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Chinese Food

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Informationen

Vorwort

Hallo ihr Lieben,

die folgende Geschichte handelt von Freundschaft und Liebe und davon, krank zu sein und am Leben mit aller Kraft festhalten zu wollen.

In einem kleinen Teil der Geschichte wird über den Selbstmord eines Bekannten geredet. Deshalb möchte die Nickstories-Redaktion vorsichtshalber ihr Vorwort zum Thema Suizid vor der Story haben. Ich finde es super, dass das Team sich seiner Verantwortung bewusst ist und auch gleich Hilfsangebote vermittelt. Darum hier das Vorwort:

Vorwort der Redaktion

Liebe Leser,

die folgende Geschichte befasst sich unter anderem mit der Thematik Suizid. Dies ist ein sensibles Thema, das Nickstories.de nicht unkommentiert lassen kann und will. Deshalb haben wir uns entschieden diese Geschichten generell mit einem Vorwort zu versehen.

Für uns ist dieses Thema in Stories kein Tabu, aber wir wollen deutlich machen, dass Selbstmord mit Sicherheit kein Weg ist, um ein Problem zu lösen. Jeder, der sich in einer scheinbar aussichtslosen Lage befindet, sollte wissen, dass er Hilfe finden kann.

Wenn du jemanden kennst, der über diesen Schritt nachdenkt oder ihn geäußert hat, solltest du das nicht auf die leichte Schulter nehmen und versuchen mit dieser Person zu reden. Erst dann wird deutlich, wie ernst die Lage wirklich ist.

Wenn du über Selbstmord nachdenkst, bitten wir dich, Kontakt mit einer Hilfseinrichtung aufzunehmen, bevor du etwas tust, das für deine Freunde und deine Familie ein unwiederbringlicher Verlust sein wird.

Informationen und Notrufnummern findest du z.B. unter: www.telefonseelsorge.de

 

Dass ich nicht so mies aussah, wie ich mich fühlte, zeigte mir der Spiegel des Waschraums meines Lieblingsasiaten. Mein halblanges Haar war leicht verworren, aber das hätte auch Absicht sein können. Eine Rasur war vielleicht mal wieder fällig. Meine Augen waren glasig, aber nicht blutunterlaufen. Etwas blass war ich um die Nase, aber da es Sommer war, verdeckte die Sonnenbräune das gut. Ich spritzte mir noch etwas Wasser ins Gesicht und ging zurück auf meinen Platz, um meine Traubenschorle auszutrinken und zu bezahlen. Tja, dass ich das ganze Thai-Curry wieder in ihre Toilette erbrochen hatte, würde die Kellnerin bestimmt nicht davon abhalten, die sechs Euro für das Mittagsmenü zu kassieren. Seit der letzten Chemo saß ich jeden Tag in dem China-Restaurant am Buffet und aß Reis mit etwas roter Currysoße. Etwas anderes brachte ich nicht runter und heute hatte ich nicht mal das bei mir behalten können.

Den Nachmittag verbrachte ich, wie immer, auf der Terrasse meines Elternhauses. Hier war ich vor drei Monaten, nach der Diagnose, wieder eingezogen. Immodium Akut und eine Flasche Mineralwasser halfen mir über den Tag. Es war ein schlechter Tag. Die häuften sich derzeit.

Wie eigentlich täglich weckte meine Mutter mich gegen fünf, ich war mal wieder in der Sonne eingeschlafen. Sie versuchte, mich zum Essen zu bewegen, gab auf, als ich den Würgereflex beim Anblick ihrer Hausmannskost kaum noch unterbinden konnte, ließ mir ein heißes Bad ein und verschwand in ihrem Schlafzimmer.

Für mich konnte zurzeit nichts heiß genug sein. 28 Grad im Schatten und ich brauchte trotzdem das heiße Bad, um die Kälte aus meinen Knochen zu vertreiben. Ich fühlte mich unglaublich alt, gar nicht wie 22. Waren tatsächlich erst drei Monate vergangen, seitdem der Arzt mir eröffnet hatte, dass sich an meiner Leber ein Tumor eingenistet hatte? Bis dahin war meine größte Sorge die Vordiplom-Prüfung gewesen, die meine Kommilitonen letzten Monat ohne mich abgelegt hatten. Eigentlich hatte ich geplant, ab Ende September ein Semester in London zu verbringen. Wohl eher nicht. Nach zwei Sechserzyklen Chemo zeichnete sich ab, dass es ohne OP wohl doch nicht funktionieren würde. Also sollte ich erst mal wieder zu Kräften kommen (was nicht so leicht war, wenn man nichts bei sich behalten konnte) und mich dann aufschneiden lassen. Meine Freundin war ich zu allem Überfluss auch los. Selbst Schuld, wenn man sich auf eine BWLerin einlässt, aber ich hatte halt nun mal als Muster-Student die meiste Zeit in der Uni verbracht und demzufolge waren die meisten Frauen, die ich kennengelernt hatte, aus meinem Studiengang. Ja, auch ich hatte mich für BWL entschieden. Ich war eben hinter der dicken Kohle her. Medizin war nichts für mich und auf Jura hatte ich irgendwie auch keinen Bock. Da war Betriebswirtschaft nahe liegend. Hatte auch alles wunderbar funktioniert. Ich hatte schon ein paar Praktika in großen Unternehmen hinter mir, mit Zahlen konnte ich schon immer gut umgehen und gegen eine 60-Stunden-Woche hatte ich eigentlich auch nichts einzuwenden gehabt. Jetzt war alles anders. Meine Familie war wie verwandelt. Meine Mutter war plötzlich zur Glucke mutiert, mein Vater kam sogar ab und an vor sieben aus dem Büro, meine Schwester besuchte uns oft am Wochenende, mein kleiner Bruder war nett zu mir. Ich musste wohl todkrank sein oder so. Jetzt saß ich hier rum und langweilte mich den ganzen Tag. Seit drei Monaten! Die einzige Abwechslung waren meine kleinen Ausflüge zum Asiaten, die ich seit dem Ende der letzten Chemo vor zwei Wochen jeden Tag unternahm.

Am nächsten Tag eine Veränderung in meinem Trott! Ein neuer Kellner. Recht jung, Asiate, wie alle hier. Vergleichsweise groß, sehr freundlich und bemüht, nicht zu aufdringlich, nettes Lächeln, und hat zur Abwechslung mal keine Schwierigkeiten, mich zu verstehen. Das wenige, das er redet, spricht er dialektfrei. Da ich immer am gleichen Tisch sitze, bedient er mich ab sofort jeden Tag. Bald sind wir ein eingespieltes Team. Er weiß, was ich bestelle, und dass ich nach einer halben Stunde die Rechnung will. Kein Nachschenken oder sonstige Extras.

Ist es normal, dass ich vier Wochen nach der Chemo mitgenommener war als unmittelbar danach? Ich entschloss mich, trotzdem zum Asiaten zu gehen. Langsamer als sonst, aber rauskommen aus der Bude musste ich einfach einmal am Tag.

Das erwies sich als Fehler. Der Essensgeruch bekam mir nicht besonders gut. An der Türe machte ich sofort kehrt und kotzte in die Ziersträucher neben dem Eingang.

„Alles okay?“

Da stand doch tatsächlich mein Kellner hinter mir, allerdings in ziviler Kleidung und mit einer Umhängetasche um die Schultern.

„Geht schon wieder…“

„Also an unserem Essen kann’s nicht liegen. Du warst ja noch nicht drin.“

Das rang mir ein Lächeln ab. Er sprach tatsächlich total ohne Dialekt.

„Kann ich dich irgendwo hinfahren? Nach Hause? Zu einem Arzt?“

„Danke, ich komm klar …“

„Sag das nicht aus falscher Höflichkeit. Ich hab grad eh nichts zu tun. Hab Schluss für heute.“

„Also vielleicht wäre es doch besser, wenn du mich heimfährst. Ich fühl mich irgendwie ziemlich wacklig auf den Beinen.“

„Okay, mein Auto steht gleich da hinten.“

„Bist du überhaupt schon alt genug dafür?“

„Hey Vorsicht, ich werde nächsten Monat 19.“

Fünf Minuten später setzte er mich zu Hause ab und ich bedankte mich höflich.

Am nächsten Tag musste ich meinen Besuch im Restaurant ausfallen lassen und stattdessen meinen Arzt aufsuchen. Der konnte auch nicht viel mehr machen, als mir ein paar Pillen aufschreiben. In zwei Wochen sollte ich wieder vorbei schauen, dann würde das mit der OP entschieden werden. Wenn ich Pech hatte, bekam ich nochmal einen Sechserzyklus, diesmal stationär.

„Hallo. Einmal Buffet und, Achtung, jetzt kommt’s: Eine Apfelsaftschorle bitte.“

„Wow, du bist ja wirklich unberechenbar. Warum keine Trauben mehr?“

„Öfter mal was neues.“

„Geht es dir besser?“

„Etwas.“

„Soll ich dir deinen Reis mit roter Curry-Sauce bringen?“

„Du weißt sogar, was ich mir vom Buffet hole?“

„Ja und ich muss dir sagen, du nutzt unser Angebot nicht wirklich aus. Wenn es dir wieder gut geht, musst du mal richtig zuschlagen.“

Hm, wann das wohl sein würde? Er brachte mir eine Schüssel Reis und eine Schüssel Soße.

„Sag Bescheid, wenn du noch was brauchst.“

„Das nenn ich echt mal Service. Danke.“

„Nur für Stammgäste.“

Er zwinkerte mir zu und kümmerte sich wieder um die anderen Gäste.

Nach einer halben Stunde kam er zu mir.

„Na, willst du dir Rechnung?“

„Acht Euro zehn?“

„Weißt du, du musst kein ganzes Buffet bezahlen. Gib mir nen Fünfer, das passt schon.“

„Und was ist mit Trinkgeld?“

„Das ist okay, echt. Du wirst ja arm, wenn du jeden Tag zehn Euro hier lässt.“

„Und du wirst arm, wenn du jedem 50% Rabatt gibst.“

„Nicht jedem, nur Stammgästen, die jeden Tag kommen. Wenn du noch wartest, bis ich eine Kleinigkeit gegessen habe, dann kann ich dich wieder nach Hause bringen.“

„Du isst hier?“

„Klar. Das ist wohl die beste Werbung für den Laden. Ich weiß genau, was in der Küche vor sich geht und esse trotzdem gern hier. Also wartest du auf mich?“

„Sicher.“

Er löffelte eine Suppe und dippte ein paar Wan Tans rein. Ich rümpfte die Nase.

„Hey, das schmeckt toll. Willst du kosten?“

„Na ich weiß nicht…“

„Bist du Vegetarier oder so?“

„Nein, aber in Suppe dippen…?“

„Da ist süß-sauer-Soße drin, nur verdünnt. Hier, probier schon.“

Na gut, zugegeben, das schmeckte wirklich nicht übel.

„Also, isst du morgen doch wieder das Buffet? Inklusive Vorspeisen?“

„Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee wäre. Euere Ziersträucher da draußen haben bestimmt schon genug von meinem Mageninhalt gesehen…“

Er lachte, stopfte sich das letzte Wan Tan in den Mund und stand auf.

„Dann lass uns verschwinden, hm?“

Er verabschiedete sich noch kurz auf … einer asiatischen Sprache von der Frau am Empfang und schon saßen wir im Auto.

„Du bist der erste, den ich hier näher kennenlerne. Ich bin erst vor zwei Wochen hergezogen.“

„Woher kommst du eigentlich?“

„Aus der Nähe von München.“

„Nein, ich mein, wo bist du geboren?“

„In München.“

„Nein, ich meine… hm… Wie heißt du denn zum Beispiel?“

„Josef.“

„Nicht dein Ernst!“

„Nein, aber das sag ich immer, wenn jemand einfach nicht glauben kann, dass ich aus München komme.“

„Verstehe. Aber du hast ja vorher auch eine andere Sprache gesprochen.“

„Ja, das stimmt. Aber davon kann ich nur ein paar Brocken. Das war Indonesisch.“

„Also kommen deine Vorfahren nicht aus Indonesien?“

„Nein, aus China.“

„Danke, das war alles, was ich wissen wollte.“

„Und was fängst du jetzt mit der Info an?“

„Bist du irgendwie angepisst deswegen?“

„Woher kommen denn deine Vorfahren?“

„Ähm… keine Ahnung… ein paar aus Österreich, ein paar aus der Tschechei…“

„Und, beeinflusst dich das irgendwie?“

„Nein, aber du arbeitest in einen China-Restaurant.“

„Touché.“

„Und wie heißt du nun?“

„Dayu.“

„Dayu. Hört sich schön an. Kann man auch gut sagen. Ich mag dunkle Vokale.“

„Und du?“

„Marc.“

„Kurz und prägnant. Nicht übel.“

„Na ich weiß nicht…“

„Hier wohnst du, richtig?“

„Ah, ja, das ging jetzt schnell…“

„Sehen wir uns morgen?“

„Höchst wahrscheinlich. Und vielleicht überrasche ich dich und bestell eine Cola.“

„Das würde mein Weltbild zerschmettern.“

„Danke für’s Fahren.“

„Gern geschehen. Liegt auf dem Weg. Bis morgen.“

„Bis morgen.“

Das war nett. Und meinem Magen ging es auch passabel. Ich war guter Dinge und beantwortete endlich ein paar e-Mails von Kommilitonen, was ich schon lange vor mir her geschoben hatte.

