

Meine Männer schauen mich an, als wäre ich verrückt geworden.

„Bei dem warmen Bruder? Warum das denn?“

„Gibt’s da überhaupt no a Fleisch? I hob g’hert, des is jetzt a veganes Bistro oder so wos neimodisches.“

„Seng derf uns da koaner!“, findet mein Vorarbeiter.

Ich werde wütend. Aber ich kann die Wut nicht raus lassen. Das gehört sich nicht. Deshalb nicke ich nur und erkläre:

„Ich kann euch nicht zwingen, aber ich probier’s heute mal aus.“

 

Kein einziger meiner Leute kommt mit. Ich stelle mich schon auf ein sehr einsames Mittagessen ein. Aber vor der Wirtschaft stehen ein Dutzend Autos! Die Wirtsstube ist gerammelt voll! Doch ich kennen keinen einzigen der anderen Gäste. Männer, Frauen, Senioren, ein paar Kinder. Einige Menschen mit dunkler Haut. Sigi, eine Bedienung, die seit 20 Jahren dort arbeitet, kommt strahlend auf mich zu:

„Christian! Schee, dass`d do bist! An Tisch hob i nimma. Aber hock di einfach do dazu, schau her.“

Dann wechselt sie plötzlich ins Hochdeutsche:

„Leute, das ist der Christian Berger von unserm ortsansässigen Baugeschäft.“

Sofort rutschen die etwa 15 Männer und Frauen am Tisch ein Stück weiter zusammen und machen mir Platz.

„Was magst du trinken, Christian? Weißbier hamma nimma.“

„Äh … was dann?“

„Schau her, da hast die Getränkekarte. Bin glei wieder do.“

Ich überfliege die Auswahl an Smoothies, Säften und Tees und entscheide mich für eine Mangoschorle. Sigi nimmt meine Bestellung auf und legt mir gleich noch die Speisekarte hin. Der Mann neben mir spricht mich an:

„Sie sind also ein Eingeborener?“, fragt er mit breitem Lächeln.

„So schaut's wohl aus“, antworte ich höflich.

„Unser Sevi hat ja einiges vor mit Ihrem Ort. Kennen Sie seine Pläne?“

„Ja. Ich musste mich erst an das Konzept gewöhnen, aber je mehr ich drüber nachdenke, umso klarer wird mir, was er da eigentlich plant. Ein kleines Paradies, mitten in unserem Ort. Ich freue mich schon drauf.“

„Also wird Ihre Baufirma ein Angebot abgeben?“

„Auf jeden Fall.“

„Ich hab ein gutes Gefühl bei Ihnen. Sie passen zum Projekt.“

„Entschuldigung, wer sind Sie eigentlich?“

„Sebastian von Tiefenbach. Ich bin der Architekt, der das Projekt betreut.“

Mein Mund bleibt offen stehen.

„Von Tiefenbach? Wie das Architektenhaus in München, das letztes Jahr den bayrischen Staatspreis bekommen hat?“

„Das war eine große Ehre, ja.“

„Okay, ich bin gerade noch schärfer drauf geworden, bei dem Projekt mitzumachen“, grinse ich.

„Schicken Sie mir Ihr Portfolio?“, fragt er freundlich aber geschäftlich.

„Natürlich. Haben Sie morgen in Ihrem Posteingang.“

„Keine Eile, bitte. Die Entscheidung fällt frühestens in drei Wochen.“

„Kann ich Sie etwas zum Entwurf fragen?“

Wir fachsimpeln noch eine Weile, bis Sigi mir plötzlich einen Teller hinstellt.

„Aber ich hab doch noch gar nichts bestellt ….?“

„Empfehlung aus der Küche. Vom Chef persönlich“, zwinkert sie.

Ich habe eine gemischte Antipastiplatte vor mir mit Körnerweißbrot und drei verschiedenen Aufstrichen. Als mir der Duft in die Nase steigt, fängt mein Magen an zu knurren.

„Lassen Sie es sich schmecken“, wünscht mir Sebastian von Tiefenbach und wendet sich seinen Mitarbeitern zu, die extra aus München hier herausgefahren sind, um sich das zu überplanende Grundstück anzusehen und vegan zu Mittag zu essen.

Beim Bezahlen erklärt Sigi, dass ich noch schnell in die Küche kommen soll, um mir eine Nachspeise auf's Haus auszusuchen. Das lasse ich mir nicht zweimal sagen, denn ich will Severin unbedingt sehen. Er steht am großen Gasherd, an dem sein Vater immer seine berühmten Teigknödel gezaubert hat. Aber auf dem Herd dampft ein Wok mit Gemüse.

„Renate, schaust du schnell?“, fragt er die Küchenhilfe, die seinem Vater schon immer zur Hand gegangen ist.

Sie übernimmt prompt und Severin kommt zu mir.

„Christian“, freut er sich und fragt mich mit einem Blick, ob er mich umarmen darf.

Er darf. Er muss sogar. Und er tut es. Ich streichle über seinen Rücken. Sauge den Küchenduft in seinen Haaren ein. Lecker.

„Ich kann hier gerade leider nicht weg ...“, flüstert er.

Ich nicke verständnisvoll und lasse ihn los. Ich spüre, dass mein Gesicht rot ist vor Aufregung.

„Magst du einen asiatischen Obstsalat?“

„Gerne.“

Severin schnippelt professionell Obst klein. Mango, Banane, Litschi. Dann kippt er alles in eine kleine Schüssel und gießt Kokosmilch darüber. Der Obstsalat ist ein Gedicht!

„Mmmmh“, mache ich und schlinge die halbe Schüssel hinunter.

„Kauen!“, lacht er.

„Wann können wir uns sehen?“, flüstere ich und frage mich gleichzeitig, ob Renate nicht zu angestrengt auf den brodelnden Wok schaut.

„Komm morgen Abend zu mir. Ich koch für dich und zeig dir die neusten Pläne.“

Ich habe schon lange keine Stunden mehr gezählt, aber die nächsten 32 vergehen im Schneckentempo.


Meine Hände zittern, als ich am nächsten Abend auf den Klingelknopf an der Tür des Bauernhauses drücke. Schnell kommen Schritte näher. Mein Herz macht einen Sprung, als die Tür aufgeht. Ich stelle mich drauf ein, Severin zur Begrüßung zu küssen. Das habe ich mir fest vorgenommen! Aber vor mir steht nicht Severin, sondern eine junge Frau.

„Ehm ...“, mache ich blöde.

„Hallo, du musst Christian sein!“

„Ja … und …?“

„Ich bin Kassandra. Mein Paps ist schon am Kochen. Komm rein.“

„Warte, wer?“

Sie schaut mich genau so irritiert an, wie ich sie.

„Du bist doch Christian, oder?“

„Ja, … ja bin ich.“

„Dann komm rein“, lächelt sie.

Sie zeigt mir, wo ich meine Schuhe und mein Jackett loswerden kann und führt mich in die Küche. Severin steht am Herd und rührt und wendet. Wieder einmal trägt er nur seine kurze Hose. Sonst nichts. Er sieht kurz auf.

„Moment, kritische Phase“, lächelt er, hantiert noch kurz weiter, schaltet dann den Gasherd zurück und kommt auf mich zu.

Sein Tonfall wird weicher, er säuselt fast ein bisschen, als er sagt:

„Hallo Christian. Schön, dass du da bist.“

Er nimmt mich in den Arm, aber ich bin steif wie ein Brett. Wir sind nicht alleine. Severin schaut mich fragend an. Dann scheint er zu verstehen.

„Du wusstest nicht, dass Kassandra bei mir lebt?“

„Ich wusste nicht mal, dass du eine Tochter hast. Eine erwachsene Tochter.“

„Okay … Liebes, wir brauchen Zeit zu zweit. Kannst du uns allein lassen?“

„Krieg ich trotzdem was zu essen?“, fragt sie, ohne zu schmollen.

„Klar, ich bring dir dann was.“

Als wir alleine sind, deutet Severin mir an, mich zu setzen. Er schenkt mit ein Glas Gurkenwasser aus der Karaffe.

„Du hast also eine Tochter ...“

„Und eine Frau“, nickt er.

Mein Augen treten aus ihren Höhlen:

„Wohnt die auch hier?“

„Die meiste Zeit nicht. Sie reist viel herum. Milla ist Künstlerin.“

„Wie …. warum … warum weiß ich nichts davon?“

„Ehrlich gesagt hatte ich angenommen, der Dorftratsch würde noch genau so gut funktionieren wie früher. Es ist kein Geheimnis.“

„Aber wie konntest du dann ...“

„Wie konnte ich dir Hoffnungen machen?“, fragt er gerade heraus.

„Ja … nein, ich meine, ich bin ja selbst verheiratet. Ich dachte nur, du wärst … anders.“

Er legt seine Hand an meine Wange:

„Christian, ich sehe, dass du Angst hast. Ich kann dir nur sagen, dass ich die selben Gefühle für dich habe, die du für mich hast. Zwischen meiner Frau und mir sind die Dinge geklärt. Sie hat nichts mit uns zu tun.“

„Du meinst, ihr führt sowas wie eine offene Ehe?“

„Ich vermute, so könnte man es nennen.“

„Schlaft ihr miteinander?“

„Worauf zielt die Frage ab?“, fragt er argwöhnisch.

„Muss ich dich mit ihr teilen?“, frage ich säuerlich zurück.

„Ich gehöre nicht ihr. Ich gehöre niemandem und bin auch kein Gegenstand, den man teilen kann. Aber wenn ich verliebt bin, ist mein Herz treu.“

„Was soll das denn bedeuten? Dass du nur bedeutungslosen Sex mit anderen haben wirst?“

„Christian, ist es nicht noch ein bisschen früh, um solche Dinge zu besprechen?“

„Nein. Ich bin im Begriff, mein ganzes Leben für dich umzukrempeln“, antworte ich zornig.

„Das solltest du nicht tun. Du solltest dein Leben für dich selbst umkrempeln. Such dein Glück nicht bei mir. Such es mit mir.“

„Was ist das denn für ein Kalenderrückseitenspruch?! Ich kann das so nicht. Ich ticke nicht so. Ich sollte gehen.“

Er nimmt meine Hand und schaut mir tief in die Augen. Er sagt nichts, zieht mich nur zu sich und küsst mich. Ich schließe meine Augen nicht, denn seine sind ebenfalls offen. Ich drücke seinen nackten Oberkörper an mich, umschlinge seine schmale Taille mit einem Arm, küsse ihn wie wild. Seine Hände öffnen mein Hemd, schnell und geschmeidig. Nackte Haut auf nackter Haut. Ich stöhne und drücke mich gegen ihn. Er löst sich kurz und schaltet den Herd ab. Dann kommt er wieder ganz nah zu mir. So nah! Ich habe noch nie so einen Kuss erlebt. Wir fressen uns fast, wollen verschmelzen. Mein Bauch kribbelt. Ich sauge den Duft von Severins langen Haaren ein, betrachte die feinen grauen Strähnen darin, sehe mir sein Gesicht ganz genau an, jeden kleinen Leberfleck präge ich mir ein und küsse ihn. Er schiebt mich ein Stück zurück:

„Willst du immer noch gehen?“

Ich schüttle den Kopf und will ihn weiter küssen, aber er wendet sich ab, freundlich, aber bestimmt.

„Wir sollten erst mal essen.“

Widerwillig lasse ich ihn los. Ich sehe mich in der Wohnküche um. Es hat sich viel verändert. Eigentlich alles. Kein altes Möbelstück ist mehr da. Auch die Küche ist eine neue. Die Wände sind gestrichen, die Holzdecke ist jetzt weiß.

„Hier erinnert wirklich nichts mehr an deinen Vater“, finde ich.

„Sonst könnte ich hier auch nicht leben. Geschweige denn Knutschen“, grinst Severin.

Die Tatsache, dass Severin fast nackt ist, macht es mir schwer, ihn in Ruhe fertig kochen zu lassen.

Wir essen mit Stäbchen von echtem asiatischen Porzellan verschiedenstes Gemüse mit Kochbananen und Reis. Dazu asiatisch abgeschmeckten Salat.

„Ganz schön viel Grünfutter“, grinse ich.

„Soll ich nächstes Mal etwas Fleisch für dich zubereiten?“

„Wenn das nicht gegen deine Grundsätze verstößt …?“

„Mein Grundsatz ist, niemandem vorzuschreiben, wie er zu leben hat.“

„Guter Grundsatz.“

„Wie viel trinkst du momentan so?“

Ich merke, wie ich rot werde.

„Weniger“, murmle ich.

„Woran liegt das?“

„Ich bin entspannter. Auf der Großbaustelle läuft alles gut. Auf die Leute da ist Verlass. Franziska hat die Übelkeit wohl hinter sich und wieder bessere Nerven. Das Kind schläft besser … und es gibt dich. Das ist vermutlich der Hauptgrund. Du tust mir gut.“

Er greift über den Tisch nach meiner Hand: „Das freut mich.“

Ich räuspere mich:

„Aber noch mal zu deiner Frau ...“

„Was willst du wissen?“

„Wie lange seid ihr schon zusammen?“

„Seit beinahe 20 Jahren kennen wir uns. Vor 18 Jahren haben wir uns entschlossen, zusammen ein Kind zu bekommen. Vor 17 Jahren wurden wir Eltern und als Kassandra vier war, haben wir geheiratet.“

„Wow … das ist lange. Ich bin mit meiner Frau erst seit sieben Jahren zusammen. Und das kommt mir schon wie eine Ewigkeit vor.“

„Wie alt bist du?“, will er wissen.

