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Along the Way

Teil 11

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Zu Hause fiel mir bald die Decke auf den Kopf. Hatte ich tatsächlich gerade mit Tobey Schluss gemacht? Aber ich hatte doch nicht wirklich eine Wahl gehabt, oder? Alles andere wäre nur noch schmerzhafter geworden, für uns beide. Ich ließ den Laptop hochfahren, holte mir ein Bier aus dem Kühlschrank, klickte gelangweilt meine Explorer-Favoriten durch und stieß auf eine Website für schnelle Kontakte. Zur Hölle, warum nicht?! Ich loggte mich ein und wurde sofort mit Nachrichten bombardiert. Ich unterhielt mich mit ein paar Frauen, wechselte dann aber in die Kategorie "Mann sucht Mann". Nur ein User war gerade online. Ich schrieb ihn an. Er kam gleich zur Sache, meinte, er hätte keinen Bock auf chatten, sondern suche jemanden, der zu ihm käme.

"Wie siehst du aus?"

"1,90, durchtrainiert, rasiert. Bock?"

"Willst du nicht wissen wie ich aussehe?"

"Wenn du mir nicht gefällst, lasse ich dich einfach nicht in die Wohnung."

"Wo wohnst du?"

"Venice."

"Ich auch."

"Also kommst du vorbei, oder was?"

Ohne groß nachzudenken, tippte ich die Antwort:

"Gib mir deine Adresse."

Ich duschte, packte ein paar Utensilien zusammen und machte mich zu Fuß auf den Weg. Eine viertel Stunde später stand ich vor einem Block und suchte das Apartment, fand es im dritten Stock des Hintergebäudes, das nicht wirklich gut in Schuss war, und klingelte. Drinnen bellte ein Hund. Dann ging die Tür auf. Vor mir stand ein großer Kerl in meinem Alter, seine Haare waren noch kürzer als meine, quasi nicht vorhanden. Er trug ein weißes Feinripp-Hemd, man sah darunter die Umrisse von Tattoos, die sich auch auf den Armen fortsetzten. Sein Gesicht war kantig aber symmetrisch, bis auf eine Narbe an der Stirn.

"Okay, komm rein."

Ein mittelgroßer Hund mit Nietenhalsband sprang an meinen Beinen hoch und leckte meine Hände.

"Das Schlafzimmer ist da hinten. Geh schon mal vor, ich füttere noch den Hund."

In dem Zimmer fand ich eine Matratze am Boden, mehr Einrichtung gab es nicht. Ich legte meinen Beutel in Griffweite ab und zog Schuhe und Socken aus. Da kam er auch schon und wirkte ziemlich düster.

"Kein küssen und ich fick dich. Einverstanden?"

Der Ton klang eigentlich nicht nach einer Frage. Mir wurde noch etwas mulmiger.

"Einverstanden."

Er zog sein Shirt aus. Verschiedene Schriftzüge waren über seinen Oberkörper verteilt. Ich zog mein Shirt ebenfalls aus, dann meine Hose.

"Leg dich hin."

Das tat ich und holte aus meinem Beutel ein paar Gummis. Er ließ seine Hosen fallen, nahm ein Kondom und fickte mich ohne großes Vorspiel. Ewig. Immer wieder rieb er seine Stoppeln an meiner Wange, bis die schon wund war. Der Sex war fast ekstatisch. Sein Hals, seine Finger, alles an ihm war überdurchschnittlich lang und wirklich durchtrainiert. Kein Gramm Fett war an ihm. Bei jeder seiner Bewegungen sah man genau die aktiven Muskelgruppen. Als er kam, stieß er mich so heftig, dass ich es fast nicht aushielt. Dann lag er für einen Moment ganz schlaff auf mir, bevor er aufstand und sich seine Jeans anzog.

"Willst du n Bier oder so was?", fragte er beiläufig, als würden wir uns gerade ein Spiel im Fernsehen ansehen. Ich war noch etwas benommen, der Duft, den er auf mir hinterlassen hatte, war schlichtweg betörend. Dann nahm ich mich zusammen und antwortete:

"Ich kann auch einfach gehen …", und fing an, mich anzuziehen.

"In einer halben Stunde hab ich wieder Bock, dann muss ich mir wieder jemanden suchen. Also trink ein Bier, entspann dich ein bisschen …"

Ich folgte ihm in die Küche, wo der Hund schon am Kühlschrank scharrte. Der Kerl gab mir ein Bier, schenkte dem Hund einen Schluck aus seiner Flasche in den Napf und ließ sich auf der Couch nieder.

"Wie heißt du eigentlich?", fragte ich, weil ich das Schweigen merkwürdig fand.

"Ich könnte dir einen falschen Namen sagen, aber ich bin lieber ehrlich. Ich sage meinen Namen nicht."

"Ich heiße Jordan."

"Was auch immer. Namen spielen für mich keine Rolle. Setz dich doch."

"Okay … die Wohnung sieht aus, als wärst du erst kürzlich eingezogen …"

"Stimmt."

"Stimmt bist du, oder stimmt, sieht so aus?"

"Letzte Woche."

Ich betrachtete seine Tattoos. Mein Herz blieb fast stehen. Das stand tatsächlich 'White Pride' auf seiner Brust. Verdammt.

"Ich sollte jetzt wirklich los."

Ich stand auf. Er blieb lässig sitzen.

"Deshalb?"

Er zeigte auf die Schrift.

"Ja, deshalb."

"Anschauungen ändern sich, aber der Haken an Tattoos ist, dass sie für immer bleiben."

"Ich bin in der Wohnung eines wildfremden Kerls, der rechte Sprüche auf der Brust stehen hat. Du wirst verstehen, dass ich mich jetzt auf den Weg mache."

"Kann ich dich vorher noch mal ficken?"

"Spinnst du?! Natürlich nicht!"

Jetzt stand er auch auf, ich war schon auf dem Weg zur Tür.

"Das war meine Lebensversicherung im Knast. Ich musste mich irgendjemandem anschließen."

"Glaubst du, das überzeugt mich jetzt davon, zu bleiben? Ein Nazi, der schon im Knast war. Wunderbar!"

Er kam auf mich zu und legte mir die Hände auf die Schultern. Eigentlich hätte ich mich bedroht fühlen sollen, tat ich aber nicht. Seine schokoladenfarbenen Augen waren dafür viel zu freundlich.

"Bleib, okay? Ich bin kein Nazi mehr, ich habe meine Strafe abgesessen und jetzt will ich nur ein wenig Gesellschaft."

"Wie lange hast du gesessen?"

"Vier Jahre. Ich bin auf Bewährung. Lass uns wieder ins Schlafzimmer gehen, … komm schon, Jordan."

Ich ließ mich breitschlagen. Warum kann ich im Nachhinein nicht mehr sagen.

Nach dem zweiten Mal saßen wir nebeneinander am Kopfende der Matratze, an die Wand gelehnt und rauchten. Er starrte geradeaus, als er meinte:

"Du bist wirklich heiß. Und deine Tattoos sind gut gestochen."

"Danke, … Wie heißt du? Von mir aus sag mir einen falschen Namen, aber irgendwie muss ich dich doch nennen."

Endlich schaute er mal zu mir rüber.

"Dylan."

"Danke Dylan."

"Willst du noch ein Bier? Sollen wir was zu Essen bestellen?"

Sein Ton war plötzlich wirklich freundlich geworden.

"Mitten am Nachmittag wirst du keinen Lieferservice finden, … ich bin aber echt hungrig."

"Ich hab nichts da."

"Ich hab den Laden um die Ecke gesehen. Wir könnten einkaufen …"

"Und zusammen kochen?", fragte er skeptisch.

"Warum nicht?"

"Ist das nicht sehr … intim?"

Ich musste lachen.

"Du findest zusammen kochen intimer als miteinander schlafen?"

"Wir könnten Sandwiches machen oder so. Damit käme ich klar …"

"Wie du willst."

"Bist du jetzt sauer?"

"Du bist nur ein Kerl, mit dem ich geschlafen habe und der offensichtlich ein wenig verkorkst ist. Warum sollte ich sauer sein?"

Er schien etwas enttäuscht zu sein.

"Machst du so was öfter?", fragte er.

"Du nicht?"

"Ich bin erst seit zehn Tagen draußen, viel Gelegenheit hatte ich noch nicht. Deine Wange ist ganz rot. Du solltest was Kühles drauflegen."

Er stand auf und holte mir ein mit kaltem Wasser getränktes Papier.

"Danke …"

"Du schaust immer noch total skeptisch. Ich will, dass du dich wohl fühlst. Was kann ich tun?"

"Das ist echt nicht nötig. Wir hatten schon Sex. Jetzt brauchst du auch nicht mehr damit anfangen, nett zu mir zu sein."

Das klang vorwurfsvoller, als ich geplant hatte. Schneller als ich reagieren konnte, zog er mich an sich und küsste mich hart und dominant auf den Mund. Dennoch erkannte ich so was wie Zuneigung in der Geste.

"Ich finde dich wirklich heiß und würde gerne öfter mit dir schlafen."

"Wenn ich mal wieder Bock auf Selbsterniedrigung habe, gerne", gab ich zurück.

Er schaute mich einen Moment nachdenklich an und meinte dann:

"Lass uns einkaufen gehen. Wir kochen was du willst. Ich zahle."

Wir gingen zu dem kleinen Supermarkt an der Ecke. Die Leute schauten Dylan seltsam an. Kein Wunder, er sah angezogen noch mehr aus wie ein Skin, inklusive Springerstiefel und hochgekrempelter Hose. Wir schlenderten durch die Gänge. Eine ältere schwarze Frau bog um die Ecke, sah Dylan und machte sofort erschrocken kehrt. Ich schaute ihn fragend an. Er wirkte traurig-resigniert.

"Viele der Nachbarn wissen, dass ich im Knast war. Kontakte knüpfen ist da nicht leicht …"

"Warum hast du gesessen?"

"Bei einer Prügelei ist Einer gestorben. … Wir waren zu fünft gegen acht. Ich hab auch ganz schön was abbekommen, … daher die Narbe hier. Jedenfalls war es wohl so, dass einer meiner Leute einen von den Anderen mit einer Glasflasche bearbeitet hat. Die ist zerbrochen und der Kerl ist verblutet. Als dass passiert ist, lag ich schon irgendwo. Deshalb 'nur' vier Jahre. Die Anderen sitzen wohl noch eine Weile …"

"Was waren das für Freunde?"

"Okay, ich geb zu, ich war vor dem Knast auch schon in rechten Kreisen unterwegs. … Damals war ich Anfang 20, hatte kein Geld, keinen Job. … Ist ja auch egal. Vier Jahre Knast machen einen klüger."

Ich beschloss, darüber lieber nicht mehr wissen zu wollen und konzentrierte mich wieder auf unser momentanes Vorhaben.

"Also, es gibt Asiatisch. Wir brauchen Reis, Gemüse und ein paar Soßen und Gewürze …"

An der Kasse zog er seinen Geldbeutel.

"Lass nur, ich kann das auch zahlen …", meinte ich schnell.

"Hast du einen Job?"

"Genau genommen nicht."

"Ich schon. Ich bin Tischler. Also, ich zahle."

Um nicht lang erklären zu müssen, dass ich auch ohne Job Geld hatte, ließ ich ihn die sieben Dollar irgendwas eben bezahlen.

Der Hund wartete schon hinter der Wohnungstür.

"Wie heißt er eigentlich?"

"Stan. Ich hab ihn vor ein paar Tagen aus dem Tierheim geholt. Er sollte eingeschläfert werden, wegen Überfüllung …"

"Das machen die echt?"

"Scheinbar …"

"Ich wollte immer einen Hund. Aber ich hab immer in Wohnungen gewohnt, wo das nicht möglich war. … Na gut. Wasser für den Reis kochen und Gemüse schneiden."

Er stellte sich nicht blöd an und ich lobte ihn dafür.

"Küchendienst …"

"Im Knast lernt man fürs Leben, was?", konnte ich mir nicht verkneifen.

Ich mischte ein paar Soßen zusammen und gab sie zum Gemüse.

"Du könntest schon mal den Tisch decken …"

Drei Minuten später konnten wir essen. Dylan war offensichtlich begeistert.

"So was Gutes hab ich echt schon lange nicht mehr gegessen. Danke."

"Ach, das war doch gar nichts …"

Er wirkte gar nicht mehr so kühl wie zuvor.

"Ich wasche ab, du entspannst dich, ja?"

"Gern …"

Ich setzte mich auf die Couch und streichelte Stan bis Dylan dazu kam.

"Ihr zwei versteht euch, hm?"

Dylan setzte sich neben mich und küsste meinen Hals.

"Worauf hast du jetzt Lust?", fragte er flüsternd in mein Ohr.

"Keine Ahnung. … Fernsehen?"

"Ich hab keinen Fernseher …"

Ich schaute mich um. Tatsächlich.

"Okay … was schlägst du vor?"

"Wenn es nach mir geht, dann fick ich dich die ganze Nacht", flüsterte er.

"Ich glaube, das halte ich nicht durch. Du bist nicht gerade … zärtlich."

"Ich kann zärtlicher sein, lass es mich dir beweisen …"

Unser drittes Mal wurde ganz anders, viel ruhiger, sogar mit Vorspiel. Ich hatte plötzlich irgendwie wirklich das Gefühl, Dylan vertrauen zu können. Er würde nichts tun, was mir schaden könnte, ganz sicher.

Mitten in der Nacht wachte ich auf der Couch auf. Dylan lag nahe bei mir und regte sich ebenfalls.

"Bist du wach?"

"Ja", gähnte er.

"Soll ich gehen?"

"Nur in mein Bett. Komm."

Mein klingelndes Handy weckte mich am Vormittag. Es war Tobey. Fuck! Ich verzog mich ins Wohnzimmer und nahm ab.

"Hey."

"Hey. Bist du nicht zu Hause?"

"Ich bin schon unterwegs …"

"Ich war gerade noch mal bei Nanny. Sie hat sich entschuldigt."

"Das war echt nicht nötig …"

"Gleich bin ich am Flughafen."

"Dann bist du wieder weg."

"Wie geht es mit uns weiter, Jordan?"

Anscheinend war die Sache für ihn nicht ganz so klar, wie für mich …

"Keine Ahnung, wirklich nicht …"

"Ich liebe dich."

"Ich liebe dich auch."

"Komm nach Japan."

"Das geht nicht und das weißt du auch."

"Ja, ich weiß. Es ist nur so unfair. Warum muss ich mich zwischen den beiden Dingen entscheiden, die mir am wichtigsten sind?"

"Ich weiß wirklich nicht, was ich dir sagen soll. … Ich liebe dich, aber ich kann nicht die nächsten vier Monate damit verbringen, darauf zu hoffen, dass du vielleicht Weihnachten nach Hause kommst …"

Das war wohl deutlich. Eine Pause entstand. Dann:

"Ich muss los. Bis dann, Jordan."

"Bis …"

Und schon hatte er aufgelegt.

Verdammt, ich sollte es doch inzwischen besser wissen! Jetzt steckte ich schon wieder mitten in so einem Drama. Mit Tobey hatte ich nun wirklich alles verloren, was mir wichtig gewesen war.

"Alles in Ordnung?"

Dylan lehnte lässig im Türrahmen.

"Wie lange stehst du da schon?"

"Lange genug. Du bist mit jemandem zusammen."

Sein Ton war relativ ungerührt.

"Mit jemandem, der gerade auf den Weg zurück nach Japan ist und so schnell auch nicht wiederkommt."

"Hast du das hier deshalb gemacht?"

Hatte ich wohl, oder?

"Ich wollte Ablenkung …"

"Und ich wollte Gesellschaft …"

"Musst du jetzt in die Arbeit oder so?"

"Ich fange erst am ersten September an. Musst du nach Hause?"

"Da wartet niemand auf mich."

"Wollen wir heute was zusammen unternehmen?"

Das war zwar eine saudämliche Idee, aber in dem momentanen Chaos war das auch schon egal.

"Hast du ein Auto?", fragte ich.

"Ich hab eine Bushaltestelle."

"Okay, dann dusch ich mal eben und so …"

Als ich aus dem Bad kam, griff ich als erstes in den Beutel, holte meine Pillen raus und schmiss zwei ein, als Dylan ins Schlafzimmer kam.

"Ach komm … muss das sein? Ich bin auf Bewährung, verdammt noch mal. Die Pillen müssen verschwinden."

"Das sind Schmerzmittel. Die wurden mir verschrieben."

"Ja, natürlich. Jetzt komm schon, Jordan. Versau das Ganze nicht wegen so einem Scheiß."

Ich schmiss ihm die Dose zu.

"Lies. Da steht mein Name. Ich brauch die Pillen, weil mein Kopf sonst explodiert, alles klar?"

Er zuckte resigniert die Schultern, schmiss die Dose wieder zurück und ich verstaute sie.

"Ich muss mich noch bei meinem Bewährungshelfer melden. Persönlich."

"Okay, dann ist das wohl unser erstes Ziel."

Wir fuhren mit dem Bus ein paar Stationen weiter. Ich rauchte, während Dylan in einem Gebäude verschwand und zehn Minuten später wieder herauskam.

"Und wohin jetzt?", fragte er.

"Ich wohne nicht weit von hier. Ich würde mich gerne mal schnell umziehen und so."

"Okay, klar …"

Wir gingen durch eine Gasse, plötzlich sahen die Häuser viel gepflegter aus. Wir gingen am Laden vorbei, Janet sperrte gerade die Tür auf.

"Hey. Jerry ist noch nicht aufgetaucht."

"Ich schau mal nach, ob er noch zu Hause ist."

Dylan trottete immer einen Schritt hinter mir her. Als ich in den Eingangsbereich meines Blocks bog, blieb er stehen.

"Hier wohnst du?"

"Ja."

"Das sieht teuer aus …"

"Geht so."

Ich klingelte unten gleich mal, um Jerry vorzuwarnen, dass ich nach Hause kam. Wir stapften in den zweiten Stock. Jerry machte schon die Tür auf, in seinen Schlaf-Shorts.

"Ich hab verschlafen."

"Janet hat gerade aufgesperrt. Beeil dich."

Schon verschwand er wieder.

"Wer ist das?"

"Mein Mitbewohner."

"Ein Punk?"

"Kommst du mir jetzt mit der Nazi gegen Punk-Leier?"

"Nein … alte Gewohnheiten. Sorry …"

"Komm rein."

"Wow! Das ist … hier wohnst du?! Wie kannst du dir das leisten? Vertickst du Drogen?"

"Musik. Ich schreib Songs und verkaufe sie."

"Wow … das ist echt … krass! Und dieses Gemälde da?"

"Ich bin hier 98 mit meinem schon-lange-Exfreund eingezogen. Er ist Maler. Schau dich um, oder so … ich komm gleich wieder."

Ich zog mich oben um. Als ich runter kam, kam Jerry gerade aus dem Bad und beäugte Dylan missmutig.

"Und wer bist du?"

"Ich bin gleich wieder weg, keine Sorge."

Ich fragte ihn:

"Solltest du dich nicht lieber beeilen?"

"Was ist mit Tobey?"

"Der sitzt wahrscheinlich schon im Flugzeug zurück."

"Geht mich ja auch nichts an. Bis heute Abend oder so …"

"Ja. Also, Dylan: Frühstück?"

"Gern."

Er bestaunte den großen, gut gefüllten Kühlschrank.

"Du spielst nicht in meiner Liga."

Ich wusste nur zu gut, wie er sich fühlte.

"Für einen One Night Stand reicht es ja wohl", gab ich schnippischer zurück, als ich beabsichtigt hatte.

"Ja, wahrscheinlich. … Trotzdem, warum hast du mich dich so behandeln lassen?"

"Warum hast du mich denn so behandelt?"

"Ich wollte eben auf Distanz bleiben."

"Hat ja gut geklappt …"

Was meinte ich denn bitte damit? Irgendwie hatte der Kerl eine sehr seltsame Wirkung auf mich. Was hatte ich mir überhaupt dabei gedacht, den mit nach Hause zu bringen?!

"Ich hab nicht mit jemandem wie dir gerechnet", riss er mich aus meinen Gedanken.

"Jemandem wie mir?"

"Du siehst gut aus, bist ein netter Kerl, männlich, nicht tuntig, lässt mich dich ficken, mein Hund mag dich … du weißt schon."