„Na, was darf’s sein?“

„Buffet und … Traubensaftschorle.“

„Hm, wie wäre es mit Mango-Schorle?“

„Die gibt’s?“

„Klar, hast wohl schon lange keinen Blick mehr in die Karte geworfen, hm?“

„Wozu auch?“

„Stimmt. Also, Vorspeise gefällig?“

„Das lass ich lieber. Ich hol mir mein Zeug schon.“

„Geht’s deinem Magen immer noch nicht besser? Vielleicht solltest du mal zum Arzt gehen?“

Tja, was sollte ich darauf sagen?

„Danke für den Tipp…“

„Was hältst du von Gesellschaft beim essen? Ist eh nicht mehr viel los … also, nur wenn du nicht lieber allein bist…“

„Seh ich so eigenbrötlerisch aus?“

„Eigentlich nicht…dann hol ich mir mal was.“

Diesmal gab’s Frühlingsrollen mit Knoblauchsoße und gebratenem Reis.

„Malzeit.“

„Gleichfalls.“

Wir aßen relativ schweigend. Dann gab er sein Geld ab, verabschiedete sich auf indonesisch von der Empfangsdame und schon saßen wir wieder bei ihm im Auto.

„Auf den Weg wohin liegt mein Haus eigentlich?“

Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass er erstmal nicht wusste, was ich meinte. Aber er lächelte.

„Zu meinem Dojo. Karate.“

„Du machst aber viele asiatische Sachen…“

„Aber Karate ist nicht chinesisch, sondern…“

„Japanisch, ich weiß. Ich hab auch mal dort trainiert. Recht lange sogar.“

„Ja? Welche Stufe?“

„Vierter Kyu.“

„Nicht übel. Vielleicht können wir ja mal einen Übungskampf machen, wenn du wieder fit bist.“

„Ja, mal sehen…was für ne Farbe hast du?“

„Braun. 3. Kyu.“

„Echt? Damit bist du hier wohl einer der jüngsten.“

„Ja, stimmt. Also, wenn du Lust hast, mitzukommen…“

„Ein anderes Mal gerne.“

„Cool. Wie lang hast du bei Thorsten trainiert?“

„Seit ich 12 war, bis zum Abi vor drei Jahren. Also sieben Jahre.“

„Dann bist du jetzt 22?“

„Im Kopfrechnen bist du schnell.“

„Bringt der Job so mit sich. Ich konnte dein Alter überhaupt nicht schätzen.“

Ich wusste, was er meinte. Bei den Augenringen hätte ich auch schon an die 30 sein können…

„Naja, dann sehen wir uns also morgen?“

Das machten wir eine Woche lang jeden Tag. Langsam fühlte ich mich wieder besser.

„Kommst du heute mal mit ins Dojo?“

„Auf einen Sprung vielleicht…“

„Sehr schön. Thorsten freut sich auch schon, dich mal wieder zu sehen. Du warst wohl einer seiner Lieblingsschüler.“

„Ich hab halt immer fleißig an den Prüfungen teilgenommen und auch mal das Kindertraining geleitet. Aber durch das Studium musste ich wegziehen und hatte auch nicht mehr die Zeit.“

„Was studierst du denn?“

„BWL.“

„Echt wahr? Würg. Hätte ich dir gar nicht zugetraut…“

„Hm, danke, glaub ich…“

„Und dann sitzt du später mal in der Chefetage eines riesigen Konzerns, feuerst 2000 Mitarbeiter und verlagerst den Firmensitz nach China?“

„Mal abwarten…“

„Kommst du mit ner 60-Stunden-Woche klar?“

„Mal sehen… das hat ja alles noch Zeit.“

„Aber darüber hast du doch bestimmt nachgedacht, bevor du das Studium begonnen hast. Was ist mit den wirklich wichtigen Dingen? Oder geht’s dir nur um Kohle?“

„Hey, jetzt mal langsam, ja? Kannst du mit den Vorwürfen vielleicht warten, bis sie akut sind?“

„Was ist mit einer Beziehung? Ich meine, eine Woche hat 168 Stunden. 56 davon schläfst du schon. Bleiben noch 112. 32 davon am Wochenende. Bleiben 80. Also hast du unter der Woche nur 20 Stunden für dich, das sind vier am Tag. Und da kommt noch Dienstweg dazu, Besorgungen, und ob es tatsächlich bei 60 Stunden die Woche bleibt ist auch fraglich…“

„Du stehst echt auf Zahlen, hm?“

„Das ist nicht der Punkt. Wann willst du denn da noch leben? Das Leben ist kurz, weißt du?“

„Ja, verdammt, das weiß ich. Das brauchst du mir nicht erzählen!“ sagte ich viel lauter als nötig.

Er schaute mich erschrocken an und fuhr rechts ran.

„Du bist krank, oder? So richtig krank?“

Ich nickte.

„Was hast du?“

„Krebs.“

„Wirst du behandelt?“

Ich nickte.

„Also ist es heilbar?“

„Das stellt sich noch raus.“

„Es tut mir Leid.“

„Schon okay…“

„Kann ich irgendwas tun?“

„Das machst doch schon genug. Ich bin froh, dass ich mal raus komme, und dass ich irgendwas Essbares bei mir behalten kann.“

„Aber das reicht doch nicht… ich muss doch noch was tun können…“

„Hey, Dayu, wir kennen uns noch nicht lange und trotzdem kutschierst du mich jeden Tag durch die Gegend. Das ist mehr als genug.“

„Du verstehst das nicht. Ich will noch mehr für dich tun. Du bedeutest mir was. Ich kenn hier nicht viele Leute… ich bin gerne mit dir zusammen…Also, wenn ich noch mehr für dich tun kann…“

„Ich wohne wieder bei meiner Familie, da bin ich gut versorgt. Aber ab und an ein bisschen Ablenkung… vielleicht mal Kino oder so…“

„Heute Abend? Dienstags kostet es nur die Hälfte. Ich hol dich ab und lad dich ein. Du musst dich um nichts kümmern.“

„Aber eines musst du mir versprechen: Wenn es dir zu viel wird, dann sagst du es mir ehrlich. Ich bin dir dann nicht böse oder so.“

„Okay, das kann ich dir versprechen. Soll ich dich jetzt lieber zu Hause absetzten, weil es dir sonst zu viel wird?“

„Wäre vermutlich vernünftiger…“

Um sechs klingelte es. Ich hatte bis fünf geschlafen und fühlte mich sehr ausgeruht. Da stand Dayu, in weinrotem T-Shirt und olivgrüner Dreiviertelhose.

„Na, fühlst du dich fit?“

„Allerdings.“

„Hast du Rocky Balboa schon gesehen? Der würde nämlich tatsächlich noch laufen und ich bin immer noch nicht dazu gekommen.“

„Läuft der jetzt nicht schon bald ein halbes Jahr? Ich würd ihn jedenfalls gern anschauen.“

„Danke, Dayu, ich hatte echt einen tollen Abend.“

„Willst du noch ne Kleinigkeit essen?“

„Besser nicht.“

„Oder noch ein bisschen mit zu mir kommen. Ich hab einen PS2…“

„So? Hm… das wäre echt eine Überlegung wert…“

„Es sei denn, du bist zu müde oder so, das würde ich echt total verstehen…“

„Nein, mir geht’s gut.“

„Also zocken wir noch eine Runde?“

„Gern.“

Wir parkten vor einem Mehrfamilienhaus.

„Ich wohne ganz oben, dritter Stock. Schaffst du das?“

„Ganz so kaputt bin ich noch nicht…“

„Na gut.“

„Wohnst du hier alleine?“

„Ja.“

„In einer fremden Stadt?“

„Ja.“

„Das muss echt blöd sein.“

„Jetzt weißt du, warum ich so klammere.“

„Tust du doch gar nicht. Wenn es mir zu viel wird, sag ich’s dir schon.“

„So, willkommen in meiner bescheidenen Hütte.“

Zwei Zimmer, Küche, Bad, funktional eingerichtet, aber nicht kalt. Ab und an ein asiatischer Touch, einige Trainingsgeräte lagen rum. Ich ließ mich auf die nicht allzu große Couch plumpsen.

„Willst du was trinken?“

„Hast du irgendwelche Säfte da?“

„Traube oder Apfel?“

„Traube.“

„Warum frag ich eigentlich? Mit Sprudel?“

„Jep.“

„Also das Übliche, hm?“

„Genau.“

Dayu stöpsele seine PS2 an und ließ sich vor der Couch am Boden nieder. Wir fuhren Autorennen, warfen ein paar Körbe und am Ende verkloppten wir uns gegenseitig. Ich hatte echt Spaß und vergaß für ein paar Stunden, mich krank zu fühlen. Bis sich diese Kopfschmerzen anschlichen…

„Geht’s dir nicht gut?“

„Irgendwie dröhnt mein Schädel…“

„Ich mach das mal aus…“

Er dämpfte das Licht und setzte sich neben mich.

„Willst du ne Aspirin oder sowas?“

„Ich hab meine eigenen Pillen, aber dann werd ich immer so schläfrig…“

„Soll ich dich besser nach Hause fahren?“

„Ich hab noch keine Lust…“

„Übernimm dich nicht. Morgen ist auch noch ein Tag.“

„Trotzdem. Ich glaube es wird schon besser. Oder bist du müde?“

„Überhaupt nicht. Ehm… Marc?“

„Hm?“

„Darf ich was zu deiner Krankheit fragen?“

„Klar.“

„Was für Krebs?“

„Ein Tumor an der Leber.“

„Kann man den nicht wegschneiden oder so?“

„Ich hab übermorgen eine Untersuchung, da wird das festgestellt. Kann sein, dass ich noch mal eine Runde Chemo brauche…“

„Du hattest eine Chemo-Therapie?“

„Sogar zwei Zyklen.“

„Aber deine Haare…“

„Die fallen nicht bei jedem aus, und es kommt auch auf die Wirkstoffe an…“

„Aber wie stehen deine Chancen?“

„Mal sehen. Die Ärzte wollen sich da nicht festnageln lassen…“

„Und was kann bei der Untersuchung übermorgen rauskommen?“

„Entweder der Tumor ist operabel, dann komm ich so bald wie möglich unters Messer, oder die meinen, er muss nochmal mit Chemie behandelt werden, bevor ich unters Messer kann, dann komm ich am Montag für zwei Wochen in die Klinik und danach hab ich noch ein wenig Schonfrist. Dann gibt es noch die Möglichkeit, dass das Teil schon gestreut hat, dann war’s das.“

„Sag das nicht so beiläufig!“

„Aber so ist es nun mal…“

„Was ist mit einer Transplantation?“

„Ich bin auf der Liste, aber kein guter Kandidat…“

„Dann müssen sie das Teil eben wegschneiden, das kann doch nicht so schwer sein!“

„Viel bleibt dann eben von meiner Leber nicht übrig. Man muss sehen, wie viele große Blutgefäße da reinführen und so… Naja, ich muss eben abwarten, was übermorgen raus kommt.“

„Wie kannst du dabei bloß so gelassen bleiben?“

„Ich hab mich eben damit abgefunden, dass ich nichts tun kann…“

„Irgendwas kann man doch immer tun.“

„Kommst du mir jetzt mit Alternativ-Medizin? Chinesischer vielleicht?“

„Mach dich nicht über mich lustig!“

Sein Ton war mehr als gereizt, deshalb sagte ich lieber nichts mehr.

„Weißt du, Marc, scheinbar liegt dir nicht viel daran, dass du weiter lebst, aber mir schon.“

„Wie kannst du denn sowas sagen!? Ich bin schließlich der, der unter dem ganzen Scheiß zu leiden hat.“

„Und ich bin der, der zusehen muss, wie es dem Menschen, in den ich mich verliebt hab, schlecht geht!“

„Dayu?“

„Ja?“

„Ich bin nicht schwul.“

„Ist mir aufgefallen.“

„Ich hatte keine Ahnung, dass du … so… für mich empfindest.“

„Tut mir Leid, ich hätte dich nicht auch noch mit meiner Scheiße belasten sollen. Ich will dein Freund sein, das ist mir das Wichtigste. Vergiss den Rest einfach.“

„Aber…“

„Lass uns morgen darüber reden, ja? Ich bring dich nach Hause.“

Auf der Heimfahrt schwieg er eisern. Wie man sich vorstellen kann, schlief ich in dieser Nacht nicht besonders gut. Ich mochte Dayu, sehr sogar. Ja ich wünschte mir fast, schwul zu sein. Es wäre bestimmt toll, mit ihm eine Beziehung zu führen. Aber ich war nun mal nicht schwul. Ich konnte mir nicht vorstellen, auf diese Art mit ihm zusammen zu sein. Aber ich verbrachte gern Zeit mit ihm. War das fair ihm gegenüber? Sollte ich nicht lieber den Kontakt abbrechen, um ihm keine weiteren Hoffnungen zu machen? Aber in den letzten eineinhalb Wochen war es mir so gut gegangen wie schon lange nicht mehr. War das nicht schrecklich egoistisch? Andererseits, ich hatte Krebs. Durfte man da nicht ein wenig egoistisch sein?