„35. Ich kann mich noch daran erinnern, dass du in die vierten Klasse warst als ich eingeschult wurde. Ich kann mich auch noch an deine Mutter erinnern. Sie hat dich oft abgeholt.“

„Das war das Jahr, in dem sie sich umgebracht hat“, sagt Severin und senkt seinen Blick.

„Tut mir Leid ...“

„Sie hat mich gefragt, ob sie mich mitnehmen soll.“

„Wie, mitnehmen? Du meinst doch nicht ...“

„Erweiterter Suizid.“

„Sie wollte dich auch umbringen? Und sie hat das angekündigt?“

„Ja ...“

„Was hast du getan?“

„Ich hab ihr gesagt, dass ich nicht sterben will. Und dass ich nicht will, dass sie weggeht. Sie hat es trotzdem getan, in der gleichen Nacht noch. Von da an war ich mit meinem Vater allein.“

Ich stehe auf und nehme ihn fest in den Arm. Aber das scheint er gar nicht zu wollen. Er schüttelt den Kopf.

„Ich hab das überwunden. Es hat lange gedauert. Aber ich hab es geschafft. Ich verstehe, warum sie es getan hat und dass sie mich trotzdem geliebt hat. Was ich nie verstehen werde, ist, warum mein Vater seine Wut auf sie an mir ausgelassen hat. Die nächsten sechs Jahre hat er mir zur Hölle gemacht, bis ich ausgezogen bin.“

„Ich glaube dir, dass es so war. Aber … er hat die Geschichte immer ganz anders erzählt.“

„Du hast mit meinem Vater über mich gesprochen?“, fragt er erstaunt.

„Ja … vor zehn Jahren ist mein Vater gestorben. Ich hab viel mit dem Wirt drüber geredet. Er … er fand, dass ich sowas wie sein Ersatzsohn sein könnte, da seiner weggelaufen ist.“

„Weggelaufen? Ich bin auf ein Internat gegangen!“

„Er hat gesagt, du bist mit irgendeinem Tschechen durchgebrannt.“

Severin lacht etwas hysterisch auf:

„Ja, das passt in sein Weltbild!“

Severin wirkt sehr aufgebracht. Deshalb frage ich nicht mehr weiter, sondern wechsle das Thema:

„Gibt es Nachspeise?“

Er gibt mir mit einem Blick zu verstehen, dass er das Ablenkungsmanöver durchschaut, antwortet aber trotzdem:

„Kokos-Griespudding. Steht im Kühlschrank. Ich bringe Kassandra noch was zu essen.“

Er verschwindet für ein paar Minuten. Ich stelle die fertig portionierte Nachspeise auf den Tisch und suche in den vielen Schubläden nach kleinen Löffeln. Dann schaue ich mir die Gemälde an den Wänden an. In jeder rechten unteren Ecke steht ein kleines „Milla“ als Signatur. Die hat also seine Frau gemalt. Ich entdecke in einem Vitrinenschrank ein Foto von Kassandra in schwarz-weiß. Zumindest denke ich, dass sie es ist, bis ich dahinter ein sehr ähnliches Bild sehe, auf dem die junge Frau einen Babybauch hat. Das muss also Milla sein. Über dem Bild hängt der Embryo-Anhänger, den Severin sonst um dem Hals trägt. Ich kann nicht verhindern, dass Eifersucht in mir aufsteigt. Ich weiß, wie heuchlerisch das ist, da ich selbst verheiratet bin. Aber so bin ich nun mal gestrickt.

Arme umschlingen mich von hinten. Ich rieche Severin und schmiege mich an ihn.

„Ich weiß nicht, wo uns das hier hinführt. Ehrlich gesagt, erkenne ich mich selbst gerade nicht wieder“, flüstere ich.

„Ich verstehe dich. Hast du schon mal über eine Therapie nachgedacht?“

Ich fahre zu Severin herum und bin sehr verärgert.

„Zu einem Psycho-Arzt? Hältst du mich für verrückt?“

In seinen Augen erkenne ich Zorn, aber sein Mund lächelt ein professionelles Mitfühl-Lächeln.

„Menschen, die in Therapie gehen, sind nicht verrückt. Sie stellen sich nur ihren Konflikten.“

„Und was für Konflikte sollen das sein?!“

Er atmet bedächtig ein und wieder aus, bevor er antwortet:

„Deine Alkoholsucht ist, denke ich, nur ein Symptom.“

„Und für was?“

„Du versuchst, deine inneren Konflikte zu betäuben.“

„Severin, ganz ehrlich? Was weißt du von meinen inneren Konflikten?“

Er nimmt meine Hand und lächelt wieder so verdammt schleimig-professionell:

„Du willst Dinge, die du nicht gleichzeitig haben kannst. Du willst frei sein und dich gleichzeitig an Konventionen halten. Du willst mich und gleichzeitig eine normale Ehe. Du willst schwul leben und gleichzeitig ein akzeptiertes Mitglied in der Dorfgemeinschaft sein. In den letzten Jahren hast du eine wichtige Seite deiner Persönlichkeit unterdrückt, sie sogar verheimlicht. Und jetzt kommst du an einen Punkt, wo du dich fragst, ob du das weiter so machen kannst. Und ob das wirklich das Leben ist, das du willst.“

Ich kann nichts sagen. Aber das scheint er auch gar nicht zu erwarten. Er streichelt mir nur sanft den Rücken. Dann redet er weiter:

„Ich glaube, du bist ein Macher. Du wirst dein Leben ändern. Nicht von heute auf morgen, aber du hast den Weg schon begonnen. Und ich würde mich freuen, dich auf diesem Weg zu begleiten. Du darfst nur eines nicht verwechseln: Ich bin nicht das Ziel. Ich bin auch nicht der Grund für das alles. Vielleicht bin ich der Auslöser. Aber du machst das alles nicht für mich. Du machst es für dich. Und für deine Kinder. Und auch für deine Frau. Weil du dich nicht vor Verantwortung scheust. Du wirst es in die Hand nehmen, deine Familie wieder glücklich zu machen.“

Meine Augen brennen und ich habe einen Kloß im Hals. Eigentlich will ich wütend sein. Aber ich fühle mich eher wie ein kleines Kind, dem endlich jemand erklärt hat, warum es sich so fühlt, wie es sich fühlt.

„Ich muss jetzt heim“, flüstere ich.

Severin nickt.

„Nimm dir Zeit für dich. Versuch, dich zu entspannen. Und genieß die Zeit mit deinem Sohn. Wenn du bereit bist, für mich, melde dich.“

„Wie schaffst du es, so verständnisvoll zu sein? Und so selbstlos?“

„Ich spüre, dass das jetzt das Richtige für dich ist. Du solltest dich jetzt nicht auf mich stürzen um deine Probleme zu Hause zu vergessen. Dann wäre ich ja nur sowas wie ein Ersatz für den Alkohol.“

„Aber das Projekt …?“

„Ich würde gern mit dir zusammenarbeiten. Und ich glaube auch, dass wir es schaffen, das voneinander zu trennen. Was meinst du?“

„Ja, ich glaube auch.“

„Nehmen wir einfach einen Tag nach dem anderen, ja? Erst mal brauchen wir dein Portfolio und dein Angebot.“

„Bekommst du morgen Abend per Mail.“

„Okay. Dann bring ich dich jetzt zur Tür.“

Ich will eigentlich nicht mehr weg von hier. Aber ich gehe trotzdem.

 

Zuhause setze ich mich mit dem Laptop ins Kinderzimmer und Summe Xaver in den Schlaf, während ich das Angebot fertig mache. Ich will diesen Auftrag unbedingt. Ich will dieses Paradies bauen.


Zwei Tage später bespreche ich mich am späten Nachmittag gerade mit den Zimmerleuten auf der Großbaustelle, als mein Handy klingelt. Severins Bild wird angezeigt. Mein Herz macht einen Sprung und ich beeile mich, außer Hörweite der Handwerker zu kommen, um das Gespräch entgegen zu nehmen.

„Severin! Hallo! Schön, von dir zu hören!“

„Kannst du zu mir kommen?“

Seine Stimme klingt seltsam.

„Wann? Jetzt?“

„Ich würde wirklich schrecklich gerne gefickt werden“, haucht Severin ins Telefon.

Ich verschlucke mich an meinem eigenen Speichel. So etwas hat noch nie jemand zu mir gesagt. Ich spüre meine Wangen rot werden.

„Ich bin in zehn Minuten bei dir“, antworte ich verdattert, weil ich schockiert, erregt und gleichzeitig verängstigt bin.

Irgendwas stimmt nicht. Er klingt anders als sonst. Ohne weitere Verabschiedung lege ich auf und rufe meine Frau an, um ihr zu sagen, dass sie nicht mit dem Abendessen warten soll. Sie stellt keine Fragen. Mein schlechtes Gewissen meldet sich dennoch.

 

Severin macht schon wenige Sekunden nachdem ich die Klingel gedrückt habe, auf. Er ist – wie immer – nur mit einer kurzen Leinenhose bekleidet. Als ich die Haustür hinter mir zugezogen habe, macht er sich sofort an meinem Jackett zu schaffen. Er scheint es WIRKLICH eilig zu haben und zerrt mich in sein Schlafzimmer. Eine Packung Kondome und Gleitcreme liegen schon bereit. Die Kerzen und die Ozeanklänge zu registrieren, schaffe ich gerade noch so, bevor Severin schon vor mir kniet und sich an meiner Hose zu schaffen macht.

„Fick mich“, fleht er und dreht sich schon um.

Er beugt sich über eine kleine Kommode und reckt mir seinen nackten Hintern entgegen. Der sehnsüchtige Blick, den er mir zuwirft, lässt mich eilig das Kondom überstülpen.

„Fick mich“, bittet er jetzt etwas lauter.

Und das tue ich. Schnell und fest. Fast befürchte ich, dass ich nicht auf ihn warten kann. Doch da macht er schon ein kehliges Geräusch und beginnt zu erzittern. Wir kommen zusammen, kurz aber heftig. Ich werfe mich verschwitzt und zufrieden auf's Bett. Severin bleibt stehen und atmet heftig.

„Komm her“, flüstere ich.

Er schüttelt den Kopf: „Ich kann mich jetzt nicht hinlegen.“

Alarmiert stehe ich wieder auf und drehe ihn zu mir.

„Hab ich dir weh getan?“

Er schüttelt den Kopf. Aber seinen Pupillen sind geweitet. Er wirkt irgendwie … anders.

„Was ist los?“, frage ich erschrocken.

„Ich … ich glaube, ich habe einen großen Fehler gemacht ...“

Dann sagt er nichts mehr.

„Red mit mir, Severin!“

„Ich … ich werde hier noch verrückt! Was hab ich mir dabei gedacht, wieder hierher zu kommen? Und hier all diese Verpflichtungen einzugehen? Ich würde am liebsten sofort von hier wegrennen. Ich halte es hier nicht aus!“

Er schüttelt meine Hände ab und verbirgt sein Gesicht. Nur um gleich darauf seine Hose anzuziehen und den Raum zu verlassen. Panik steigt in mir auf. Was meint er? Bereut er es, dass er mit mir etwas angefangen hat? Hab ich irgendwas falsch gemacht? Was, wenn er einfach so seine Sachen packt und wieder wegzieht? Ich ziehe mich notdürftig an und folge ihm.

„Severin? Jetzt red doch mit mir! Was meinst du?“

Er steht im Wohnzimmer und knetet nervös seine Hände. Seine Körpersprache sagt mir deutlich, dass er nicht angefasst werden will, also setze ich mich einige Meter entfernt auf einen Stuhl.

„Christian, ich … ich halt es hier nicht aus. Ich ertrage es nicht, hier zu sein. Ich muss weg!“

„Papa?“

Kassandra steht in der Tür.

„Ich will nicht, dass du mich so siehst“, erklärt Severin schnell und verbirgt sein Gesicht in den Händen.

„Ist schon gut. Ich helfe dir. Komm her. Lass uns zusammen atmen. Du hast wieder eine Panikattacke. Aber das kriegen wir zusammen hin.“

Sie nimmt ihren Vater an beiden Händen und redet langsam und beruhigend auf ihn ein.

„Christian? Kannst du Teewasser aufsetzen?“, bittet sie kurz an mich gewandt.

Ich bin froh, eine Aufgabe zu haben.

Als ich das nächste Mal nach den beiden sehe, sitzen sie auf dem Sofa und machen Atemübungen. Ich reiche Severin den Tee, er weicht meinem Blick aus.

„Kann ich dich kurz allein lassen?“, fragt Kassandra ihren Vater.

Er nickt, deshalb bedeutet sie mir, mit ihr auf den Flur zu gehen.

„Hat er das öfter?“, platzt es aus mir heraus, als die Tür zu ist.

„Fast jeden Abend, seit wir wieder hier sind. Aber inzwischen können wir ganz gut damit umgehen ...“

„Aber er braucht doch Hilfe!“

„Ja, deshalb kommt meine Mutter auch her, in ein paar Tagen.“

„Und dann?“

„Dann wird sie ihm helfen.“

„Und wie?“, frage ich und spüre Eifersucht in mir aufsteigen.