"Du kennst mich nicht und ich kenn dich nicht."

"Ich würde das gerne ändern."

"Ist Dylan überhaupt dein richtiger Name?"

Er holte seinen Führerschein raus.

"Dylan Thomas Handerson. Nach dem Dichter."

"Hab von ihm gehört."

"Und du heißt Jordan Bonanno, stand auf den Pillen. Haben die Narben was mit deinen Schmerzen zu tun?"

"Sieht man die immer noch durch die Haare?"

Wie eitel klang das denn?!

"Ein bisschen, aber nur wenn man mit dir schläft."

Seine Augen funkelten so komisch. Schnell sagte ich irgendwas.

"Ja, daher kommen die Schmerzen."

"Hattest du einen Unfall oder so was?"

"Oder so was …"

Scheiße, musste der da jetzt drauf rum reiten?

"Okay. Ich frag nicht weiter nach."

Gedanken lesen konnte er also schon mal. Und er räumte ganz selbstverständlich den Tisch ab.

"Danke."

"Du solltest noch mal was mit deiner Wange machen."

"Ach, halb so schlimm …"

Das war eine fette Lüge. Beim Blick in den Spiegel, nach dem Aufstehen, hatte mich fast der Schlag getroffen. Ich sah aus, als hätte ich zu lang unter dem Solarium gelegen, aber eben nur auf einer Seite.

"Wie geht es dir sonst? War ich zu grob?", fragte er fast besorgt und ließ sich auf den Stuhl neben mir sinken.

"War auszuhalten …"

"Hattest du wenigstens ein bisschen Spaß?"

"Sonst hätte ich nicht drei Mal mit dir geschlafen, oder was meinst du? Wieso bist du plötzlich so besorgt um mich?"

"Du bist eben nicht der, für den ich dich gehalten habe. Ich dachte, du sitzt, genau wie ich, in irgendeinem Internetcafé und suchst Ablenkung von deinem Scheißleben."

Also das war ja wohl die Höhe! Was wusste der denn?!

"Nur weil ich Geld habe, ist mein Leben nicht Scheiße?! Wenn du dich da mal nicht täuscht."

"Für so eine Wohnung würde ich alles tun, echt. Damit können die Dinge gar nicht mehr so schlimm sein."

"Wie du meinst."

"Was ist passiert? Warum bist du so fertig? Warum lässt du dich von wildfremden Kerlen ficken wie sie wollen?"

Traurig, dass dieser wildfremde Kerl der einzige Mensch auf Erden war, der wusste, wie fertig ich tatsächlich war.

"So bin ich eben und so war ich schon immer. Die Leute können mit mir machen was sie wollen, mir egal."

"Das glaub ich nicht. Ich glaube, du bestrafst dich selbst für irgendwas."

"Hast du im Knast Psychologie-Vorlesungen besucht, oder was?"

"Wenn du einen Wunsch frei hättest, egal was: Was würdest du dir wünschen?"

Ließ der sich denn durch nichts aus der Ruhe bringen?!

"Keine Ahnung."

"Komm schon, dir fällt bestimmt was ein."

"Ich würde mir wünschen, dass ich mich nie wieder verliebe."

"Warum?"

"Weil ich einfach zu blöd dazu bin, zu verhindern, dass ich mich immer in Kerle verliebe, die mich verlassen. In Wahrheit bin ich nämlich genau wie du. Total verkorkst, schlimme Vergangenheit, White Trash vom Feinsten. Und wenn die Leute das erst mal mitbekommen, dann dauert es nicht mehr lang und sie sind weg."

So ehrlich war ich bisher nicht mal zu mir selbst gewesen.

"Geht es um den Kerl, mit dem du heute Morgen telefoniert hast?"

"Ich hab quasi mit ihm Schluss gemacht."

"Warum?"

"Seiner Familie gehört eine Privatklinik."

"Und?"

"Er könnte mich nie seinen Eltern vorstellen. Nie im Leben. Selbst wenn ich eine Frau wäre nicht. Ich bin nur ein Ex-Junkie, der keine ordentliche Ausbildung hat, aber durch viel Glück und viel hochschlafen mit Musik genug Geld verdient hat, um sich eine nette Wohnung und viel Freizeit leisten zu können. Alle verlassen mich und das ist auch das Beste, was sie tun können."

"Aber du hast doch mit ihm Schluss gemacht."

"Um mir den ganzen Scheiß diesmal zu ersparen."

"Ich glaube, du versaust es dir nur selbst. Ich weiß echt nicht, was ich sonst noch dazu sagen soll. Ich bin nicht gut in so was …"

"Ich auch nicht. Vielleicht sollten wir einfach wieder ficken."

"Du bist echt noch verkorkster als ich."

Ich bemerkte zu spät, dass er grinste und schoss hervor:

"Willst du dich beschweren?"

Aber er blieb mal wieder die Ruhe selbst, was bei seinem Äußeren irgendwie total verquer war.

"Absolut nicht."

"Gut. Da oben ist mein Schlafzimmer."

Wir gingen die Treppe hoch und standen in Gwens Zimmer. Er schaute sich irritiert um.

"Das ist das Zimmer meiner Tochter", erklärte ich.

"Wo ist sie?"

"Bei ihrer Mutter, wie immer. Im letzten Jahr hat sich viel verändert. Früher hat sie bei mir gewohnt, jetzt ist sie weg. Ich sehe sie, wenn ich Glück hab, alle zwei Wochen. Aber so ist das halt. Komm schon."

Er rührte sich nicht.

"Jordan, du hast eine Tochter!"

"Äh, ja, ich weiß."

"Das ist echt ne große Nummer. All die Verantwortung. So was darf man nicht versauen."

"Ich versau es nicht."

"Warum siehst du sie dann so selten?"

Ich zeigte auf meinen Kopf. Damit gab er sich zufrieden.

"Okay. Also, dein Schlafzimmer …"

"Gleich hier."

Er setzte sich aufs Bett und klopfte neben sich.

"Komm her. Setz dich zu mir."

Ich setzte mich neben ihn. Er legte mir die Hand an die wunde Wange.

"Du bist so schön."

Das war das Sentimentalste, das er bis dahin von sich gegeben hatte. Er zog meine Hose aus und nahm meinen Schwanz in den Mund.

Als ich gekommen war, legte er sich in meinen Arm.

"Du schmeckst total gut."

"Danke …"

"Dein Bett ist so bequem."

Er streckte sich, dann kuschelte er sich an meinen Hals.

"Dylan?"

"Hm?"

"Du bist auch anders als ich gedacht habe. Plötzlich mutierst du hier zum Softie …"

"Ich kann es nicht ändern. Ich fühle mich wohl bei dir und überhaupt nicht bedroht."

"Gut. Aber ich will mich nicht schon wieder verlieben …"

Hatte ich das gerade echt ausgesprochen?! Was passierte da?

"Hey, wir dehnen unseren One Night Stand nur ein bisschen aus. Außerdem, glaubst du echt, dass du dich in einen wie mich verlieben könntest?"

"Ich sag's doch, ich bin total verkorkst."

"Wer hat dich eigentlich so verkorkst?"

"Meine Eltern vermutlich …"

Er kuschelte sich ganz eng an mich und streichelte meinen Bauch.

"Erzählst du mir von ihnen?"

Ich holte tief Luft.

"Also, sie waren gerade mal 15, als ich geboren wurde …"

Ich erzählte davon, wie meine Mum mit ihren Eltern wegziehen hatte müssen und ich erzählte von der ersten Wohnung, in der wir gelebt hatten, seit ich drei gewesen war. Von Weihnachten ohne Geschenke und so weiter. Ich erzählte auch von Mum's schrecklichen Kerlen, von den Macho-Eskapaden meines Vaters, von seiner neuen Familie … bis hin zu meinem ersten Joint mit 12.

"Kein Wunder, dass du verkorkst bist. Deine Leute haben ja getan, als wäre das alles deine Schuld. Ich hasse Menschen, die zu blöd sind zu verhüten und es dann an den Kindern auslassen. Du machst das doch nicht so mit deiner Tochter, oder?"

"Ich war schon erwachsen als sie geboren wurde und hab mich wirklich gefreut. Das erste Jahr mit Gwen war vermutlich die glücklichste Zeit in meinem Leben. Dann ist das mit meinem Kopf passiert und irgendwie war danach alles anders."

"Was ist eigentlich mit deinem Kopf passiert?", fragte er vorsichtig und drängte sich noch näher an mich.

"Ich wurde angeschossen, weil ich so verkorkst bin."

"Das musst du mir, glaub ich, erklären …"

"Mein Großvater hat gesehen, wie ich einem Kerl einen geblasen habe. Daraufhin ist er durchgedreht."

"Und hat auf dich geschossen?!"

"Ja …"

"Schmort er im Knast bis er verreckt?"

Ich nickte.

"Gut. Verdammt, ich würde dich jetzt gern festhalten und küssen und nie mehr loslassen."

"Was hält dich ab?"

"Angst."

"Wovor?"

"Frag besser nicht …"

Aber es war mir eigentlich schon klar. Das war das seltsame Funkeln in seinen Augen und das war der Grund, warum er mich so durcheinander brachte.

"Du magst mich, oder? Ich wusste, dass so was passiert! Ausgedehnter One Night Stand, so ein Schwachsinn! Du solltest jetzt gehen."

Ich stand auf, er nicht.

"Wenn du das wirklich willst, dann geh ich. Aber ich würde viel lieber was von deiner Musik hören …"

"Du verstehst das nicht! Ich schlittere von einer zum Scheitern verurteilten Beziehung in die nächste. Und jedes Mal bin ich so dumm, mich wirklich mit ganzem Herzen darauf einzulassen. Ich hab Angst davor, was passiert, wenn mich noch mal jemand verlässt."

"Wir kennen uns erst seit gestern Nachmittag und du redest schon übers verlassen werden. Jetzt lass mich dich doch einfach mal kennenlernen."

"Ich weiß schon, wie das endet."

"Dann muss ich dich ab jetzt wohl Gott nennen … Was ist jetzt mit Musik?"

"Ich hol eine CD …"

"Eine CD? Ich dachte, du spielst mir vielleicht was vor …"

"Na gut, dann hol ich eben meine Gitarre."

Natürlich war er begeistert. Ich merkte, wie ich mich mal wieder auf etwas ganz Schlechtes einließ und er sah mir wohl an, was ich dachte.

"Ich mach dir einen Vorschlag, Jordan."

"Welchen denn?"

Sein ernster Gesichtsausdruck ließ mich erahnen, was kommen würde. Er nahm mir die Gitarre ab und legte sie neben uns aufs Bett. Dann legte er mir eine Hand aufs Knie.

"Lass uns einfach unsere Vergangenheit vergessen, einfach nicht mehr drüber reden, alles, was uns verkorkst hat, zurücklassen. Ich will es mit dir versuchen. Ich will dich in meinem Leben haben. Ich will meine Zeit mit dir verbringen, dich zum lachen bringen, mit dir Liebe machen. Was sagst du dazu?"

"Einfach so?"

"Und ohne Garantie, aber stell dir vor es klappt!"

"Das ist doch voll irre. Wir kennen uns kaum …"

"Ich weiß alles über dich, was ich wissen muss. Deine Vergangenheit ist mir egal, mir ist egal, woher du kommst. Ich fühle einfach, dass das hier etwas werden könnte."

"Ich kann deine Vergangenheit aber nicht einfach vergessen. Ich meine, ich werde dein Tattoo jedes Mal sehen, wenn ich dich ausziehe …"

"Ich kann das Tattoo genau so wenig ändern, wie ich die Vergangenheit ändern kann. Aber ich bin kein aggressiver Mensch mehr, ich schlage niemanden mehr wegen seiner Herkunft zusammen, ich will einfach nur in Frieden mein Leben ein bisschen leben, ohne die durch Gitterstäbe gefilterte Luft. Ich biete dir den wichtigsten Platz in meinem Leben an, Jordan. Das ist vielleicht nicht viel, aber alles was ich habe. Was sagst du?"

Ich war völlig damit überfordert, diesen harten Kerl plötzlich so emotional zu sehen, seine ganze Fassade war weg. Ich musste irgendwas Unverfängliches sagen:

"Was ist mit deiner Familie?"

"Es gibt nur mich."

"Jeder hat Familie."

"Sie haben mir die Wohnung besorgt und mir klargemacht, dass sie keinen Kontakt mehr wollen. Das war's. Es gibt nur noch mich."

Irgendwie … berührte er mich.

"Okay, scheiß drauf. Was haben wir denn zu verlieren?"

"Genau!"

Er zog mich in einen vorsichtigen Kuss.

"Na dann, lass uns an den Strand gehen!", schlug ich, inzwischen euphorisch, vor.

"Ich kann in der Öffentlichkeit nicht ohne Shirt rumlaufen."

"Hast du das früher nicht gemacht?"

"Doch, klar."

"Wo ist der Unterschied?"

"Dass ich nicht mehr an den Scheiß glaube."

"Wenn wir Händchen haltend über den Strand spazieren, schaut sowieso keiner auf deine Tattoos."

"Ich schäme mich dafür."

"Willst du das für den Rest deines Lebens? Kann man das nicht überstechen oder entfernen oder so?"

"Mit einem Haufen Kohle vielleicht …"

"Wie sehr willst du es loswerden?"

"Das wäre echt mein größter Wunsch …"

"Dann lass uns zu einem Tätowierer gehen und ihn fragen was er meint. Ich bezahle."

"Aber …"

"Ich hab genug Kohle, mach dir keine Sorgen."

"Wenn ich das annehme, dann denkst du irgendwann, ich bin nur wegen deinem Geld bei dir."

"Und wenn du es nicht annimmst, dann kann ich nie neben dir in Badekleidung am Strand liegen und deinen Körper bewundern."

"Ich hab doch, seit ich draußen bin, nicht mehr trainiert …", meinte er bescheiden.

Komplimente war er offensichtlich nicht gewohnt.

"Ich hab eine Mitgliedschaft bei der ich einen Gast mitbringen darf …"

"Okay, Tätowierer und dann Fitness-Studio?"

"Eine Freundin von mir, Janet, du hast sie vorhin gesehen, macht ein Piercingstudio auf. Sie teilt sich die Räume mit einem Tätowierer. Ich könnte sie anrufen und fragen, ob er gerade Zeit hat …"

"Okay."

Sie sagte, er hätte Zeit für ein kurzes Beratungsgespräch und ich würde mir so endlich ihr neues Studio anschauen können. Ich ließ Dylan mit meinem Auto fahren, wegen der Pillen.

"Hallo ihr beiden. Willkommen im 'Ink & Needle'. Ich bin Janet."

"Dylan."

"Schön dich kennenzulernen. JD wartet schon da hinten."

Wir folgten ihrem Blick. JD war ein dicker, schwarzer Koloss. Dylan griff hilfesuchend nach meiner Hand.

"Vielleicht war das keine so gute Idee."

"Ich bin bei dir. Wir erklären es ihm, das wird schon …"

Ich sah uns kurz in einem Spiegel über dem Tresen. Dylan war ein paar Zentimeter größer als ich. Wir sahen in unseren ärmellosen Shirts eigentlich beide wie echte Kerle aus, bis auf die Tatsache, dass wir Händchen hielten. Das fand ich unbeschreiblich sexy. Ich fand ihn unbeschreiblich sexy. Seine tiefe Stimme, seinen perfekten Körper, seine männliche Ausstrahlung. Aber jetzt musste ich mich erst mal zusammenreißen.

"Hey, JD. Das sind Jordan und Dylan."

"Hey Jungs. Also, was gibt's?"

"Ich würde mir gern ein Tattoo überstechen lassen."

"Na dann lass mal sehen."

Er zog verhalten sein Shirt aus und zeigte auf den Schriftzug.

"Alles Klar. Whale Ride", sagte JD sofort.

"Was?"

"Das kann ich dir draus machen. Es sei denn, du hast eine bessere Idee."

"Nein. Whale Ride. Was auch immer. … Ist dir das so schnell eingefallen?"

"Glaubst du, du bist der Erste, der den Scheiß bereut? Was ist mit dem restlichen Mist?"

"Das, glaub ich, ist alles nicht so offensichtlich …"

"Für jemanden, der sich nicht auskennt nicht, das stimmt. Du kannst dir das ja noch überlegen und wenn du morgen Vormittag Zeit hast, machen wir einen Whale Ride, oder Whale Rider, was dir lieber ist."

"Whale Rider, glaub ich …"

"Na gut. Sagen wir um 10."

"Okay, danke. Dann bis Morgen."

Dylan strahlte.

"Dass das so einfach geht! … Ich dachte echt, der reißt mir gleich den Kopf ab, wenn er das sieht. Danke, Jordan."

Er gab mir einen stürmischen Kuss.

"Also, wollen wir ein bisschen trainieren?", fragte ich.

"Solltest du dich anstrengen?"

"Ich fahr ein bisschen Fahrrad und trink ein paar Fruchtcocktails, während du dich plagst."

"Na gut, wenn das echt okay ist …?"

"Klar."

Was er alles stemmen konnte, war wirklich imposant. Bald hatte er tatsächlich Publikum und jede Menge Leute wollten sich mit ihm messen. Ich schaute aus sicherer Entfernung dabei zu und sah genau, dass es Dylan nicht gerade angenehm war, aber da musste der Arme jetzt durch. Ich grinste vor mich hin und genoss meinen zweiten Fruchtmix.

Eineinhalb Stunden später hatte er genug und ging duschen. Er kam oben ohne und mit verkrampft vor der Brust verschränkten Armen zurück.

"Was ist los?"

"Total durchgeschwitzt. Krieg ich deins?"

Er zupfte an meinem Shirt.

"Jetzt mach dich nicht lächerlich. Den letzten Tag wirst du auch noch durchstehen. Komm schon, gib mir deine Hand."

"Aber …"

"Es fällt vermutlich niemandem auf, jetzt komm schon."

"Na gut …"

"Lass uns ein bisschen am Strand spazieren gehen, ja?"

"Okay, aber ich muss bald mal nach Stan schauen."

"Klar, dann gehen wir am Strand in deine Richtung."

"Okay …"

Wir schlenderten eine paar Minuten Händchen haltend durch den Sand, dann bogen wir wieder auf die normale Straße und waren noch mal zehn Minuten später wieder bei ihm. Wir gingen kurz mit Stan raus, fütterten ihn und machten uns wieder auf den Weg zum Auto.

Bei mir kochten wir und Dylan entdeckte meine CD-Sammlung. Außerdem erzählte ich von Josh. Dann sah er das Album.

"Bist du das auf dem Cover?"

Ich nickte.

"Summerskin sagt mir was!"

"Wir existieren nicht mehr und langsam fang ich an, die Band-Arbeit zu vermissen …"

"Du bist also eine Berühmtheit?"

"Halbwegs, aber wie gesagt, wir haben uns getrennt, also …"

"Wahnsinn. Du steckst wirklich voller Überraschungen. … Kein Wunder, dass du Kohle wie Heu hast!"

"Naja … oh, ich glaub Jerry ist heimgekommen. Ich sag ihm mal, dass was zu Essen übrig ist …"

Jerry kam mir schon entgegen gestürmt.

"Bist du alleine?"

"Nein, warum?"

"Ist der Nazi bei dir?!"

"Hast du ein Problem?"

"Allerdings. Ich dachte echt, du wärst ganz okay und jetzt schleppst du so was an."

"Ich werde nicht anfangen, mich vor dir zu rechtfertigen."

"Ich kann ein paar Tage bei Janet bleiben und dann mal sehen. Lieber ende ich wieder auf der Straße, als mit so was unter einem Dach zu wohnen."

"Wie du willst."

"Gut."

Er stapfte zum Büro, wo seine Sachen waren. Da drinnen war auch Dylan, deshalb ging ich hinterher.

"Verschwinde", zischte Jerry.

"Was ist denn jetzt los?"

"Ich pack meine Sachen, in zwanzig Minuten bin ich weg. Und jetzt verschwinde aus diesem Zimmer."

Dylan stand auf und kam zu mir rüber.

"Ich schätze, Janet hat von unserem Besuch heute erzählt", erklärte ich.

"Tut mir leid, dass du jetzt meinetwegen Ärger hast."

"Lass uns hoch gehen, ja?"

Er ließ sich mit unglücklicher Miene aufs Bett sinken.