Ich entschied mich, am nächsten Tag wieder ins Restaurant zu gehen. Ohne zu fragen, knallte er mir die Traubensaftschorle hin.

„Viel los. Selbstbedienung.“

Also trottete ich zum Buffet. Während ich aß, sah ich Dayu dabei zu, wie er von Tisch zu Tisch hetzte und die Leute (außer mir) ständig fragte, ob er ihnen noch etwas bringen konnte. Einige wirkten schon leicht genervt. Er wollte also beschäftigt wirken, um sich nicht mit mir auseinandersetzen zu müssen. Aber warum? Wäre das nicht mein Part? Nach einer halben Stunde brachte er mir die Rechnung. Ich bezahlte, blieb aber sitzen. Er schaute immer wieder irritiert zu mir rüber, immer noch bemüht, beschäftigt zu wirken, was zunehmend schwerer wurde, da nur noch drei Tische besetzt waren. Ich winkte ihn zu mir rüber, er verdrehte die Augen und stapfte herbei.

„Nachspeise?“ fragte er sarkastisch.

„Reden.“

„Nicht hier.“

„Nimmst du mich mit zu dir?“

Er nickte und holte seine Sachen. Ein paar Minuten später stand er aufbruchbereit bei mir am Tisch.

„Willst du nichts essen?“

„Kein Appetit.“

„Können wir dann zu dir?“

Er nickte und ich folgte ihm schweigend.

Erst beim Aufsperren seiner Wohnungstür durchbrach er das Schweigen.

„Am besten du vergisst einfach, was ich gestern gesagt habe.“

„Das wäre am einfachsten für mich, aber nicht für dich. Bist du wirklich in mich verliebt? So richtig?“

„Marc…“

„Sag schon. Keine Schwärmerei oder so?“

„Nein, mich hat es echt erwischt.“

„Aber du weißt, dass ich das nicht erwidern kann, oder? Selbst wenn ich wollte.“

„Du bist hetero, das weiß ich. Hab’s mir nicht so ausgesucht.“

„Wie soll ich damit umgehen? Was macht es dir am leichtesten? Soll ich besser auf Abstand gehen, oder…“

„Nein! Ich will Zeit mit dir verbringen.“

„Aber wenn du denkst, dass…“

„Denk ich nicht. Du hast deinen Standpunkt klar gemacht.“

„Dann können wir einfach Freunde sein?“

„Ja.“

„Gut. Ich mag dich nämlich wirklich. Und du tust mir gut.“

„Das freut mich.“

„Ich bin dir echt dankbar und fühl mich wirklich geschmeichelt…“

„Jetzt hör auf, so perfekt zu reagieren. Das macht es mir nicht gerade leichter…“

„Sorry. Soll ich lieber einen auf Arsch machen?“

„Keine Ahnung, nein… nur normal halt. Wie ein normaler Mensch…“

„Ich bin ein arbeitswütiger BWLer, mit mir im Normalzustand hättest du nicht viel Freude.“

„Stimmt. Du, willst du mit ins Dojo? Ich muss doch trainieren…“

„Ja, dann genieß ich es, dir ein wenig beim Schwitzen zuzusehen… also, du weißt schon.“

„Ja, ich weiß. Werd nicht eigenartig, ja?“

„Okay, sorry…“

„Und noch was… da weiß keiner Bescheid, also…“

„Meine Lippen sind versiegelt.“

Thorsten freute sich riesig, mich zu sehen, auch wenn er mich mit Seitenblicken musterte. Ich sah nicht mehr aus wie damals. Ich hatte über 15 Kilo abgenommen. Ein paar der Kiddies aus meinem Kindertraining waren auch da und schauten Dayu und einem anderen bei ihrem Übungskampf zu. Thorsten nahm mich in einem ruhigen Moment bei Seite.

„Was ist los mit dir, Marc? Bist du krank? Du nimmst doch nicht etwa Drogen?“

„Nein. Was medizinisches, aber ich bin gut versorgt. Das wird schon wieder.“

„Okay. Sag mir, wenn ich was tun kann. Und ich hoffe echt, dass du mal wieder vorbeikommst. Dayu macht sich gut, hm?“

„Allerdings.“

„Ist ja auch kein Wunder, bei dem Vater.“

„Häh?“

„Sag bloß, du weißt das nicht! Dai Feng Liu, sagt dir das was?“

Klar sagte mir der Name was. Das war ein Meister, der in den späten 80ern so ziemlich alle großen Wettkämpfe gewonnen hatte und jetzt eine Karate-Schule in München betrieb. Moment mal.

„Du meinst…?“

„Dayu Liu. Die Namensgleichheit ist kein Zufall.“

„Krass.“

Da kam der Junior auch schon:

„Hey, ich geh noch schnell duschen, bin gleich bei dir.“

„Alles klar, Xiao Liu.“

„Du hast es rausgefunden, hm?“

„Warum hast du nichts gesagt?“

„Lange Geschichte…“

Bei sich zu Hause erzählte er mir dann davon. Nachdem er seiner Familie gesagt hatte, dass er auf Jungs steht, war so ziemlich alles in die Brüche gegangen. Deshalb war er auch weggezogen, alleine, hier her, um im Restaurant einer befreundeten Familie zu jobben und sein letztes Schuljahr anzutreten. Er hatte keinen Kontakt zu seinen Eltern und wollte eigentlich auch nicht mehr den Namen seines Vaters benutzen. Deshalb hatte er mir nichts davon erzählt und deshalb saß er jetzt mit Tränen in den Augen neben mir auf der Couch. Verstohlen wischte er sich über’s Gesicht. Ich wollte ihn in den Arm nehmen.

„Nicht. Tu das lieber nicht.“

„Warum?“

„Weil ich dich dann küssen muss und ich nicht noch mehr Ärger brauchen kann.“

„Tut mir Leid…“

„Vielleicht sollte ich dich jetzt heim bringen…“

„Wenn du meinst.“

„Wir sehen uns ja morgen…“

„Eigentlich… also, das werde ich wohl nicht schaffen. Ich hab ja diesen Arzttermin…“

„Oh mein Gott, dass hab ich ja total vergessen! Und ich labere dich hier mit meinen Problemchen zu. Tut mir Leid. Wie geht’s dir? Kann ich was tun? Wann bekommst du die Ergebnisse?“

„Ganz okay, vorerst nicht, gleich morgen.“

„Soll ich dich abholen?“

„Meine Mutter kommt mit.“

„Willst du mich danach sehen?“

„Kommt drauf an was rauskommt.“

„Dann rufst du mich an?“

„Kommt auch drauf an was rauskommt.“

„So geht das nicht, Marc. Du kannst mich nicht bis übermorgen schmoren lassen. Ich will bei dir sein, bitte.“

„Okay, dann ruf ich dich auf jeden Fall an.“

„Willst du noch drüber reden?“

„Ich will eigentlich nur noch schlafen, damit die Zeit schneller vergeht.“

„Es tut mir Leid, Herr Steinmann, aber wir werden wohl noch einmal in die Chemo-Therapie gehen müssen. Danach muss man weiter sehen.“

Meine Mutter begann sofort zu schluchzen. Das war genau, was ich befürchtet hatte. Noch mehr Tortur ohne Garantie. Noch mehr hoffen und bangen. Ich wollte endlich Bestimmtheit. Das schlimmste, was ich mir vorstellen konnte, war diese Ungewissheit. Ich wollte mich endlich darauf einstellen können, was mit mir passieren würde. Und dass meine Mutter so heftig reagierte, machte es nur schlimmer. Deshalb rief ich Dayu an.

„Hey, kannst du mich vielleicht doch abholen?“

„Ja sicher, ich bin in einer viertel Stunde am Haupteingang.“

„Danke.“

„Wen hast du angerufen, Schatz?“

„Einen Freund. Er holt mich ab. Ich will es noch ausnutzen, dass es mir gut geht.“

„Welchen Freund? Jens? Dominik?“

„Ein neuer, du kennst ihn noch nicht.“

„Er passt aber auf dich auf, oder?“

„Ja natürlich. Wir sehen uns zu Hause, ja?“

„Klopf kurz, wenn du heim kommst.“

„Ich bin keine 16 mehr…“

„Tu mir den Gefallen…“

„Na schön.“

„Hallo.“

„Hey, und?“

„Wollen wir noch kurz spazieren gehen?“

„Klar…“

Ich führte ihn zur klinikeigenen Grünanlage.

„Also, noch kann ich nicht operiert werden. Der Arzt meint, ich soll vorher nochmal in die Klinik und eine dritte Chemotherapie starten.“

„Oh, okay… das ist weder ganz gut, noch ganz schlecht, oder?“

„Das ist nur ganz anstrengend.“

„Ich bin für dich da. Das sag ich nicht bloß so. Jederzeit, Tag und Nacht.“

„Ich werde ab Montag zwei Wochen in der Klinik sein und danach wird mit mir auch nicht viel anzustellen sein. Da muss ich alleine durch.“

Er legte tatsächlich einen Arm um meine Taille.

„Nein, musst du nicht. Ich werde dich jeden Tag besuchen und dich ein wenig ablenken. Ich würde es zwei Wochen ohne dich sowieso nicht aushalten.“

„Hör mal, ich werde in echt schlechter Verfassung sein…“

„Ich hab dich schon kotzen sehen, Marc.“

„Ja, aber das war noch gar nichts. Ich will eigentlich nicht, dass jemand mich so sieht.“

„Nicht mal deine Eltern?“

„Nicht mal die.“

„Du wirst mich nicht los.“

„Aber…“

„Nein, nichts aber. Und jetzt lass uns zu mir fahren und einen schlechten Film anschauen, über den wir uns das Maul zerreißen können. Hast du gegessen?“

„Gestern…“

„Dann holen wir noch rotes Curry.“

„Hattest du einen schönen Nachmittag?“ fragte er mich, als sein Auto vor meinem Haus parkte.

„Den besten. Danke.“

„Ich liebe deinen Sinn für Humor.“

„Du bist der Einzige, der ihn versteht.“

Er schaute mich für einen Moment so seltsam an, aus seinen dunklen Mandelaugen. Ich dachte schon, er würde versuchen, mich zu küssen. Aber das tat er nicht. Er wandte seinen Blick einfach wieder ab. Das alles war bestimmt nicht leicht für ihn, aber er beschwerte sich nicht.

„Morgen?“ fragte er.

„Morgen.“

Noch drei Tage hatte ich, bevor ich in der Klinik erscheinen musste, und die gedachte ich auch zu nutzen. Dayu nahm sich frei und ich quartierte mich bei ihm ein. Kirmes, Kino, rotes Curry, verdammt, plötzlich war es Sonntagnachmittag und ich musste nach Hause, um zu packen. Das schlimmste war der Blick, mit dem er mich ansah, als wir uns im Auto verabschiedeten. Gott, wenn ich so einen Blick jemals von meiner Ex bekommen hätte, wäre ich der glücklichste Mann auf Erden gewesen. Ich konnte das nicht so weiter gehen lassen. Ich wollte ihn nicht noch unglücklicher machen.

„Dayu?“

„Ja?“

„Besuch mich nicht. Ich verbiete es dir.“

„Vergiss es.“

„Ich will nicht, dass du mich besuchst. Ende.“ sagte ich laut und deutlich.

„Aber…“

„Nichts Aber! Halt dich fern!“

Tränen. Oh nein, bitte keine Tränen!

„Warum sagst du sowas? Warum willst du mich nicht bei dir haben?“

„Nicht weinen, bitte.“

„Warum stößt du mich weg? Was hab ich denn falsch gemacht?“

„Nichts! Natürlich nicht! Du machst alles richtig! Genau deshalb will ich ja nicht, dass du verletzt wirst!“

Er blinzelte ein paar Tränen weg und schaute mich an als wolle er sagen ‚Hallo, mach mal die Augen auf’.

„Ich wollte dir nicht weh tun.“ fügte ich kleinlaut hinzu.

„Dann lass es in Zukunft.“

„Wenn das so einfach wäre…“

„Ich liebe dich, Marc. Daran kannst du nichts ändern.“

„Verdammt.“

Ja, ich weiß, nicht die angemessene Reaktion. Aber das hieß, dass es zu spät war, um auszusteigen. Das war’s, er würde leiden, und ich war schuld daran.

„Dayu… ich… du bist mir unglaublich wichtig. Wenn ich dich nicht hätte, dann würde ich das alles nicht durchstehen. Aber du darfst nicht so selbstlos sein. Was soll denn aus dir werden, falls ich…“

Bamm! Seine Hand auf meiner Wangs, nicht zärtlich, sondern klatschend.