„Sie wird ihn überreden, wieder Medikamente zu nehmen.“

„Das kann ich auch tun!“

„Christian, ich kann mir vorstellen, dass diese Situation sehr unangenehm für dich ist, aber meine Mutter ist nicht nur seine engste Vertraute. Sie ist auch Therapeutin.“

„Ich dachte, sie ist Künstlerin?“

„Ja, das auch.“

„Kann ich denn gar nichts tun, um ihm zu helfen?“

„Red ihm dieses Projekt aus.“

Ich stehe da, wie vom Blitz getroffen.

„Das Projekt ausreden? Aber … das ist doch sein Traum!“

„Nein, die Wellness-Bar war sein Traum. Und jetzt will er sie verkaufen, um hier das Erbe seines Vaters anzutreten. Aber ihm geht es hier jeden Tag schlechter! Er erzählt mir Geschichten darüber, was ihm alles zugestoßen ist. Was er in diesem Haus alles erlebt hat. In dem Zimmer da hat er seine tote Mutter gefunden. Und an diesen Heizkörper hat sein Vater ihn angekettet, damit er nicht mit seinem Freund zum Schwimmen geht. Und da drüben …“

Kassandra kann nicht weiterreden, weil sie weinen muss. Ich nehme sie in den Arm.

„Ich hatte keine Ahnung …“

„Dieses Scheiß Kaff hier macht meinen Vater kaputt! Aber er schafft es auch nicht, loszulassen.“

„Das hier ist seine Heimat. Ich verstehe, was ihn hier hält.“

„Ich nicht. Wir sind in den letzten 17 Jahren so viel umgezogen. Unsere Heimat war immer da, wo wir zusammen waren. Und damit ist es uns allen drei gut gegangen. Ich will nicht hier festsitzen. Und ich will meinen Vater nicht so sehen.“

„Du musstest in den letzten Wochen oft die Erwachsene sein, oder?“

„Ich musste schon immer die Erwachsene sein. Meine Eltern sind Lebenskünstler, irgendwer muss sie ja davor bewahren, völlig abzuheben“, erklärt sie sarkastisch.

 

„Darf ich dich in den Arm nehmen?“

Er nickt und ich ziehe ihn in eine lange Umarmung.

„Du bist eiskalt. Du musst was anziehen.“

„Mir ist warm. Mir ist immer warm.“

„Du zitterst. Komm, lass uns ins Schlafzimmer gehen.“

Ich gebe Kassandra mit einem Blick zu verstehen, dass ich ihren Vater im Griff habe und sie verschwindet nach oben.

Severin legt sich ins Bett. Ich lege mich neben ihn, ziehe ihn in meinen Arm und fange an, ihm ein Schlaflied vorzusummen.

„Meine Mutter hat mir das immer vorgesungen. Weißt du wieviel Sternlein stehen“, flüstert er.

„Meine Mutter auch.“

„Ist deine Mutter die Berger Elisabeth, geborene Kronthaler?“

Ich nicke. Er lächelt:

„Unsere Mütter waren befreundet.“

„Wirklich? Daran kann ich mich gar nicht erinnern.“

„Ich mich schon, aber ich bin ja auch ein paar Jahre älter. Ich hab dich sogar im Kinderwagen rumgeschoben. Das ist eine meiner frühesten Erinnerungen.“

„Warum weiß ich davon nichts?“

„Irgendwann wurde im Ort bekannt, dass meine Mutter nicht auf Kur war, sondern in der Psychiatrie. Danach hatte sie quasi keine Freunde mehr. Ich war damals sechs. Gerade in die Schule gekommen. Alle haben mich behandelt wie einen Aussätzigen.“

„Was hatte deine Mutter?“

„Depressionen, Psychosen, Ängste … und den falschen Mann geheiratet. Wo ist deine Mutter jetzt?“

Ich muss schlucken. Kein angenehmes Thema.

„Sie ist in einem Pflegeheim. Schon seit einigen Jahren. Demenz. Sie erkennt mich nicht mehr.“

„Das tut mir Leid.“

Er kuschelt sich an mich. Ich gebe ihm einen Kuss auf die Wange. Dann fällt mein Blick auf den Mülleimer, in dem ich das Kondom entsorgt habe:

„Wir haben miteinander geschlafen.“

Ihm scheint das erst in diesem Moment so richtig klar zu werden. Er schlägt die Hand vor den Mund:

„Tut mir Leid! Ich hätte dich nicht anrufen sollen. Ich wollte dir Zeit geben. Ich wollte nichts überstürzen und jetzt das … so hatte ich mir unseren ersten Sex nicht vorgestellt.“

„Ich mir auch nicht“, gebe ich zu.

„Christian, ich bin momentan auch nicht so ganz ich selbst …“

„Du meinst, ich bin nicht der einzige mit ungelösten Konflikten?“, grinse ich.

„Nein. Ich sollte dringend auch mal wieder in Therapie“, grinst er zurück.

„Zu Milla?“

„Milla ist nicht meine Therapeutin. Ich meine, sie ist Therapeutin, klar. Aber Therapie bei der eigenen Ehefrau … das wäre keine gute Idee.“

„Wie ist eure Beziehung so?“, frage ich.

„Ehrlich. Und wir schränken einander nicht ein. Jeder lebt sein eigenes Leben. Und wenn es gerade passt, dann sind wir beieinander. Wir haben das von Anfang an so gehandhabt. Das war es, was wir beide wollten. Und ein Kind. Wir wollten beide dringend ein Kind.“

„Kassandra.“

„Ja, unsere Kassandra. Die uns auf dem Boden hält. Ich liebe sie sehr.“

„Und deine Frau?“

„Warum willst du das hören? Das verletzt dich doch bloß.“

„Ich will es trotzdem hören.“

„Meine Frau liebe ich auch sehr.“

Ich schlucke und muss mich sehr konzentrieren, das Atmen nicht zu vergessen. Severin streichelt meine Wange.

„Christian?“

„Hm?“

„Ich bin mir nicht sicher, was wir hier machen. Wir sind beide momentan in kritischen Phasen unseres Lebens. Eigentlich hat jeder von uns schon genug mit sich selbst zu tun. Aber …“

„Aber?“, frage ich nach, als er nicht weiter spricht.

Er seufzt:

„Aber in deinem Arm zu liegen, fühlt sich an wie nach Hause kommen. So, als hätte ich hier schon immer hingehört. So ein Gefühl hatte ich noch nie.“

Mein Herz pocht kräftig.

„Severin, dieses Projekt … es tut dir nicht gut. Vielleicht solltest du es nicht durchziehen. Vielleicht hat dein Vater es nicht verdient, dass du dich seines Erbes annimmst. Vielleicht solltest du einfach alles verkaufen und zurück nach Prag gehen …“

„Du hast mit Kassandra gesprochen, oder?“

Ich nicke etwas schuldbewusst. Er seufzt.

„Es stimmt schon, das wäre der leichtere Weg. Zumindest kurzfristig. Aber ich würde mich immer fragen, was gewesen wäre, wenn. Außerdem führt der Weg durch den Konflikt und nicht außen rum.“

„Hört sich nach Selbstquälerei an“, finde ich.

„Aber langfristig ist es der richtige Weg. Ich kann meine Vergangenheit nicht noch länger begraben. Ich muss mich damit auseinandersetzen. Mein Fehler war nicht, diese Entscheidung zu treffen. Mein Fehler war, das ohne professionelle Unterstützung zu tun.“

„Also wirst du zu einem Therapeuten gehen?“

„Ja und vermutlich auch wieder Medikamente nehmen.“

Ich nicke, weil sich das vernünftig anhört.

„Und du?“, fragt Severin.

„Was?“, frage ich blöde zurück, obwohl ich weiß was er meint.

„Wirst du dir Hilfe suchen?“

„Ich bin es gewohnt, meine Probleme alleine zu lösen“, gebe ich giftiger als ich wollte zurück.

Da ist sie wieder, die Wut in seinen Augen und gleichzeitig das professionell-verständnisvolle Lächeln auf seinen Lippen.

„Severin, ich bin da einfach anders gestrickt. Ich bin so erzogen worden. Ich kann nicht raus aus meiner Haut.“

„Ich hoffe, du schaffst es, deine Probleme alleine zu lösen. Nur dazu müsstest du sie erst mal erkennen …“

Ich setze mich auf:

„Was soll das denn schon wieder heißen?!“

„Christian, ich will nicht dein Ersatz-Therapeut sein. Das würde zu zu vielen Spannungen zwischen uns führen. Du bist wütend auf mich. Das will ich nicht. Aber es ist schwer für mich, mich nicht einzumischen, wenn … wenn du so offensichtliche Abwehrmechanismen zeigst. Der Weg führt DURCH den Konflikt. Aber ich will nicht der sein, mit dem du ihn durcharbeitest.“

„Das ist mir zu viel Psycho-Gelaber. Da komm ich nicht mit.“

Er lächelt milde und zieht mich wieder zurück auf die Kissen.

„Lass uns nicht mehr reden.“

Stattdessen küsst er mich. Mir schießt durch den Kopf, was wäre, wenn der alte Kaiser uns so sehen könnte. Oder meine Eltern. Oder das ganze Dorf. Ich weiche zurück.

„Ich … ich kann das grad nicht tun. Nicht hier. Ich … ich muss langsam nach Hause. Es ist schon fast acht.“

Er lächelt wieder sein Profi-Lächeln:

„Verstehe.“

„Kann ich dich allein lassen?“

„Ja, mir geht es besser. Die Attacken sind meistens so schnell vorbei, wie sie gekommen sind. Manchmal weiß ich gar nicht, was der Auslöser war …“

Ich küsse ihn kurz zum Abschied und gehe.

 

In dieser Nacht google ich Therapeuten in der Umgebung. Und ich google die Symptome von Depressionen, wie man jemandem mit Angstzuständen hilft und was eine Psychose ist. Danach sehe ich viele Dinge mit anderen Augen. Ich verstehe meine Frau plötzlich. Ich verstehe, warum sie so anders geworden ist. Gar nicht mehr sie selbst. Ich verstehe, warum sie sich immer als Opfer sieht und mich als den Bösen. Ich erkenne, dass sie nicht auf mich wütend ist, auch wenn sie mich anschreit. Sie ist verzweifelt. Sie ist überlastet und sie ist mit Sicherheit nicht zufrieden damit, wie sich unser Leben entwickelt hat. Ich durchforste Internetforen, finde dutzende Berichte von Paaren, denen es so geht wie uns. Ich frage mich, warum ich mich so allein gefühlt habe mit meinen Problemen, wenn es so viele Menschen gibt, die das gleiche durchmachen.

Kurz nach halb drei lege ich mich neben Franziska ins Bett. Ich umarme sie vorsichtig von hinten und streichle über ihren Bauch. Noch ist er fast ganz flach. Aber bald schon werde ich die ersten Kindsbewegungen spüren können. Sie seufzt. Dann dreht sie sich alarmiert zu mir um.

„Ist was passiert?“

Ich schüttle schnell den Kopf:

„Nein, ich … ich wollte dir einfach nur nah sein.“

„Christian, ich hab echt keine Lust ...“

Ich muss lachen:

„Nein, ich wollte nicht mit dir schlafen. Ich wollte einfach nur bei dir sein.“

Sie setzt sich auf und schaut mich misstrauisch an:

„Okay, was ist los?“

„Ist es wirklich so außergewöhnlich, dass ich einfach nur bei dir sein will?“

Sie nickt energisch.

„Okay, du hast recht. In letzter Zeit haben wir viel gestritten. Aber ich glaube, ich versteh jetzt, wie es dir geht.“

„Ich bin schwanger und bin den ganzen Tag mit einem Kleinkind allein. Ich bin müde und gelangweilt und gleichzeitig hab ich das Gefühl, zu nichts zu kommen.“

„Und du fühlst dich von mir im Stich gelassen.“

Sie nickt vorsichtig:

„Ich weiß, du musst viel arbeiten. Aber an den Abenden sitzt du am Stammtisch und ich … mein ganzer Tag besteht nur noch aus Windeln und Trotzanfällen und Müdigkeit. Ich würde gern mit dir tauschen ...“

„Willst du wieder arbeiten?“

Sie lacht: „Wie soll das gehen? Selbst wenn es hier für Xaver einen Krippenplatz gäbe … Nummer zwei kommt in ein paar Monaten und dann ist es wieder vorbei ...“

„Und wenn du meine Buchhaltung machen würdest? Einen Nachmittag in der Woche? Dann hätte ich das los, du kannst es eh besser und ich könnte mit Xaver daheim bleiben.“

Sie schaut erstaunt:

„DAS würdest du machen?“

Ein bisschen beleidigt es mich, dass sie so überrascht ist. Aber ich lächle trotzdem:

„Franzi, ich will, dass du glücklich bist.“

Sie umarmt mich und küsst mich stürmisch. Einen Nachmittag die Woche werden die Jungs schon ohne mich klarkommen. Und ich hab Zeit mit meinem Sohn. Warum bin ich da eigentlich nicht früher draufgekommen?


Am folgenden Donnerstag arbeite ich meine Frau also in die Eigenheiten meiner Buchhaltung ein. Sie blickt sofort durch, lädt sich eine neue Software runter und ist emsig am Werk. Ich bin leider nicht so talentiert drin, die Rollen zu Tauschen. Xaver sitzt im Buggy und schimpft. Er wirft die Brezel weg, die Flasche, den Teddy. Ich entschließe mich nach einer halben Stunde an der frischen Luft, dass der Sohn ab jetzt lieber in unserem Wohnzimmer schreien soll als auf offener Straße und mache mich auf den Heimweg. An der Dorfstraße quietschen Fahrradbremsen neben uns.