"Tut mir echt leid …"

"Jetzt mach dir keine Gedanken. Der kriegt sich schon wieder ein und wenn nicht, kann ich auch nichts machen. Komm her. Ich hab grad keine Lust auf reden …"

Ich zog ihm sein Shirt aus. Ganz automatisch ging seine Hand nach oben, an den Schriftzug. Ich nahm sie weg. Stattdessen küsste ich die Stelle.

"Das ist nur Farbe auf der Haut, Dylan. Das macht dich nicht zu einem schlechten Menschen."

"Danke Jordan, wirklich."

Ich küsste seinen ganzen, harten Körper. Er hatte überall Gänsehaut und zitterte unter mir. Ich küsste seine Ohren, seinen Hals, seine Schultern. Meine Hände fuhren über die Stoppeln auf seinem Kopf. Ich zog seine Hose aus. Er war einfach perfekt. Sein Körper war perfekt. Ich holte ein Kondom aus meiner Nachttischschublade und zog es mir über.

"Das hab ich schon lange keinen mehr machen lassen", erklärte er danach.

"Hat es dir gefallen?"

"Schon, natürlich. Aber andersrum ist es mir lieber."

"Na dann komm her."

"Wir haben ganz schön viel solchen Sex."

"Du meinst Analsex?"

"Ja."

"Ja, stimmt."

"Vielleicht sollten wir mal einen Gang zurückschalten …"

"Und das von dir?", grinste ich.

"Ich weiß. Aber jetzt bedeutest du mir eben was. … Ich will dich einfach nur nah bei mir haben. Ganz nah."

Wir lagen, mit den Gesichtern aneinander, eng umschlungen da und küssten uns ewig. Dylan's Küsse waren so anders geworden! Wir spielten perfekt zusammen, als hätten wir nie was anderes gemacht. Ich wurde müde und mein Kopf fing an, weh zu tun.

"Ich brauch ein paar Tabletten."

"Ich lass dich nicht weg. Schau, ich massier dir die Schläfen, das hilft. Versuch zu schlafen."

"Okay …"

Ich schlief wohl tatsächlich ein.

Als ich die Augen aufmachte, schaute Dylan mich schon an. Er lächelte.

"Was ist?"

"Du hast im Schlaf gesummt. Eine Melodie, die ich nicht erkannt habe …"

"Wirklich? Seltsam …"

"Es ist Neun. In einer Stunde muss ich beim Tätowierer sein und davor muss ich noch zu Stan."

"Wir sollten ihn mit hier her nehmen …"

"Wenn das okay ist?"

"Klar."

"Ich geh schon mal unter die Dusche."

"Ich komm gleich nach …"

"Nicht wieder einschlafen."

"Nein, nein …"

Ich streckte mich noch eine Weile auf dem Bett und dachte an die Ereignisse der letzten Tage. Dylan. Meine Vernunft riet mir, dem allen ein Ende zu setzen. Aber da war etwas, das mich davon abhielt. Etwas, das mich ihm vertrauen ließ, fast bedingungslos.

Nach der Dusche fand ich mal wieder einen Schlüssel auf dem Couchtisch. Jerry's. Ich plante, nachher noch mal mit Janet zu reden. Wir frühstückten und machten uns mit dem Auto auf den Weg, holten Stan, zwei Näpfe und ein paar Dosen Futter und fuhren zu 'Ink & Needle'.

Janet war noch nicht da. Sie kam erst zwanzig Minuten später. Dylan verzog keine Miene, während JD ihn mit der Nadel malträtierte.

"Ah, ihr seid schon da …", stellte sie nüchtern fest.

"Hey Janet. Ich hab das Gefühl, wir sollten reden."

"Ich bekomme jeden Moment Kundschaft und muss noch viel vorbereiten."

"Kann ich dir dabei helfen?"

Sie schmiss ihre Tasche hin und fuhr mich an:

"Was ist mit dir los, Jordan?! Du schluckst schon viel zu lange diese Schmerztabletten, meldest dich nicht von selbst bei Nikki und jetzt schleppst du einen Nazi an?!"

"Genau, deshalb lässt er sich den Spruch auch überstechen, klar."

"Sein ganzer Körper ist übersät mit solchem Zeug! Er muss ganz schön fanatisch gewesen sein. Du glaubst doch nicht, dass man dieses Gedankengut so einfach aus dem Kopf bekommt, oder? Was ist bloß los mit dir?! Ich dachte, das mit Tobey würde gut laufen!"

"Wie soll es denn gut laufen, wenn er in Japan lebt?! Ich will jetzt echt nicht über Tobey reden, okay?!"

Ich hatte sie noch nie angebrüllt, das war das erste Mal. Sie trat einen Schritt zurück und sagte ruhiger:

"Okay. Ich mach mir einfach Sorgen um dich. Ich hab das Gefühl, die Trennung von Summerskin und deine OP haben dich mehr mitgenommen als du zugibst …"

"Und wenn schon? Was willst du dagegen machen? Nicht zu ändern, dass es die Band, die ich in den letzten sieben Jahren aufgebaut habe, nicht mehr gibt! Und nicht zu ändern, dass mein Schädel eine tickende Zeitbombe ist! Und nicht zu ändern, dass ich mich mit Pillen vollpumpen muss, um einigermaßen über den Tag zu kommen. Nicht zu ändern, dass Nikki sich die perfekte kleine Familie aufgebaut hat und ich alleine dastehe. Nicht zu ändern, dass Xander mich verlassen hat, dann Vince und dann Tobey. Ich greife nach jedem Strohhalm, der sich mir bietet! Und wenn das bedeutet, dass ich einfach die Vergangenheit ausblenden muss, um ein normales Leben führen zu können, dann mache ich das. Tut mir leid, wenn du und Jerry das nicht verstehen könnt!"

Ich stapfte zurück zu Dylan, dessen Miene wie versteinert war, bis er mich sah und gequält lächelte.

"Ich kann mal mit ihr reden, wenn du willst …?", bot er unsicher an.

"Mal sehen. … Ich geh mit Stan raus. Komm, Stan."

Als ich gerade draußen war, klingelte mein Handy. Scott's Nummer. Was konnte der denn wollen?

"Ja hallo?"

"Hi. Wir haben ein Problem. Wie schnell kannst du in meinem Büro sein?"

"Also eigentlich hab ich schon was vor. Und Auto fahren kann ich auch nicht."

"Es ist ein Notfall. Ich hol dich ab. Wo bist du?"

Ich gab ihm die Adresse und ging wieder rein.

"Das ging aber schnell."

"Ich muss kurz weg, tut mir leid. Ich lass dir den Autoschlüssel da. Wir treffen uns nachher bei mir. Hier ist der Zweitschlüssel."

"Du gibst mir dein Auto und deinen Wohnungsschlüssel?"

"Ich vertrau dir."

"Was ist überhaupt los?"

"Keine Ahnung. Mein Agent hat angerufen und was von einem Notfall erzählt. Er sollte in ein paar Minuten da sein. Ich warte draußen auf ihn. Sei tapfer. Wir sehn uns bald, Whale Rider."

Ich gab ihm einen Kuss, sagte Janet, dass ich JD spätestens morgen bezahlen würde und ging raus, um noch eine zu rauchen. Beim letzten Zug brauste Scott in seinem roten Flitzer an. Ich machte die Zigarette aus und stand vom Randstein auf.

"Hey."

"Hi. Steig ein, wir müssen los."

"Was ist denn eigentlich passiert?"

"Da hinten liegt mein Laptop. Mach ihn an."

"Okay …"

Das Ding fuhr hoch. Eine Bilddatei war minimiert, ich klickte sie an.

"Fuck!"

Das Bild zeigte Dylan und mich Händchen haltend am Strand.

"Bitte sag mir, dass das eine Fotomontage ist, Jordan."

"Das war gestern. Ich hab überhaupt nicht mitbekommen, dass jemand Fotos gemacht hat."

"Handykamera. Jordan, es gibt noch ein paar Bilder davon. Auf einem erkennt man ganz deutlich rechtsradikale Parolen. Kannst du mir das erklären?"

"Jetzt mal langsam. Wie kamen die Fotos überhaupt zu dir?"

"Per e-Mail. Von dem Kerl, der die Rechte an den Fotos von der Privatperson gekauft hat und sie an sämtliche Boulevardblätter vertickt."

"Was machen wir jetzt?"

"Das werden wir wohl nicht verhindern können. Öffentlicher Ort, nichts zu machen."

"Wann?"

"Morgen in den ersten Magazinen, im Internet wohl schon heute. Er hat mir bis Mittag Zeit gegeben, um mit dir eine Pressemitteilung zu verfassen."

"Und was sollen wir da rein schreiben?"

"Keine Ahnung, Jordan. Ich weiß ja überhaupt nicht, was los ist. Ich dachte du und Tobey …"

"Oh mein Gott, Tobey! Er wird es aus der Presse erfahren. Und was ist mit Josh? Scott, komm schon, das muss doch zu verhindern sein!"

"Wir können nur Schadensbegrenzung betreiben. Die Bilder sind recht eindeutig. Du hältst seine Hand, strahlst ihn an. Du musst dich outen, sonst fallen sie über dich her wie die Geier."

"Und anders nicht?"

"Du hast nur die Wahl zwischen übel und wirklich übel, befürchte ich. Aber viel schlimmer sind seine Tattoos. Wer ist der Kerl? Warum rennst du mit so einem durch die Gegend?"

"Er ist gerade jetzt beim Tätowierer und lässt sich eines dieser Tattoos überstechen. Das sind Jugendsünden, nichts weiter."

"Das ist ernst! Die Presse wird dich zerreißen. Erst Mafia und jetzt Rechtsradikale."

"Was wenn ich dir sage, dass mir das alles am Arsch vorbei geht? Ich muss nicht mehr den Ruf der Band bewahren, Josh und Gwen leben nicht mehr bei mir. Der Einzige, dem ich irgendwas schulde, ist Dylan. Fahr zurück. Ich muss das mit ihm besprechen."

"Aber Jordan, …"

"Spar es dir. Ich kann das nicht ohne Dylan machen, also dreh um, sonst verlieren wir noch mehr Zeit."

"Na schön."

Er wendete bei der nächsten Gelegenheit und bald parkten wir wieder vor dem "Ink & Needle". Dylan bekam gerade ein Pflaster über sein neues / altes Tattoo.

"Was machst du denn schon wieder hier?"

"Das ist mein Agent Scott. Er muss dir was zeigen. Ich komm gleich wieder zu euch."

Ich bezahlte schnell JD und stieß zu Scott und Dylan, als die Datei sich öffnete.

"Oh … okay … jemand hat uns fotografiert und das scheint ein Problem zu sein. Ich glaub ihr müsst mir das kurz erklären."

"Die Welt wusste bisher nicht, dass ich schwul bin. Das Bild wird morgen in allen Boulevardzeitungen sein."

"Scheiße."

"Ganz genau."

"Da ist noch mehr …"

Scott klickte ein anderes Bild an. Darauf war der Schriftzug auf Dylan's Brust rot umrahmt und gut sichtbar.

"Verdammte Scheiße. Wie können wir das verhindern?"

"Gar nicht."

"Aber ihr versteht das nicht. Wenn die Bilder publik werden, dann stehen bald meine ganzen alten Leute auf der Matte und dass ich schwul bin, wird ihnen nicht gefallen. Die machen mich fertig. Die Presse kann doch nicht einfach mein Gesicht abdrucken!"

"Das stimmt. Du bist keine Person des öffentlichen Interesses. Sie werden dein Gesicht verrastern, aber trotzdem wird man noch genug sehen, um Jordan in die Scheiße zu reiten. Ich hoffe, die Sache war es wert",meinte er bitter.

"So ein Scheiß hilft uns jetzt auch nicht weiter, Scott. Mach ein paar Anrufe und sorg dafür, dass Dylan auch wirklich anonym bleibt."

"Ich hab vier Jahre gesessen, ich denke das solltest du wissen",erklärte Dylan kleinlaut.

"Verdammt, Jordan! Wenn du Scheiße baust, dann richtig! Also, lasst euch nicht mehr zusammen sehen. Wir outen dich, reden von einer flüchtigen Bekanntschaft … und Jugendsünden."

Ich schaute Dylan an und sah wie er einen Kloß im Hals hinunterschluckte.

"Ist es das was du willst, Dylan?"

"Ich will das tun, was den wenigsten Schaden für dich hinterlässt."

"Oder wir sind ehrlich und stehen das zusammen durch?"

Er schaute mir fest in die Augen:

"Ich hab nichts zu verlieren."

"Was ist mit deinen alten Leuten?"

"Die Hälfte von denen ist im Knast, die andere Hälfte auf Bewährung. Wenn du dir wirklich sicher bist, dass du das tun willst …"

"Ich verliere dadurch vermutlich viel genug, du sollst nicht auch noch auf der langen Liste stehen."

"Es tut mir so leid."

"Es ist nicht deine Schuld. Früher oder später war so was unausweichlich. Und ja Scott, ich denke es hat sich gelohnt."

"Ich versteh dich einfach nicht, Jordan …"

"Ich muss jetzt ein paar Leute anrufen. Setz eine Erklärung auf, ja? Ich bin schwul und ich bin mit Dylan zusammen. Er ist aus der rechten Szene raus und wir wollen eigentlich nur in Ruhe gelassen werden. Ich hab nicht vor, ins Showbiz zurückzukehren. Ich hab genug von den ganzen Fassaden. Ein ganz normales Leben, das ist alles was ich will."

"Du machst dir damit eine wichtige Türe zu."

"Nicht mehr wichtig für mich. Ich hatte meine Zeit und jetzt ist dieser Abschnitt vorbei. Ich will endlich dieses von außen aufoktroyierte Gewissen loswerden. Schreib das alles auf."

Als ich das ausgesprochen hatte, fühle ich mich plötzlich so frei und leicht.

"Was ist mit deinen Kindern?"

"Je schneller wir das hinter uns bringen, desto schneller bekommen auch die beiden wieder ein normales Leben. Ich muss jetzt Nikki anrufen und meine Mutter. Und Tobey."

"Denk an die Zeitverschiebung …"

"Ich muss das jetzt gleich machen, sonst verlässt mich der Mut."

Ich verzog mich nach draußen in eine Seitenstraße. Es klingelte ewig, aber dann hörte ich Tobey's verschlafene Stimme.

"Hast du schon wieder die Zeitverschiebung vergessen?"

"Es ist was passiert, Tobey. Ich werde mich outen."

"Was? Warum so plötzlich?"

"Es sind Fotos aufgetaucht."

"Von uns?!"

"Nein, von mir und einem anderen Kerl. Ich hab ihn an dem Abend kennengelernt, nach dem wir bei deiner Großmutter waren. Ich weiß, das geht jetzt alles sehr schnell und es tut mir wirklich leid, aber ich hab keine Zeit zu verlieren. Die Bilder sind vermutlich schon im Netz und werden morgen in allen Magazinen sein."

"So schnell bist du einfach weitergezogen?"

"Es tut mir leid. Ich will einfach nur nicht mehr alleine sein. Ich bin grad echt ziemlich am Ende und ich muss noch so viele Leute anrufen. Ich will, dass du weißt, wie dankbar ich dir für alles bin. Und denk auf keinen Fall, dass meine Gefühle für dich nicht echt waren. Ich muss jetzt auflegen, Tobey."


Ich sammelte mich kurz, durfte gar nicht erst damit anfangen, mich schuldig zu fühlen. Ich musste Nikki anrufen.

"Endlich meldest du dich auch mal. Wer soll Josh morgen abholen?"

"Ich kann nicht Auto fahren."

"Wie lange schluckst du diese Pillen denn noch?"

"Ich muss mit dir etwas besprechen."

"Okay, was?"

"Ich werde mich outen."

"Was?! Warum?"

"Weil ich sonst spätestens morgen unfreiwillig geoutet werde. Egal was du morgen liest, Dylan ist ein guter Kerl."

"Dylan?"

"Ich hab jetzt keine Zeit für lange Erklärungen. Kannst du dafür sorgen, das Josh davon nichts mitbekommt, bis er zu Hause ist?"

"Ich versuch's."

"Ansonsten musst du mich sofort anrufen, damit ich mit ihm reden kann."

"Natürlich."

"Okay, ich muss weiter. Ich ruf morgen noch mal an."


"Hey Mum."

"Hallo mein Schatz. Alles okay?"

"Nicht so ganz, aber ich bekomm das hin. Morgen werdet ihr ein paar Sachen in der Zeitung lesen. Vieles wird Mist sein. Wahr ist, dass ich mit jemandem namens Dylan zusammen bin und dass er eine schlechte Vergangenheit hat. Aber ich hab nicht meinen Verstand verloren. Jetzt ist er ein guter Kerl. Ich stell ihn euch so bald wie möglich vor."

"Okay … also jetzt noch mal ganz langsam. Du wirst dich outen?"

"Outen oder geoutet werden, das ist die Frage …"

"Verstehe. Soll ich zu dir kommen?"

"Bleib bei den Mädchen, ich will dich da nicht mit reinziehen."

"Wenn du deine Meinung änderst, ruf an."

"Danke."

Ich ging wieder rein. Janet kam mir entgegen und sah alles andere als glücklich aus.

"Hast du deinen Verstand verloren? Du kennst den Kerl noch keine zwei Tage!"

"Das hat eigentlich nichts mit ihm zu tun. Ich mach das für mich. Und jetzt muss ich meine Pressemitteilung durchlesen."

Scott und Dylan hatten fast zwei Seiten getippt und erstellten gerade noch eine kürzere Version. Ich änderte nur ein paar Kleinigkeiten, das war alles.

Wir fuhren in Scott's Büro. Er sendete die Mitteilung an einige Online-Magazine. Sein Handy klingelte Sturm und er musste ein dutzend Mal die Echtheit der Mitteilung bezeugen. Es war faszinierend. Eine halbe Stunde später brauchte man nur meinen Namen bei Google eingeben und wusste Bescheid. Man wusste, dass ich schwul bin, dass ich mit einem Mann zusammen bin und dass wir uns einfach nur ein normales Leben wünschten, ohne Presserummel, was natürlich erstmal nicht funktionieren würde.

Scott wurde wegen Interview-Terminen und Fotos kontaktiert. Im Netz tauchten die Bilder von mir und dem verrasterten Dylan auf. Es war Zeit, das Thema Rechtsradikalismus anzuschneiden. Scott tippte, was Dylan ihm sagte. Die Wahrheit. Sein Name blieb unerwähnt, sein Gesicht blieb vorerst verrastert. Interviews lehnten wir ab. Mum rief an und fragte, wie es mir ginge. Nikki rief an und fragte mich, ob ich Interesse daran hätte, ihrem Magazin ein Interview zu geben. Scott sagte, das solle ich machen. Die nächste Ausgabe würde am selben Abend in den Druck gehen, das war ideal.

Nikki, Oliver, Gwen und ein Fotograf standen eine halbe Stunde später in Scott's Büro. Den Fotografen schickte Scott gleich wieder weg.

"Keine Fotos, vorerst."

"Na schön."

"Gwen, mein Schatz, komm her."

Sie kam auf mich zugelaufen und ich startete die traditionelle Knutschattacke, wie meine Mum es schon mit mir gemacht hatte. Noch gefiel ihr das.

"Hund!"

"Ja, das ist Stan. Komm her, Stan."

Er trabte rüber. Ich ging mit Gwen auf dem Arm in die Hocke. Sie hatte dem fremden Tier gegenüber offensichtlich gemischte Gefühle. Vorsichtig ließ sie ihn an ihrer Hand schnüffeln. Danach verzog er sich gleichgültig wieder unter einen Stuhl. Dylan schaute sie fast verzückt an.

"Hi Gwen. Ich bin Dylan."

Sie winkte.

"Du siehst ja genau aus wie deine Mum."

"Mommy!"

Sie zeigte auf Nikki. Ich stellte Dylan ihr und Oliver vor. Scott betonte noch mal, dass sein Name im Artikel nicht erwähnt werden sollte. Oliver setzte sich uns gegenüber hin.

"Na gut, dann lasst uns loslegen. Wenn ihr über irgendwas nicht reden wollt, dann sagt es einfach. Fühlt euch nicht verpflichtet, zu antworten. Na gut … also, wie lange kennt ihr euch schon?"

"Das Ganze ist noch relativ frisch."

"Warum habt ihr euch entschieden, eure Beziehung öffentlich zu machen?"