„ Wag es nicht, das auszusprechen! Daran darfst du nicht mal denken. … Oh Gott, tut mir Leid, ich wollte das nicht. Alles okay?“

„Schon gut. Mir geht’s gut.“

„Es tut mir Leid, ich will nur echt nicht, dass du sowas auch nur denkst.“

„Okay, ich werde mich hüten.“

„Marc, verdammt, reiß nicht ständig deine Witzchen…“

„Soll ich lieber rumheulen? Das nutzt ja auch nichts…“

„Immerhin könnten wir dann zusammen heulen und ich würde mir nicht so blöd vorkommen…“

„Ach du… komm her.“

Ich hielt ihn eine Weile fest, bis er sich löste und ich ausstieg.

„Ich komm so gegen halb zwei.“

„Okay, bis morgen dann…“

Als er kam, hing ich noch am Tropf und langweilte mich schrecklich. Er hatte mir tatsächlich seinen alten Gameboy mit großer Spieleauswahl mitgebracht. Und natürlich Reis mit rotem Curry. Der würde heute Abend wohl wieder in der Toilette landen, aber ich aß ihn trotzdem. Dayu blieb bis lange, so konnte ich ihn noch meiner Mutter und meinem Bruder vorstellen, mit dem er wohl ab September zur Schule gehen würde.

Tatsächlich besuchte mich Dayu jeden verdammten Tag. Am Anfang machten wir noch Ausflüge in die Grünanlage, bald schaute er mir fast nur noch beim Kotzen zu, streichelte mir den Rücken, gab mir Papier und Wasser. Er war nicht davon abzubringen, immer wieder zu kommen. Am Mittwoch der zweiten Woche war ich wirklich am Tiefpunkt. Obwohl die Schule inzwischen angefangen hatte, stand Dayu um halb zwei mit was zu essen und einer Zeitschrift im Zimmer. Ich fror und kotzte und weinte und konnte einfach nicht mehr. Und was macht er? Holt einen verdammten Eimer, den er neben das Bett stellt, schleppt mich in selbiges, deckt mich zu, setzt sich neben mich und isst! Er isst während ich mir die Seele aus dem Leib kotze.

„Du bist eklig.“

„Ich hab heut noch nichts gegessen. Komm, trink einen Schluck. Da kommt doch eh nichts mehr raus.“

„Sag das mal meiner Speiseröhre…“

„Entspann dich. Lehn dich zurück. Trink einen Schluck Wasser. Soll ich dich massieren?“

„Du lässt auch n….“

„Wäh, jetzt vergeht mir aber doch langsam der Appetit…“

„… nichts unversucht, wollte ich sagen.“

„Willst du mich nicht fragen, wie es in der Schule war?“

„Wie war’s in der Schule?“

Daraufhin folgte ein zehnminütiger Monolog darüber, dass Schule doch überall gleich wäre, die gleichen Cliquen, die gleichen Typen, sogar die gleichen Lehrer. Als wäre er in einem parallelen Universum gelandet. Und er war immer noch der stille Chinese der jeden mit Karate verdreschen kann. Zu dem war man besser freundlich, mehr aber auch nicht.

„Dein Bruder gehört ja zu einer ganz seltsamen Truppe. Lauter Mini-BWLer. Ätz.“

„Ich bin echt froh, dass wir uns erst jetzt kennengelernt haben. Sonst hättest du dich bestimmt nicht in mich verliebt.“

„Doch, ich hätte dir einfach ganz tief in die Augen geschaut und deine Seele erblickt. Danach wäre alles klar gewesen.“

„Du bist ja hoffnungslos romantisch!“ sagte ich und kotzte wieder.

Danach ließ ich mich erschöpft ins Kissen zurücksinken, wo inzwischen sein Arm lag.

„Ist das okay? Oder…“

„Nein, das ist okay. Mir ist sowieso kalt.“

„Soll ich noch eine Decke besorgen?“

„Kannst du vielleicht meine Füße wärmen?“

„Sicher, aber dir ist schon klar, dass es draußen 25 Grad hat, oder?“

Da lag ich also, in Dayus Arm, schlotternd, während er seine Füße an meine rieb.

„Besser?“

„Ich bin plötzlich so müde…“

„Dann schlaf ein wenig. Ich pass auf dich auf.“

„Marc? Wach auf… wir haben hier ein kleines Problem…“ flüsterte mir jemand ins Ohr.

Ich blinzelte und sah meine Mutter und meinen Bruder in der Tür stehen. Sie wirkten irgendwie… verwirrt. Neben mir bewegte sich jemand. Dayu. Ich lag noch immer in seinem Arm.

„Hey Mum.“

„Hallo Schatz.“

„Tom.“

„Dayu.“

„Es ist nicht so, wie es aussieht.“ stammelte ich.

„Das geht uns gar nichts an. Hauptsache du bist glücklich, richtig Tom?“

„Glaub schon…“

„Aber es ist doch gar nicht… wir sind doch gar nicht…“

„Das ist ganz allein deine Sache. Du brauchst nichts erklären.“

„Aber…“

„Lass gut sein, Marc. Sei froh, dass deine Mutter so cool reagiert.“

Ja, da konnte ich wirklich froh sein, verdammt. Dayu war deshalb von seinen Eltern verstoßen worden . Das Ganze musste ja nicht jetzt gleich geklärt werden.

„Tom? Tust du mir einen Gefallen?“ bat Dayu.

„Welchen denn?“

„Bitte häng es in der Schule nicht an die große Glocke.“

„Werde ich nicht…“

„Sollen wir euch beide lieber alleine lassen?“ fragte meine Mutter verständnisvoll.

„Nein, ich muss sowieso los. Muss noch Englisch machen.“

Er kraxelte aus dem Bett.

„Das ist nicht so viel. Aber Mathe war krass.“

„Das hab ich gestern schon gemacht.“

„Naja, wir sehen uns dann morgen in der Schule, oder?“

„Ja, bis morgen. Bis morgen, Marc.“

„Bis morgen…“

Als Dayu weg war, schauten die beiden mich weiter mit großen Augen an.

„Ich bin nicht schwul.“

„Selbst wenn, Schatz…“

„Danke, aber wir sind nur Freunde. Wirklich.“

„Ja klar, ich kuschle auch immer mit meinen Freunden.“ spöttelte Tom, worauf er von unserer Mutter einen leichten Klaps auf den Hinterkopf bekam. Und damit wollte sie über das Thema kein Wort mehr verlieren. Oh Mann.

Gegen halb acht schaute Dayu nochmal vorbei, um zu erfahren, was meine Mum und Tom noch so dazu gesagt hatten. Um kurz nach acht schmiss die Nachtschwester, ein echter Drachen, ihn raus.

Die Ärzte fanden plötzlich, dass ich das Wochenende auch noch in der Klinik verbringen sollte, weil es mir so schlecht ging. Davon war ich überhaupt nicht begeistert, aber Dayu wusch mir den Kopf. Ich sollte mich gefälligst schonen, statt hier rum zu zicken und den Leuten das Leben schwer zu machen. Er versprach, den ganzen Tag bei mir zu sein, etwas, das er nicht täte, wenn ich zu Hause wäre. Damit gab ich mich zufrieden.

Am Samstagnachmittag saß er über irgendwelchen Hausaufgaben und ich versuchte, seinen vorgelegten Tetris-Rekord zu schlagen. Dayu verbrachte echt seine gesamte Freizeit bei mir.

„Sag mal, ist Thorsten nicht sauer, weil du nicht mehr trainierst?“

„Wer sagt, dass ich nicht mehr trainiere?“

„Ja wann denn?“

„Na abends, wenn hier keine Besuchszeit mehr ist.“

„Ernsthaft? Bist du da dann nicht total fertig?“

„Ich schlafe gut, das stimmt.“

„Wird dir das nicht zu viel? Ich meine, du musst nicht hier rumhocken und dich mit mir langweilen…“

„Aber ich langweile mich doch nicht mit dir! Und jetzt hör auf, dir über so einen Scheiß den Kopf zu zerbrechen.“

„Gott, du hat wirklich total die rosa Brille auf.“

„Stimmt ja gar nicht. Ich sehe durchaus auch deine Charakterschwächen.“

„So? Und die wären?“

„Du bist ein echt miserabler Tetris-Spieler.“

„Pah, dir werd ich’s zeigen!“

Nach der Klinik wollten die Ärzte mir ein paar Wochen geben, bevor sie mich mit weiteren Untersuchungen nervten. Mir ging es jeden Tag besser. Bald konnte ich Dayu sogar soweit bringen, mit mir ein wenig zu trainieren. Ein bisschen laufen, ein paar leichte Schlagkombinationen… es ging echt bergauf. Dayu wurde endlich mal wieder ein bisschen entspannter und musterte mich nicht ständig besorgt von der Seite. Ich traf mich sogar mit Isi, meiner Ex, um ihr noch ein paar Sachen zurückzugeben. Sie meinte, ich sähe nicht so schlimm aus, wie sie sich vorgestellt hatte und richtete auch Grüße von ein paar Kommilitonen aus, unter Anderem von Dirk, mit dem sie jetzt ging. War sie schon immer so eine Schnepfe gewesen?

Verdammt, mir ging es echt gar nicht so übel. Anfang November fuhr meine Mutter mich in die Klinik. Jetzt würden die Ärzte entscheiden, ob ich operiert werden konnte. Nach stundenlangem Warten und in Röhren geschoben werden, war es schon nach drei, als der Chefarzt mich endlich in sein Büro holte, meine Mutter immer dicht hinter mir. Ach mir ging es gut, der Tumor musste also wohl geschrumpft sein, ich machte mir keine Sorgen und lächelte meine Mutter aufmunternd an.

„Herr Steinmann, es werden noch einige Tests nötig sein. Der Tumor hat sich leider weiter ausgedehnt. Um ihn in seiner Ganzheit zu erwischen, müsste ein zu großer Teil ihrer Leber entfernt werden.“

„Oh. Also geht’s mit Chemo weiter?“

„Wir haben leider noch mehr entdeckt, in ihrer Lunge. Um sicher sagen zu können, um was es sich handelt, sind weitere Tests nötig. Könnte ein gutartiger Zweittumor sein, oder ein bösartiger. Oder…“

„Metastasen.“

Meine Mutter schluchzte.

„Wie gesagt ist es noch zu früh, etwas Genaueres zu sagen, aber selbst wenn es sich um Metastasen handelt, könnten diese entfernt werden. Allerdings macht das erst Sinn, wenn der Lebertumor entfernt ist.“

„Aber sie haben doch gerade gesagt, dass das nicht geht.“

„Als letzter Ausweg schon. Aber so weit sind wir noch lange nicht. Sie sollten sich auf eine Woche in der Klinik einstellen.“

„Geht das nicht auch ambulant?“

„Tut mir Leid, aber darauf muss ich bestehen. Wenn sie noch Fragen haben, rufen sie mich jederzeit an. Ansonsten sehen wir uns morgen Vormittag.“

Ich fühlte mich irgendwie so seltsam, wie in Watte gepackt. Mir ging es doch gut, das konnte doch nicht sein. Und Dayu, wie würde der reagieren? Meine Mutter jedenfalls kämpfte verzweifelt die Tränen nieder. Ich nahm sie in den Arm.

„Soll ich Dayu anrufen?“ fragte sie, als wäre sie gerade fähig zu telefonieren.

„Nein, setz mich lieber bei ihm ab.“

„Er kann zu uns kommen. Wir müssen es Tom und Papa sagen.“

„Ja, klar. Hauptsache er ist da.“

Ich schrieb ihm eine SMS und als wir kurz nach vier nach Hause kamen, wartete er schon mit Tom und Dad im Wohnzimmer. Und alle drei rechneten mit dem Schlimmsten, das konnte ich ihnen ansehen. Mein Dad stieß hervor:

„Was ist los, was haben die Ärzte gesagt?“

Ich ließ mich erst mal neben Dayu auf’s Sofa sinken. Mum blieb stehen, atmete tief durch und erzählte es. Erst als ich alles nochmal aus ihrem Mund hörte, wurde mir so richtig klar, was los war. Ich würde nicht mehr gesund werden, nie wieder. Die würden mir einen Teil der Lunge raus schneiden und vermutlich auch der Leber. Wenn ich überlebte, dann nur mit sehr vielen Einschränkungen. Tränen stiegen mir in die Augen und ich konnte die mitleidvollen Blicke meiner Familie nicht mehr ertragen. Ich vergrub mein Gesicht an Dayus Schulter und versuchte, so leise wie möglich zu schluchzen. Beiläufig spürte ich, wie er mir über den Rücken strich und fühlte mich so beschützt. Keine Ahnung, wie viel Zeit verging. Ich hörte nur noch Dayus gleichmäßige Atmung und spürte seine Hände auf meinem Rücken. Als ich den Kopf ho, waren wir alleine im Wohnzimmer. Seine Augen waren so gerötet wie meine sich anfühlten, aber er versuchte trotzdem, zu lächeln.

„Alles wird wieder gut, mein Liebling.“

Es war so absurd und doch so rührend, dass er mich so nannte, dass ich nicht wusste, ob ich lachen oder weinen soll, entschied mich dann für ein bisschen was von beidem. Muss ziemlich verrückt gewirkt haben.