„Oh je, da hat aber wer schlechte Laune...“

„Severin! Hallo!“

„Hallo mein Lieber.“

Severin steigt vom Fahrrad und steht kurz unentschlossen vor mir. Dann entscheidet er sich wohl gegen irgendeine körperliche Begrüßung. Zum Glück. Mit Sicherheit sind ein Dutzend Augenpaare hinter den Fenstern auf uns gerichtet.

„Und das ist dann wohl Xaver?“

„Wie er leibt und lebt ...“, motze ich.

„Darf ich?“

Ich nicke und er schnallt den Wutzwerg los und hebt ihn aus dem Buggy. Dann drückt er ihn mir auf den Arm und streichelt kurz über seinen Rücken.

„Dein Papa ist ja da, hm?“

Xaver schaut mich mit großen Augen an.

„Baba“, macht er.

Ich kann's nicht glauben! Er hat Papa gesagt! Das ist das erste Mal! Ich drücke ihn fest an mich und freue mich so sehr. Er lacht auch mit und wiederholt:

„Baba, Bababababa.“

„Du kleiner Wurm! Du bist ja der Wahnsinn!“

Severin lächelt und winkt:

„Ich muss weiter, ich hab einen Termin. Bis bald, ihr zwei.“

Den restlichen Weg nach Hause trage ich meinen grinsenden Sohn und schiebe den Buggy mit der anderen Hand.

 

Als wir eine Stunde später gerade einen Bauklotz-Turm bauen, klingelt es. Severin steht vor der Tür.

„Hallo. Ich hoffe, es ist okay, wenn ich hier einfach so auftauche ...“

„Meine Frau ist nicht zuhause, also ...“

„Ich wollte dir nur kurz was vorbeibringen.“

Er reicht mir einen Karton.

„Das ist ein Tragetuch. Darin haben wir Kassandra schon gehabt. Ich heb es für meine Enkel auf, aber wenn du willst, kannst du es ausleihen.“

„Du denkst schon an Enkel?“, frage ich überrascht.

„Kassandra ist nur vier Jahre jünger als ich, als ich ihr Vater wurde. Soll ich dir zeigen, wie es funktioniert?“

„Ich weiß nicht. Ich fühle mich irgendwie komisch dabei, dich reinzubitten in … in unser Haus. Die Vorstellung, dass Franzi hier andere Männer empfängt ….“

Severin lächelt wieder professionell während seine Augen vor Wut blitzen.

„Verstehe. Es liegt eine Anleitung dabei. Ich bin sicher, du kommst klar. Schönen Tag noch.“

„Severin ...“

Aber er zögert nicht, sondern geht. Xaver und ich schauen uns leicht verdattert an.

„Papa ist ein ziemlicher Depp, mein Kleiner. Na komm, probieren wir das Teil mal aus ...“

Nach ein paar erfolglosen Knotereien hab ich den Dreh raus und während ich das Abendessen – Nudeln mit Tomatensauce – vorbereite, sitzt Xaver zufrieden im Tuch und nuckelt an meinem T-Shirt.

 

Franzi zeigt mir am Abend stolz, was sie alles geschafft hat. Ich hätte dafür wesentlich länger als einen Nachmittag gebraucht. Und sie lobt mich, dass ich das Haus halbwegs ordentlich gehalten habe und sogar gekocht habe. Dann fragt sie mich nach dem Tuch.

„Severin Kaiser hat es mir geliehen.“

„Wie kommt der denn dazu, dir was zu leihen?“

„Wir arbeiten zusammen an einem Projekt.“

„Was für ein Projekt?“

Ich erzähle ihr alles, was es darüber zu erzählen gibt. Zu meinem Erstaunen ist sie genauso begeistert wie ich.

„Es heißt doch, es braucht ein ganzes Dorf um ein Kind großzuziehen. In dieser Gemeinschaft können alle zusammen helfen. Keine Mutter wäre den ganzen Tag mit ihrem Kind allein. Babysitter sind genug vorhanden und vielleicht kann man sogar ein paar Räume für eine Tagesmutter dazu bauen?“

„Das ist wirklich eine gute Idee!“, finde ich.

„Waah!“, macht sie unvermittelt und schnappt sich meine Hand. „Spürst du das? Spürst du, wie das Baby strampelt?“

Ich spüre es tatsächlich. Da ist ein Baby im Bauch meiner Frau. Ich werde noch einmal Vater. Und das ist das erste Mal, dass ich mich darüber freuen kann.

„Christian?“

„Hm?“

„Ich freu mich, dich mal wieder lachen zu sehen.“

Sie will mich küssen. Mein Hals schnürt sich zu. Sie merkt sofort, dass etwas nicht stimmt:

„Was ist los?“

Ich wende mich ab.

„Christian? Red mit mir. Egal, was es ist.“

Ich schüttle den Kopf.

„Christian, du machst mir Angst.“

Ich drehe mich zu ihr. Ihre Augen sind mit Tränen gefüllt. Meine auch.

„Franzi, ich glaub, ich bin Alkoholiker.“


Ich gehe jetzt also doch zur Therapie. Franzi hat einen Termin für mich gemacht. Ich sitze im Wartezimmer, blättere durch ein paar Zeitschriften und bin nervös. Weil ich nicht weiß, was auf mich zukommt. Am anderen Ende des Flurs höre ich eine Tür. Ein Mann und eine Frau verabschieden sich voneinander. Kurz darauf steht der Mann in der Tür zum Wartezimmer:

„Herr Berger? Hassfurthner mein Name. Bitte, kommen Sie mit.“

Ich gehe hinter dem Therapeuten her in ein Behandlungszimmer wie aus dem IKEA-Katalog. Ich erkenne Regale, Stühle und sogar die Couch aus dem Einrichtungshaus wieder. Ich fühle mich gleich wohl.

„Nehmen Sie Platz.“

Er deutet auf die Couch. Ich bleibe irritiert stehen:

„Ich muss mich nicht hinlegen oder?“

Er grinst verschmitzt:

„Nein, in der ersten Stunde nicht. Und ansonsten auch nur, wenn Ihnen danach ist.“

Ich nicke erleichtert und setze mich. Er setzt sich auf einen Sessel gegenüber und nimmt seinen Block zur Hand. Er dürfte ungefähr in meinem Alter sein. Dann schaut er mich aufmunternd an:

„Also, Herr Berger: Warum sind Sie hier?“

Ich atme tief ein uns seufze:

„Weil Menschen, die mir wichtig sind, drauf bestehen.“

„Sie sind also nicht aus freien Stücken hier?“

„Doch, sicher. Zwingen tut mich keiner. Ich … ich löse meine Probleme nur eigentlich lieber alleine.“

„Und was sind das für Probleme?“

Ich seufze wieder:

„Wo soll ich da anfangen?“

Als ich nicht weiterrede, fragt er:

„Ihre Frau hat diesen Termin ausgemacht. Wie geht es Ihrer Ehe?“

„Nicht gut.“

„Warum?“

„Meine Frau ist ungeplant noch mal schwanger geworden. Unser erster Sohn ist erst eineinhalb und – ganz ehrlich – er ist ziemlich anstrengend.“

„Kurze Nächte?“

Ich nicke.

„Trotzanfälle?“

Ich nicke wieder.

„Viel Streit mit Ihrer Frau?“

„Ja.“

„Das ist in dieser Lebensphase nicht ungewöhnlich. Sind Sie deshalb hier?“

„Ich bin hier, weil ich ein Alkoholproblem habe.“

„Warum trinken Sie?“

„Um mich besser zu fühlen.“

„Warum fühlen Sie sich schlecht?“

„Weil ich zu viel Stress habe.“

„Was bereitet Ihnen Stress?“

„Das Kind, die Ehe, die Firma … und die Tatsache, dass ich schwul bin.“

Jetzt hab ich ihn kurz aus der Fassung gebracht. Damit hat er nicht gerechnet. Es sammelt sich aber schnell wieder.

„Sie bevorzugen Männer?“

„Ja.“

„Nur aus der Ferne oder …?“

„Ich hab eine … Affaire. Nein, das wird der Sache nicht gerecht. Es gibt einen Mann in meinem Leben, der mir sehr wichtig ist. Aber er ist nicht der Grund, warum ich trinke. Er ist der Grund, warum ich mich meinen Problemen stellen will.“

„Wollen Sie mit ihm zusammen sein?“

„Ich will meine Frau nicht verlassen.“

„Aber Sie wollen ihn auch nicht aufgeben?“

„Nein.“

„Können Sie sich eine offene Ehe vorstellen?“

„Nein, ich denke, dafür bin ich zu konservativ.“

„Verstehe. Verzwickte Sache“, findet er und lächelt.

Und zwar kein mildes Profi-Lächeln, sondern ein echtes Lächeln.

„Herr Berger, haben Sie irgendeine Idee, wie Sie von hier aus weiter machen wollen?“

„Nicht die geringste. Ich weiß nur, ich will nicht mehr auf Alkohol angewiesen sein. Ich will auch nicht, dass meine Familie zerbricht. Aber vor allem will ich sehen, wohin mich die Beziehung zu Severin führt. Ich hab diesen Teil von mir zu lange vergraben. Ich will das nicht mehr. Gleichzeitig läuft es zwischen mir und meiner Frau wieder besser. Das feuert mein schlechtes Gewissen nur noch mehr an. Hey, Moment mal. Ich bin gerade mal fünf Minuten hier und ich hab Ihnen schon mehr erzählt als jedem anderen. Sie sind gut in Ihrem Job.“

Er lächelt kurz dankbar über das Kompliment. Dann wird er wieder ernst:

„Sie kommen aus Seelendorf?“

„Ja, genau.“

„Der Name Severin ist sehr ungewöhnlich.“

„Ich kenn nur den einen.“

„Severin Kaiser?“

Okay, jetzt hat er mich aus dem Konzept gebracht.

„Sie kennen ihn?“

Der Therapeut seufzt:

„Ja, wir sind befreundet. Seine ...“

Er stutzt. Ich kann mir denken, warum:

„Sie kennen seine Frau?“, mutmaße ich.

„Ja. Nun, unter diesen Umständen kann ich leider nicht Ihr Therapeut werden.“

„Aber … ich hab Ihnen gerade meine halbe Lebensgeschichte erzählt ...“

„Milla und ich sind gute Freunde. Es geht wirklich nicht.“

„Toll, dann danke für Ihre Zeit.“

„Herr Berger, warten Sie. Ich kann Ihnen Kollegen empfehlen ...“

„Danke, aber ich passe.“

„Stopp, so kann ich Sie nicht guten Gewissens gehen lassen. Ich schreibe Ihnen wenigstens die Nummer der telefonischen Suchtberatung auf. Eine letzte Frage: Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, sich etwas anzutun?“

Ich bleibe stehen wie vom Donner gerührt.

„Was?!“

Ich stehe mitten im Raum und kann nicht glauben, dass er mich das wirklich gerade gefragt hat. Er deutet mir an, mich wieder zu setzen. Ich gehorche.

„Denken Sie darüber nach, sich etwas anzutun?“ , fragt er nach.

Ich kann nicht antworten. Er setzt sich neben mich auf die Couch.

„Alles, was Sie mir erzählen, bleibt in diesem Raum.“

„Vor einigen Wochen, bevor ich Severin kennengelernt habe, hab ich mein Auto neben den Gleisen geparkt. Ich bin ausgestiegen und hab mich hingelegt. Ich hab ein paar Minuten da gelegen. Ich hab mir vorgestellt, wie es wäre, keine Verantwortung mehr zu haben. Wie es wäre, nichts mehr tun zu müssen. Nichts mehr verstecken zu müssen.“

„Sie lagen auf den Gleisen?“

Ich nicke und schäme mich furchtbar.

„Was ist dann passiert?“, fragt er nach.

„Dann hab ich einen Zug gehört. Ich bin aufgestanden und in mein Auto gestiegen. Ich hatte zu viel Angst davor, was die Leute über mich sagen würden, am Grab. Angst davor, dass der Pfarrer mich nicht beerdigt, als Sündiger. Ich war sogar zu feige dazu, mich umzubringen.“

Er reicht mir ein Taschentuch. Ich putze mir verstohlen die Nase. Dann bedanke ich mich für seine Zeit und will gehen.

„Herr Berger? Bitte bleiben Sie.“

„Ich will das alles nicht erzählen. Ich will es einfach nur vergessen.“

„So funktioniert die Psyche aber leider nicht. Auch wenn das gegen die Regeln ist. Ich möchte, dass Sie bleiben.“

Ich nicke und nehme mir noch ein Taschentuch. Dann erzähle ich weiter. Ich erzähle von meiner Ehe, von den vielen Streits, von dem Hass in den Augen meiner Frau. Ich erzähle von dem Druck in der Firma, den vielen Terminen und dass es keinen gibt, der mir Verantwortung abnehmen kann. Irgendwann unterbricht mich der Therapeut und erklärt, dass unsere Zeit fast vorbei ist. Er gibt mir seine Karte mit seiner Handynummer drauf und nimmt mir das Versprechen ab, mich zu melden, falls ich jemanden zum Reden brauche. Ich bin noch eine Stunde nach dem Gespräch irgendwie von der Rolle. Aber ich fühle mich besser. Es tut gut, jemanden zu haben, bei dem man seine Sorgen abladen kann. Und jemanden, bei dem man schonungslos ehrlich sein kann und Gedanken ausspricht, die man sich bisher kaum zu denken erlaubt hat.