"Wir wollten verhindern, dass wir angreifbar werden. Wenn wir von selbst die Wahrheit sagen, ist das Ganze doch viel uninteressanter als irgendein Skandal-Bericht."

"Hat deine sexuelle Orientierung irgendwas mit der kürzlichen Trennung von Summerskin zu tun?"

"Natürlich nicht! Aber über die Trennung möchte ich nicht weiter reden."

"Gut. … Ehm, Dylan, wie soll ich dich nennen?"

"D.T."

"Okay, ich werde das dann so drucken lassen. … Dylan, für zusätzliche Aufregung hat ein rechtsradikales Tattoo auf deinem Oberkörper gesorgt."

"Ja, das habe ich mir inzwischen überstechen lassen. Ich hatte eine schwierige Jugend und bin in die falschen Kreise geraten. Anschauungen ändern sich, aber Tattoos bleiben leider. Ich habe Jordan das alles erklärt und bin ihm so dankbar, dass er das versteht und bereit dazu ist, über meine Vergangenheit hinwegzusehen und mich so zu nehmen wie ich jetzt bin."

"Also hast du keinen Kontakt mehr zur rechtsradikalen Szene?"

"Nein. Es ist manchmal nicht leicht. Ich habe all meine Freunde zurückgelassen, aber es geht nun mal nicht anders. Wenn man wirklich da raus will, muss man konsequent sein."

"Wie hast du es geschafft?"

"Ich musste vier Jahre im Gefängnis verbringen, da hat man viel Zeit um nachzudenken und sich zu überlegen, wer man sein will und wie man diese Person werden kann."

"Warum warst du im Gefängnis?"

"Falsche Freunde, eine Prügelei und ein großes Unglück. Mehr möchte ich dazu nicht sagen."

"Okay. … Also, Jordan. Wie geht es nach der ganzen Sache mit deiner Karriere weiter?"

"Ich habe jetzt erst mal vor, meinen College-Abschluss zu machen und ein ganz bodenständiges Leben zu führen. Ich bin froh, wenn dieser Rummel vorbei ist und sich keiner mehr dafür interessiert, mit wem ich zusammen bin."

"Okay, ich glaub das war genug. … Dann fahren wir mal zurück in die Redaktion. Ich schicke dir das fertige Interview natürlich bevor es in Druck geht, Scott."

"Alles klar."

"Bye meine Kleine. Du fährst jetzt wieder mit Mommy und Oliver ins Büro."

"Bei dir",verlangte sie.

"Das geht heute leider nicht. Aber ich komm dich und Josh morgen Abend besuchen, versprochen."

Als Nikki sie mir abnahm, fing sie an zu weinen. Aber mit dem ganzen Stress der bevorstand, konnte sie leider wirklich nicht bei mir bleiben.

Kaum waren die drei draußen, klingelte mein Handy. Brian.

"Eine Warnung wäre nett gewesen …"

"Mich hat selbst keiner gewarnt. Heute früh war die Welt noch in Ordnung und dann tauchten diese Bilder auf. Alles musste recht schnell gehen. Tut mir leid, der Tag war bisher ein einziges Chaos und ich hab das Gefühl, es wird nur noch schlimmer. … Wirst du arg genervt?"

"Mel und Tammy sind am Durchdrehen. Mickey und Tom haben auch schon bei mir angerufen. Alle wollen Statements von uns. Was sollen wir denen sagen?"

"Natürlich wusstet ihr davon und natürlich habt ihr kein Problem damit und natürlich hatte das nichts mit unserer Trennung zu tun."

"Wer ist der Kerl? Was ist mit Tobey?"

"Tobey ist in Japan. Ende. Und 'der Kerl' wurde versehentlich in das alles hineingezogen, war aber so anständig, sich bereitzuerklären, das Ganze zum Teil mitzutragen. Ich muss nur wirklich versuchen, ihn anonym zu halten …"

"Also seid ihr nicht wirklich zusammen?"

"Wir kennen uns erst seit zwei Tagen, keine Ahnung. … Hör mal, ich muss auflegen. Scott braucht was."

"Okay … meld dich, wenn ich was tun kann …"

"Danke."

Den restlichen Tag blieben wir in Scott's Büro, setzten Erklärungen auf, gaben kurze Auskünfte am Telefon … Scott ging mit Stan raus.

"Geht's dir gut?", fragte ich Dylan, der sich bisher echt den Arsch aufgerissen hatte, obwohl er eigentlich auch einfach hätte gehen können.

"Mach dir keine Sorgen um mich. Es ist nur alles irgendwie … surreal. Und da ist noch was. Ich muss mich bis Sechs persönlich bei meinem Bewährungshelfer melden."

"Oh, okay, das kriegen wir schon irgendwie hin. Du hast ja noch eineinhalb Stunden."

"Glaubst du, da draußen lauern wirklich irgendwelche Fotografen?", fragte Dylan und schielte durch eines der Lamellenrollos.

"Keine Ahnung. Nach der Sache halte ich es zumindest für möglich …"

"Wir werden das mit der Anonymität nicht lange aufrechterhalten können, richtig?"

"Ich tu wirklich mein Bestes."

"Ich weiß. Aber trotzdem … vielleicht sollte ich es einfach hinter mich bringen. Leute die mich kennen, erkennen mich alleine schon an den Tattoos …"

"Was ist mit deiner Familie? Wissen die Bescheid?"

"Dass ich schwul bin? Sie haben es immer geahnt, aber ich hab es geleugnet."

"Willst du nicht mal mit ihnen reden?"

"Wenn sie erfahren, dass ich mit dir zusammen bin, kommen sie von selbst, weil sie Kohle wittern."

"Sind wir zusammen?"

"Ich meinte jetzt die offizielle Version …"

"Ich weiß was du meintest. Aber wollen wir es tatsächlich miteinander versuchen?", fragte ich unsicher.

"Ich hab es dir gestern schon gesagt. Ich will die Vergangenheit vergessen und versuchen, mir mit dir etwas aufzubauen."

"Bist du dir sicher? Das wird jetzt erstmal stressig …"

Er kam rüber und nahm meine Hände.

"Ich kann es dir auch nicht erklären, Jordan. Es ist so ein Gefühl, dass ich das machen sollte. Vielleicht bin ich einfach irre, aber irgendwas verbindet uns. Ach, keine Ahnung … ich will das einfach durchziehen und sehen, wo es mich hinführt. Wenn du mich lässt."

"Okay."

"Du hast heute noch keine Pillen genommen."

Ich dachte kurz drüber nach.

"Stimmt."

"Geht's dir gut?"

"Ja. Seltsam … ich hab einfach gar nicht dran gedacht."

"Vielleicht ist es Zeit, sie ganz wegzulassen …"

"Wir könnten es mal ein paar Tage mit Massagen probieren …"

"Gern, ich steh dir zur Verfügung", grinste er vieldeutig.

Er hielt immer noch meine Hände in seinen. Seine Finger waren so lang und man spürte die Kraft, die in ihnen steckte. Das war der Moment, in dem ich wusste, dass, so lange er das mit mir durchstand, alles gut werden würde.

Scott kam mit Pizza zurück. Wir aßen und danach fuhr Dylan mit meinem Auto zu seinem Bewährungshelfer. Scott wartete kaum bis Dylan die Tür hinter sich zugezogen hatte, bis er erklärte:

"Ich hab mir sein Führungszeugnis schicken lassen. Wusstest du, dass allein seine Vergehen, bevor er volljährig wurde, zwei Seiten füllen?"

"Ich kenn ihn erst seit zwei Tagen. Natürlich wusste ich das nicht."

"Stört dich das überhaupt nicht?"

"Du hättest mal mein Register sehen sollen, bevor es mit 21 gelöscht wurde."

"Warum weiß ich davon nichts?"

"Hätte es was geändert?"

"Keine Ahnung, vermutlich nicht …"

"Eben."

"Trotzdem, du kennst ihn, wie du ja selbst sagst, kaum."

"Ich weiß, du willst mich nur beschützen, aber ich werde mich nicht davon abbringen lassen. Ich hab ein gutes Gefühl bei der Sache."

"Warum bist du nur immer so stur?"

"Ich verlasse mich eben nur noch auf mich selbst."

"Konntest du dich auf mich nicht immer verlassen?"

"Öffne nicht die Büchse der Pandora, Scott."

"Mein Großvater ist im KZ gestorben."

"Das tut mir leid. Aber das hat nichts mit der Sache hier zu tun."

"Er ist ein Nazi, Jordan."

"Du kennst ihn doch überhaupt nicht!"

"Du kennst ihn auch nicht. Ich mache, was auch immer du mir sagst, weil ich für dich arbeite. Aber als Freund brauchst du nicht mehr auf mich zählen, wenn du mit ihm zusammen bleibst."

"Das ist doch jetzt nicht dein Ernst, oder? Hast du noch nie im Leben einen Fehler gemacht?"

"Ich bin nicht losgezogen und habe wahllos Menschen verprügelt, nur weil mir ihre Hautfarbe nicht gepasst hat."

"Ich beurteile ihn danach, wer er jetzt ist. Jeder hat eine zweite Chance verdient, oder?"

"Unterschreib das hier. Es ist fast Sechs, ich mach Feierabend."

Er stand auf, ich ebenfalls.

"Feierabend? Einfach so? Was soll ich denn jetzt weiter machen?!"

"Du verlässt dich doch nur auf dich selbst, also was fragst du mich?!"

"Gott verdammt, ich hab es so satt! Immer wenn mir was Gutes passiert, dann kommt irgendwas tausendmal Schlechteres gleich hinterher. Ganz ehrlich, Scott. Ich bin so kurz davor, mir eine Nadel zu setzen und das alles hinter mir zu lassen!", schrie ich.

Erschrocken über mich selbst, fügte ich leiser hinzu:

"Dylan ist doch meine letzte Chance."

"Ich wusste nicht, dass es dir so schlecht geht …"

"Hätte ich eine Rundmail schreiben sollen? Bitte, Scott, ich hab alles verloren, was mir wichtig war. In meinem Gehirn wandern immer noch Knochensplitter herum, die sonst was anrichten können und jetzt auch noch das hier. Bitte hilf mir noch da durch. Danach kannst du mich von mir aus dafür bestrafen, dass ich mich mal wieder in den Falschen verliebt habe."

Er setzte sich kommentarlos wieder hinter seinen Schreibtisch und tippte geschäftig auf der Tastatur rum. Ich las mir ein paar Zettel durch, die ich unterschreiben sollte. Dann kam Dylan auch schon wieder.

"Hey."

"Hallo. Na, hast du irgendwelche Fotografen gesehen?"

"Nein, alles friedlich. Ich hab meinem Bewährungshelfer von der ganzen Sache erzählt. Falls in den nächsten Tagen alles zu stressig wird, reicht es, wenn ich mich telefonisch bei ihm melde."

"Das ist aber ein verständnisvoller Bewährungshelfer."

Scott's bissiger Unterton war nicht zu überhören.

"Hast du Klärungsbedarf, Scott?", fragte Dylan betont ruhig.

"Nein, ich weiß alles, was ich wissen muss."

"Ich finde übrigens, dass du ein sehr fürsorglicher Agent bist. Hab ich was verpasst?"

Jetzt war Dylan's Ton etwas bissig. Ich schaltete mich ein.

"Scott und ich waren mal zusammen."

"Dachte ich es mir doch."

"Inzwischen ist er verheiratet."

"Gut. Können wir dann jetzt mit dem Geschäftlichen weitermachen, oder willst du doch noch meine Vergangenheit diskutieren, Scott?"

Dieser wendete sich abrupt wieder seinem PC zu.

Nach zwei weiteren Stunden nickte ich immer wieder ein. Dylan streichelte mir über die Wange.

"Lass uns zu dir fahren."

"Okay …"

Beim Aufstehen durchfuhr mich ein stechender Schmerz. Ich war selbst überrascht über den Schrei, der aus meinem Mund drang. Sofort waren beide neben mir.

"Halb so schlimm. Ich war nur nicht darauf gefasst …"

"In zwanzig Minuten sind wir zu Hause, dann kannst du dich hinlegen. Komm Stan. Gute Nacht Scott. Bis morgen, nehme ich an."

"Jordan, bist du sicher, dass du keinen Arzt brauchst?"

"Ich brauch nur ein bisschen Ruhe, mir geht's gut."

Ich wachte auf als wir schon vor dem Haus geparkt hatten. Dylan schaute mich besorgt an.

"Wie fühlst du dich?"

"Müde …"

"Ich lass noch kurz Stan laufen."

"Irgendwelche Fotografen im Gebüsch?"

"Ich seh zumindest keine …"

Er verschwand kurz mit dem Hund. Ich stellte meine Lehne wieder aufrecht und stieg langsam aus. Irgendwie war mir schummrig. Ich setzte mich lieber wieder hin und wartete auf Dylan, der auch bald wieder kam.

"Dir geht es überhaupt nicht gut, oder?"

"Vielleicht war das alles heute doch etwas viel … und dass ich keine Tabletten geschluckt habe, tut das Übrige dazu …"

"Kannst du aufstehen?"

"Ja schon, aber mir ist schwindlig."

Ich stand langsam wieder auf. Dylan drehte mir seinen Rücken zu.

"Spring rauf."

"Ernsthaft? Du erinnerst dich, dass ich im zweiten Stock wohne, oder?"

"Ach komm, was wiegst du? 70 Kilo? Ich stemme Gewichte die doppelt so schwer sind wie du, locker. Das wird mein Abend-Workout. Mach schon."

Es schien ihm echt keine Mühe zu machen. Er hielt mich an den Oberschenkeln fest, ich legte meine Arme um seinen Hals.

"Mich hat keiner mehr getragen seit ich … sieben war oder so. … Irgendwie lustig."

Im ersten Stock kam er doch langsam aus der Puste, aber er hielt sich tapfer bis zur Wohnungstür, wo er mich ganz sachte runter ließ und aufsperrte. Ich lehnte in seinem Arm und kam mir so beschützt vor, wie schon seit meiner frühen Kindheit nicht mehr. Drinnen zog er mich aus und ich ihn. Stan machte es sich auf der Couch bequem.

"Ich muss ihm noch was zu fressen geben."

"Ich geh kurz ins Bad."

"Nachher massier ich dich."

Ich schlief in dieser Nacht erstaunlich ruhig. Keine Albträume, keine Grübeleien, einfach nur tiefer, erholsamer Schlaf. Dylan war schon in der Küche zugange, als ich aufstand.

"Morgen …"

"Guten Morgen. Du siehst viel besser aus als gestern Abend. Wie fühlst du dich?"

"Ganz gut. Ist das Obstsalat?"

"Ich dachte, ein paar Vitamine würden uns helfen, den Tag gut durchzustehen. Setz dich."

"Woah, cool."

"Ich muss dich was fragen."

"Was denn?"

"Bist du sicher, dass mit deinem Kopf wieder alles okay ist?"

"Warum fragst du mich das?"

"Gestern warst du plötzlich weg. Schon in Scott's Büro. Und dann im Auto warst du auch erst nicht richtig wach zu kriegen und dann bist du zu Hause auch einfach so weggepennt."

"Keine Ahnung, vielleicht war ich einfach nur müde. … Ich weiß es wirklich nicht. Mir kam es so vor. So was passiert auch nur, wenn der Tag wirklich stressig war …"

"Gehst du regelmäßig zum Arzt und so?"

"Ja klar."

"Erzählst du ihm davon?"

"Das werde ich, beim nächsten Mal."

"Okay …"

"Danke dass du dir so viel Mühe machst."

"Ach Jordan, das mach ich doch gern."

An diesem Tag brach eine wahre Sintflut von Anrufen über mich herein und ein Magazin hatte sich natürlich nicht daran gehalten, Dylan zu verrastern.

"Tut mir leid …"

"Schon gut, damit hab ich fast schon gerechnet. Ich sollte mal nach Hause, meine Nachrichten checken. Krieg ich dein Auto?"

"Klar. Lässt du mir Stan hier?"

"Wenn du willst."

"Und bring ein paar deiner Sachen mit, wenn du willst. … Ich kann dir Platz im Schrank frei machen oder so."

"Wow, ich bekomm gleich kalte Füße."

"Du hast schon einen Haustürschlüssel, da ist Platz im Schrank doch ein alter Hut."

Er lächelte und meinte:

"Ich fahre auf dem Rückweg bei meinem Bewährungshelfer vorbei. Aber in einer Stunde bin ich wieder da."

"Okay."

Er gab mir einen vorsichtigen Kuss auf die Stirn und verschwand. Das Telefon klingelte schon wieder. Ich beschloss, es eine Weile abzuschalten und erst mal meine e-Mails zu checken. Schon klingelte mein virtuelles Telefon. Es war Nina.

"Hey."

"Hey."

"Ich bin vorher an einem Kiosk vorbeigegangen …"

"Also hat sich das Ganze schon bis nach Deutschland verbreitet."

"Sind die Bilder echt?"

"Ja, die sind echt."

"Ich hab dich wohl falsch eingeschätzt."

"Warum?"

"Ich bin Deutsche. Ich habe dafür wirklich kein Verständnis."

"Moment, also war das bei euch drüben der Aufmacher und nicht etwa, dass ich schwul bin?"

"Wir sind nicht im prüden Amerika, sondern im Land in dem der Holocaust stattgefunden hat."

"Aber wir haben das doch schon erklärt. Er ist ein Aussteiger."

"Für mich sieht er aus wie ein Nazi. Glatze, Springerstiefel … wenn er ein Aussteiger ist, warum läuft er dann immer noch so rum?"

"Weil er keine Kohle hat."

"Zum Haare wachsen lassen braucht man keine Kohle."

"Er steht eben auf diese Stoppel-Frisur. Nicht jeder Skin ist ein Nazi. … Hör mal, ich muss den ganzen Scheiß seit zwei Tagen von vorne bis hinten durchkauen. Sei mir nicht böse wenn ich jetzt auflege. Ich brauch einfach mal ne Pause."

"Wie du willst."

Damit hatte ich auch wieder genug vom Laptop. Ich holte meine Gitarre ins Wohnzimmer. Aber irgendwie … konnte ich nicht spielen. Stan schlief neben mir auf der Couch und ich kraulte ihn fast apathisch, bis Dylan zurückkam, den er natürlich freudig begrüßen musste.

"Hier ist es aber still."

"Ich hab das Telefon auf stumm geschalten. Du hast Sachen mitgebracht? Lass uns die gleich mal verstauen."

Dylan erzählte, dass seine Eltern ihm schon auf den Anrufbeantworter gesprochen hatten. Er hatte nicht vor, sich bei ihnen zu melden. Wir hingen den restlichen Tag in der Wohnung rum, Dylan ging ab und an mit Stan um den Block und am Abend fuhren wir zu Josh und Gwen. Ich erklärte Josh behutsam, was passiert war. Seine relativ kühle Antwort war, dass das kein Problem sei, in seiner neuen Klasse wisse eh niemand, dass ich sein Vater sei. Irgendwie traf mich das sehr, aber ich ließ mir nichts anmerken. Dylan ignorierte er komplett. Oliver zeigte uns das frisch gedruckte Interview. Er hatte alles so geschrieben wie wir gewollt hatten.

Eine Woche lang klingelte das Telefon unaufhörlich. Dylan's Eltern sprachen ihm auf den Anrufbeantworter, dass Morddrohungen gegen ihn eingegangen waren, von seinen alten Leuten. Wir gaben das an die Polizei weiter, mehr konnten wir nicht tun, auch wenn das ganz schön an mir nagte. Die Vorstellung, dass Dylan etwas zustoßen könnte … In dieser Zeit erkannte ich, dass ich mich wirklich auf ihn verlassen konnte, egal was kommen mochte, er war für mich da, ganz selbstverständlich.

Vince rief an, Sean und Brian riefen an und sogar Hannah. Allen musste ich versichern, dass meine politischen Ansichten keinen plötzlichen Rechtsruck gemacht hatten und als der Rummel sich etwas gelegt hatte, luden wir Sean und Brian sogar zum Abendessen zu uns ein, damit sie sich selbst davon überzeugen konnten, dass Dylan der war, für den ich ihn hielt. Am gleichen Tag hatte eine Beratungsstelle mit Dylan Kontakt aufgenommen, die Jugendlichen beim Ausstieg aus der rechtsradikalen Szene half. Sie wollten ihn im Team. Er überlegte sich das, denn die Tischlerfirma, bei der er ursprünglich hatte anfangen wollen, hatte das Jobangebot wegen dem Medienrummel um ihn zurückgezogen. Er erzählte Brian und Sean beim Abendessen davon und war ganz aufgeregt deswegen.