„Lass uns hoch gehen, ja?“

Unnötig zu sagen, dass Dayu mir nicht mehr von der Seite wich, bis ich am nächsten Morgen von Mum in die Klinik gefahren wurde und er doch noch die letzten drei Schulstunden besuchte. Die ganze Nacht über hatte er mich festgehalten, mich gestreichelt wie ein kleines, krankes Kind und mir gut zugeredet. Am liebsten hätte ich ihn überhaupt nicht mehr weggelassen, aber meine Mutter bestand darauf, dass er nicht den ganzen Tag fehlte.

Drei Tage lang wurde ich gepiekst, durchleuchtet und weiß Gott was alles. Dann, am Freitagvormittag kam der Chefarzt höchstpersönlich. Ich war alleine, als er mir mit mitfühlender Miene mitteilte, dass es sich leider tatsächlich um Metastasen handelte. Drei Stück nämlich. Er sagte auch, dass ich eine schwerwiegende Entscheidung zu treffen hatte und erklärte mir ruhig und sachlich meine Optionen. Ich sollte mich über’s Wochenende mit meinen Angehörigen beraten und ihm am Montag meine Entscheidung mitteilen. Er machte meine Entlassungspapiere fertig und ließ meine Mutter anrufen, um mich abzuholen. Sie löcherte mich mit fragen, aber ich brauchte erst mal Zeit für mich, um zu begreifen, was los war. Ich schloss mich für zwei Stunden in meinem Zimmer ein. Als ich dann ins Wohnzimmer kam, war Dad bereits zu Hause und Tom und Dayu waren wohl zusammen aus der Schule gekommen. Mum wischte krampfhaft Staub und in einem Sessel in der Ecke saß meine große Schwester Kathi. Sie alle hatten mich noch nicht bemerkt.

„Hey Leute.“

Alle fuhren hoch, stürmten auf mich zu, umarmten mich. Alle außer Dayu. Er stand einige Meter entfernt und schaute mich so wissend an. Ich war überrascht, wie klar und stark meine Stimme klang.

„Ich habe drei Metastasen in der Lunge. Die sind prinzipiell entfernbar, allerdings macht das nur Sinn, wenn der Streuungsherd weg ist. Und das geht bei mir nicht so ohne weiteres. Wenn ich die OP machen lasse, stehen die Chancen gut, dass ich nicht mehr aufwache. Und wenn, dann schafft meine Rest-Leber ihre Arbeit vermutlich nicht mehr, was auch innerhalb von wenigen Tagen den Exodus bedeuten würde. Wenn ich die OP nicht machen lasse, kann man die Metastasen trotzdem entfernen, das gibt mir Zeit. Aber nicht ewig. 50% schaffen es drei Jahre lang, man muss immer wieder unters Messer und Chemo und so weiter. Qualität und Quantität, ihr wisst schon. Kurz, es sieht so aus als hätte ich die Wahl zwischen einer OP bei der ich vermutlich draufgehe, einer OP bei der ich vielleicht noch drei unschöne Jahre bekomme und einem halben Jahr ohne weitere Eingriffe und einem vergleichsweise schnellen Tod durch Leberversagen. Das ist die Entscheidung, die ich treffen muss. Ich hab bis Montag Bedenkzeit.“

„Aber da muss es doch noch mehr geben…“

„Nein Dad, das sind die Optionen.“

„Was ist mit experimentellen Methoden oder sowas?“

„Meine Leber ist nicht zu retten. Und mit Metastasen bekomm ich auch keine Transplantation mehr.“

„Aber was ist mit noch mehr Chemos? Vielleicht schrumpft der Tumor ja dann.“

„Wenn er es nach drei Zyklen nicht getan hat, nicht.“

„Also willst du einfach aufgeben?“

„Ich hab noch nichts entschieden“ log ich.

„Können wir darüber reden?“

„Ruft Dr. Benz an und redet darüber. Ich brauch jetzt ein bisschen frische Luft. Kommst du mit, Dayu?“

Wir setzten uns draußen auf die Hollywood-Schaukel, Dayu schaute mich immer noch so durchdringend an.

„Du hast dich schon entschieden, oder?“

„Option A kommt nicht in Frage. Die Vorstellung, nächste Woche im OP zu sterben… das ist einfach zu früh. Und wenn es funktionieren würde, dann hätte ich quasi keine Leber mehr. Ich dürfte so gut wie nichts mehr essen. Kein rotes Curry mehr. Und dann noch mehr Chemos und OPs, um die Metastasen zu entfernen. Höchstwahrscheinlich hat das Ding schon sonst wo hin gestreut. Nein, ich darf nicht anfangen, die an mir rummetzgern zu lassen.“

„Also willst du gar nichts tun?“

„Doch, eine experimentelle Chemo, die die Metastasen bekämpft und mir Zeit verschafft. Ich will sicher gehen, dass ich auch wirklich an Leberversagen sterbe und nicht qualvoll ersticken muss. Ein halbes Jahr, in dem es mir gut genug geht, dass ich noch etwas vom Leben habe. Mehr kann ich wohl nicht erwarten.“

„Ich hätte mich genauso entschieden.“

Gott war ich froh, dass er das sagte. Wenn er mir Vorwürfe gemacht hätte, das hätte ich nicht ausgehalten.

„Wann sagst du es deinen Eltern?“

„Am Sonntag, nehm ich an.“

„Und was hast du dann vor?“

„Die Behandlung hinter mich bringen, dann Weihnachten und Silvester feiern, und dann… ich weiß auch nicht. In einem halben Jahr ist es April. Kein Sommer mehr für Marc.“

„Woanders ist immer Sommer.“

„Wo wolltest du schon immer mal hin?“

„Was, ich?“

„Ja, sag schon.“

„Hm… Neuseeland vielleicht.“

„Perfekt. Da ist doch im Winter Sommer. Ein Januar in Neuseeland. Was sagst du? Oh, stopp. Du hast ja Schule…“

„Das glaubst du doch selbst nicht. Ich geh doch nicht mehr in die Schule.“

„Aber…“

„Marc, wenn du wirklich nur noch ein halbes Jahr hast, dann verbringe ich so viel Zeit mit dir, wie du mich lässt. Ich kann das letzte Jahr auch nachholen. Aber das alles müssen wir heute nicht entscheiden. Jetzt ist erst mal Wochenende, hm?“

„Okay.“

„Ich muss nochmal zu mir, um ein paar Sachen zu holen… Oder willst du lieber allein sein?“

„Auf keinen Fall. Ich will bei dir sein.“

Ich war, gelinde gesagt, erstaunt, wie romantisch sich meine Worte anhörten und biss mir auf die Zunge. Dayu lächelte mich nur selig an.

Meine Familie debattierte hitzig. Als ich dazu kam, verstummten sie abrupt.

„Wo ist denn Dayu?“

„Der holt noch ein paar Sachen von sich zu Hause.“

„Er ist hier jederzeit willkommen.“

„Danke.“

„Wir haben mit Dr. Benz telefoniert.“

„Okay. Hört mal, ich höre mir euere Ratschläge gerne an, aber ich will nicht die ganze Zeit darüber reden. Diskutiert von mir aus und sagt mir am Ende, was ihr meint. Am Sonntag, ja?“

„Wenn du das so willst…“

„Ja, so will ich das. Ich leg mich jetzt ein bisschen hin. Schickt mir Dayu, wenn er kommt. Haltet ihn nicht hier unten mit euren Debatten fest. Ich brauch ihn jetzt.“

„Natürlich Liebling. Willst du Tee oder was zu essen?“

„Ich hab das Gefühl, dafür wird Dayu sorgen.“

Tatsächlich hielt er mir kurze Zeit später eine Styroporschachtel unter die Nase, aus der mir der verlockende Duft von Yasminreis und roter Currysoße entgegen kam.

„Appetit?“

„Sogar Hunger.“

„Na dann, hau rein.“

„Willst du auch was?“

„In meiner Box sind ein paar Wan Tans.“

„Mit Suppe?“

„Die ist so schwer zu transportieren…“

„Sind die anderen noch im Wohnzimmer?“

„Ja und die sehen nicht so aus, als würden sie sich da bald wegbewegen…Vielleicht solltest du ihnen sagen, dass du dich schon entschieden hast…“

„Ich will wissen, wofür sie sich entscheiden.“

„Wozu?“

„Mit einer Chance von 1:3 entscheiden sie sich so wie ich. Dann fühlen sie sich nicht übergangen. Wenn ich mich ganz ohne ihren Rat entscheide, fühlen sie sich garantiert übergangen.“

„Du bist ganz schön umsichtig.“

„Normal.“

„Und so cooool.“

„Ich bin so dankbar, dass ich dich habe.“

„Ach Marc.“

„Es tut mir Leid, dass ich dir nicht mehr zurückgeben kann…“

„Du gibst mir genug. Nur eben keinen Sex, und darauf kommt es wirklich nicht an. Und jetzt iss. Morgen wird wieder gejoggt.“

„Ja?“

„Du darfst auch Rad fahren, dann muss ich nicht ständig auf dich warten.“

„Du bist so gemein. Es gab Zeiten, da wäre ich dir davongelaufen.“

„Das weiß ich. Thorsten ist mächtig stolz auf dich. Er hat mir viel von früher erzählt. Ich wünschte, ich hätte dich damals schon gekannt.“

„Ich war ein ziemlich überheblicher Knilch.“

„Du doch nicht.“

„Oh doch, das hat Thorsten wohl nur aus Höflichkeit ausgelassen.“

„Du bist der tollste Mensch auf Erden, und jeder der was anderes behauptet, bekommt es mit mir zu tun.“

„Bin ich nicht. Das bist nämlich schon du.“

„Ach, sei still…“

„Doch, doch.“

Es klopfte leise an der Tür.

„Ja?“

Mein Bruder steckte vorsichtig den Kopf herein.

„Stör ich?“

„Nein, komm rein.“

„Ich wollte eigentlich nur sagen, dass die da unten immer noch rumlabern. Ich denke, die sollten endlich mal damit aufhören und einsehen, dass das deine Entscheidung ist.“

„Danke, seh ich ähnlich…“

„Und ich wollte fragen, ob wir was zusammen unternehmen wollen…“

„Häh?“

„Ja, ich weiß, das haben wir noch nie… aber jetzt liegen die Dinge irgendwie anders… Wir kennen uns nicht besonders gut, und ich würde das gern ändern…“

„Was schlägst du vor?“

„Eine Freundin von mir gibt ne kleine Feier. Nichts Wildes. Wir könnten da mal vorbei schauen. Babsi kennst du doch auch, oder Dayu?“

Die Freunde meines Bruders waren recht gesellig und auch echt in Ordnung. Ich hatte einen schönen Abend, wurde ein wenig abgelenkt, und Dayu lernte die Leute aus seiner Klasse mal näher kennen. Auch wenn er vermutlich nicht mehr wirklich mit ihnen in eine Klasse gehen würde. Sollte ich das wirklich zulassen? Ich wollte mit ihm weg, für ein paar Wochen. Aber deshalb konnte er doch weiter zur Schule gehen. Er merkte an, dass sein Abi dann echt mies ausfallen würde und er es lieber nächstes Jahr ordentlich machen würde… und das hörte sich doch eigentlich recht sinnvoll an. Jedenfalls gingen wir kurz vor Mitternacht nach Hause. Dayu und Tom waren etwas angeheitert und sangen irgendwelche Kinderlieder. Langsam wurde mir alles ein bisschen zu viel und ich hakte mich bei Dayu unter.

„Alles okay?“

„Ich will in mein Bett.“

„Wir sind gleich da. Soll ich dich huckepack nehmen?“

„Ich bin doch keine fünf mehr.“

„Hey, nur ein Angebot…“

„Nein danke.“

Mein Bruder musterte uns lächelnd. Ja, wir mussten schon ein Bild abgeben…

Später in dieser Nacht musste ich wohl einen Albtraum gehabt haben. Als ich wieder durchblickte, hielt Dayu mich fest in seinen Armen. Ich war total nass geschwitzt und flüsterte immer wieder:

„Ich will nicht sterben, ich will nicht!“

Als ich mich beruhigt hatte, knipste er das Licht an, suchte mir neue Schlafklamotten raus und gab mir etwas zu trinken.

„Willst du dich nochmal hinlegen?“

„Ich glaub nicht, dass ich noch schlafen kann…Kannst du mich vielleicht einfach noch eine Weile festhalten?“

„Sicher.“

Und schon lag ich in seinem Arm, den Kopf an seinem Hals, und die Hand auf seinem Bauch. Als ich auch noch ein Bein über seine legte, fühlte er sich sichtlich unwohl.

„Was ist?“

„Du machst mich grad ganz schön an…“

„Sorry, ich will echt nur ein bisschen Nähe…“

„Ich weiß. Was ich nicht weiß ist, wie ich damit umzugehen habe…“

„Das findest du schon noch raus.“

„Geht’s dir besser?“

„Ja, glaub schon…“

„Gut. Dann versuch zu schlafen.“

Am Sonntag sagte mir meine Familie zu meiner Erleichterung, dass sie beschlossen hatten, mir nichts zu raten, sondern die Entscheidung ganz mir zu überlassen.