Als ich Xaver am Donnerstag Nachmittag durch das Dorf trage, hält ein Rad neben mir an. Ich denke sofort an Severin. Aber er ist es nicht. Es ist Milla.

„Das ist das Tragetuch meiner Tochter“, erklärt sie.

Ich nicke.

„Dann bist du Christian“, schließt sie daraus.

„Ja, hallo Milla.“

„Du hast meinem Mann ganz schön den Kopf verdreht.“

Erschrocken schaue ich über meine Schulter, ob jemand in Hörweite ist. Aber niemand ist zu sehen.

„Ich … ich …“

Milla lächelt über mein Gestammel und reicht mir die Hand:

„Schön, dich kennenzulernen.“

Etwas verdattert erwidere ich den Handschlag,

„Komm doch heute Abend zum Essen vorbei“, schlägt sie vor.

„Sorry, aber das schaff ich nicht. Ich kann nicht mit dir und Severin im gleichen Raum sein. Das ist einfach zu verquer.“

„Sagt wer?“

„Ehm, alle?“

„Alle sind mir egal. Severin ist in dich verliebt. Und er war schon lange nicht mehr verliebt. Deshalb steht die Einladung. 19 Uhr?“

„Ich ...“

„Bring Wein mit.“

„Ich bin Alkoholiker.“

„Oh. Gut, dann komm einfach so.“

Sie fährt ohne Abschied davon. So ein Goldstück.

 

Franzi kommt kurz nach sechs nach Hause und wirkt sehr entspannt.

„Was riecht denn hier so gut?“, schnüffelt sie.

„Ich hab Risotto gemacht. Leider bin ich aber zum Abendessen eingeladen. Also bleibt mehr für dich.“

„Wo bist du denn eingeladen?“

„Bei Severin Kaiser und seiner Frau.“

„Frau? Ich dachte, der ist schwul?“

Ich spüre meine Ohren rot werden und zucke die Schultern.

„Christian, das muss dir doch nicht peinlich sein. Wir leben im 21. Jahrhundert. Da kann man doch über sowas reden ...“

„Ich weiß nicht. Wir haben noch nie darüber gesprochen.“

„Ja, weil es keinen Anlass gab.“

„Also findest du Schwule … normal?“, frage ich vorsichtig.

„Naja, was heißt normal? Jeder wie er will oder? Geht doch eigentlich keinem was an. Oder wie siehst du das?“

„Ich weiß nur, dass der restliche Ort das anders sieht.“

„Mei, die alten Männer vielleicht. Aber doch nicht unsere Generation ...“

„Franzi, ich … ich muss dir was sagen. Ich … während dem Studium, bevor wir uns kennengelernt haben, da hab ich ...“

„Hast du experimentiert?“, fragt sie lapidar.

„So kann man's wahrscheinlich nennen, ja.“

„Mei, haben wir doch alle gemacht.“

„Du auch?“, frage ich erstaunt.

„Logisch“, grinst sie.

„Franzi, glaubst du, dass wir die Kurve noch mal kriegen?“

„Du und ich? Ja. Aber es muss sich was ändern. Wir müssen wieder mehr Zeit miteinander verbringen. Und wir müssen besser miteinander umgehen. Mehr reden, ehrlich sein.“

Ich nicke. Dann wünsch ich ihr einen guten Appetit, gehe mich umziehen für das Essen bei den Kaisers und packe noch ein paar Pläne und Vorschläge für's Paradies dazu. Falls es zu peinlich wird, können wir ja über's Geschäft reden.

 

Kassandra öffnet die Tür in Schlabber-Outfit.

„Bin krank. Komm mir nicht zu nahe.“

„Okay, dann isst du nicht mit?“

„Nein, aber auch wenn ich nicht krank wäre, würde ich mir das nicht geben.“

„Ich bin also nicht der Einzige, der das völlig verquer findet?“

Sie grinst:

„Jeder normale Mensch fände das verquer. Aber meine Eltern sind halt nicht normal. Sie sind in der Küche. Geh einfach rein.“

„Danke … und gute Besserung.“

Sie lächelt mich aufmunternd an und verschwindet dann nach oben. Ich atme nochmal tief durch, dann öffne ich die Küchentür.

Severin steht am Herd und trägt mal wieder nur seine Leinenhose. Milla sitzt am Tisch und trinkt ein Glas Wein.

„Hallo zusammen.“

„Christian! Schön, dass du da bist.“

Severin kommt auf mich zu und umarmt mich zur Begrüßung. Dann schaut er mir tief in die Augen und legt eine Hand in meinen Nacken. Ich nicke kaum merklich, also küsst er mich. Ich vergesse alles um mich herum. Seine Hand massiert meinen Nacken und seine Zunge massiert meine Zunge. Sein Rücken ist so seidig und weich. Ich ziehe ihn fest an mich und erwidere seinen Kuss. Ich habe ihn so vermisst.

„Wollt ihr vor dem Essen noch kurz verschwinden? Ich kann mich um die Suppe kümmern.“

Erschrocken fahre ich zurück. Ich hatte Milla völlig vergessen.

„Entschuldigung“, mache ich reflexartig und gehe auf Abstand.

Aber sie lächelt freundlich. Ich sehe keinen Sarkasmus in ihrem Gesicht. Und keine Eifersucht.

„Christian? Was meinst du?“

„Du willst jetzt …?“, frage ich Severin erstaunt und irritiert.

„Das Essen braucht noch eine halbe Stunde und ich will wirklich dringend mit dir schlafen.“

Meine Wangen werden rot und ich schaue erschrocken zu Milla. Sie lächelt aufmunternd. Severin nimmt meine Hand und bringt mich in sein Schlafzimmer.

„Wir müssen unser erstes Mal nachholen. Das letztes Mal kann es nicht gewesen sein.“

„Ich … ja … aber ...“

„Christian, zwischen mir und Milla sind die Dinge geklärt. Sie freut sich für mich. So wie ich mich für sie freue, wenn sie verliebt ist.“

Ich schüttle den Kopf, ziehe Severin aber gleichzeitig zu mir und küsse ihn.

„Bett“, flüstert er erstickt und ich manövriere ihn dort hin.

Er lässt seine Hose zu Boden rutschen und schmeißt sich auf den Rücken. Hektisch und voller Vorfreude bedeutet er mir, mich auf ihn zu legen. Ich kann meine Kleidung gar nicht schnell genug loswerden. Dann nehme ich mir doch noch einen Augenblick Zeit, um Severin zu betrachten. Er liegt vor mir, nackt und schön. Und er will mich so sehr. Langsam lege ich mich zu ihm, streiche ihm das Haar aus der Stirn und küsse ihn. Der Kuss ist erst ungeduldig, doch dann gibt sich Severin dem ruhigen Tempo hin.

Severin drückt sich mir entgegen, umschlingt mich mit den Beinen und erinnert mich so daran, was ich ursprünglich vor hatte. Er dreht sich kurz zur Seite und fischt aus einer Schublade ein Kondom, reißt es auf und zieht es mir über. Ich könnte schon bei dieser Berührung schier verrückt werden. Dann nimmt er meinen Schwanz fest in die Hand, hebt gekonnt sein Becken in die Luft und führt mich in sich ein. Er weiß genau, wie er es will. Er kennt seinen Körper. Er beherrscht seinen Körper.

„Oh mein Gott“, stöhne ich, als er anfängt, sein Becken zu bewegen und seine Muskeln pulsieren zu lassen.

Er summt, zuerst ganz leise, dann immer lauter, bis es fast wie das Oooohhhhm von meditierenden Mönchen klingt. Je lauter sein Summen anschwillt, desto näher komme ich dem Orgasmus. Severin zittert unter mir. Er bekommt am ganzen Körper rote Flecken der Erregung. Er bebt, es hört nicht auf. Adrenalin schießt durch meinen Körper. Severin so zu sehen, ist das betörendste, das ich je erlebt habe. Sein Summen wird noch lauter, ich stimme mit ein, bin dem Höhepunkt schon so nah, will ihm aber noch mehr Zeit geben, will ihn noch länger so sehen. Ich versuche, mich zurückzuhalten, aber Severin spannt all seine Muskeln an, umschlingt mich hart, treibt mich zum Äußersten. Ich kann nicht still sein beim Kommen. Die Explosion muss sich entladen. Ich keuche, stöhne, komme und bin im Himmel.

Für einige Sekunden liegen wir beide einfach nur aufeinander, unfähig, auch nur einen Muskel zu bewegen. Kalter Schweiß klebt zwischen uns. Ich hebe meinen Kopf. Severin sieht müde aus. Und zufrieden. Er lächelt mich selig an. Ich gebe ihm einen Kuss auf die salzige Wange und entledige mich des Kondoms, verknote es und stehe auf, um es in den Müll zu werfen.

„Du bist ein Geschenk, Christian.“

Ich lege mich wieder zu ihm und ziehe ihn in meinen Arm. Aber das scheint er nicht zu wollen. Er stützt sich auf die Ellenbogen und schaut mich prüfend an:

„Wie geht es dir?“

„Gut.“

„Nein, ich meine wirklich.“

„Ich hatte gerade den besten Sex meines Lebens, Severin. Mir geht es gut.“

„Mir geht es nicht gut.“

Alarmiert setze ich mich auf.

„Was ist los?“

„Du hast mir mein Herz gestohlen.“

Er sieht absolut nicht glücklich darüber aus. Ich nehme seine Hand.

„Und das macht dich traurig?“

„Ich hab das Gefühl, dass ich nicht mehr mir gehöre, sondern dir. Und das ist ein Gefühl, dass ich noch nie hatte.“

„Du bekommst kalte Füße?“, fasse ich zusammen.

„Nein, ich stelle meine komplette Lebensphilosophie in Frage, wegen dir. Ich bin eifersüchtig. Ich will nicht, dass ich dich teilen muss. Ich will, dass du ganz mir gehörst. Und ich will ganz dir gehören.“

Ich verstehe, was los ist:

„Solche Besitzansprüche kanntest du bisher nicht?“

Er schüttelt traurig den Kopf:

„Ich dachte wirklich, ich sei über so was erhaben. Aber du hast mich in der Hand. Ich schaffe es nicht, verständnisvoll zu sein, wenn du mich nicht in dein Haus lässt, ich nehme es persönlich. Ich schaffe es nicht, nachts den Gedanken abzuschütteln, dass du gerade bei deiner Frau liegst. Und ich schaffe es nicht, mit Milla zu schlafen.“

„Darüber bin ich sehr froh“, gebe ich zu. „Ich dachte schon, du bist ein Übermensch oder sowas.“

„Mach dich nicht über mich lustig ...“

„Nein, Severin. Ich meine es ernst. Was du da beschreibst, ist einfach ganz gewöhnliche Liebe. Du bist in mich verliebt und du willst mich für dich haben. So sollte das auch sein.“

„Aber … das sorgt doch einfach nur für Leid und für Eifersucht und … es wäre doch so viel einfacher, wenn wir einfach … wenn alles bleibt wie es ist und du einfach zusätzlich in mein Leben kommst.“

„Ich verstehe dich. Das tu ich wirklich. Aber ich könnte das sowieso nicht. Ich kann dich nicht teilen – ja, ich weiß, du bist kein Gegenstand, den man teilen kann. Spar dir das. Ich will dich nicht teilen und ich will meine Frau auch nicht für immer anlügen. 'Einfach' ist keine Option für uns. Der Weg führt DURCH den Konflikt.“

Severin seufzt:

„Wie machen wir dann jetzt weiter?“

„Ich weiß nicht, wie du mit Milla weitermachen willst. Und ich weiß auch nicht, wie du unsere Beziehung weiterführen willst. Aber ich hab für mich gerade beschlossen, dass ich Franzi die Wahrheit sagen werde. Nicht heute und nicht morgen. Aber wenn das Paradies steht, will ich dort zwei Zimmer mieten. Eines für mich, eines für meine Kinder.“

Severin nickt verständnisvoll. Dann steht er auf und zieht seine Hose wieder an.

„Lass uns essen gehen.“

 

Milla steht am Herd und wirkt nicht mehr so fröhlich und unbeschwert wie bisher. Severin umarmt sie und drückt ihr einen Kuss auf die Wange. Ich höre mein Herz in meinen Ohren pochen. Ich könnte rasend werden vor Eifersucht. Aber ich setze mich an den Tisch. Die beiden tuscheln irgendwas. Dann setzt sich Milla zu mir an den Tisch und schenkt sich mehr Wein ins Glas. Ich hab das Gefühl, ich sollte mich bei ihr entschuldigen. Aber ihre Körperhaltung signalisiert klar: Sprich mich nicht an. Also nippe ich an meinem Wasserglas und hoffe, dass der Abend schnell vorbeigeht. Es klingelt. Milla springt sofort auf:

„Das ist Eugen. Er ist früh dran.“

Severin nickt und kommt zu mir rüber.

„Millas Freund. Wir dachten, es wäre vielleicht gut, wenn wir zu viert sind. Deshalb haben wir ihn eingeladen.“

„Freund wie … Kumpel, … oder?“

„Freund wie Lover. Immer wenn sie in der Nähe von München ist, beleben sie ihre Affaire wieder. Sie kennen sich seit dem Studium. Er ist niedergelassener Therapeut im Münchner Norden.“

In dem Moment weiß ich schon, wer gleich durch die Türe treten wird. Mein Therapeut, Eugen Hassfurthner.