"So könnte aus dem ganzen Scheiß doch noch was Positives entstehen. Ich könnte meine Erfahrungen weitergeben und so vielleicht Einigen ersparen, dass sie sie selbst machen müssen."

"Das hört sich doch gut an", fanden die beiden.

Ich äußerte meine Skepsis.

"Ich weiß nicht, damit machst du dich zur Zielscheibe. Noch mehr, als du eh schon eine bist. Diese Organisation will dich sicher auch, um mit dir Werbung zu machen. Deine Leute werden wissen, wo du zu finden bist. Was hält sie dann noch davon ab, ihre Drohungen wahr zu machen?"

Er griff über den Tisch nach meiner Hand.

"Ich kann mich doch nicht ewig verstecken. Ich hab wirklich das Gefühl, dass ich das tun sollte. Und ich kann auf mich aufpassen."

"Ich weiß, … trotzdem …"

"Wir müssen das ja nicht heute Abend entscheiden. Sean, ich hab gehört, du hast kürzlich dein Assistenz-Jahr angefangen?"

"Ja genau. Ich bin in einer chirurgischen Notfallklinik."

Als Sean und Brian sich auf den Weg machten, kam ich noch mit zum Auto.

"Du hast recht er ist wirklich in Ordnung", meinte Brian.

"Du solltest ihn das mit diesem Zentrum machen lassen, es scheint ihm echt am Herzen zu liegen", riet mir Sean.

"Ich weiß. Ich hab einfach nur Angst davor, was passieren könnte …"

"Wie er gesagt hat, er kann sich nicht ewig im Keller verstecken."

"Ja, ihr habt ja recht …"

Sean grinste:

"Übrigens bist du ab sofort nicht mehr der männlichste Schwule, den ich kenne."

Dylan räumte gerade die Spülmaschine ein. Er hatte noch nicht bemerkt, dass ich wieder da war. Ich beobachtete ihn. Es war fast wie eine göttliche Eingebung. Diesmal war es anders als all die Male zuvor. Ich kannte ihn seit zwei Wochen, wir hatten uns seit dem ersten Tag nie länger als zwei Stunden nicht gesehen. Er war bei mir zu Hause und ich bei ihm.

"Warum starrst du mich so an?"

"Ich liebe dich."

"Komm her", bat er sichtlich überrascht.

Ich ging zu ihm rüber. Mit seiner üblichen Leichtigkeit hob er mich auf die Küchentheke und küsste meinen Hals. Ich umschlang ihn mit den Beinen. Er flüsterte mir die drei Worte ins Ohr, bevor er mir mein Shirt über den Kopf zog.

Zwei Tage später verbrachte er ein paar Stunden in diesem Beratungszentrum. Ich vermisste ihn schon nach fünf Minuten ganz schrecklich und kam mir dabei total albern vor. Ich musste mich irgendwie ablenken. Ich beschloss, in den Laden zu gehen. Jerry sortierte gerade eine neue Lieferung ein.

"Hey."

"Hey."

"Wohnst du noch bei Janet?"

"Ja. Wohnt der Nazi jetzt bei dir?"

"So gut wie. Tut mir leid, wie das alles gelaufen ist. Ich hätte mir gleich die Zeit nehmen sollen, um mit dir in Ruhe darüber zu reden."

"Vergiss es, der Zug ist abgefahren. Ich will nicht drüber reden. Solche Kerle haben keine zweite Chance verdient. Ende."

"Tut mir leid, dass du das so siehst."

Joe kam aus dem Hinterzimmer.

"Sieh an, wen hat der Wind denn da herein geweht?"

Er schien nicht sauer zu sein und zeigte mir die neusten CDs. Ich gab mal wieder ein kleines Vermögen aus und unterhielt mich mit Joe, während mich Jerry missmutig an stierte. Mein Auto parkte vor dem Haus.

"Da ist Dylan …"

"Na dann geh schon."

"Danke Joe."

"Du bist ein guter Junge. Ich vertraue darauf, dass du weißt, was du tust."

"Hey. Da bist du ja. Wie war's im Zentrum?"

"Genial. Lass uns hoch gehen, dann erzähl ich dir alles."

Er war begeistert von den Leuten dort, von ihren Methoden, von den Bedingungen, zu denen er arbeiten würde. Er bekäme sogar etwas Geld und Aufschläge, wenn er auf irgendwelchen Wohltätigkeitsveranstaltungen PR machte. Aber er war nicht nur ein Aushängeschild, sondern vor allem sollte er den Jugendlichen erzählen, wie es ihm ergangen war. Dass er optisch immer noch zur Szene gehörte, würde laut den Betreuern helfen. Und das Beste war, dass sein Engagement vielleicht dafür sorgen würde, dass seine Bewährung verkürzt werden würde. Das überzeugte mich dann auch. Die Vorstellung, zwei Jahre lang den Staat nicht verlassen zu dürfen, war grausam. Alleine schon weil meine Mum nun mal in einem anderen Staat lebte. Dylan meinte zwar, er könne so was wie eine Ausnahmegenehmigung zu Feiertagen und so weiter beantragen, das sei aber ein bürokratischer Horrortrip. Deshalb freundete ich mich langsam auch mit dem Gedanken an, dass Dylan von nun an drei Tage die Woche von Zwei bis Neun abends in diesem Zentrum sein würde.

"Ich hab schon gesehen, mit dem Bus muss ich nur einmal umsteigen. Ich bin in zwanzig Minuten dort."

Ich beruhigte mich damit, dass das Zentrum nicht mal in der Nähe der Gegend lag, wo Dylan aufgewachsen war, aber ein mulmiges Gefühl hatte ich trotzdem.

Am ersten Tag, einem Montag, erzählte Dylan, dass, wie besprochen, die Presse da gewesen sei und er oft gefragt wurde, wo ich denn sei und warum ich mich nicht ebenfalls engagierte. Seine neuen Kollegen fanden, ich solle gerne mal mitkommen.

"Erst mal soll sich die Presse beruhigen. Ich hab keinen Bock auf irgendwelche Interviews, davon hab ich erst mal genug."

"Ich will dir eben zeigen, wo ich arbeite, weißt du?"

"Schon klar. … Hey, ich hab heute die Bestätigung bekommen, ich kann ab Oktober wieder College-Kurse belegen."

"Mein Freund, der Student!"

"Cool, oder? Ich fühl mich gleich um Jahre jünger. … Ich hab dich heute wirklich vermisst."

"Ich weiß, ich dich auch. Es ist total verrückt. Wenn du nicht da bist, dann kann ich nur noch daran denken, wann ich dich endlich wieder im Arm haben kann. Ich komm mir total kindisch vor …"

Das Gefühl kannte ich und ich war froh, dass ich nicht der Einzige war, dem es so ging.

Am Dienstag hing ich mit Stan im Laden rum, bis Jerry's Sticheleien mir zu blöd wurden, dann fuhr ich los und kaufte Dylan ein Handy, damit wir zwischendurch wenigstens mal kurz Kontakt haben konnten. Er freute sich, ermahnte mich aber auch, ihn nicht mit teuren Geschenken zum Prostituierten zu machen …

Am Freitag traf ich Scott, um noch ein paar Pressesachen zu klären. Er meinte, Dylan und ich sollten uns langsam mal zusammen in der Öffentlichkeit zeigen, damit die ganze Nerverei wegen Fotos aufhörte.

"Ansonsten findet bald jemand raus wo du wohnst und dann hast du keine ruhige Minute mehr."

"Ich red mal mit Dylan."

"Pressescheu scheint er ja nicht mehr zu sein …"

"Hörst du irgendwann mit diesen Sticheleien auf?"

"Wenn du zur Vernunft kommst."

"War's das?"

"Ja."

"Gut, dann hol ich jetzt meine Kinder ab."

Natürlich machte es mir zu schaffen, dass so viele Leute, die mir wichtig waren, gegen Dylan waren. Aber ich wusste, dass ich recht hatte. Dylan war nicht der, für den die ihn hielten. Ich liebte ihn und zwar wirklich sehr und mit jeder Minute, die ich mit ihm verbrachte, noch mehr.

Die Kinder waren ein paar Stunden bei mir. Josh hatte nicht wirklich viel über Dylan und mich zu sagen, zuckte nur die Schultern, wenn ich ihn drauf ansprach. Um Sechs fuhr ich die beiden zurück, um Sieben stand ich vor dem Zentrum. Ich hatte mich endlich dazu breitschlagen lassen. Irgendwie war die Gegend ähnlich wie die, in der das Pride-Center stand. Allerdings war das Center an sich ganz anders. Man konnte von außen nicht reinschauen und auch nicht einfach so reingehen, sondern musste klingeln. Zu meinem Erstaunen machte mir eine ganz normal aussehende junge Frau auf.

"Hallo, ich bin …"

"Jordan, natürlich. Dylan ist gerade noch in einem Gespräch. Komm rein, ich führ dich rum. Ich bin eine der Sozialarbeiterinnen hier, Vanessa."

"Hallo Vanessa."

"Also, hier unten haben wir die Küche, einen Aufenthalts- und Vortragsraum und ein paar Zimmer für Einzelgespräche, die eigentlich immer besetzt sind."

Mir fiel auf, dass alle Fenster vergittert waren und ein paar Scheiben Sprünge hatten, es saß überhaupt niemand rum.

"Gerade sind alle entweder in Gesprächen oder helfen oben bei den Vorbereitungen für die Party heute Abend."

"Ach so …"

"Ich hab gehört, du machst dir Sorgen um Dylan's Sicherheit, deshalb zeig ich dir mal, was für Sicherheitsvorkehrungen es so gibt."

Danach war ich davon überzeugt, dass man im Center tatsächlich sicher war. Es war wirklich an alle Eventualitäten gedacht worden.

"Na schön, wollen wir mal hochschauen?"

"Klar."

Als wir uns gerade auf den Weg zur Treppe machen wollten, kam Dylan mit einem glatzköpfigen Jugendlichen aus einem der Zimmer. Er grinste mich an:

"Dich kenn ich doch."

"Ach, ich hab ein bekanntes Gesicht", gab ich zurück.

"Nein, nein, das ist es nicht, ich glaube, ich hab die ein oder andere Nacht mit dir verbracht."

"Soso …"

"Hallo."

Er zog mich in seinen Arm und küsste mich kurz zur Begrüßung.

"Hat Vanessa dir schon alles gezeigt?"

"Oben waren wir noch nicht."

"Oh, oben ist es am tollsten! Komm."

Er zog mich die Treppe hoch, Vanessa kam uns kaum hinterher.

"Das ist der Partyraum. Wie cool ist das?"

Der Raum war echt riesig und hatte eine richtig brauchbare Lichtanlage, die Soundanlage sah auch nicht übel aus. Die Möbel ließen allerdings zu wünschen übrig. Ein paar alte Couchen standen am Rand, das war alles.

"Ich werde für da vorne eine kleine Bühne bauen und in die Ecke kommt eine Theke. Dann kann ich doch noch ein bisschen mit Holz arbeiten, wie ich es gelernt habe."

"Heißt das, ich seh dich noch seltener?", fragte ich knautschig.

"Du kannst hier jederzeit vorbeikommen. So, jetzt stell ich dich mal ein paar Leuten vor, nicht dass das nötig wäre …"

"Warte mal. Diese ganzen harten Kerle hier … sollten wir wirklich Händchen haltend rumlaufen?"

"Die sind hier um Toleranz zu üben."

"Ich weiß echt nicht, ob ich ein Übungsobjekt für die sein will. Die sehen ganz schön furchterregend aus."

"Dir passiert nichts, du bist mit mir hier, Baby."

"Haha …"

"Jetzt lern sie erst mal kennen, ja?"

Etwa ein Dutzend Skins, darunter zwei rasierte Mädchen, standen rum, tüftelten was an der Anlage, räumten Getränke und Snacks auf einen Tisch, Partyvorbereitungen eben. Als sie mich freundlich begrüßten und anlächelten, war die Szene fast bizarr. Sie fragten mich, ob ich nicht mal hier auftreten wolle, wenn die Bühne fertig sei.

"Ich hab gerade leider keine Band, also …"

"Wir haben gerade eine gegründet. Uns fehlt bloß noch ein Name und, nichts für ungut Chups, ein guter Sänger. Vielleicht hast du ja ein paar Ratschläge für uns. Wir proben hier immer ab Zwei. Wenn du Dylan mal wieder besuchen kommst, kannst du ja mal reinhören."

"Klar, mach ich."

Langsam erkannte ich, dass unter der harten Schale ganz normale Kids steckten. Unsicher und auf der Suche nach Leitfiguren. Als ich die Soundanlage durchcheckte und ein paar Einstellungen ausprobierte, hingen sie förmlich an meinen Lippen. Ich verstand, warum es Dylan hier so gefiel. Man hatte das Gefühl, wirklich zu den Jugendlichen durchdringen zu können, wirklich was zu erreichen. Dann wurde es auch schon wieder Zeit für uns, uns auf den Weg zu machen. Schließlich hatten wir noch ein Date geplant. Vanessa ging noch mit uns runter.

"Also, dann habt einen schönen Abend … und Jordan, du bist hier jeder Zeit willkommen. Aber fühl dich nicht verpflichtet, dich großartig in die Band zu involvieren …"

"Ich hör sie mir mal an und lass den Profi raus hängen, das macht bestimmt Spaß."

"Na gut. Also, wenn euch nach eurem romantischen Dinner langweilig werden sollte, hier steigt eine Party, ansonsten bis Montag Dylan. Das war wirklich eine großartige erste Woche mit dir."

"Danke."

Sie umarmten sich kurz und wir verschwanden. Dylan war ganz aufgeregt und hatte so viel zu erzählen. Er wurde in diesem Zentrum anscheinend wirklich gebraucht. Seine Talente und Erfahrungen waren gut genutzt.

"Aber jetzt freu ich mich auf ein ruhiges Wochenende mit dir."

Wir gingen Essen, dann schauten wir uns einen Film an, dann fuhren wir nach Hause und hatten den tollsten Sex. Ehrlich, mit Dylan zu schlafen ist einfach mit nichts vergleichbar.

Am nächsten Morgen hatte Dylan schon wieder das Frühstück hergerichtet und die Wohnung in Schuss gebracht. Er hatte einfach so viel Energie und tat alles mit so einer Leichtigkeit. Wir fuhren in ein Einkaufszentrum, wo Dylan sich ein paar Turnschuhe zulegte und noch einige 'zivilere' Klamotten.

"Was ist eigentlich mit deinen Haaren?", fragte ich beiläufig, wo wir schon beim Thema waren.

"Ich mag sie kurz … vielleicht nicht ganz so kurz. Ich kann sie mal ein paar Tage nicht scheren, wenn du willst …"

"Hey, ich frag nur. Ich liebe dich genau so wie du bist."

Er schien fast überrascht zu sein und zog mich in einen Seitengang, drängte mich gegen die Wand und küsste mich.

"Ich bin so glücklich mit dir, Jordan. Manchmal frage ich mich, ob ich das überhaupt verdient habe."

"Nach allem, was ich von dir gesehen habe, hast du es mehr als verdient."

Später erzählte ich ihm noch, dass Scott meinte, wir sollten uns der Presse stellen.

"Und wie läuft das? Ich meine, sollen wir ein Interview geben und anschließend für einen Fotografen als Paar posieren, oder wie? Das wäre nämlich überhaupt nicht mein Ding …"

"Meins auch nicht. Ich frag Scott mal, wie er sich das vorstellt. Aber generell bist du damit einverstanden?"

"Ja, generell schon."

Scott hatte schon einen Plan. Er wollte, dass wir an irgendeinem öffentlichen Platz, möglichst weit weg von da, wo wir uns normalerweise aufhielten, zusammen auftraten und er würde ein paar Fotografen einen Tipp geben. Was für ein Theater.

Am Sonntagnachmittag fuhren wir also nach West-Hollywood, setzten uns in ein Café und warteten, bis wir den ersten Fotografen sahen. Dann gingen wir die Straße entlang, so als sei überhaupt nichts, während Fotos geknipst wurden. Einer der Fotografen rief uns zu, wir sollten uns küssen. Dylan gab mir einen Kuss auf die Wange und nahm meine Hand.

"So reicht das?", fragte ich.

"Wenn ihr euch richtig küsst, kann ich von dem Geld für das Foto meine Tochter aufs College schicken."

Ich schaute Dylan an, er hatte scheinbar nichts dagegen, also spielten wir unsere Rolle in dem kleinen Theaterstück.

Am nächsten Tag zierten wir die Titelseite eines großen Magazins und bekamen wieder Milliarden von Interviewanfragen.

"Wir sehen gut zusammen aus, hm?", grinste ich.

"Ich bin schon gespannt, wie oft mir das Heft im Zentrum heute unter die Nase gehalten wird. Kommst du mit wegen der Bandprobe?"

"Hältst du das für eine gute Idee? Ich wette mit dir, dass da Reporter rumlungern."

"Na und? Wir verstecken uns ja nicht mehr."

"Ja schon … irgendwie muss ich mich daran erst gewöhnen …"

"Geht es dir gut?"

Er spürte immer, wenn ich Schmerzen hatte, selbst wenn ich mein Möglichstes tat, sie mir nicht anmerken zu lassen.

"Mein Kopf macht mir ein bisschen zu schaffen …"

"Wenn du mitkommst und wir mit dem Auto fahren, hab ich noch Zeit für eine Massage …"

"Da kann ich wohl nicht nein sagen …"

"Ist sonst noch was?"

Woher wusste er so was immer?!

"Ach, es ist blöd …"

"Sag schon."

"Okay, du darfst es aber nicht falsch verstehen …"

"Ich versuch's."

"Ich vermisse Tobey irgendwie … nicht körperlich, sondern als Freund. Und diese ganze Magazin-Geschichte … die Fotos wird er auch sehen und sie werden ihn verletzten. … Ich mach mir Gedanken um ihn …"

"Das versteh ich. Vielleicht kommt er ja Weihnachten und ihr könnt das alles klären …"

"Ja, das hoffe ich …"

Natürlich standen ein paar Presseleute vor dem Center.

"Da kommen sie!"

"Hallo zusammen."

Dylan hatte einen Schlüssel. Wir gingen rein und die Fotografen verzogen sich wieder. Da war wirklich nicht viel dabei. Vanessa begrüßte uns freudig und ich lernte auch noch zwei andere Betreuer kennen. Eine zweite Sozialarbeiterin und einen Psychologen, der nebenbei für die Buchhaltung zuständig war. Beide eher schmächtig. Ich fragte mich ernsthaft, wie die sich bei den Jugendlichen Respekt verschaffen konnten. Die 'Band' hatte schon mit dem Proben begonnen. Ich hörte mir das eine Weile an und stellte fest, dass es schlicht und ergreifend an den Grundlagen scheiterte. Für den Gitarristen und die Bassistin hieß das Akkorde üben, der Drummer brauchte dringend Rhythmusgefühl und vom Sänger will ich eigentlich gar nicht erst reden. Irgendwann drehte ich mich um und sah, dass Dylan und Vanessa an der Treppe standen. Ich ging rüber.

"Du machst das toll."

"Die Kids sind ehrgeizig, aber wirklich noch ganz am Anfang …", kommentierte ich diplomatisch.

"Unsere Ohren haben letzte Woche fast geblutet, dagegen ist das, was sie jetzt machen, die reinste Symphonie. Unten wird Abendessen gekocht."

"Wie spät ist es denn?"

"Gleich Fünf."

"Wo ist denn die Zeit hin? Krass."

"Es gibt mal wieder Spaghetti Bolognese, deshalb wollte ich dich fragen, was du essen willst."

"Das ist okay."

"Aber da ist Fleisch drin …"

"Bolognese ist meine Ausnahme."

"Okay, cool. Gut zu wissen. Dann gibt es in zehn Minuten Essen."

"Ich sag es den Anderen."

Alle saßen um einen großen Tisch in einem der hinteren Räume und benahmen sich geradezu vorbildlich beim Essen. Langsam vergaß ich, dass ich Bedenken wegen diesem Ort gehabt hatte und fühlte mich entspannt und wohl.