Für diese experimentelle Chemotherapie musste ich in eine Spezialklinik in München. Drei Anwendungen waren nötig, mit je zwei Tagen Pause dazwischen.

„Ich will nicht in der Klinik bleiben. Die sagen, das Ganze ist recht verträglich.“

„Aber in ein Hotel… ich weiß nicht. Da bist du in der Klinik besser versorgt.“

„Ich will aber bei dir sein.“

„Ich kann nicht in der Klinik bleiben und du sollst in kein Hotel.“

„Ich hab eine Frage. Und es ist nur eine Frage, also sei nicht sauer.“

„Okay.“

„Was ist mit deinen Eltern? Ich meine, wo wir schon in München sind… könnten wir nicht bei ihnen unterkommen?“

„Marc, … ich weiß nicht…“

„Weißt du, ich würde es gern sehen, wenn du wieder Kontakt zu ihnen hättest. Dann hätte ich nicht so das Gefühl, dich allein zurückzulassen…“

„Mach dir doch um mich keine Gedanken.“

„Natürlich mach ich mir um dich Gedanken. Du bist mein bester Freund, mehr als das. Du bist immer für mich da. Ich will, dass für dich gesorgt ist, und mit Kohle kann ich nicht wirklich dienen…“

„Fang nicht mit sowas an, dafür ist es noch zu früh.“

„Überlegst du dir das mit deinen Eltern? Oder hast du vielleicht sonst jemanden, bei dem wir einfallen könnten?“

„Großeltern mütterlicherseits… ein paar Freunde, aber die gehen ja noch zur Schule… Bei meinen Eltern wäre genug Platz, das würde schon gehen. Ich muss mich nur überwinden, sie anzurufen… wenn ich ihnen sage was los ist, dann machen sie keinen Stress…“

„Also, wenn es deinen Stolz nicht zu sehr ankratzt…“

„Schon gut, ich ruf an…“

Er verzog sich mit dem Telefon ins Bad und kam eine halbe Stunde später wieder raus.

„Wir können bei ihnen wohnen.“

„Alles okay?“

„Ja, meine Mutter war zum Glück dran. Sie macht sich Sorgen um mich und ich musste ihr fünf Mal versichern, dass du kein AIDS hast.“

„Also denkt sie, wir sind…“

„So wie deine Familie eben auch. Sie glaubt mir nicht so recht…“

„Na was soll’s. Irgendwie sind wir ja auch zusammen, oder? Auf eine schräge Art…“

„Sehr schräg.“

„Aber ich liebe dich, das weißt du, oder Dayu?“

„Ach Marc, verdammt!“ zischte er.

„Okay… nicht ganz die erwartete Reaktion…“

„Was soll ich denn darauf sagen? Ich dich auch? Und dann? Knutschen? Nein, eben nicht. Das ist einfach alles große Scheiße!“

„Ich weiß, und das ist meine Schuld…“

„Nein, ist es nicht. Da kann keiner was dafür. Es tut nur einfach weh, dir nah zu sein und doch wieder nicht…“

„Was kann ich denn tun?“

„Nichts. Vergiss es einfach.“

„Dayu…“

„Lass uns schlafen. Wir haben morgen einen anstrengenden Tag vor uns.“

„Dayu?“

„Hm?“

„Darf ich trotzdem in deinen Arm?“

„Komm her, du Idiot.“

Nach München fuhr man ungefähr zwei Stunden. Das bekam mir gar nicht gut und wir mussten zweimal anhalten, damit ich meinen Magen entleeren konnte. Ziemlich geschlaucht kamen wir in die Klinik. Vier Stunden später kutschierte Dayu mich zu dem Vorort, in dem er aufgewachsen war. Er hatte mir inzwischen das wichtigste über seine Familie erzählt, aber nicht, was genau los war, als er sich geoutet hatte. Wir parkten vor einem großen Haus, gepflegt, schöner Garten.

„Bist du okay?“ fragte ich ihn.

„Etwas nervös.“

„Willst du meine Hand halten?“

„Ernsthaft?“

„Wenn’s dir dann besser geht. Ich meine, die denken ohnehin, dass wir zusammen sind, also…“

Er nahm meine Hand und ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich das nur für ihn tat. Es beruhigte mich ungemein.

Frau Liu machte auf. Sie war groß, blond, sah sportlich aus. Ich konnte sie mir gut in einem Karategi vorstellen.

„Willkommen. Kommt rein.“

„Danke.“

„Habt ihr noch Gepäck im Auto?“

„Das hole ich später. Erst sollte Marc sich hinlegen.“

„Natürlich. Ich hab dein Zimmer für euch hergerichtet.“

„Danke.“

Schon waren wir auf dem Weg nach oben und in Dayus Zimmer.

„Das war seltsam.“ meinte ich.

„Ja, nicht wahr? Warum ist sie plötzlich so freundlich?“

„Freundlich, ähm… das war eher ein kalter Fisch…“

„Häh? Nö, echt nicht.“

„Oh Mann, na wie auch immer… ich glaub, ich geh noch kurz ins Bad und dann leg ich mich erst Mal ein bisschen hin…“

Als ich wieder aufwachte, war ich alleine, also trapste ich nach unten, wo Dayu mit seiner Mutter und seiner kleinen Schwester in der Küche stand.

„Riecht nach rotem Curry.“

„Hey, du bist also endlich wach. Gerade pünktlich zum Essen. Typisch. Setz dich. Ach so, das ist Kim, wie du dir denken kannst.“

Das Teeny-Mädchen winkte mir kurz zu und hackte weiter Kräuter. Für mich gab es scheinbar nichts zu tun, also setzte ich mich an den bereits gedeckten Tisch und beobachtete die drei beim Rumwuseln. Kim sah weniger asiatisch aus als Dayu. Sie hatte dunkelbraune, leicht gewellte Haare. Für ihre 15 war sie allerdings recht klein, im Gegensatz zu Dayu und seiner Mutter. Noch eben die Kräuter in den Wok und schon wurde aufgetischt.

„Wie geht’s dir?“

„Ganz gut.“

„Appetit?“

„Ein bisschen.“

Das Essen verlief relativ schweigsam und ich fragte mich, wo wohl Dayus Vater steckte.

„Also, habt ihr heute Abend noch was vor?“ fragte Frau Liu.

„Keine Ahnung, wie fit bist du denn, Marc?“

„So oberes Mittelfeld würd ich sagen.“

„Hast du Lust, im Dojo vorbeizuschauen? Mein Vater gibt da bis Acht noch Unterricht.“

„Ja, das können wir machen.“

„Marc hat den 4. Kyu.“

„Ah, tatsächlich? Sehr gut.“

„Ich hab schon lange nicht mehr trainiert…“

„Naja, schaut dort mal vorbei. Es gibt einige Leute, die sich bestimmt freuen, dich zu sehen, Dayu.“

Zu Fuß waren es zehn Minuten, die ich nutzte, um Dayu nochmal nach dem Konflikt mit seinen Eltern zu fragen.

„Sie sind eben nicht von der schreienden Sort. Sie haben mir damals nahegelegt, meinen ‚Lebensstil’ woanders zu leben, auf eigenen Beinen. Zu Hause sein war nur noch eine Qual. Sie haben mich einfach ignoriert. Jetzt ist es anders. Die herzlichsten waren sie noch nie, aber ich darf wieder in die Schule, das hatten sie mir verboten. Ich denke, sie fangen an zu verstehen und vielleicht auch zu akzeptieren, wer ich bin. Mein Vater wird so tun, als sei nichts gewesen. Dabei geht es um Gesichtsverlust oder so, frag mich nicht. Darum geht es jedenfalls immer.“

Bald standen wir vor der berühmten Schule des schwarzen Phoenix.

„Wow, ist das groß.“

„Ja, 300 Leute trainieren hier. Die brauchen Platz.“

„Wahnsinn…“

Wir zogen unsere Schuhe aus und er führte mich rum, Krafttrainingsraum, Dampfbad, verschiedenen Unterrichtsräume, Aufenthaltsraum, eine kleine Theke. Und überall Menschen, die ihn freudig begrüßten.

„Da hinten ist mein Vater.“

„Oh mein Gott, ja das ist er.“

„Äh, ja. Soll ich euch vorstellen?“

„Oh Gott… der schwarze Phönix…“

Leider hatte sein Vater nicht lange für uns Zeit, da der nächste Kurs begann. Dayu schloss sich an, in einer schwarzen Leinenhose und oben ohne. Mir war noch nie aufgefallen, wie gut trainiert er war. Schmal zwar, aber man sah jeden Muskel, vor allem am Bauch. Ich setzte mich so lange an den Rand und versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, dass mir etwas übel war. Ich wollte hier nicht weg, das erinnerte mich an früher und bald ging es dann auch wieder.

„Ich geh noch kurz duschen, dann können wir los. Geht’s dir gut? Siehst blass aus.“

„Nee, alles okay…“

Während ich so wartete, fiel mir an der Tür ein Mädchen auf. Vielleicht in Dayus Alter, und total… ja, was ist das? Grufti? Emo? Irgend sowas. Schwarze, toupierte Zöpfe mit dickem Pony, ein enges, schwarzes Top mit Sicherheitsnadeln und Buttons, ein kurzes Röckchen, schwarz-pink geringelte Kniestrümpfe und hohe Schnallenschuhe. Bah. Sie schien auf jemanden zu warten. Tja, und als Dayu an mir vorbei, direkt in ihre Arme lief, wusste ich auch, auf wen. Freudig kam er mit ihr im Arm zurück.

„Mimi - Marc, Marc - Mimi.“

Oh weia. Mit solchen Leuten hatte ich noch nie viel anfangen können… aber immer schön freundlich. Mimi stellte sich als Dayus beste Freundin raus. Auf dem Weg nach Hause erzählte sie die ganze Zeit von irgendwelchen Fremden, und das so schnell, dass ich vermutlich nicht mal folgen hätte können, wenn die Namen mir ein Begriff gewesen wären. Kaum angekommen, meinte Dayu:

„Du willst dich bestimmt gleich hinlegen. Mimi und ich reden hier draußen noch ein bisschen, Schlaf gut und sag, wenn du noch was brauchst.“

Äh hinlegen… eigentlich nicht… aber hier störte ich wohl… ich zog mich also zurück und schaute die Regale durch. Ein Fotoalbum, aha.

Das hätte ich wohl besser gelassen. Ich hätte ihn fast nicht erkannt. Dayu ganz in schwarz, dick geschminkt, mit Strapsen, bauchfreiem Top… Grufti-Zeug eben. Er und seine Grufti-Freunde (darunter fast immer Mimi) auf Konzerten, in irgendwelchen abgefuckten Schuppen oder bei Kerzenschein auf irgendeiner Couch. Die Tür ging vorsichtig auf.

„Hey, du schläfst ja noch gar nicht.“

„Nein, hab was Interessantes gefunden. Scheint, als sei ich nicht der Einzige, der sich in letzter Zeit verändert hat…“

Er setzte sich neben mich auf’s Bett und schaute über meine Schulter.

„Bist du sehr geschockt?“

„Etwas…“

„Naja, das sind nur Äußerlichkeiten…“

„Warum ziehst du dich jetzt nicht mehr so an?“

„So hätte ich keinen Job bekommen… und außerdem wollte ich mich irgendwie neu erfinden, weißt du? So als Normalo…“

„Verstehe.“

„Mimi hat gefragt, ob wir morgen Abend weggehen wollen. Ich würd gern ein paar Leute wieder sehen und so…“

„Ja klar. Ob ich mit komm, muss ich wohl spontan entscheiden, aber du solltest das auf jeden Fall machen.“

„Nicht ohne dich, keinesfalls.“

„Wo wollt ihr denn dann hin? In irgend so einen Szene-Laden?“

„In unser Stamm-Lokal… hm, ja, da hängen schon einige dunkle Gestalten rum, aber du wirst auch nicht schief angeschaut…“

„Ich weiß echt nicht, ob das was für mich ist… Vielleicht sollte ich was mit meinen Kommilitonen machen, wenn ich schon mal hier bin…“

„Dafür hast du ja immer noch Zeit. Oder du schleppst deine BWLer einfach mit. Komm schon, ich fahr auch, dann können wir jederzeit nach Hause, wenn’s dir zu viel wird. Das wird bestimmt lustig…“

„Mal sehen…“

Am Vormittag schleppte er mich zum Einkaufen. Ich sollte mir endlich ein paar Hosen zulegen, die auch passten. Die alten waren mir natürlich inzwischen ordentlich zu weit. Murrend kaufte ich mir also zwei Jeans und eine dunkle Cordhose. Gott, da sah ich erst, wie dünn ich geworden war. Ich musterte mich nachdenklich in dem großen Spiegel in Dayus Zimmer.

„Du bist wunderschön.“

„Bin ich gar nicht.“

„Wohl. Ich steh halt auf echt dünne Männer.“

„Ich glaub, ich leg mich noch ein bisschen hin.“

„Ich schau nochmal im Dojo vorbei.“

„Okay, bis nachher.“

„Bis dann.“

Wir beugten uns gleichzeitig zueinander und gaben uns einen kurzen Kuss auf die Lippen. Dann starrte er mich genauso irre an, wie ich mich fühlte. Und dann lachten wir beide los.