Er bleibt im Türrahmen stehen wie vom Donner gerührt.

„Oh, ich wusste nicht ...“

Milla schiebt ihn durch die Tür.

„Das ist Christian Berger. Severins Geschäftspartner und Lover.“

Ich hasse es, dass sie mich so nennt.

„Hallo, schön dich kennenzulernen“, sagt er und streckt mir die Hand entgegen.

„Du musst nicht so tun, als würden wir uns nicht kennen.“

„Doch, das muss ich, aus juristischen Gründen.“

Severin schaut verwirrt zwischen uns hin und her. Milla scheint zu begreifen:

„Verstehe. Chrstian, Therapeuten dürfen nicht preisgeben, wer bei ihnen in Therapie ist. Das unterliegt der Schweigepflicht. Wenn, dann musst du uns aufklären.“

„Okay, Herr Ha... Eugen ist mein Therapeut. Ich was bisher aber erst einmal bei ihm.“

„Du hast dir doch einen Therapeuten gesucht?“, fragt Severin erfreut.

„Franzi hat mich angemeldet“, gebe ich zurück.

„Ich sollte gehen“, bietet Eugen an.

„Nein, bleib. Ich gehe“, sage ich schnell.

„Aber das ist ja keine Dauerlösung“, findet Milla. „Ihr werdet euch hier noch öfter über den Weg laufen. Ihr müsst euer Therapeut-Patienten-Verhältnis auflösen. Nach einer Sitzung ist das ja auch noch kein Drama.“

Ich nicke: „Ja, unter diesen Umständen … haben wir wohl keine andere Wahl.“

„Können wir unter vier Augen sprechen?“

„Nein, das ist okay. Ich weiß, was du sagen willst. Aber ich gehe nicht zu jemand anderen. Ich wollte eigentlich gar nicht in Therapie. Und das jetzt, das war ein Zeichen ...“

„Geht in mein Arbeitszimmer“, bestimmt Milla.

Ihr Ton lässt keinen Widerspruch zu. Also führt Eugen mich in den ersten Stock in das ehemalige Schlafzimmer des Wirts. Ich hab dem alten Kaiser mal geholfen, einen Schrank hier rein zu schleppen. Der steht hier auch immer noch. Eugen scheint schon öfter hier gewesen zu sein. Er deutet mir an, mich auf den Bürostuhl zu setzen und zieht sich einen Hocker heran.

„Also gut, das hier ist kein Gespräch im Rahmen einer Therapie. Ich bin nicht mehr dein Therapeut. Ich spreche zu dir, als Bekannter.“

„Verstanden.“

„Christian, du zeigst einige Symptome einer mittelschweren Depression. Du musst weiter zu einem Profi gehen.“

„Ach komm, ich bin doch nicht depressiv.“

„Du hast dich auf die Gleise gelegt.“

„Ich bin auch wieder aufgestanden.“

„Du behandelst dich selbst mit Alkohol. Das ist ein typisches Symptom von Männer-Depressionen.“

„Ich fühle mich jetzt viel besser.“

„Dein Liebesleben ist – gelinde gesagt – kompliziert. Ich weiß, wovon ich spreche. Da wird noch einiges an emotionalem Stress auf dich zukommen. Ich kann dir nur eindringlich raten: Begib dich in Therapie. Es wird dir helfen.“

„Ich denke darüber nach.“

„Danke.“

„Also... du und Milla?“

„Ja.“

„Ihr kennt euch vom Studium, hat Severin erzählt …?“

„Ja. Ich hab mich damals Hals über Kopf in sie verliebt. Sie wollte aber nicht gebunden sein. Dann hat sie Severin kennengelernt und Kassandra kam.“

„Aber ihr beide habt nie aufgehört, euch zu treffen?“

„Nein.“

„Hast du dann auch eine offene Beziehung?“

„Nein, ich hab nur Milla. Es gab nie eine andere. Nie wirklich.“

„Aber sie ist nicht oft bei dir, oder?“

„Nein.“

„Hast du nicht das Gefühl, etwas verpasst zu haben im Leben?“

„Weil ich nie geheiratet habe oder eine Familie gegründet? Nein. Ich könnte das ja immer noch machen, im Prinzip. Mit 43 ist für uns Männer ja noch alles offen. Aber ich strebe das gar nicht an. Ich freue mich, wenn Milla bei mir ist. Und wenn sie nicht bei mir ist, arbeite ich viel.“

„Aber es ist doch unfair. Sie hat Severin und du hast niemanden.“

Er zuckt die Schultern:

„Ja, aber so hab ich es mir ausgesucht. Wenn ich etwas daran ändern wollte, würde ich es ändern.“

Er sieht mir wohl an, dass ich das absolut nicht nachvollziehen kann und lächelt:

„Ich weiß, von Außen ist das schwer zu begreifen.“

„Naja, ich bin jetzt ja auch irgendwie mitten drin ...“

„Ja … Christian, pass gut auf dich auf.“

Ich nicke und stehe auf.

„Lass uns zu den anderen gehen. Ich hab Hunger.“

 

Das Essen ist nicht so merkwürdig, wie ich erwartet habe. Severin und ich erzählen von unserem Projekt, Milla und Eugen sprechen über eine Tagung, die sie demnächst gemeinsam besuchen werden und Severin erklärt, dass in den nächsten Tagen die Asylbewerber einziehen werden. Kassandra holt sich etwas zu essen und setzt sich doch kurz zu uns, um von ihrer Schule zu erzählen und der Projektwoche, die gerade läuft. Die Stimmung ist sehr familiär. Ich fühle mich wohl. Als ich auf die Uhr schaue, erschrecke ich.

„Schon kurz nach 11! Ich muss nach Hause. Morgen früh haben wir einen Ultraschall-Termin. Eventuell erfahren wir das Geschlecht des Babies.“

„Deine Frau ist schwanger?“, fragt Milla überrascht.

„Ja, in der 18. Woche.“

Ihren Blick kann ich nicht deuten. Ich packe meine Akten zusammen und verabschiede mich von Eugen und Kassandra. Milla nickt mir auch kurz zu und Severin kommt noch mit zur Tür.

Die warme Sommerluft schlägt uns entgegen. Ein paar Mücken wollen gleich zum Licht, deshalb macht er die Tür wieder zu und stellt sich mit nach draußen:

„Es war ein sehr schöner Abend.“

„Ja, fand ich auch. Danke für das Essen.“

Er lächelt:

„Danke für den Sex. Davon werde ich heute Nacht träumen.“

Ich küsse ihn und überlege kurz, ob ich vielleicht doch noch bleiben kann. Aber ich muss nach Hause. Ich muss schlafen.

 

Franzi liegt im Bett und liest ein Buch.

„Hallo, Schatz. Schön, dass du da bist.“

So freudig hat sie mich schon lange nicht mehr begrüßt. Kein Genörgel über die späte Uhrzeit. Keine ToDo-Liste, die sie mir entgegen hält. Nur ein Lächeln.

„Ich geh noch kurz ins Bad, dann komm ich ins Bett.“

„Gut. Du denkst an den Termin morgen früh?“

„Ja, ich freu mich schon. Ich hab so im Gefühl, dass es ein Mädchen wird.“

„Ich denk eher, es wird noch ein Junge“, grinst sie.

Ich dusche kurz und werfe meine Klamotten in den Wäschekorb. Dann gehe ich nackt ins Schlafzimmer.

„Was hast du denn mit mir vor?“, fragt Franzi anzüglicher als ich sie je sprechen hab hören.

„Meine Unterwäsche holen“, tue ich unschuldig.

„Komm her.“

„Okay“, sage ich und wundere mich über den Befehls-Tonfall.

Sie bedeutet mir, mich neben sie zu setzen und klettert auf mich drauf. Ich habe in einer Nacht Sex mit zwei verschiedenen Menschen. Das ist eine Premiere. Und was mich dabei am meisten überrascht: Ich habe gar kein schlechtes Gewissen deswegen.

 

Die Ärztin lässt uns am nächsten Morgen nicht lange warten, wir sind die ersten Patienten des Tages. Xaver spielt friedlich mit einem Spielzeugauto und ich kann mich ganz auf den Ultraschall konzentrieren. Ich sehe die Nase, die kleinen Hände, die Füße, den Herzschlag.

„Möchten Sie das Geschlecht wissen?“, fragt die Ärztin.

Wir nicken beide. Der große Moment ist gekommen.

„Xaver bekommt eine kleine Schwester.“

Ich schlage mir die Hand vor den Mund. In diesem Moment merke ich erst, wie sehr ich mir eine Tochter gewünscht habe.

„Ein Mädchen“, flüstere ich und drücke Franzi einen Kuss auf die Lippen. „Wir bekommen eine Tochter!“

Die Ärztin schaut ernst drein. Sofort bekomme ich Angst.

„Stimmt was nicht?“

„Herr Berger, Frau Berger, gehen wir doch an meinen Schreibtisch.“

Franzi schaut betreten drein. Schnell setze ich mich. Ich will dringend sofort hören, was die Ärztin zu sagen hat. Ich greife nach Franzis Hand. Xaver spielt immer noch.

„Herr Berger, ihre Frau hat ihnen etwas zu sagen.“

Ich schüttle verwirrt den Kopf und schaue Franzi fragend an. Sie hat Tränen in den Augen.

„Was ist los?“

„Christian, ich … ich hab einen schlimmen Fehler gemacht. Vor 18 Wochen … da … ich bin fremdgegangen.“

„Du weißt nicht, wer der Vater ist?!“

„Doch. Die Frau Doktor und ich haben einen Test nach Österreich geschickt. Einen Vaterschaftstest. In Deutschland darf man das in der Schwangerschaft noch nicht testen.“

„Ich bin nicht der Vater“, schließe ich daraus.

„Ich wünschte, du wärst es.“

„Hättest du mir dann nie davon erzählt?! Wer ist der Kerl?!“

„Niemand. Er war mir nicht wichtig, ich war nur so einsam und so traurig. Das ist keine Entschuldigung, ich weiß. Ich … es tut mir so schrecklich Leid.“

Sie weint. Ich bin rasend vor Wut. Ich schreie sie an. Dann nehme ich Xaver und gehe. Und dann weine ich auch. Und steige ins Auto und weiß nicht, wohin. Mein Kind weint. Meine Tochter ist nicht meine Tochter. Mir kommt der Gedanke, dass Xaver vielleicht auch gar nicht meiner ist. Aber ein Blick in seine Augen reicht. Er ist von mir. Kein Zweifel. Wo soll ich hin? Ich bin 30 Kilometer von Seelendorf weg. So weit kann ich jetzt nicht fahren. Ich rufe Eugen an. Er hebt schon nach dem ersten Klingeln ab.

„Hassfurthner.“

„Eugen? Ich bin's, Christian Berger.“

„Grüß dich, Christian. Was ist los?“

„Es ist was passiert. Kann ich in die Praxis kommen?“

„Ja. Ich hab erst um zehn wieder einen Patienten.“

„Ich bin in zehn Minuten da.“

Xaver schreit die ganze Fahrt über und meine Gedanken rasen. Ich könnte sie töten. Ich könnte sie ernsthaft töten. Wie konnte sie mir das antun? Wie konnte sie sich von einem anderen schwängern lassen?!

 

Eugen wartet schon an der Praxistür. Ich werfe die Wickeltasche in den Flur und setze Xaver auf den Boden. Dann lege ich mich auf die Couch und vergrabe mein Gesicht in den Händen. Eugen spricht mit Xaver, versucht ihn zu beruhigen. Ich versuche, mich selbst zu beruhigen. Ich nehme ein paar tiefe Atemzüge. Dann setze ich mich hin. Xaver will sofort auf meinen Schoß. Ich nehme ihn hoch und halte ihn fest. Er hört auf zu weinen.

„Was ist passiert?“, fragt Eugen ruhig.

„Meine Frau ist nicht von mir schwanger. Sie hat mich betrogen. Das Mädchen ist nicht von mir.“

Er setzt sich neben mich und legt mir eine Hand auf's Knie.

„Hast du das gerade erfahren?“

„Ja, gerade beim Ultraschall. Warum hat sie mich das Mädchen erst sehen lassen, um es mir dann gleich wieder wegzunehmen?“

„Vielleicht will sie sie dir gar nicht wegnehmen? Was hat sie denn gesagt?“

„Dass sie einen Test gemacht hat und herausgefunden hat, dass ich nicht der Vater bin. Sie wünschte, ich wäre es. Aber sie hatte vor 18 Wochen unbedeutenden Sex und dabei ist das Kind entstanden.“

„Und dann?“

„Dann hab ich sie angeschrien, hab Xaver mitgenommen und bin weggelaufen.“

„Verstehe. Du weißt, dass ich nicht mehr dein Therapeut bin?“

„Ich wusste nicht, wohin.“

„Es war richtig, dass du hier hergekommen bist. Du musst deiner Frau eine Nachricht schicken. Sie muss wissen, dass du und Xaver irgendwo angekommen seid.“

„Soll sie sich doch Sorgen machen!“

„Du hast jedes Recht, wütend zu sein. Aber sie hat auch ein Recht darauf zu wissen, dass ihr Kind unversehrt ist.“

Ich tippe eine kurze Nachricht und stelle fest, dass ich fünf verpasste Anrufe von ihr auf dem Handy habe.