"Tut es nicht weh, wenn man in den Arsch gefickt wird?"

Ich hätte fast meine Nudeln wieder ausgespuckt.

"Das war jetzt nicht sehr taktvoll, Larry", schallt ihn Vanessa.

"Ihr sagt doch immer, dass Toleranz durch Verständnis kommt, oder so ähnlich. Ich versuch bloß, das zu verstehen."

Ich wusste immer noch nicht so recht, wie mir geschah und schaute hilfesuchend zu Dylan. Der grinste nur vor sich hin. Larry hatte wohl mit mir gesprochen …

"Ähm … anfangs … aber es ist wie bei allen Dingen im Leben. Je mehr Erfahrungen man sammelt, desto besser wird es …"

"Wer von euch fickt, wer wird gefickt?"

"Jordan, du musst wissen, dass wir versuchen, keine Tabus entstehen zu lassen. Wir wollen, dass die Kids das Gefühl haben, mit uns über alles reden zu können", erklärte Vanessa.

"Schön, das hört sich schon sinnvoll an, aber ich hab jetzt schon eine unangenehme Frage beantwortet. Jetzt ist Dylan dran."

Der schien damit nicht das geringste Problem zu haben.

"Wir wechseln uns ab, aber meistens bin ich aktiv. Wichtig ist, dass man Gummis benutzt und Gleitgel auf Wasserbasis, andere können das Latex angreifen. Noch irgendwelche Fragen?"

Die Bassistin, JJ hatte wohl noch eine Frage.

"Macht es einen Unterschied? Ich meine, liebt ihr euch genau so wie normale Leute? Ich meine jetzt nicht körperlich, ich spreche von der Liebe. Ist die anders?"

"Sag du es mir. Es ist so: Wenn ich Jordan ansehe, dann muss ich lächeln, weil ich so glücklich bin, dass er mit mir zusammen ist. Wenn er nicht da ist, denke ich darüber nach, was er wohl gerade macht und wann ich ihn wiedersehe. Wenn wir miteinander schlafen, ist es, als gäbe es auf der ganzen Welt nur ihn und mich und alles was ich mache, alle lästigen Dinge im Haushalt zum Beispiel, machen plötzlich Spaß, weil ich sie für ihn tue und weiß, dass er mir nachher dafür ein Lächeln schenken wird. Wenn es ihm schlecht geht, geht es mir schlecht, aber wenn er fröhlich ist, bin ich der glücklichste Mensch auf der Welt."

Niemand sagte etwas. Ich lehnte mich zu Dylan rüber und flüsterte ihm ins Ohr, wie sehr ich ihn liebte. In diesem Moment, wir kannten uns noch keinen Monat, kam mir der Gedanke das erste Mal: Vielleicht war heiraten doch keine so schlimme Sache.

Es bürgerte sich ein, dass ich einmal die Woche mit ins Zentrum kam und mit der Band übte. Sie wurden von Mal zu Mal besser, laut Dylan übten sie auch fleißig, wenn ich nicht da war. Mit Vanessa redete ich viel, wenn sie gerade Zeit hatte. Sie erzählte mir Geschichten darüber, wie Leute ins rechte Milieu abgeglitten waren, aber auch darüber, wie sie es wieder herausgeschafft haben.

"Aber Dylan ist wirklich eine Ausnahme. Jemanden wie ihn habe ich noch nie getroffen. Er steckte so tief drinnen, aber statt durch das Gefängnis noch weiter abzurutschen, was ja der Normalfall ist, hat er es aus eigener Kraft da raus geschafft. Das ist wirklich ziemlich besonders. Und ganz nebenbei ist er auch noch schwul und schafft es, sich mit dir eine Beziehung aufzubauen. Das ist echt Stoff für Hollywood. Der erste Buchdeal wird nicht lange auf sich warten lassen", grinste sie.

Ich konnte einfach nur vor Stolz strahlen und ihr uneingeschränkt beipflichten.

Anfang Oktober fragte ich Dylan, ob er nicht seine Wohnung aufgeben und stattdessen mit dem gesparten Geld ein Auto anschaffen wollte.

"Darüber hab ich auch schon nachgedacht."

"Ich wollte es dir anbieten, du bist seit Tagen nicht mehr dort gewesen … und Stan wohnt sowieso schon hier."

"Stimmt. Es ist nur ein echt großer Schritt."

"Bekommst du kalte Füße?"

"Bei dir nicht. Ich bin mir unserer Sache inzwischen ziemlich sicher, weißt du?"

"Ich mir auch."

"Können wir dieses Wochenende die restlichen Sachen holen? Dann kündige ich bis nächste Woche. Zum Glück wird die Bruchbude wochenweise vermietet …"

Wir zogen also offiziell zusammen. Ich erzählte Mum am Telefon davon und Joe im Laden. Von Nina hatte ich schon lange nichts mehr gehört, von Tobey verständlicherweise auch nicht und Jerry wünschte mir offensichtlich immer noch die Pest an den Hals. Patrick fragte mal vorsichtig nach, wie es mir so ging. Es war ja viel passiert und von Jerry hatte er sicher nichts Gutes gehört. Wir telefonierten fast zwei Stunden und er gab mir recht. Jeder hat eine zweite Chance verdient und Dylan nutzte seine offensichtlich gut.

Zum Semesterbeginn besuchte ich wieder ein paar College-Kurse, dienstags und freitags. Psychologie, Verhaltensbiologie, Weltreligionen und Soziologie hatte ich mir vorgenommen. Das erschien mir genug. Ich war da ja nur aus Interesse und meine oberste Priorität war, so viel Zeit wie möglich mit Dylan zu verbringen.

"Wir brauchen ein gemeinsames Hobby, Jordan."

"Wird es dir mit mir schon langweilig?"

"Nein, ich hab nur einfach so viel überschüssige Energie, … es ist, als hätte sich vier Jahre lang etwas angestaut und das will jetzt raus."

"Wir können gern öfter zusammen ins Fitnessstudio gehen, ich glaub ich bin so weit wieder fit …"

"Aber da ist man immer drinnen. … Auf was für anderen Sport stehst du?"

"Ach ich weiß nicht … eine Zeit lang bin ich regelmäßig gelaufen …"

"Wie langweilig. Was noch?"

"Ich bin eben nicht so sportlich …"

"Du kannst dich nicht rausreden, Jordan. Ich schlafe mit dir, ich weiß, dass du sportlich bist. Wie steht's mit Basketball?"

"Nichts mit Bällen, bitte."

"Okay, Skaten? Ich hab ein paar ganz coole Sachen auf der Halfpipe drauf …", prahlte er.

"Ich hab noch nie ein Skateboard oder Inline-Skates besessen."

"Keine Bälle, kein Skaten?! Sag mal, wie hast du denn deine Jugend verbracht?"

"Frauen, Drogen und Musik. Sex, Drugs and Rock and Roll eben."

"Okay, ich schätze so bekommt man die Zeit auch rum. … Ich weiß, irgendwie gibt es zwischen uns dieses ungeschriebene Gesetz, nicht über die Vergangenheit zu sprechen, aber Frauen?"

"Viiiiiiiele Frauen. Darauf, dass Jungs viel toller sind, bin ich erst relativ spät gekommen."

"Na gut, Gwen und Josh sind ja auch ein Hinweis darauf …"

"Josh nicht so …"

"Ach ja, richtig. … Also, ich will aber Sport machen und zwar mit dir zusammen."

"Ach Mann …"

"Legen wir uns Inline-Skates zu oder einen Basketball?"

"Wo willst du überhaupt spielen?"

"Gegen Abend im Park finden sich immer Gegner, oder ich zeig dir ein paar coole Moves", grinste er.

"Ich werde es vermutlich bereuen, das gesagt zu haben, aber in Joshs Zimmer ist ein Basketball …"

Zwanzig Minuten später standen wir vor dem Korb im Park und ich band zum dritten Mal die Schnürsenkel meiner Chucks neu.

"Du kannst dich nicht ewig davor drücken, den Ball in die Hand zu nehmen."

"Zeig mir doch erst Mal ein paar von den versprochenen coolen Moves."

"Ich will dich nicht verschrecken, sonst traust du dich nachher überhaupt nicht mehr."

"Schau mal da, wir bekommen Gesellschaft."

"Solchen Leuten haben wir früher immer das Geld aus den Taschen gezogen. Verheiratete Kerle, die nach der Arbeit in Rudeln auf den Platz gehen, um sich nicht das Geschnatter ihrer Frauen anhören zu müssen. Die haben ein viel zu großes Selbstbewusstsein und viel zu viel Geld zum verzocken. Hach, das waren noch Zeiten …"

"Die sind zu viert, ich schätze Mal die wollen zwei gegen zwei spielen, wir sollten verschwinden …"

"Warum denn? Genau darum geht es doch. Mit Wildfremden ein Spielchen zocken, inklusive der ganzen Sprüche und so …"

"Mach was du willst, aber plan mich nicht mit ein. Ich riech das Testosteron schon bis hier her …"

"Tag zusammen. Wie steht's, habt ihr zwei Bock auf ein kleines Spiel, zwei gegen zwei? Wir können durchwechseln."

"Passe."

Schon war ich auf dem Weg zum Spielfeldrand.

"Dann muss einer von euch wohl mit mir spielen", meinte Dylan.

"Ich setze zuerst aus", bot einer der Gegner an.

"Dann spiel ich mit dir. Ich heiße Richard."

"Dylan."

Ich tippte auf Steuerberater.

Und schon ging das Protzen los. Welcher Ball war der bessere? Ich ließ mich in der Wiese nieder und schaute gar nicht weiter zu. Eigentlich wollte ich gerade meinen MP3-Player auspacken, als der Auswechselspieler sich neben mich setzte.

"Eric."

"Jordan."

"Ich hab euch hier noch nie gesehen."

"Kommt davon, dass wir das erste Mal hier spielen."

"Es geht nichts über ein bisschen Sport am Abend, hab ich Recht? Man sitz im Büro ja schon den ganzen Tag."

"Keine Ahnung, ehrlich gesagt hab ich noch nie in einem Büro gearbeitet."

"Was machst du?"

"Derzeit bin ich Student."

"Da sitzt du bestimmt auch viel rum."

"Hält sich in Grenzen. Und was machst du?"

"Werbebranche."

"Kenn ich was von dir?"

"Ach, das meiste ist Teamwork. Die Cornflakes-Werbung mit dem Braunbär ist von meiner Firma … und die Klopapierwerbung mit dem kleinen Jungen und dem Auto …"

"Ja, ich glaub die kenn ich. Seid ihr vier Kollegen oder so was?"

"Nein, nicht wirklich."

"Nachbarn?"

"Verstreute Nachbarn, bestenfalls. Dieser Dylan hat es echt drauf. Der würde uns zu viert in Grund und Boden spielen. … Er sieht fast ein wenig furchterregend aus …"

"Ja, also kennt ihr vier euch von hier?"

"Wir haben so eine Art Club …"

Er schaute Dylan ganz fasziniert bei einem Dunk zu.

"Was denn für einen Club?"

"Oh, ehrlich gesagt kennen wir uns von einer Organisation für schwule jüdische Mä…"

Er brach ab und starrte zu Dylan rüber, der sein durchgeschwitztes T-Shirt ausgezogen hatte. Zwei andere Tattoos waren mittlerweile überstochen, aber nach seinem Blick zu urteilen, wusste Eric um die Bedeutung der beiden Achten auf Dylan's Brust und der anderen, subtileren Schriftzüge. Dylan würde es total fertig machen, wenn das hier so endete, wie es gerade den Anschein hatte. Der Kerl wollte gerade aufstehen.

"Warte, es ist nicht so, wie du denkst."

"Was seid ihr für Kerle?"

"Wir sind ein Paar, wir leben zusammen, ehrlich. Bitte dreh nicht durch. Er ist nicht mehr in der Szene. Er ist inzwischen sogar Streetworker und sorgt dafür, dass andere nicht die gleichen Fehler machen wie er."

Die anderen Kerle hatten wohl ein bisschen länger gebraucht, aber jetzt blieb einer wie vom Donner gerührt stehen. Er schmiss Dylan aus zwei Metern Entfernung mit voller Wucht den Ball hin. Der fing ihn zwar, ließ ihn aber gleich wieder fallen und schaute auf seinen Finger. Ich war schon auf halbem Weg zu ihm, Eric gleich hinter mir.

"Hört auf mit dem Scheiß! Wie alt seid ihr? Dreizehn? Wir gehen ja schon. Komm Schatz."

Das Schatz hatte ich aus strategischen Gründen extra laut gesagt. Richard stellte sich mir in den Weg.

"Was hast du gerade gesagt?"

"Wir wollen keinen Ärger. Ich verstehe, dass ihr angepisst seid, aber ihr seht nicht das ganze Bild. Whale Rider. Das hieß mal White Pride. Was sagt euch das? Kommt schon, lasst mich einfach nur meinen Freund nach Hause bringen, damit ich mir seinen Finger ansehen kann."

Er ging tatsächlich bei Seite. Ich gab Dylan ein Küsschen und schaute mir seinen Finger an. Der wurde schon dick.

"Ein schwuler Nazi?", schnappte jemand hinter uns.

"Ich bin kein Nazi mehr."

"Wir sind Juden", erklärte Richard.

"Okay, ich bin Protestant."

"Warum hast du diese Tattoos noch nicht wegmachen lassen?"

"Ich hab so viele überstechen lassen, wie ich mir bisher leisten konnte."

"Hört mal, uns tut diese ganze Sache leid und so weiter, aber dieses ganze Gelaber bringt doch jetzt nichts. Der Finger muss geröntgt werden", drängte ich Dylan weiter.

"Da ist vermutlich nur die Kapsel angerissen …", sagte Dylan viel zu gelassen.

"Auf jeden Fall musst du zu einem Arzt."

"Und wovon soll ich das bezahlen? Ich hab noch die Stützschale vom letzten Mal, das muss reichen."

"Was ist mit deiner Versicherung?"

"Ich hab keine."

"Du kannst doch nicht ohne Krankenversicherung rumlaufen!"

"Ja wovon soll ich die denn bezahlen?!"

"Okay, lass uns nicht streiten. Ich bezahle deine Arztrechnung und wehe du widersprichst."

"Das ist echt nicht nötig. Ich weiß, wie sich ein Kapselriss anfühlt."

"Wie du willst. Wunderbar! Hat sich echt gelohnt, dass wir hier her gekommen sind!"

"Und für mich erst!"

Ich nahm Joshs Ball und Dylan's T-Shirt und wir stapften wortlos nach Hause. Die Kerle haben uns bestimmt irritiert hinterher geschaut oder so was, aber darauf hab ich echt nicht mehr geachtet. Ich konnte die ganze Zeit nur eines denken: Wenn wir verheiratet wären, dann wäre das alles kein Problem, denn dann wäre er bei mir mitversichert.

Bis zur Wohnungstür gingen wir schweigend nebeneinander her, dann meinte er endlich:

"Es tut mir leid. Ich hab das Ganze nur so satt. Ich will diese Stigmata endlich weg haben. Ich muss mir Geld von dir leihen, aber ich zahl dir alles zurück, selbst wenn es 20 Jahre dauert. Mit Lasern bleibt nicht mal was übrig, aber es ist so teuer."

"Sag mir einfach nur, wie viel du brauchst. Und was ist jetzt mit deinem Finger? Ich fahr dich ins Krankenhaus."

"Bring mir Eis, das ist viel sinnvoller. Was anderes sagt mir der Arzt auch nicht. Ich geh noch kurz duschen …"

In der Uni blieb ich meisten für mich alleine. Die Anderen waren eben viel jünger als ich, 18 oder 19. Und lang war ich eh nie dort. Von Zwei bis Sechs am Dienstag und von Zwölf bis Vier am Freitag. Ende Oktober bahnte sich in Psychologie eine Diskussion an, die mir nicht wirklich behagte. Es ging um Gruppendynamik und irgendwer warf den Begriff Skins in den Raum. Eine hitzige Debatte entstand. Es war die Rede von Soziopathen und fundamentalen, psychischen Störungen. Irgendwann musste ich einfach auch mal was dazu sagen.

"Eines finde ich seltsam. Normalerweise neigt ihr immer dazu, alles auf die Lebensumstände und Erfahrungen zu schieben. Aber hier sucht ihr alle das Problem nur bei den Skins. Mal abgesehen davon, dass total außer Acht gelassen wird, dass nicht alle Skins Rechtsradikale sind, vergesst ihr auch, dass niemand so geboren wurde."

Die Dozentin fand meinen Einwand wichtig, aber die Anderen wollten nichts davon wissen.

"Da muss doch einfach eine Persönlichkeitsstörung vorliegen, ansonsten glaubt man den Scheiß doch keine Sekunde lang. Kein normaler, gesunder Mensch würde sich so einer Szene anschließen."

Ich hatte einfach genug und es war kein Ende in Sicht. Deshalb packte ich meine Sachen zusammen und stand auf.

"Wollen sie uns schon verlassen? Erst die Minderheitenmeinung macht eine Diskussion interessant, also bitte, bringen sie sich weiter ein", forderte die Dozentin mehr als sie bat.

"Ich seh darin keinen Sinn. Das Thema schaltet in den Köpfen der Menschen einfach irgendwie einen Hebel um und sie vergessen logisch zu denken und deklarieren das Ganze zu etwas total Kranken und Unmenschlichen. Das ist ja auch nachvollziehbar, denn wer will sich schon eingestehen, dass ganz normale Menschen den Holocaust zugelassen haben? Das hieße ja, so was könnte jederzeit wieder passieren. Das müssen natürlich lauter kranke Bastarde gewesen sein, die sich durch einen riesigen kosmischen Zufall alle in einem Land gebündelt haben und nur so konnte es zur Katastrophe kommen. Kontrolltheorie, richtig?"

"Du sagst also, Rechtsradikale sind ganz normale Menschen die in die falschen Kreise geraten sind? So ein Schwachsinn!", kläffte ein Kommilitone.

"Ich sage nur, dass man die äußeren Umstände nicht außer Acht lassen darf. Wir wissen alle wie beeinflussbar Jugendliche sind. Unser ursprüngliches Thema war Gruppendynamik und Gruppenzwang. Bestimmt siebzig Prozent von euch haben einen Jansport-Rucksack. Das ist auch eine Art Gruppenzwang."

Ich war froh, dass sie auf das Thema einstiegen und zog mich aus der Diskussion zurück.

Nach der Stunde hielt mich die Professorin noch auf.

"Moment bitte. Tut mir leid, falls ich sie zu sehr in die Diskussion gedrängt habe, aber ich hatte das Gefühl, sie hätten etwas zu sagen. Offensichtlich hatte ich recht."

"Das Thema triff eben immer irgendeinen Nerv."

"Vielleicht wollen sie ihre Abschlussarbeit über dieses Thema schreiben?"

"Besser nicht …"

"Ich würde wirklich gerne noch mehr von ihnen hören. Bisher haben sie sich sehr zurückgehalten."

"Zum Glück gibt es ja 40 andere Leute, die zu allem was zu sagen haben."

"Hören sie, haben sie es eilig, oder wollen sie vielleicht noch irgendwo einen Kaffee trinken gehen?"

"Ist das … üblich? Ich meine …"

"Keine Ahnung, ich unterrichte das erste Semester. Ich schreibe an meiner Habilitation über Gruppenprozesse in der rechtsradikalen Szene, daher mein Interesse an ihrer Meinung."

"Sie wissen wer ich bin, hab ich recht? Deshalb fragen sie, oder?"

"Ehm, nein … was meinen sie?"

"Vielleicht sollte ich ihnen die Geschichte tatsächlich bei einem Kaffee erzählen."

"Gerne. Mein Name ist übrigens Tisha."

"Jordan."

Wir setzten uns in den nächsten Starbucks.

"Also Jordan, sind sie ein Aussteiger?"

"Ich nicht, aber mein Freund. Wir sind seit August zusammen und haben damit etwas für Aufruhr gesorgt."

Ich erzählte von der Bandtrennung, dem unfreiwilligen Outing und von Dylan's Job im Zentrum. Sie wollte mit ihm sprechen, ihn in ihre Arbeit mit einbeziehen. Scheinbar war es ihr als Afroamerikanerin bisher noch nicht gelungen, mit Leuten aus der Szene von Angesicht zu Angesicht zu sprechen.