„Wir sind einfach nur total krank, Marc.“

„Allerdings.“

„Also, wir sehen uns später.“

„Jip.“

Gegen vier wachte ich auf und beschloss, ein bisschen frische Luft zu schnappen. Da ich keinen Schlüssel hatte, schlenderte ich Richtung Dojo. Dayu saß mit ein paar Leuten an der Theke. Ich setzte mich eine Weile dazu, bekam von Dayu mit breitem Grinsen eine Traubensaftschorle serviert und hing meinen Gedanken nach. Ich hatte Dayu auf die Lippen geküsst. Also nicht richtig, aber immerhin. Aber dabei hatte ich eigentlich nichts gespürt. Es war eben eine Verabschiedungsgeste… trotzdem, echt seltsam. Wie das wohl für ihn sein musste?

„Ehm, Maaa-harc, hallo?“

„Hm, was?“

„Wir können dann.“

„Cool.“

„Worüber hast du denn nachgegrübelt?“

„Nix weiter…“

Nach dem Abendessen, das wieder recht schweigsam und ohne den Vater eingenommen wurde, verzogen wir uns in Dayus Zimmer und schauten noch ein bisschen fern, bis neun. Dann schickte er mich duschen, damit er sich in Ruhe ein Abendoutfit zusammenstellen konnte. Was für eine Tussi. Mit einem Stapel schwarzer Klamotten schob er sich an mir vorbei ins Bad und kam da eine halbe Stunde lang nicht mehr raus. Mir schwante böses.

„Augen zu.“

Ich gehorchte.

„Augen auf.“

Er stand vor dem Bett und ich musste erst mal zwinkern, nur um sicher zu gehen, dass ich auch richtig sah. Ich musterte ihn, begann von unten. Schwere schwarze Stiefel mit Schnallen. Eine wirklich, wirklich, wirklich enge schwarze Hose, die irgendwie grau schimmerte, ein noch engeres, schwarzes Shirt, das wirklich alles erahnen ließ und einen halben Zentimeter zur Hose frei ließ, wo seine Haut hervorblitzte. Was nicht daran lag, dass das Shirt kurz war, sondern dass er die Hose verdammt tief trug. Seine Haare hatte er irgendwie verstrubbelt und seinen Augen schienen leicht geschminkt zu sein, aber eigentlich recht dezent. Dazu noch ein Nietenarmband und eine Halskette mit einem silbernen Kreuz.

„Na, was sagst du?“

„Trägst du etwa keine Unterwäsche?“

Er lachte und gab mir diesen ‚Mann, bist du naiv – Blick’.

„Lassen die mich in Jeans und T-Shirt da überhaupt rein?“

„Na klar, wenn du mit mir kommst schon. Nein Quatsch. Da scheißt sich echt keiner was um deine Klamotten.“

„Dafür hast du dich aber ziemlich in Schale geschmissen.“

Er warf sich neben mich auf’s Bett.

„Also gefall ich dir?“

„Was soll ich denn darauf sagen?“

„Die Wahrheit.“

„Du bist eben du und ich seh dich hinter der ganzen Aufmachung auch noch. Aber vorher warst du mir lieber.“

„Pah, Banause.“

„Naja, keine Ahnung, gibt s echt Leute, die auf sowas stehen?“

„Genügend. Da fällt mir ein: Wir sollten wohl noch was klären…“

„Was denn?“

„Du hast gesagt, dass wir auf irgendeine schräge Art zusammen sind.“

Mir wurde schlagartig heiß und meine Wangen glühten.

„Ja…?“

„Ja. Weißt du, ich denke, wir sollten ein paar Grenzen stecken, Grundregeln festlegen und so weiter…“

Langsam dämmerte mir, worauf er hinaus wollte.

„Wenn du dich flachlegen lassen willst, nur zu. Ich muss nur irgendwie nach Hause kommen.“

Warum schaute er jetzt so enttäuscht? Wäre es ihm lieber gewesen, wenn ich einen auf Macho gemacht hätte und Besitzansprüche anmelde, auf etwas, dass ich gar nicht wirklich besitze?

„Okay, schön dass wir das geklärt haben…“

Zum Glück klingelte es, bevor wir darüber noch weiter debattieren konnten.

Mimi hatte sich extra aufgedonnert. Zerrissene Netz-Strapse, ultra-kurzer Rock, Satin-Handschuhe, und die Haare bestimmt 30 Zentimeter auftoupiert.

„Heiß siehst du aus, mein Herzchen.“ sagte sie, als sie Dayu an ihre fast entblößte Brust zog.

20 Minuten später standen wir vor diesem Schuppen. Draußen hingen nur abgebrochene Gestalten rum, drinnen konnte das ja nur schlimmer werden. Abgefahrener Elektro drang an meine Ohren und die Haare in meinem Nacken sträubten sich, als ein Mädchen mit blutigen Schnitt-Mustern auf dem Arm an uns vorbei ging. Worauf hatte ich mich da bloß eingelassen. Dayu schaute besorgt zu mir rüber und bot mir seinen Arm an. Ja, jemand zum dran festhalten war nicht verkehrt. Einige der Gestalten sahen tatsächlich so aus, als würden sie beißen, und Blut saugen, und Eingeweide fressen.

Wir ließen uns in einer Couchecke nieder. Alles war so dunkel und gruftig. Die Musik war irgendwie eine Endlosschleife und die Gestalten auf der Tanzfläche bewegten sich wie in Trance. Bald kam ein glatzköpfiger Typ rüber, der ein Spinnennetz auf seiner Bowlingkugel tätowiert hatte. Er unterhielt sich mit Dayu und Mimi und schien mit beiden zu flirten. Mich ignorierte er und ich ihn. Eine blasse Blonde und eine noch blassere Rothaarigen setzten sich auch bald noch zu uns und redeten über irgendeine lokale Band, dessen Sänger wohl noch hier auftauchen sollte. Mimi und Dayu kicherten und warfen sich vielsagende Blicke zu. Die Zeit verkroch irgendwie. Auf Dauer waren die trancierten Menschen auf der Tanzfläche nicht wirklich unterhaltsam. Wir saßen weit genug von den Boxen weg, so dass ich mit einem halben Ohr die Gespräche der anderen mitbekam. Aber mit mir redete eh niemand und ich hätte auch gar nicht gewusst, worüber. Großes Getuschel und Gekicher, und schmachtende Blicke Richtung Eingang. Ich folgte den Blicken und erkannte deren Ziel. Ein Kerl in Rocker-Kluft mit langen, blonden Haaren und irre blasser Haut. Ja, dieses elbische Aussehen war hier bestimmt begehrt. Er kam rüber. Alle setzten betont-lässige Mienen auf und Mimi und Dayu rückten auseinander, um ihm in ihrer Mitte Platz zu machen. Die Spinnweben-Glatze schien leicht angepisst. Die anderen versuchten, die Aufmerksamkeit des Elben zu erhaschen. Dayu schien das am besten zu gelingen und bald tuschelten die zwei nahe beieinander und die Mädels schauten sich gegenseitig vielsagend an. Wunderbar. Ich schaute betont in eine andere Richtung. Nach einiger Zeit kam eine aufgeregt-aufgedrehte schwarzhaarige mit roter (!) Schminke um die Augen rüber.

„Hey Leute!“

„Hey Vanny!“

„Dayu? Cool, was machst du denn hier? Bist du wegen der Beerdigung da?“

„Beerdigung?“ fragte er besorgt.

„Ja klar, habt ihr’s noch nicht gehört? Kalle ist tot.“

„Echt jetzt?“

Jemand war tot und würde in ein tiefes, kaltes Erdloch gebuddelt werden, so wie ich, in ein paar Monaten. Schrecklich…

Die rothaarige und die blonde schienen irgendwie … begeistert ?!?! Mein Magen zog sich zusammen.

„Ja, er hat’s endlich getan. Lang genug hat er’s angekündigt.“

Die lächelten alle wissend!?!

„Und, wie hat er’s gemacht?“

Träum ich? Die taten ja so, als hätte er sich endlich getraut, sich tätowieren zu lassen oder so! Die redeten hier von Selbstmord, verdammt!

„Ganz dramatisch. Er hat sich die Pulsadern aufgeschnitten, in der Badewanne. Am Ende hat er seinem Ex sogar noch ne SMS geschickt, dass er ihn auf ewig liebt und drüben auf ihn wartet und so.“

Hallo? Jemand löscht einfach so sein eigenes Leben aus, schmeißt alles hin, und die tun so, als wäre das ein ganz normales Konversationsthema. Die sind nicht wütend auf den Vollidioten, sondern das imponiert denen scheinbar noch.

„Krass, hätte ich ihm echt nicht zugetraut, dass er echt den Mut aufbringt.“

Mut?! Dieser Vollidiot! Was würde ich nicht dafür geben, leben zu dürfen, und was macht der?! Und das finden die toll? Ist denen das Leben denn gar nichts wert? Ich bekam plötzlich keine Luft mehr, mein Herz schlug total schnell. Ich musste da weg, von diesen Steinen, diesen Irren! Ich stand auf, rempelte noch an den Tisch und kämpfte mich durch die tanzende Menge, um zum Ausgang zu gelangen. Hör ich da Lennon singen? Imagine? Eine Hand auf meiner Schulter. Ich fuhr herum. Dayu, mit traurigen Augen. Er zog mich in seinen Arm.

„Tut mir Leid.“

„So ein Vollidiot! Wie kann man sowas nur machen?“

„Ich weiß nicht. Er war wohl sehr unglücklich.“

„Ich will leben, verdammte Scheiße!“

„Ich weiß. Tanz mit mir.“

„Ich hab solche Angst.“

„Ich bin bei dir. Lass uns tanzen.“

Wir bewegten uns tatsächlich langsam zur Musik. Ich spürte seine Hände um meiner Hüfte, die mich noch näher heran zogen. Gott, so nah. Sein Hals ist um meinen gewunden und er hält mich so fest. Die Angst weicht dem Gefühl, geliebt zu werden. Ich verliere mich ein klein wenig. Die Musik ändert sich, aber unsere Bewegungen bleiben dieselben.

„Lass uns nach Hause fahren.“

„Was ist mit deinem Elben?“

„Ich will niemand anderen, das hab ich heute Abend gemerkt.“

„Ich will nicht, dass du mich los lässt.“

„Dann halte ich dich einfach noch ein bisschen.“

Jemand rempelte uns an, das riss uns zurück in die Realität und wir verpissten uns, ohne uns noch von den anderen zu verabschieden.

Ich sah Dayu beim Abschminken und Umziehen zu. Er trug tatsächlich keine Unterwäsche. Im Bett lag er in meinem Arm, streichelte leicht über meinen Bauch und erzählte mir von Früher und dass er sich einfach zu sehr verändert hat, als dass er noch mit den Leuten rumhängen könnte.

„Du hast mein Leben gerettet, weißt du das eigentlich?“

„Ich?“ frage ich erstaunt.

„Du hast mich glücklich gemacht, und jetzt liebe ich das Leben und weiß jeden Tag davon zu schätzen. Ich liebe dich so sehr…“

„Und ich liebe dich mehr, als irgendwen zuvor. Es bricht mir das Herz, dass ich dich bald verlassen muss.“

„Aber jetzt bist du bei mir und das ist alles, was zählt.“

Mann, ich wäre so gerne richtig in ihn verliebt. Ich will ihn einfach richtig glücklich machen können, aber es geht einfach nicht.

Von da an verbrachten wir unsere Zeit zu zweit. Mit Spaziergängen, Besuchen im Dojo, natürlich die Zeit in der Klinik, abends Filme kucken und im Bett kuscheln. Irgendwie zeigte seine Familie kein großes Interesse an mir. Ich war in ihren Augen ja auch der schwule Lover ihres Sohnes. Aber mir wurde immer mehr klar, dass Dayu hier her gehörte. Ich musste dafür sorgen, dass er, nachdem ich… also, dass er sein letztes Schuljahr hier machte und das mit seinen Eltern klärte. Am Montag, nach der letzten Chemo, wollte ich mich ein bisschen ausruhen und Dayu schaute ins Dojo. Unten hörte ich Frau Liu staubsaugen und beschloss, dass ich doch mal einen auf ‚guter Schwiegersohn’ machen sollte.

„Kann ich ihnen was helfen?“

„Ich müsste die Couch verschieben.“

Zu zweit war das kein Problem. Diverse andere Möbel wurden ebenfalls noch verrückt, dann gab sie sich zufrieden.

„Ich mach mir Tee, willst du auch welchen?“

„Sehr gerne, danke.“

Sie verschwand kurz und kam dann mit Grüntee und Keksen zurück.

„Hast du deine Behandlung gut überstanden?“

Das war das erste Mal, dass sie mich auf meine Krankheit ansprach.

„Ja. Die früheren Chemos waren schlimmer.“

„Wann erfährst du, ob es was gebracht hat?“

Ehm… sie weiß doch wohl, dass es nicht wirklich viel bringt, oder? Verdammt, ich hätte Dayu fragen sollen, was genau er ihr erzählt hat.