„Musst du sonst noch jemandem Bescheid geben? In der Firma?“

„Ja, ich … ich hätte jetzt eigentlich einen Termin ...“

„Sag für heute alles ab.“

„Das kann ich nicht so einfach ...“

„Christian, du hast gerade rausgefunden, dass deine Frau von einem anderen schwanger ist. Du kannst heute alles absagen.“

„Okay … kannst du kurz …?“

Er nickt und ich gebe ihm Xaver auf den Schoß. Dann rufe ich meinen Vorarbeiter an und sage ihm, dass ich krank bin und er mich heute bei allem vertreten muss. Er ist überrascht, aber beschwert sich nicht.

Ich setze mich wieder neben Eugen und Xaver.

„Was soll ich jetzt tun?“, frage ich.

„Wonach ist dir?“

„Schreien. Und irgendwas zerschlagen. Und ihr so weh tun, wie sie mir weh getan hat.“

„Du bist auch fremdgegangen.“

„Ja, aber ich hab dabei kein Kind gezeugt.“

„Ist das der einzige Unterschied?“

„Nein, ich hab mich verliebt. In einen Mann. Weil ich schwul bin. Sie hat einfach Ersatz für mich gesucht.“

„Glaubst du, das hat sie wirklich?“

„Nein, wahrscheinlich wollte sie einfach nur mal wieder von jemanden angehimmelt werden. Wahrscheinlich hat der Kerl ihr was gegeben, das ich ihr nicht geben konnte.“

„So wie Severin dir etwas gibt, das sie dir nicht geben kann?“

„Es ist trotzdem nicht richtig, sich das außerhalb der Ehe zu holen. …. Ja, ich weiß, ich bin nicht viel besser als sie. Aber ihr Seitensprung hat Konsequenzen. Meiner nicht.“

„Juristisch gesehen ist das Kind trotzdem deine Tochter. Weil es in der Ehe gezeugt wurde.“

„Mag sein, aber faktisch ist sie das Produkt eines Seitensprungs.“

„Dafür kann sie aber nichts.“

„Willst du mir sagen, dass ICH für sie verantwortlich bin und nicht der Kerl der seinen Schwanz in meine Frau gesteckt hat?!“

„Ich will dir sagen, dass sie dir keiner wegnehmen kann. Du bist derjenige, der sich von ihr abwendet.“

„Ich kann doch nicht das Kind eines anderen aufziehen!“

„Vielleicht nicht. Aber es ist DEINE Entscheidung. Du kannst eine Tochter haben, wenn du sie willst.“

„Und mir Hörner aufsetzen lassen?!“

„Spricht jetzt dein Ego?“

„Ja, von mir aus. Dann spricht jetzt eben mein Ego. Franzi hat mich beschissen und ich soll das einfach mit mir machen lassen?!“

„Nein. Das ist eine ganz andere Sache. Du musst trennen zwischen der Beziehung zu deiner Frau und der Beziehung zu ihrer Tochter.“

Vielleicht kann das ein liberaler Großstädter wie du nicht nachvollziehen, aber bei uns auf dem Land ist ein Mann nur ein Mann, wenn er sich sowas nicht bieten lässt.“

„Und bei mir in der Praxis hab ich schon Ehen scheitern sehen und Familien zerbrechen, wegen genau solchen Entscheidungen. Entscheidungen, die vom Ego getroffen werden. Oder aus Furcht vor der Meinung „der Leute“. Deshalb kann ich dir nur eindringlich raten, auf dein Inneres zu hören. Wenn du dieses Baby lieben kannst, dann lieb es.“

„Ich lieb sie schon“, gebe ich zu.

„Dann lass sie dir nicht wegnehmen.“

Mir schießen Tränen in die Augen.

„Ich muss meine Tochter nicht verlieren?“

„Nein, es ist deine Entscheidung.“

„Aber meine Ehe ist vorbei.“

„Wenn es das ist, was du willst?“

„Ja. Ich will nicht mehr mit Franzi zusammen sein. Ich kann ihr das nicht verzeihen. Nie im Leben.“

„Spielt Severin dabei eine Rolle?“

„Natürlich. Aber nicht die entscheidende. Auch wenn es ihn nicht gäbe, wäre das für mich das Aus.“

„Dein Sohn räumt meine Schublade aus.“

„Oh, Xaver, nein! Komm her, Spatz. Uh, ich glaub du brauchst eine frische Windel.“

„Das Bad ist gleich links.“

„Okay, wir sind gleich wieder da.“

 

Eugen sitzt an seinem PC und tippt, als wir wieder in den Therapieraum kommen.

„Ich halte dich vom arbeiten ab.“

„Keine Sorge, wenn ich es zeitlich nicht hinkriegen würde, würde ich es dir sagen. Ich hab noch Luft.“

„Ich glaube, meine Gedanken sind jetzt einigermaßen sortiert. Ich sollte gehen.“

„Wohin?“

„Xaver muss nach Hause. Und einer von uns Erwachsenen wird ausziehen müssen. Vielleicht schlaf ich erst mal ein paar Nächte im Büro. Ich weiß nicht.“

„Christian?“

„Hm?“

„Zieh nicht zu Severin. Noch nicht. Dazu seid ihr noch nicht bereit.“

„Ich weiß. Das hatte ich nicht vor. Allein schon wegen dem Dorftratsch. Dafür bin ICH noch nicht bereit.“

„Ich hab das Gefühl, du wirst das alles unbeschadet überstehen. Du bist sehr stark.“

„Ja, ich hab nur keine Lust, immer der Starke sein zu müssen. Der Macher, der Chef.“

Er nickt verständnisvoll.

„Danke, Eugen.“

„Nichts zu danken. Dafür sind Freunde da.“

Überrascht schaue ich ihn an. Er meint das ernst, er bietet mir die Freundschaft an.

„Dann sind wir ab jetzt Freunde?“, frage ich.

„Ich finde, wir sollten uns zusammentun. Schließlich sitzen wir im selben Boot, was das Ehepaar Kaiser betrifft.“

Mir liegt eine Frage auf der Zunge, ich traue mich aber nicht, sie zu stellen. Er scheint das zu merken.

„Was?“

„Hast du … habt ihr …?“

„Dreier?“

„Ja...“

„Gelegentlich.“

„Verquer. Total verquer.“

„Aber unglaublich gut“, grinst er.

„Für dieses Gespräch bin ich noch nicht bereit, ich geh jetzt lieber“, grinse ich.

„Wir sehen uns. Und meld dich jederzeit, wenn du einen Freund brauchst.“

Ich kaufe für Xaver noch eine Brezel und fahre nach Seelendorf zurück.

 

Franzi steht in der Küche und füllt den Thermomix mit Gemüse.

„Wir sind da.“

Erschrocken fährt sie zu uns herum. Ihr Bauch kommt mir größer vor. Lange konnte man nur erahnen, dass sie schwanger ist. Jetzt ist es eindeutig.

„Christian! Ich ...“

Ich hebe die Hand.

„Xaver ist schon sehr müde. Er hat fast eine ganze Brezel gegessen. Ich leg ihn hin, dann reden wir.“

Sie nickt schnell und ich bringe das Kind ins Bett. Er schläft in Rekordzeit ein. Der Vormittag war auch für ihn ganz schön anstrengend.

 

Franzi sitzt auf der Couch. Zwei dampfende Tassen Tee stehen auf dem Wohnzimmertisch. Ängstlich sieht sie mich an.

„Christian, es tut mir so leid.“

„Wieso hast du es getan?“

„Ich weiß es selber nicht. Ich hatte die Gelegenheit und ich war wütend auf dich und hab mich einsam gefühlt. Zwischendurch dachte ich, unsere Ehe ist sowieso vorbei. Ich … ich wollte mal wieder wer anderes sein als der Hausdrache. Es war der größte Fehler, den ich je gemacht hab.“

„Wer war es?“

„Jemand, den du nicht kennst.“

„Warum hast du den Vaterschaftstest gemacht?“

„Weil ich dich nicht ein Leben lang anlügen wollte und weil ich mich nicht ein Leben lang fragen wollte ...“

„Ich verstehe.“

„Es tut mir wirklich sehr leid. Ich liebe dich. Das ist mir in der letzten Woche wieder klar geworden. Ich will dich nicht verlieren. Bitte, gib uns noch eine Chance. Für Xaver.“

„Franzi, das Mädchen in deinem Bauch ist auch mein Kind. Egal was der Gentest sagt. Du bist meine Frau. Ich hab die Schwangerschaft miterlebt. Ich hab ihr Gesicht im Ultraschall gesehen. Ich will der Papa von der Kleinen sein.“

Überrascht und voller Freude schaut sie mich an:

„Wirklich?“

„Ja, aber Franzi, du hast mich schon verloren. Und es ist noch nicht mal deine Schuld. Es ist auch nicht meine. Es ist einfach so.“

„Was meinst du damit?“

Ich muss schlucken. Weil ich es jetzt aussprechen muss. Ich hab mir diesen Moment schon so oft vorgestellt. In meinen Gedanken ging er meistens nicht gut aus.

„Franzi, ich kann nicht mit dir verheiratet bleiben. Ich bin schwul.“

Ihre Gesichtszüge erschlaffen. Dann kräuseln sich ihre Augenbrauen skeptisch. Dann zieht sie ihre Mundwinkel nach oben.

„Das ist ein Scherz, oder?“

„Nein. Ich bin schwul. Schon immer gewesen. Ich wollte es mir bloß nicht erlauben.“

„Dann war unsere ganze Ehe nur ein Schwindel?“

„Nein! Nein, überhaupt nicht! Ich hab mich wirklich in dich verliebt. Das war kompliziert. Aber ich hab dir nichts vorgespielt. Nur jetzt, jetzt kann ich nicht mehr länger so leben.“

„Aber … ich hätte doch merken müssen ...“

„Ich bin gut drin, eine Fassade aufrecht zu bewahren.“

„Aber für wen? Warum hast du das gemacht?“

„Erst für meine Eltern, dann für die Leute im Dorf, dann für unsere Familie.“

„Du hast das all die Jahre mit dir rumgetragen?“

„Ja, kein Wunder, dass ich depressiv geworden bin, oder?“

Sie nimmt mich in den Arm. Das Mitgefühl in ihrem Gesicht ist echt. Ich hätte schon früher mit ihr reden können. Sie hätte mich verstanden. Ich spüre plötzlich einen kleinen Tritt am Arm und fahre zusammen.

Franzi kichert: „Das Mädchen hat einen guten rechten Haken.“

„Das ist meine Tochter“, schwärme ich.

„Du nimmst sie wirklich an?“

„Ja, ich will sie nicht verlieren.“

„Christian?“

„Ja?“

„Hattest du während unsere Ehe was mit Männern?“

Okay, noch so ein Moment der Wahrheit.

„Ich war dir sieben Jahre lang treu. Aber vor ein paar Wochen, da kam jemand in mein Leben.“

„Severin Kaiser?“, mutmaßt sie.

Ich kann nur betroffen nicken.

„Das heißt, wir trennen uns?“

„Ja“, antworte ich klar.

„Wie sollen wir das mit den Kindern hinkriegen?“

„Du bleibst mit Xaver hier. Ich komme abends zum ins Bett bringen her und schlafe dann im Büro drüben, bis ich eine eigene Wohnung habe. Dann kann Xaver am Wochenende zu mir.“

„Und die Kleine?“

„Ich wäre gern weiter bei Arztterminen dabei. Und ich würde mich auch gern weiter treten lassen.“

„Du musst dann aber auch Zeit mit mir verbringen. Gott, wir reden über unsere Trennung. Das ist irgendwie … surreal.“

„Ja, finde ich auch. Vielleicht können wir ja auch … vielleicht muss das alles auch gar nicht so kompliziert sein? Vielleicht könnte ich während der Schwangerschaft noch hier bleiben? Ich könnte mir das Arbeitszimmer oben herrichten. Unter der Woche bin ich eh selten hier. Und die Wochenenden könnten wir uns aufteilen?“

„Kann das funktionieren? Was würde sich denn dann eigentlich ändern, zu jetzt?“

„Wir würden uns das Bett nicht mehr teilen.“

„Bitte bring Severin nicht hier her.“

„Das hatte ich nicht vor. Und das gleiche gilt dann auch für dich.“

„Hey, ich werde jeden Tag runder. So schnell schaut mich keiner mehr an.“

„Du schaust wunderschön aus, Franzi.“

„Hör auf!“, lacht sie.

„Scheiße, ich will dich küssen, Franzi.“

„Was?!“

„Ich will dich küssen. Weil du so eine tolle Frau bist. Und weil ich mit dir reden kann. Und weil du mein Baby im Bauch hast. Und weil heute ein völlig irrer Tag ist. Und weil ich endlich wieder das Gefühl hab, dass wir Verbündete sind und keine Gegner.“

„Ich weiß genau, was du meinst.“

„Wir haben unsere Ehe total versaut. Aber ich will dich küssen.“

„Dann mach.“

Ich lege ihr eine Hand in den Nacken und ziehe sie zu mir. Sie küsst anders als sonst. Aggressiver, offener, wilder. Ich steige drauf ein, vergesse fast, zu atmen. Ich knabbere an ihrer Oberlippe, meine Hände fahren unter ihre Bluse. Ich ziehe sie auf meinen Schoß und schiebe ihren Rock nach oben. Meine Finger schlüpfen in ihren Slip. Sie stöhnt, atmet heftig in mein Ohr. Ich weiß, wie sie es mag. Es dauert keine Minute, da bebt sie schon und vergräbt ihr Gesicht an meinem Nacken.