Er traf sie schon in der nächsten Woche, nach seiner zweiten Laserbehandlung. Sie unterhielten sich fast zwei Stunden lang und profitierten scheinbar beide davon. Dylan nahm viel theoretisches Wissen mit, dass er an seine Kids weitergeben wollte.

Am 30. Oktober waren wir auf Sean's Geburtstagsfeier eingeladen, die Brian für ihn mit der Begründung schmiss, dass Sean immer so gestresst sei und sich mal wieder locker machen sollte. Ich gab Brian den Tipp, Fruchtpunsch zu machen. Es dauerte nicht lange und Sean und ich waren rotzbesoffen.

"Ich glaub, ich muss kotzen …"

Das glaubte ich ihm sofort, so wie er aussah.

"Du verträgst auch nichts mehr."

"Was sollen die neuen Kollegen bloß von mir denken?"

"Dass du weißt wie man feiert, aber nicht weißt, wie viel Fruchtpunsch du verträgst", grinste ich.

"Schau mal, mein Brian redet mit deinem Dylan."

"Die Zwei verstehen sich scheinbar gut …"

"Ich glaub, ich brauch frische Luft. Komm mit."

Er griff nach meiner Hand und zog mich hinter sich her. Händchenhalten mit Sean, in einem Raum voller Menschen. Ich musste grinsen.

Wir gingen runter vors Haus. Ich holte meine Zigaretten raus und machte eine an. Sean schaute mich erst böse an, dann setzte er sich doch neben mich auf den Randstein und wollte mal ziehen, um daraufhin ganz schrecklich zu husten und den Tabak zu verfluchen.

"Mein Freund schmeißt eine Geburtstagsfeier für mich. Ganz offiziell. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich mal so wohl dabei fühlen würde."

"Was ist mit deinem Dad?"

"Der ist weit weg. Und ich glaube, bald hab ich genügend Mumm und Kohle zusammen, um es ihm zu sagen. Ich peile dieses Weihnachten an."

"Das ist in weniger als zwei Monaten", staunte ich.

"Pscht!"

"Wow, wenn dir das vor ein paar Jahren jemand erzählt hätte …"

"Wenn mir das vor ein paar Monaten jemand erzählt hätte! Kennst du das, wenn etwas, das du immer als total feste Tatsache hingenommen hast, plötzlich ins Wanken gerät?"

"Besser als du denkst. Okay, du darfst das auf keinen Fall weitererzählen. Nicht mal Brian, versprochen?"

Er kreuzte die Finger übers Herz und deutete an, dass ich erzählen sollte.

"Okay. In letzter Zeit hat sich dieser Gedanke in meinem Kopf festgesetzt und er geht einfach nicht mehr raus."

"Was denn für einer?"

"Bereit?"

"Mach's nicht so spannend!"

"Es wäre bestimmt voll toll, mit Dylan verheiratet zu sein."

Sean's Mund blieb offen stehen, seine Augen wurden riesig. Offensichtlich war er erst mal sprachlos.

"Aber … du hasst Hochzeiten und du sagst doch immer, wie unnötig so was ist und dass man sich damit das Leben nur unnötig schwer macht!"

"Ich weiß, aber jetzt plötzlich ist das anders. Ich weiß es einfach. Dylan ist es."

"Das ist … das ist ja wunderbar! Ich freu mich so für dich!"

Er fiel mir um den Hals.

"Wann fragst du ihn?"

"Was?! Nein, Moment … so konkret sind meine Pläne noch nicht …"

"Das wird schon noch. Ich glaub es nicht, mein Weltbild gerät ins Wanken! Du wirst heiraten!"

"Oh Gott, ich glaub ich muss kotzen …"

Er lachte und klopfte mir auf die Schulter.

"Ich schätze, das war es dann endgültig mit uns beiden, was?", grinste er etwas wehmütig.

"Scheint so. … Aber das war ja eigentlich schon klar, als du mit Brian aufgetaucht bist, damals."

"Trotzdem, heiraten ist so … für immer eben. Dann hat die Jordan-Sean-Lovestory wohl kein Happy End?"

"Also erstens: Man, bist du betrunken."

Er knuffte mich in die Seite.

"Und zweitens: Nicht ein Happy End, sondern sogar zwei! Jeder bekommt eben sein eigenes.

"Ja, so kann man es wohl sagen."

"Ach und drittens: Wie 'für immer' so eine Ehe ist, haben du und Patricia ja eindrucksvoll bewiesen."

Das brachte mir einen ordentlichen Kick mit dem Ellbogen in die Seite ein, aber auch ein bezaubernd-betrunkenes Lachen und einen kurzen, unschuldigen Abschiedskuss.

Gegen halb Zwei machten wir uns auf den Heimweg.

"Ich bin schon gespannt, wie der Sex mit einem betrunkenen Jordan ist …", grinste Dylan im Auto.

"Ich will dir einen blasen, jetzt sofort", lallte ich.

"Vielversprechend. Aber heb dir das lieber für zu Hause auf."

"Ich will …"

… dich heiraten, hätte ich fast gesagt, aber ich schlug mir die Hände vor den Mund.

"Ist dir schlecht?"

Ich schüttelte den Kopf und zweifelte an meinem Verstand. Ich war total besessen von dem Gedanken.

An den Wochenenden waren die Kinder öfter mal bei uns und Dylan hatte in Josh jemanden, mit dem er Basketball spielen konnte, während ich mit Gwen wirklich interessante Sachen machte, wie Blumenketten basteln oder Käfer jagen oder mit Stan herum tollen. Im Zentrum waren Bühne und Bar inzwischen fertig und es gab eine Einweihungsfeier, auf der Anavrin, die junge Zentrumsband, Nirvana-Songs spielten und zwar durchaus passabel.

Dylan ging auf ein paar Wohltätigkeitsveranstaltungen und trieb für das Zentrum eine ganze Stange Geld auf. Nach seiner dritten Laserbehandlung waren die bösen Tattoos wirklich kam noch zu sehen. Noch ein bis zwei Sitzungen und es würde überstanden sein. Zwischendurch fiel mir ein, dass ich den 22-Stunden-Song über Tobey nicht fertig geschrieben hatte. Das brachte ich hinter mich und ließ ihn Scott für mich verkaufen. So verging der November und Weihnachten war langsam ein Thema. Nikki sagte, Gwen könne gern bei mir bleiben und Josh dürfe sich entscheiden zwischen Hawaii und was auch immer ich vor hatte. Ich wartete insgeheim auf einen Anruf von Tobey, der mir sagte, dass er sich nach den Feiertagen gern mal mit mir treffen würde.


Ich habe das Gefühl, ich konnte noch nicht richtig zu Papier bringen, wie sich die Beziehung zwischen mir und Dylan weiterentwickelt hatte. Wenn man sich das so durchliest, dann fragt man sich wirklich, warum ich plötzlich so scharf aufs Heiraten bin. Am Anfang wollte ich einfach jemanden, um nicht alleine zu sein, aber durch Zufall hatte ich wirkliche, echte, wahre Liebe gefunden. Wir verstanden uns blind, wussten immer, wie es dem Anderen gerade ging, verbrachten wirklich jede freie Minute zusammen, gingen uns dabei nie auf die Nerven, sondern wuchsen immer mehr zusammen. Bald war ich ein Wir und wir waren glücklich. Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie so etwas für jemanden empfunden und damit will ich nicht meine früheren Beziehungen abwerten. Diesmal war es einfach ganz anders. Wir gehörten ohne Zweifel zusammen - und das wussten wir auch.


Am 21. November gratulierte ich Nina per e-Mail zum Geburtstag. Es kam eine Antwort zurück, kurz, aber immerhin! Anfang Dezember, an einem Montag, als wir vom Zentrum heimkamen, meinte Dylan, er habe eine Überraschung für mich, oder eigentlich gleich zwei. Wir setzten uns auf die Couch.

"Also, das erste ist dieses schöne Stück Papier. Ich denke, damit können wir uns die Gummis in Zukunft sparen, wenn du einverstanden bist."

"Zeit wird's."

Ich brauchte kein Wort darüber verlieren, dass er mir aber ehrlich sagen müsse, wenn er mit jemand anderen schliefe. Ich wusste einfach, dass seine Gefühle für mich das gar nicht zulassen würden, genauso wenig wie mich im letzten Vierteljahr andere Leute interessiert hatten.

"Okay. Und die zweite Überraschung?"

"Ich weiß, dass Josh und du Weihnachten gerne in Phoenix verbringen möchtet. Ich hab schon mit deiner Mum telefoniert. Sie freut sich, dass sie ihren Sohn endlich mal wieder zu Hause umsorgen kann und so. Außerdem gibt es eine große Silvesterparty, wird bestimmt der Hammer."

"Aber ich will das alles auf keinen Fall ohne dich, das ist ja wohl klar."

"Deshalb hab ich hier auch noch ein zweites Stück Papier. Ich hab schon alles geregelt. In Glendale gibt es einen Bewährungshelfer, bei dem ich mich jeden Tag blicken lassen muss und zusätzlich muss ich meinen hier jeden Tag kurz anrufen und der Papierkram war echt die Hölle, aber Vanessa hat mir dabei geholfen. Sie kennt sich mit so was voll aus, ist ja auch ihr Job. … Also, Weihnachten in Phoenix, was sagst du?"

Ich konnte ihm nur noch um den Hals fallen.

"Genial! Danke! Das wird das tollste Weihnachten jemals! Ich zeig dir, wo ich aufgewachsen bin, wir können ins Zen gehen und Bang besuchen und vielleicht ist Hannah auch da und Sean ist sicher dort, oh mein Gott, er hat vor, seinem Dad von Brian zu erzählen und wir werden gleich nebenan sein, wenn es passiert."

"Ich wusste, dass du dich freuen würdest, aber du bist ja total aus dem Häuschen."

"Weißt du, … ich will dir einfach endlich etwas von früher erzählen. … Das heißt nicht, dass ich erwarte, dass du mir was über deine Vergangenheit erzählst. Aber ich hab einfach das Bedürfnis, dir das alles zu zeigen und zu erzählen."

"Ich weiß. Ich hab auch schon einiges aufgeschnappt."

"Ja?"

"Na klar. Zwischendurch fängst du doch manchmal an, fetzenweise was von früher zu erzählen. Ich merke schon, dass du darüber reden willst."

"Ist das schlimm?"

"Nein, überhaupt nicht! So lang du keine Gegenleistung erwartest …"

"Absolut nicht. Willst du lesen was ich geschrieben habe?"

"Nein. Ich will, dass du mir nach und nach erzählst, was dir gerade einfällt. Ich will dein Leben doch nicht wie ein Buch lesen!"

"Na gut, also, was mir gerade einfällt: Ich war zum erstem Mal in L.A als ich 19 war - und zwar mit Sean."

Ich erzählte ihm die ganze Geschichte und er hörte interessiert zu, stellte ab und an Fragen, fand die Geschichte von dem Wangenkuss-Foto in meinem Geldbeutel lustig und verstand auch, dass ich es immer noch mit mir herum trug. Danach schlief ich mal wieder auf der Couch ein, den Kopf in seinem Schoß, während er am Laptop irgendwas für das Zentrum vorbereitete.

Am 23. packten wir unsere Sachen ins Auto, holten Gwen ab, dann fuhren wir zu Josh's Schule und warteten noch eine viertel Stunde auf ihn. Ich fuhr, Dylan setzte sich nach hinten, um Gwen und Stan zu beschäftigen und Josh durfte vorne sitzen. Bei Quartzsite überlegte ich kurz, ob wir einen Abstecher zu Gladis machen sollten, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Gwen hielt die Fahrt gut durch, Josh spielte Gameboy und Dylan schaute sich die Gegend an. Als wir das Ortsschild passierten, fing ich an, durch die Gegend zu deuten und ein paar kurze, kindertaugliche Geschichten zu erzählen. Dylan wurde langsam nervös, obwohl er selbst wusste, dass er keinen Grund dazu hatte. Er hatte schon oft am Telefon mit Mum gesprochen und sich gut mit ihr verstanden. Ich zeigte ihm im Vorbeifahren, wo Sean aufgewachsen war und bog in Klaus' Einfahrt.

Dylan war schlichtweg erschlagen von den riesigen Häusern und Gärten und Autos in der Nachbarschaft.

"So viel braucht doch kein Mensch. Ein kleines Häuschen im Grünen, ein bisschen Platz zum Spielen für die Kinder …"

Josh wurde hellhörig.

"Willst du auch irgendwann Kinder, Dylan?"

"Ich hab doch euch beide."

"Hättest du was dagegen, wenn du noch mehr Geschwister bekommen würdest, Josh?", fragte ich ihn.

"Solange ich mein Zimmer nicht teilen muss, oder ständig umsonst babysitten, nicht."

Dylan schaute mich fragend an, ich zuckte nur die Schultern.

Die Mädchen kamen uns schon entgegen und ich stellte sie Dylan vor. Marie sah mir immer ähnlicher. Dylan schien das Gleiche zu denken, so wie er sie musterte. Mum und Klaus kamen auch raus. Sie begrüßten Dylan herzlich und ich sah genau, wie er sich endlich entspannte. Wir brachten unsere Sachen hoch, Dylan, Gwen und ich würden in meinem alten Zimmer schlafen, Josh und die Mädchen in Lauras Zimmer. Dann gab es auch schon Abendessen. Danach nahm Mum Dylan mit in den Garten und er bekam die 'Schwiegersohn-Rede'. Die Kinder spielten oben. Klaus fragte mich, wie das Studium liefe und was ich jetzt weiter vor hatte.

"Ich weiß auch nicht so genau. Songs schreiben, im Zentrum mit Jugendlichen arbeiten und nebenbei vielleicht irgendwann den College-Abschluss machen."

"Und Dylan?"

"Er ist im Zentrum sehr engagiert, aber verdienen tut man dabei nicht gut …"

"Hast du noch genügend Ersparnisse?"

"Ja, keine Sorge, wir sind abgesichert."

"Du weißt, dass du mit allen Problemen zu mir kommen kannst, oder?"

"Ich weiß. Danke Klaus."

"Du bist wie ein Sohn für mich. Also wenn ich dir bei irgendetwas helfen kann, dann lass es mich wissen."

"Da wäre etwas, wobei ich deinen Rat bräuchte …"

"Ja natürlich, was ist los?"

"Ich will Dylan fragen, ob er mich heiratet, aber ich weiß nicht, wie."

Das Leuchten in Klaus Augen war echt. Er freute sich riesig. Als er sich wieder beruhigt hatte, stellte er mir ein paar Fragen.

"Willst du es romantisch machen?"

"Ich glaube, wir stehen beide nicht so auf Kitsch …"

"Willst du es vor den Kindern machen?"

"Ich dachte eher, dass wir das erst mal untereinander besprechen sollten …"

"Hast du Angst, dass er nein sagen könnte?"

"Das Thema ist noch nie aufgekommen. Ich hab keine Ahnung, wie er dazu steht …"

"Dir ist klar, dass die Ehe auch eine Art Geschäft ist, oder? Mit Verträgen und so weiter."

"Wir sind zwei Männer, bei uns geht es hauptsächlich um den rechtlichen Kram."

"Richtig …"

"Aber ich will das Ganze auch nicht so ganz rational angehen. Ich will ihm kein Geschäft vorschlagen, du weißt schon."

"Ich glaube, du solltest einfach mit ihm darüber reden und sehen, was sich ergibt. Du musst ihm ja keinen Antrag im klassischen Sinne machen. Bei deiner Mum und mir war es damals genau so. Es war das Vernünftigste, weil deine Schwester schon auf dem Weg war und wir wussten eigentlich beide, dass wir für immer zusammenbleiben wollten. Warum also noch warten?"

"So empfinde ich es auch."

"Ihr solltet heute Abend ausgehen."

"Heute noch?!"

"Warum warten? Es ist Freitagabend. Gwen schläft ohnehin bald. Ihr könntet euch in Ruhe unterhalten und danach vielleicht noch im Zen feiern gehen. Warum denn nicht?"

"Ja, warum eigentlich nicht?"

"Ich meine, du bist dir doch sicher, oder?"

"Absolut."

"Na also!"

Dylan wollte gerne eine Runde mit mir durch die Vergangenheit spazieren. Wir parkten vor dem Zen.

"Zehn Minuten Fußweg von hier ist der Block in dem ich aufgewachsen bin. Lust?"

"Klar."

Wir marschierten los. Ich überlegte, wie ich das Thema anschneiden sollte. Plötzlich meinte Dylan:

"Warum hast du Josh das vorhin im Auto gefragt?"

"Ob er was dagegen hätte, noch mehr Geschwister zu bekommen? Na weil es doch nicht so abwegig ist. Nikki ist noch jung und in einer Partnerschaft. Ich genauso …"

"Kannst du dir vorstellen, mit mir Kinder zu haben?"

"Warum nicht? Irgendwann …"

"Ich glaube, darüber sollten wir reden …"

Mir wurde heiß.

"Willst du keine Kinder?"

"Doch, schon. Es ist nur so eine große Verantwortung. Bevor ich diese Verantwortung übernehme, muss alles perfekt sein."

"Wie meinst du das?"

"Ich will einem Kind das perfekteste, stabilste Zuhause bieten können, das möglich ist. Nicht so wie meines."

"Was würde da alles dazugehören?"

"Ein Haus in einer ruhigen Gegend, finanzielle Sicherheit, eine stabile Partnerschaft."

"Ich halte unsere Partnerschaft für sehr stabil."

Er zögerte:

"Natürlich, klar … es ist nur …"

"Was?"

"Ach, vergiss es …"

"Wir sind nicht verheiratet, meinst du das?"

"Zum Beispiel …"

Okay, jetzt oder nie!

"Dann lass uns heiraten."

"Was?!"

"Ich spiele schon länger mit dem Gedanken. Ich liebe dich und ich weiß, dass du der Richtige bist und dass wir für immer zusammenbleiben werden. Warum heiraten wir dann nicht einfach?"

"Ich weiß nicht … also mit heiraten meinst du …"

"Eine eingetragene Lebensgemeinschaft, ja."

"Ich hab mich noch nie damit beschäftigt, wie das läuft. Ich meine, gibt es eine Zeremonie, oder wie ist das?"

"Das hängt ganz von uns ab."

"Und dann sind wir im juristischen Sinn verheiratet?"

"Ja, wir haben dann dieselben Rechte und Pflichten wie ein verheiratetes Paar."

"Das hört sich gut an …"

"Also sagst du ja?", fragte ich vorsichtig.

"Ja."

Ich war in meinem ganzen Leben noch nie so glücklich wie in diesem Moment. Das war der erste Schritt in unsere gemeinsame Zukunft. Und wir hatten viel vor. Nach einem langen Kuss fragte er:

"Wie wünschst du dir die Hochzeit?"

"Ich hasse Hochzeiten … eigentlich."

"Aber du willst mich heiraten? Ist das nicht seltsam?"

"Was soll ich sagen? Ich bin eben verliebt. Und wir beide haben schon schlimmeres durchgestanden als eine Hochzeit."

"Wir können auch einfach nur die Papiere unterschreiben und allen mitteilen, dass wir jetzt verheiratet sind."

"Danke, ich weiß das Angebot wirklich zu schätzen. Aber das käme mir irgendwie zu billig vor …"

"Wir können den Tag gestalten wie wir wollen."

"Ja, ich hab nur überhaupt keine guten Ideen."

"Wir müssen ja nicht morgen heiraten. Wir können das ja alles erst mal durchdenken."

Irgendwie nahm das langsam Gestalt an …

"Wah, ich bekomm gerade ein bisschen Panik. Ich bin doch noch viel zu jung!"

Dylan versuchte, mich auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen:

"Du wirst bald 28 …"

"Dann bist du eben zu jung."

"Ich werde 27. Jetzt beruhig dich mal wieder. Ich schlepp dich doch nicht vor den Altar. Das war deine Idee."

"Ich weiß … es ist nur plötzlich von einer Idee zu was Realem geworden und das erschreckt mich."

"Wenn du Zweifel hast …"

"Nicht die geringsten!"

"Wovor hast du dann Angst?"

"Kein Schimmer. … Ich will mit dir verheiratet sein, die Hochzeit ist dafür ein notwendiges Übel. Ich steh nun mal nicht gerne im Mittelpunkt …"

"Äh, hallo? Rockstar?"