„Naja, ein bisschen was wird es schon gebracht haben… Jedenfalls… Dayu verbringt viel Zeit im Dojo, nicht wahr?“

„Früher war er mehr dort als zu Hause. Er wurde dort sicherlich vermisst.“

„Wäre schön, wenn er öfter dort sein könnte…“

„Willst du antesten, ob wir ihn wieder bei uns haben wollen?“

Ertappt.

„Möglich. Ich denke, dass es ihm hier besser gehen wird, als in einer fremden Stadt.“

„Geht es ihm denn nicht gut da oben? Er wirkt eigentlich sehr glücklich und ausgeglichen. Ich denke, das ist dein Verdienst.“

„Ja, möglich… aber… Frau Liu, ich werde sterben, und dann ist er wieder alleine. Er wird sie dann brauchen.“

Sie war blass geworden und schaute mich erschrocken an.

„Aber, deine Behandlung…“

„Verschafft mir etwas Zeit, aber ich werde den nächsten Sommer wohl nicht mehr erleben.“

„Gott, das… das wusste ich nicht. Das tut mir Leid.“

„Danke. Jedenfalls ist das Schlimmste für mich, dass es Dayu so verletzten wird. Er hat nur mich. Was soll aus ihm werden? Ich mache mir wirklich Sorgen.“

Sie nahm mich tatsächlich kurz in den Arm.

„Ich hatte wirklich keine Ahnung.“

„Tut mir Leid, ich wusste nicht, was genau Dayu ihnen gesagt hatte…“

„Ich möchte meinen Sohn zurückhaben.“

„Und ihr Mann?“

„Er wird sich auch beruhigen müssen. Er vermisst ihn genauso, das weiß ich.“

„Also kann er zurückkommen, wenn… wenn ich nicht mehr da bin?“

Sie warf schon wieder ihre Arme um mich und nickt heftig. Mir fiel ein Felsbrocken vom Herz.

Dayu war zwar nicht begeistert davon, dass ich mich da eingemischt habe, aber er war erleichtert, das merkte ich genau. Wir haben entschieden, dass er seine Wohnung auflöst. Er war sowieso die ganze Zeit bei mir, also konnten wir uns genauso gut das Zimmer teilen. Meine Eltern sagten sowieso zu allem ja und amen. Tom und Dad halfen beim Kisten schleppen. Ein paar Möbel verkaufte Dayu, der Rest fand irgendwie Platz. Ich konnte gar nicht so schnell schauen, wie plötzlich Weihnachten war. Mein letztes Weihnachten. Ich hab natürlich Neuseeland gebucht. Dafür reichten meine Ersparnisse. Ein Monat. Sechster Januar bis fünfter Februar. Meine Eltern waren etwas geknickt, dass sie mich einen kostbaren Monat lang hergeben mussten, aber sie verstanden natürlich, dass ich nicht bis zum Ende nur rum sitzen will.

Dank der zwölf Stunden Schlaf jede Nacht hielt ich die Tage gut durch und konnte das fremde Land wirklich genießen. Aber am meisten genoss ich, wie gut es Dayu ging, und wie es ihm gefiel. Wir liefen oft händchenhaltend durch die Gegend, das war irgendwie total der Automatismus. Wenn wir dann unsere Reflektion in irgendeiner Scheibe sahen, lachten wir uns krumm und schief. In einem Hotel blieben wir nach dem Essen noch eine Weile sitzen und schlitterten in einen Tanzabend. Aus Jux tanzten wir ein paar langsame Tänze mit, aber schnell war uns nicht mehr nach Lachen zumute. Wir schauten uns total verklärt an und ich genoss einfach seinen verliebten Blick und seine vertraute Nähe. Verdammt, ich liebte ihn so sehr, aber einfach nicht körperlich. Ich war so gerne bei ihm… das gab mir so ein gutes Gefühl.

In der Nacht vor unserem Flug zurück waren wir beide so emotional drauf, dass wir uns zuerst anschrien, wegen irgendeiner Kleinigkeit, dann heulten, weil wir es nicht aushielten, aufeinander sauer zu sein, dann lachten, weil wir uns so dämlich anstellten und dann, wegen irgendeiner blöden Textstelle in irgendeinem blöden Song im Radio über den Tod total beklommen wurden und nur noch total verängstigt auf dem Bett lagen und uns festhielten. Dayu weinte ein bisschen, wollte aber eigentlich für mich stark sein und am Ende verbot er mir, zu sterben. Ich versuchte, ihn anzulächeln, brach stattdessen aber in Tränen aus und zählte all die wunderbaren Dinge auf, die ich nie erleben würde, die er aber für mich tun musste. Und ich ließ ihn versprechen, dass er keine Dummheiten machte und dass er sein Leben genießen würde.

Mitte März ging es mir über Nacht plötzlich sehr viel schlechter. Ich wurde auf strikte Diät gesetzt und durfte kein rotes Curry mehr essen, nur noch eklig schmeckende, künstliche Sachen. Ungefähr ab da hörte ich Dayu öfter mitten in der Nacht ganz leise neben mir schluchzen. Er wollte bestimmt nicht, dass ich das mitbekam, er wollte mir ja schließlich Kraft geben und mich nicht noch zusätzlich belasten. Mein armer Liebling. Sein Herz war gebrochen. Ich konnte die Spiegel meiden, aber er musste meine blasse, eingefallene, gelbliche Visage ständig sehen. Ich wusste, dass es Zeit war, letzte Vorbereitungen zu treffen. Mit Dad fuhr ich zu einem Bestatter. Darauf musste ich bestehen, auch wenn es ihn sichtlich fertig machte. Mit Mum fuhr ich ins Tierheim, denn ich hatte eine Annonce gesehen. Es gab da ein kleines, süßes Kaninchen. Es war rot und hieß Curry. In einem oder zwei Monaten würde Mum es abholen und Dayu von mir schenken. Ich wollte, dass er nicht allein war und den Namen des Tierchens betrachtete ich als Wink des Schicksals. Das Kleine war frech und anhänglich und sogar stubenrein. Die Besitzerin hatte leider eine Allergie bekommen, deshalb lebte das Häschen seit einem halben Jahr im Tierheim.

Eines Abends fragte ich Dayu, was von meinem Zeug er haben wollte. Das musste schließlich geklärt werden. Auch wenn er sich sträubte, darüber zu reden, bekam ich raus, dass er einige meiner Klamotten haben wollte, ein paar DVDs die wir zusammen gesehen hatten, und noch ein bisschen Krims-Krams. Ich begann, mein Zimmer auszumisten, denn das wollte ich nicht den anderen überlassen. Ich behielt nur das, was ich noch brauchte, und das, was für andere nützlich oder von sentimentalem Wert sein würde. Danach wirkte mein Zimmer trotzdem nicht leer, denn Dayus Sachen waren ja noch drinnen.

Jeden Tag fühlte ich mich schlechter. Ostern kamen meine Verwandten nochmal zu Besuch. Meine Oma weinte die ganze Zeit und sagte immer wieder, das sei einfach nicht richtig und dass der Herrgott einen Fehler gemacht haben müsse. Ich musste ein paarmal ganz schön schlucken, wenn ich in die betretenen Gesichter der Leute schaute. Dayu hatte seinen Arm um mich gelegt und küsste ab und an beiläufig meine Schulter. Vermutlich spielten meine Hormone verrückt, die Ärzte hatten angedeutet, dass sowas passieren könnte, aber ich hatte irgendwie Schmetterlinge im Bauch. Ansonsten war mein Körper ziemlich im Arsch. Ich schaffte es kaum noch alleine die Treppen zu meinem Zimmer hinauf. Am Abend zog Dayu sich zu Tom zurück und ich redete noch lange mit meiner Schwester. Über alte Zeiten, aber auch darüber, wie es weitergehen würde, wie man es den Eltern leichter machen könnte und auch über Dayu. Ein paar Tage später hatte ich eine ähnliche Unterhaltung mit meinem plötzlich so erwachsenen, kleinen Bruder, der mir versprach, Dayu ein guter Freund zu sein.

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, rasselte etwas in meiner Lunge, aber nur, wenn ich ganz tief einatmete. Wasser. Ich würde innerlich ertrinken, wenn das schlimmer würde. Ich bekam eine Panik-Attacke, die Dayu ziemlich erschreckte. Sonst bekam zum Glück niemand was davon mit. An dem Abend redete ich lange mit meinen Eltern. Ich deutete nur am Rande an, dass ich dem Ganzen, bevor ich langsam erstickte, lieber schnell ein Ende setzte würde. Meine Mutter weinte und schrie und erzählte was von Todsünde und mein Vater… naja, ich hab ihn noch nie so still und erschüttert erlebt. Jedenfalls versicherten sie mir, dass Dayu so lange er wollte bei ihnen wohnen konnte. Damit gab ich mich zufrieden und beschloss, den Rest mit mir selbst auszumachen.

Dayu und ich schliefen jetzt kaum noch. Wir versuchten, die Zeit die uns blieb möglichst in die Länge zu ziehen. Ich wollte, dass er mir erzählte, wie sein Leben jetzt weiter verlaufen würde. Damit ich wusste, was ich verpasste.

„Schule, Dojo, möglichst schnell zum 1. Dan kommen, studieren… am liebsten was mit Sport und Pädagogik oder so. Dann will ich meinem Dad in der Schule unter die Arme greifen. Naja. Das war’s.“

„Und du musst dich wieder verlieben.“

„Das kann ich mir im Moment überhaupt nicht vorstellen…“

„Versprich es.“

„Ich tu mein bestes, aber jemanden wie dich werde ich nie mehr finden.“

„Such bei den BWLern.“

„Bah, ne danke.“

Anfang April wachte ich auf und mir war so übel wie noch nie in meinem Leben, und mir war schon oft sehr übel gewesen. Meine Lunge rasselte immer mehr und ich musste immer flacher atmen und kam sogar schon auf dem Weg ins Bad aus der Puste. Ich übergab mich, bis es blutig wurde. Als ich in den Spiegel schaute, war ich fast erleichtert, so schrecklich das klingt. Meine Augen waren ganz gelb und mein Gesicht auch. Gelbsucht, mein Leber versagte endlich. Ich würde doch nicht ersticken. Ich war so erleichtert. Meine Erstickungs-Albträume würden doch nicht wahr werden. Ich putzte mir die Zähne und kroch wieder zu Dayu ins Bett.

„Dayu? Liebling?“

Er gab mir seinen Arm und ich kuschelte mich ganz dicht an ihn. Ich spürte, dass mein Bauch irgendwie aufgebläht war und meine Lider komisch zuckten. Bei akutem Leberversagen blieben mir in meinem geschwächten Zustand vielleicht noch zwei Tage, die ich aber lieber unter starken Beruhigungsmitteln verbringen wollte, die mich ins hepatitische Koma begleiten würden. Das war mit den Ärzten abgesprochen und mit meiner Mutter, die mich gleich in die Klinik bringen würde, wo ich bald vor mich hin dämmern würde. Ich hatte mich ja bereits von allen verabschiedet. Von allen bis auf einen.

Ich kuschelte mich fest in Dayus Arm. Er wachte kurz auf und küsste meine Stirn. Diesmal blieb ich dabei nicht passiv. Ich küsste ebenfalls seine Stirn und sah im Halbdunkeln, wie er lächelte.

„Dayu, ich liebe dich und ich bin dir so dankbar für alles.“

„Was ist los?“

Seine Augen wurden aufgerissen, seine Pupillen waren riesig, er tastete nach dem Lichtschalter.

„Nicht, lass es aus. Es ist Zeit, sich zu verabschieden.“

„Aber… Marc… oh Gott…“

„Shhhh, ganz ruhig, mein Herz.“

„Ich will dir so viel sagen, aber mir fällt plötzlich nichts ein. Ich liebe dich, du bist mein Leben. Du bist die Liebe meines Lebens, es gab nie einen wichtigeren Menschen und wird nie einen geben. Meine Liebe zu dir ist so groß, dass sie nicht auf Körperlichkeiten angewiesen ist. Du hast mir gezeigt, was es bedeutet, jemanden zu lieben, hast mich zu einem besseren Menschen gemacht, ich bin so unendlich dankbar für die Zeit mit dir… Gott, ich… ich liebe dich einfach. Von ganzem Herzen. Du wirst in mir weiterleben. Auf ewig. Ich werde dich nie vergessen und wenn es einen Himmel oder sowas gibt, dann find ich dich da, und wir werden wieder zusammen sein und…“

Seine Stimme wurde von Tränen erstickt. Jetzt blieb nur noch eines zu tun. Etwas, das ich mir für diesen Moment aufgehoben hatte. Vorsichtig strich ich ihm die Tränen von den Wangen und beugte mich über ihn. Seine Lippen waren so weich und ich bildete mir ein, rotes Curry zu schmecken. Meine Zunge tastete nach seiner, er seufzte leise und öffnete seinen Mund noch ein Stück weiter für mich. Gott, wie das kribbelte. Wir lösten uns langsam und widerwillig voneinander.

Als ich durch die Türe ging, flüsterte er noch:

„Du schmeckst so süß, mein Liebling.“

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