„Mmmmh, das hast du lang nicht mehr gemacht“, flüstert sie.

„Ich will nicht, dass es das letzte Mal war.“

„Christian, wir können doch nicht ...“

„Sagt wer? Scheiß auf Konventionen. In dieser Ehe geht es nur um zwei Sachen: Was gut für unsere Kinder ist und was wir wollen. Wenn wir zusammen bleiben ohne uns weiter zu bekriegen, ist das gut für die Kinder. Und was wir beide wollen, ist wohl offensichtlich. Wir wollen zusammen bleiben.“

„Du schlägst mir grade eine offene Ehe vor, oder?“

„Ich glaube schon.“

„Ich hab nicht gedacht, dass du das könntest.“

„Hab ich vor ein paar Wochen auch nicht gedacht. Aber heute kann ich es. Heute will ich es.“

„Wir sollten das erst mal alles überschlafen.“

„Da hast du recht. Ich will dir etwas Abstand geben. Ich fahr auf die Baustelle.“

„Okay. Kommst du zum Abendessen heim?“

„Ja.“

 

Die Männer auf der Baustelle sind etwas überrascht mich zu sehen. Aber es ist gut, dass ich da bin. Es gibt viel zu tun, viele Entscheidungen zu treffen, viel zu organisieren. Ich kann gut abschalten. Um kurz vor sechs parke ich wieder in meiner Garage. Mit fällt auf, dass ich seit Tagen nichts aus dem Flachmann im Handschuhfach getrunken habe. Und dass es mir nichts mehr ausmacht, wenn das Garagentor hinter mir zugeht.

 

Im Flur stehen zwei gepackte Koffer.

„Franzi?“

Sofort kommt sie aus der Küche. Es riecht nicht nach Essen.

„Christian! Du bist früh dran.“

„Warum stehen die Koffer im Gang?“

„Mein Vater kommt in ein paar Minuten und holt mich ab. Xaver und ich bleiben über's Wochenende bei ihnen.“

„Du willst heute noch drei Stunden mit ihm im Auto sitzen? Und warum so plötzlich? Ich dachte ...“

„Wir müssen erst mal alles sortieren. Das mit der offenen Ehe, ich glaub, das ist eine Schnapsidee. Wir wollen nur vermeiden, was eigentlich unvermeidlich ist.“

„Nein, ich will mich wirklich nicht trennen.“

„Würdest du für unsere Familie auf Sex mit Männern verzichten?“

„Ich will keinen Sex mit Männern. Ich will nur den einen Mann.“

„Severin Kaiser. Du bist in ihn verliebt?“

„Ja ...“

„Christian, dann ist die Sache doch klar.“

„Nein, weil ich nicht mit ihm zusammen sein kann. Nicht offiziell.“

„Ach Christian ...“ Sie umarmt mich. „Dieses Gewissen von dir … das macht dich irgendwann noch kaputt. Gönn dir doch einfach mal, nicht perfekt zu sein. In der Arbeit, im Leben.“

„Ich arbeite dran ...“

„Christian, wir müssen jetzt stark sein. Wir müssen die Trennung jetzt durchziehen. Das aneinander Klammern bringt doch nichts. Wir müssen einen klaren Schlussstrich ziehen.“

„Sagen das deine Eltern?“

„Nein, die zwei haben mir aber am Telefon geholfen, die Dinge klarer zu sehen.“

„Und das Baby?“

„Ich werd dir Zeit mit meinem Bauch verschaffen. Und du kannst Xaver jeden zweiten Abend ins Bett bringen. Ich hoffe auch, dass es bei den Donnerstag-Nachmittagen bleibt.“

„Ja, das wäre schön. Franzi?“

„Ja?“

„Darf ich einen Babynamen vorschlagen?“

„Natürlich, sie ist doch deine Tochter“, lächelt sie.

„Carolina. Das bedeutet 'die Freie'.“

„Das klingt schön. Und du willst sie nicht Elisabeth nennen, nach deiner Mutter? Oder Katharina nach deiner Großmutter?“

„Nein, ich will nicht, dass sie nur von Traditionen bestimmt wird. Ich will, dass sie frei ist.“

Nachdem ich meine Familie in das Auto meines Schwiegervaters gesetzt habe, kann ich mir nicht vorstellen, den Abend mit Severin zu verbringen. Deshalb nehme ich ein Bad und gehe früh schlafen.


Am nächsten Vormittag erledige ich etwas Büroarbeit und bereite mich auf die nächste Gemeinderatssitzung vor. Dann bekomme ich Hunger. Ich beschließe, ins Gasthaus zu fahren. Ich glaub, ich bin bereit dazu, Severin zu sehen.

In der Gaststube riecht es nach italienischen Gewürzen. Samstags ist Pizza-Tag. Natürlich alles vegan. Der Laden ist gut gefüllt. Sogar ein paar Einheimische sind da. Und eine Familie mit dunkler Haut. Die Mutter trägt Kopftuch. Sowas hat Seelendorf schon lange nicht mehr gesehen. Sigi entdeckt mich und kommt gleich rüber:

„Christian! Willst du zum Chef?“, sie deutet auf die Planungsunterlagen unter meinem Arm.

„Ja, aber das hat Zeit. Erstmal würde ich gern was essen.“

„Schau, da hab ich einen Tisch für dich. Ich bring dir gleich die Pizza-Karte. Und eine Mango-Schorle?“

„Gern.“

Weil ich relativ spät dran bin, ist die Gaststube fast leer als ich aufgegessen habe. Nur die dunkelhäutige Familie ist noch da und ein paar einzelne Gäste die nicht von hier sind. Sigi setzt sich zu mir.

„Schaust a die ganze Zeit nüber, oder?“

Sie deutet mit dem Kopf zu der Familie.

„Sieht man hier nicht oft ...“

„Die san aus Syrien, stell dir des vor! Sie ham im Krieg ihr Haus verloren und zwei Tanten und die Großeltern. Da sind sie mit ihre vier Kinder geflohen. Erst waren sie in einem Flüchtlingscamp. Da ist ihr Bub an einer Lungenentzündung gestorben. Dann waren sie in Ungarn, wie im Gefängnis. Die Kinder waren in einem Waisenhaus, die Eltern eingesperrt. Die Mutter hat dort wieder ein Kind bekommen, das haben sie ihr gleich nach der Geburt weggenommen. Sie hat es erst nach vier Wochen wieder gesehen! Stell dir des mal vor!“

Sigi hat Tränen in den Augen. Ich weiß, dass sie damals ihr eigenes Kind nach der Geburt nicht gesehen hat weil es gleich in eine Neugeborenenklinik verlegt werden musste.

„So ein Glück, dass die Familie jetzt bei uns in Seelendorf angekommen ist. Hier is es doch echt paradiesisch“, findet sie. „Und mir ham so viel Wohlstand zum Teilen.“

„Du hast echt a gutes Herz, Sigi.“

Sie tätschelt kurz meine Hand.

„So, jetzt hol i dir an Chef.“

„Danke.“

 

Severin setzt sich neben mich und lächelt mich so verliebt an, dass ich Angst habe, jemand braucht ihm nur ins Gesicht zu schauen und weiß, was los ist.

„Hallo, mein Lieber.“

„Severin, das ist ein Arbeitstreffen“, lächle ich.

Unter dem Tisch spüre ich seine Hand auf meinem Oberschenkel.

„Kommst du nachher mit zu mir?“

„Wenn du versprichst, jetzt sachlich zu bleiben?“

Er räuspert sich, macht ein ernstes Gesicht und nimmt seine Hand weg.

„Okay, Herr Berger. Dann zoangs a moi her.“

„Wow, es spricht Bayerisch.“

„Freilich, i bin doch do dahoam“, grinst er.

Mich schüttelt es. Severin und Bayerisch sprechen, das passt einfach nicht zusammen.

 

Wir schaffen es, eine halbe Stunde lang konzentriert die Sitzung vorzubereiten. Dann bekomme ich noch einen Obstsalat während Severin mit der syrischen Familie spricht. Sigi setzt sich wieder zu mir.

„Der Chef is scho a guader Mensch. Ich wünsch eich, dass des klappt im Gemeinderat. Mei Mutter würd do dann a einziehen. Dahoam hob ich koan Platz für sie. Des wäre also ideal hier.“

„Ich glaub, wir haben alles gut vorbereitet. Das Landratsamt steht a hinter uns. Werd scho werden.“

Die Syrer gehen. Die Gaststube ist leer, Sigi deckt die Tische noch frisch ein. Ich sammle meine Pläne und Unterlagen zusammen und Severin wischt den Boden. Inzwischen trägt er wieder nur noch seine Leinenhose.

„Christian?“ Sigi setzt sich neben mich.

„Hm?“, mache ich erschrocken, weil sie mich aus Gedanken gerissen hat.

„Wie geht’s deiner Frau?“

Es klingt nicht wie eine Frage. Deshalb schau ich sie irritiert an.

„Ich seh, wie du schaust.“

„Was?!“, mache ich und werde rot.

„Ich hab gesehen, wie du den Chef angeschaut hast. Ich hob des hier noch koam erzählt, aber mei Bub, der studiert ja in Wien. Und der is schwul, also ...“

„Was? Das … okay, warum erzählst du mir das jetzt?“

„Weil du wissen sollst, dass du mit mir reden kannst, wennst mogst.“

Sie steht unsicher auf, ist wohl doch nicht ganz so überzeugt, dass sie richtig geraten hat.

„Warte. … Danke, Sigi.“

„Sollen wir einen Kaffee zusammen trinken?“

„Ja, das wäre gut. Aber nicht jetzt, ein anderes Mal.“

„Guad“, nickt sie. „Dann bin ich jetzt fertig und fahr zu meiner Mutter ins Heim.“

 

Ich winke Severin rüber. Er setzt sich zu mir.

„Darf ich dich jetzt endlich küssen?“

„Unbedingt. Aber dann müssen wir reden.“

Er küsst mich viel zu kurz. Dann schaut er mich fragend an. Ich erzähle ihm alles, was gestern passiert ist. Er hält meine Hand ganz fest.

„Und dann hat sie das Kind und ihre Koffer genommen und ist mit ihrem Vater weggefahren.“

Er kaut auf seinem Daumennagel und überlegt, was er sagen soll.

„Christian, ich glaub sie hat recht. Die Sache mit der offenen Ehe hast du nicht aus Überzeugung vorgeschlagen, sonder weil du sie nicht verlieren wolltest. Ich glaub nicht, dass das bei dir klappen könnte.“

„Aber du verlangst doch das gleiche von mir.“

„Was meinst du?“

„Du willst doch auch eine offene Beziehung mit mir.“

„Ja, aber ich bin anders gestrickt als du.“

„Trotzdem bin ICH dann in einer offenen Beziehung.“

„Und das willst du nicht?“

„Ich nehme das hin, weil ich dich nicht verlieren will. Genau wie bei Franzi.“

„Milla und ich werden uns nicht trennen. Niemals. Aber für alle anderen Menschen ist unsere Beziehung nicht offen wenn du das nicht willst.“

„Du meinst, auf andere Kerle könntest du verzichten?“

„Ja“, antwortet er bestimmt.

„Und was ist mit Eugen?“

„Eugen ist ein Sonderfall. Er gehört zur Familie ...“

„Gibt es noch mehr Sonderfälle?“

„Nein.“

„Okay, damit kann ich, denk ich, leben.“

„Gut. Da ist noch etwas“, erklärt er ernst.

„Hm?“

„Ich weiß, du wirst Zeit dafür brauchen. Aber ich möchte nicht verstecken, dass ich mit dir zusammen bin.“

Ich nicke. Ich wusste, dass das kommt.

„Ich werde dafür wirklich eine Weile brauchen“, gebe ich zu.

„Das verstehe ich. Aber wenn das Paradies steht, dann möchte ich, dass du dort als mein Christian anziehst. Ganz offiziell.“

„Der Plan ist, dass es je nach Witterung im November schon bezugsfertig ist.“

„Ja. Vier Monate. Schaffst du das?“

„Ich denke schon. Auch wenn mir das eine Heidenangst einjagt.“

„Ja, aber denk mal dran, was das bedeutet. Diese Freiheit. Wir können spazieren gehen. Wir können zusammen im Garten sein. Wir können zusammen zu Festen gehen. Wir werden nichts mehr heimlich tun müssen.“

„Ja, das … das wird sicher schön. Aber ich mache mir Sorgen um die Firma. Vielleicht bekomme ich keine Kunden mehr. Und vielleicht werden wir beschimpft. Vielleicht wollen sie mich nicht mehr im Gemeinderat haben.“

„Vielleicht. Aber wenn, dann stehen wir das durch. Gemeinsam. Ich bin bei dir, Christian.“

Ich kann mein Glück gar nicht fassen. Ich schaue in das Gesicht eines schönen, besonderen, guten Mannes. Und er lächelt mich verliebt an. MICH! Er meint wirklich MICH. Mit allen Schwächen und Fehlern. Bei ihm muss ich mich nicht verstellen. Ich muss mich nie mehr verstellen. Ich bin frei!

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