"Das ist was anderes. … Hochzeiten sind immer so kitschig und traditionell und emotional, … das setzt mich eben unter Druck."

"Ich glaub, du siehst das alles zu eng. Vielleicht warst du auf ein paar Hochzeiten, die so waren. Aber diesmal schmeißen wir die Party."

"Ich liebe dich, weißt du das?"

"Das hoff ich doch!"

"Da vorne müssen wir abbiegen …"

"Wann willst du es deiner Familie sagen?"

"Morgen Abend?"

"Gut."

Kann es sein, dass er das alles auch schon geplant hatte? Irgendwie hatten wir alles so schnell geregelt …

"Was sind deine Pläne, Dylan? Wie stellst du dir die nächsten Jahre vor?"

"Ich will eigentlich nur ein ganz normales Leben mit dir, den Kindern, Stan …"

"Du willst in eine ruhigere Gegend ziehen, oder?"

"Ich weiß, dass du sehr an der Wohnung hängst …"

"Ich kann sie vermieten. Wir können uns ein kleines Häuschen zulegen."

"Ich will selbst was beisteuern können. Ich denke, ich sollte mir einen richtigen Job suchen …"

"Dann bleibt kaum noch Zeit für uns …"

"Aber ich kann mich doch nicht von dir aushalten lassen. Ich will mir mit dir zusammen eine Haus kaufen, nicht eines von dir bekommen …"

"An was für einen Job denkst du?"

"Tischler, was sonst?"

"Damit verdienst du doch nichts …"

"Hast du eine bessere Idee?"

"Nein …"

"Jetzt machen wir mal einen Schritt nach dem anderen. Wir sollten in den nächsten paar Monaten Ideen für die Hochzeit sammeln. … Und morgen sollten wir es erst mal allen sagen, ja?"

"Okay. Aber weißt du, wenn wir verheiratet sind, dann gehört alles uns."

"Jordan, ich weiß das zu schätzen. Aber ich will mich nicht von meinem reichen Ehemann aushalten lassen."

"Hier sind wir."

"Korrigiere, ich will mich nicht von meinem neureichen Ehemann aushalten lassen. Man, was für ein heruntergekommenes Gebäude!"

"Mum hat immer gesagt, dass wir ja schließlich von innen nicht sehen, wie der Block von außen aussieht. Unsere Wohnung war zwar klein, aber immerhin einigermaßen hergerichtet. … Da hinten hab ich als Kind immer rumgesessen und Walkman gehört. Mein erstes Mal hatte ich übrigens da zwischen den Müllcontainern …"

"Wie alt warst du?"

"13."

"Josh wird bald 13."

"Erinnere mich nicht daran …"

"Hast du mit ihm über so was gesprochen?"

"Ja klar. Und er weiß, dass er zu mir kommen kann, wenn er Fragen hat."

"Gut …"

"Wie alt warst du?"

"Jordan …"

"Sorry, war nur ein Reflex …"

"Ich will einfach wirklich nicht darüber reden. Mit Niemandem."

"Nicht mal mit mir, ich kapier es ja und ich bin dir deshalb nicht böse. Manchmal kommt einfach die Neugier durch. …Komm, ich zeig dir, wo ich einen Zahn verloren hab, als ich sechs war …"

Auf dem Weg zurück zum Zen war Dylan sehr still.

"Bist du sauer, weil ich nach deiner Vergangenheit gefragt habe?"

"Nein, ich denke nur nach."

"Worüber?"

"Darüber, was es bedeutet, verheiratet zu sein. Darüber, was es für mich bedeutet."

"Bekommst du Zweifel?"

"Überhaupt nicht. Ich nehme es nur sehr ernst. Du willst sicher einen Ehevertrag."

"Ich hab über so was noch nicht nachgedacht, … aber irgendwie ist das, als würde ich nicht daran glauben, dass wir für immer zusammen bleiben und ich glaube wirklich daran. Was bringt dann ein Ehevertrag?"

"Ich würde ihn jedenfalls unterschreiben, denk drüber nach. Ich will nichts, was mir nicht zusteht."

"Als mein Ehemann steht dir die Hälfte zu, von allem was ich habe. Ich will keinen Ehevertrag, auch wenn ich jetzt schon weiß, dass Scott mich entmündigen lässt …"

"Was ist mit den Kindern? Wenn wir verheiratet sind, dann will ich auch ihnen gegenüber die üblichen Rechte und Pflichten."

"Keine Ahnung was da üblich ist. Aber da sollten wir uns mal mit Nikki und Oliver zusammensetzen und mit Scott."

"Glaubst du wirklich, dass er was damit zu tun haben will?"

"Er arbeitet schließlich immer noch für mich."

"Das solltest du nicht ausnutzen …"

"Ich weiß. Das muss ja alles nicht heute geklärt werden. … Jetzt gehen wir erst mal feiern."

Ich legte meinen Arm um ihn und wir gingen über den Parkplatz auf das Zen zu.

"Da drüben hab ich mir mal den Arm gebrochen."

"Wie?"

"Das willst du gar nicht wissen. Wow, die Kids hier werden auch immer jünger."

"Ich befürchte, wir werden nur immer älter."

"Immerhin werden wir zusammen alt", grinste ich.

"Hattest du eigentlich schon länger geplant, mich zu fragen?"

"Schon nach ein paar Wochen kam mir der Gedanke das erste Mal …"

"Mir auch."

"Wieso hast du nie was gesagt?"

"Du hast mal erwähnt, dass Hochzeiten nichts für dich sind, danach hab ich mich nicht mehr getraut …"

Der Türsteher winkte uns rein.

"Ist Bang heute auch hier?"

"Der Boss sollte irgendwo drinnen sein, ja."

Ich sah Bang schon von weitem an der Bar, als er sich gerade einen Ausweis zeigen ließ. Er freute sich riesig, mich zu sehen und ich stellte ihm Dylan als meinen Verlobten vor. Ich wusste, wie kitschig das klang, aber ich fand es toll. Er erzählte, Susi habe angekündigt, dass sie versuchen würde, am 30. möglichst viele Leute aus der Klasse zusammenzutrommeln. Bis dahin würden wir ja auch noch da sein. Bevor er wieder was tun musste, sprach er das heikle Thema doch noch an.

"Ich hab vor ein paar Monaten aus der Zeitung von euch erfahren. Erst war ich ziemlich geschockt, aber dann hab ich mich zusammengerissen und mir gesagt, dass Jordan schon weiß was er tut. Ich freue mich für euch beide. Ich hab ein gutes Gefühl."

"Danke Bang."

"So, ich muss jetzt mal ein paar Leuten Feuer unterm Hintern machen. Wir sehen uns dann auf jeden Fall nächste Woche, ja?"

"Auf jeden Fall. Wir sollten uns auch langsam auf den Heimweg machen. Morgen wird ein anstrengender Tag."

Dylan meinte, er freue sich schon wie verrückt auf sein erstes richtiges Weihnachten. Ich fragte nicht weiter nach, auch wenn ich mich wunderte. Immerhin ist er Protestant. Gwen wurde gerade nochmal wach, als wir heim kamen. Ich gab ihr ihren Tee. Dylan nahm sie hoch und brachte sie zu uns ins Bett. Da las er ihr noch kurz vor und schon schlief sie wieder … zwischen uns.

"Dass mir das aber nicht zur Gewohnheit wird", flüsterte ich.

"Das hier ist eine fremde Umgebung. Ich will nur, dass sie sich sicher fühlt."

"Na gut, aber ab morgen gehört das Bett wieder nur uns beiden."

"Mal sehen."

"Gute Nacht, mein Verlobter."

"Ich bekomm echt Gänsehaut, wenn du das sagst."

Am nächsten Morgen wachte ich auf, weil Gwen auf mir herum kletterte.

"Guten Morgen, Sonnenschein. Hast du Hunger?"

"Ja."

"Was willst du denn frühstücken?"

"Schoko."

"Mal sehen, was die Oma sich einfallen hat lassen. Vielleicht gibt es Waffeln, oder Pancakes mit Schokosoße."

"Du lässt sie immer so einen Müll essen", moserte Dylan, obwohl er noch nicht mal die Augen offen hatte.

"Ach komm schon, es ist Weihnachten. Guten Morgen übrigens. Hast du gut geschlafen?"

"Ich hab vor allem produktiv geschlafen. Ich hab da ein paar Ideen für die Hochzeit."

"Ich auch, aber du zuerst."

"Na gut, also wegen den Ringen: … Ich trage nie Ringe."

"Ist mir aufgefallen."

"Ich müsste einen Ehering ständig abnehmen. Wenn ich Sport mache, wenn ich was baue, immer."

"Ja, stimmt, das ist etwas unpraktisch. Klassischerweise geht der Ring dann auch gerne mal verloren."

"Genau. Deshalb hab ich mir überlegt, dass ich ein Symbol für unsere Ehe haben will, das ich immer an mir tragen kann."

"Und an was hast du da gedacht?"

"Ein Tattoo."

"Okay … ich glaub, ich mag die Idee. Was für ein Tattoo?"

"Dein Name um meinen Ringfinger."

"Wir könnten das auf jeden Fall mal entwerfen lassen …"

"Ja? Gut. Ich find das ist nämlich wirklich ein Geniestreich von mir. Und was hast du für Ideen?"

"Jordan Handerson."

"Du willst meinen Namen annehmen?"

"Wie findest du das?"

"Ich weiß nicht, … ich könnte mir nicht vorstellen, plötzlich anders zu heißen."

"Ehrlich gesagt geht es mir weniger darum, so zu heißen wie du. Ich will nur einfach nicht mehr so heißen wie der Kerl, dem ich die Kugel im Kopf zu verdanken hatte …"

"Das kann ich schon verstehen. Aber was ist mit Josh und Gwen? Sie heißen auch Bonanno."

"Gwen kann auch Handerson heißen, oder Cooper wie Nikki. Und Josh kann es sich selbst aussuchen."

"Ich weiß nicht ob ihm das gefällt."

"Ich werde es ihm schon erklären …"

"Na gut. Ich freue mich, wenn du meinen Namen trägst. Und wenn wir mal Kinder haben, dann müssen wir nicht lange überlegen, welchen Nachnamen sie bekommen. Aber jetzt fangen wir nicht an, über zukünftige Kinder zu reden. Ich hab das Gefühl, das Kind, das schon da ist, hat die Windeln voll."

Mum hatte natürlich Pancakes gemacht, um uns für den Tag zu stärken. Während die Kinder draußen spielten, packten wir Geschenke ein. Tonnenweise Geschenke. Die ließen wir dann alle in Mum's und Klaus' Schlafzimmer verschwinden. Im Radio liefen Weihnachtslieder, Dylan pfiff fröhlich mit. Ich war so unbeschreiblich glücklich. Josh machte ganz alleine Brownies, Mum ließ Gwen Teigreste lecken, Marie und Laura schmückten mit Klaus den Baum. Ich dachte an letztes Weihnachten und konnte es gar nicht glauben, wie viel sich seitdem verändert hatte. Ich hatte meinen Dylan gefunden, wir würden heiraten, ein Haus kaufen, früher oder später ein Kind adoptieren. Alles war so perfekt. Am liebsten hätte ich einfach laut losgelacht und Dylan in den Arm genommen und so fest gedrückt, wie es ging. Warum eigentlich nicht?

"Woaw … Jordan, Vorsicht, der Teig … aua. Hehe. Hallo."

"Hallo.”

"Du magst mich, hm?”

"Ich mag dich! Mum! Ich mag ihn! Und ich werde ihn heiraten!"

Meine Mum schaute erst kurz, als wäre sie nicht sicher, sich vielleicht verhört zu haben. Dann strahlte sie und fiel uns beiden um den Hals. Josh kam auch rüber.

"Alles okay, Kleiner?"

"Ich freu mich für dich, glaub ich. … Ich bin nur überrascht …"

"Bekomm ich eine Umarmung?"

"Klar."

Als sich der Trubel gelegt hatte, verzog ich mich mit Josh nach draußen und wir redeten. Er machte sich Sorgen, was passieren würde, wenn ich eine neue Familie gründe. Aber ich konnte ihm glaubhaft versichern, dass in meinem Leben immer ein Platz sein würde für ihn. Bevor wir rein gingen, meinte er noch:

"Ich bin froh, dich wieder glücklich zu sehen, Dad."

Dylan wurde drinnen schon von meiner Mutter in Beschlag genommen und musste ihr erzählen, was wir uns bisher überlegt hatten. Ich sprach auch das mit der Namensänderung an und erklärte Josh, warum ich das machen wollte. Er sagte, er würde dann wohl wieder Cooper heißen wollen. Die Bombe war also geplatzt, alle freuten sich. Am Nachmittag sammelten wir alle zusammen Ideen, wie die Hochzeit aussehen sollte. Eine kurze Zeremonie zum Unterschreiben, enthüllen der Tattoos und so weiter und danach eine laaaange tolle Party mit Live-Musik, Buffet und so.

Am Abend gab es, wie immer nach europäischer Tradition, Geschenke. Die Kids würden sich inzwischen gar nicht mehr bis zum nächsten Morgen hinhalten lassen. Um halb Elf fielen wir todmüde aber glücklich ins Bett.

"Das war der beste Heiligabend jemals, … zu sehen wie die Kinder sich gefreut haben, das war echt total schön", strahlte Dylan.

"Mir kann alles gar nicht schnell genug gehen. Am liebsten würde ich dich jetzt sofort heiraten, ein Haus kaufen, noch ein Kind bekommen …"

"Warum die Eile, Jordan? Wir haben doch alle Zeit der Welt."

"So hab ich auch mal gedacht, aber jetzt weiß ich, dass alles innerhalb von einer Sekunde vorbei sein kann. Ich will einfach alles sofort! Jetzt!"

Dylan lächelte, aber seine Augen waren ernst.

"Wir sollten alles gut planen."

"Ich weiß, du willst dass alles perfekt ist, bevor du die Verantwortung für ein Kind übernimmst …"

"Genau. Und wir sollten auch mal über unsere Möglichkeiten nachdenken."

"Leihmutter oder Adoption, das sind wohl unsere Möglichkeiten."

"Und welche würdest du bevorzugen?"

"Ich hab schon zwei Kinder in die Welt gesetzt, ich könnte mich durchaus mit einer Adoption anfreunden, … du?"

"Ich denke, wenn es so viele Kinder gibt, die ein Zuhause brauchen, warum sollten wir dann den Aufwand einer Leihmutterschaft betreiben?"

"Genau. Also, was gibt es da groß nachzudenken?"

"Solange ich auf Bewährung bin, wird es wohl nichts mit einer Adoption. Und ich weiß auch nicht, wie es mit Vorstrafen im Allgemeinen ist. Es könnte sein, dass ich kein Kind adoptieren darf."

"Oh … ich bin auch vorbestraft …"

"Was?!"

"Ich war 18, … keine große Sache. Aber es wurde nicht gelöscht, … ich gelte wohl als vorbestraft …"

"Okay … dann können wir das mit der Adoption wohl knicken …"

"Jetzt gib doch nicht gleich auf. Wir können uns doch zumindest mal informieren."

"Ja, aber das dauert eben seine Zeit. Eins nach dem anderen, ja? Erst mal sollten wir heiraten und dann sehen wir, was als nächstes ansteht."

"Na gut …"

"Darf ich Gwen zu uns holen?"

"Ach Dylan …"

"Komm schon, nur noch heute Nacht, versprochen."

"Okay …"

Vor Acht tobten die Mädchen schon mit ihren neuen Spielsachen durchs Haus. Dylan stand auf und wickelte Gwen. Josh kam verschlafen ins Zimmer getaumelt.

"Die beiden haben heute Nacht keine Ruhe gegeben. Ich bin so müde!"

"Ich auch."

"Warum konntest du denn nicht schlafen?"

"Gwen hat bei uns im Bett geschlafen. … Wollen wir noch ne Runde Schlaf dranhängen?"

"Das haben wir früher ganz oft gemacht, als Gwen um Acht versorgt werden musste. Danach bist du immer in mein Bett gefallen und hättest am liebsten bis Mittag geschlafen. Wenn ich dich dann irgendwann aufgeweckt habe, bin ich mir immer vorgekommen wie der Erwachsene."

"Nicht so viel reden. Schlafen. Komm schon."

Er kroch ins Bett, ich bot ihm meinen Arm an. Erst schaute er skeptisch, dann kuschelte er sich zu mir, wie früher.

"Du weißt wie lieb ich dich hab, oder? Egal was sonst noch so kommt, das wird sich nie ändern."

"Das weiß ich. … Schlaf gut, Dad."

"Du auch."

Irgendwann zog Mum uns die Decke weg.

"Wie der Vater so der Sohn, oder wie? Hier wird nicht bis Mittag geschlafen, es ist viel zu tun. Ihr wollt schließlich auch was zu essen."

"Also eigentlich bin ich echt noch ziemlich voll von gestern …"

Sie zeigte kein Erbarmen, wir mussten uns geschlagen geben.

Alle anderen waren schon in der Küche zu Gange. Die Mädchen hatten viel zu viel Energie und machten nur Unfug. Ich war froh, als mein Handy klingelte. Es war Brian. Ich verzog mich auf die Terrasse.

"Na, wurdest du schon offiziell vorgestellt?"

"Hallo erstmal. … Nein … Sean schiebt das noch etwas vor sich her. Aber ich hab keine Lust, noch länger im Motel rumzusitzen …"

"Na dann komm vorbei."

"Ja?"

"Also bitte. Es ist Weihnachten, da lädt man doch Obdachlose zu sich nach Hause ein und lässt sie mitessen."

"Ja, so komm ich mir echt vor …"

"In einer halben Stunde gibt es Essen."

"Das schaff ich."

Er erzählte am Tisch ganz nebenbei, dass Tobey in Japan fest hing und noch nicht wisse, wann er mal wieder in den Staaten wäre. Kaum hatten wir gegessen, rief Sean schon an und bat Brian, rüber zu kommen. Der arme Kerl guckte, als würde er gleich dem Richter vorgeführt werden. Ich hätte um kein Geld der Welt mit ihm tauschen wollen.

Wir hörten erst am nächsten Morgen per SMS wieder von den beiden. Sie lebten noch, seien im Motel. Es hätte schlimmer laufen können, aber gut war es auch nicht gelaufen. Zum Klassentreffen würden sie nicht mehr in der Stadt sein.

Dylan und ich genossen die Zeit mit den Kindern, gingen mit Stan Gassi, redeten über die Hochzeit, auch wenn bisher noch nichts wirklich konkret war, aber es war schön, sich alles auszumalen, das musste ich zugeben.

Am 30. schaute ich alleine auf einen Sprung im Zen vorbei. Gwen hatte leichtes Fieber und Dylan wollte sie nicht alleine lassen. Sie hatte bisher jede Nacht zwischen uns geschlafen.

Hannah war nicht da, Summer war nicht da, Sean war nicht da. Deshalb fuhr ich schon nach einer Stunde wieder zu meiner kränkelnden Tochter zurück. Das war ein gutes Alibi. Es war erst kurz nach Neun, aber Dylan lag schon im Bett, Gwen in seinem Arm.

"Hey …"

"Sie ist gerade erst eingeschlafen. Das Fieber steigt nicht mehr, aber ich glaub, sie hat Halsschmerzen."

"Jetzt schläft sie ja erst Mal und wenn sie wieder aufwacht, bekommt sie ihre warme Milch."

"Lieber Tee, der verschleimt nicht so."

"Na gut, dann Tee. So. Und jetzt leg ich sie in Maries Bett. Die Klappcouch ist auch so schon unbequem genug, ich will mich mal wieder umdrehen können, ohne dass ich Angst haben muss, meine Tochter zu zerquetschen. Keine Widerrede."

Ich deckte sie zu und legte ein großes Kissen neben das Bett auf den Boden, falls sie nachts rausklettert.

"So, es ist noch viel zu früh zum schlafen …", säuselte ich.

"Dann geh doch noch ein bisschen Fernsehen oder so …"

"Ich hab da an was anderes gedacht …"

Ich legte mich neben ihn und schob sein Shirt nach oben.

"Jordan, nicht. Was wenn die Kleine aufwacht?"

"So schnell wacht sie nicht auf. Komm schon, wir haben schon seit einer Woche nicht mehr miteinander geschlafen. Ich vermisse dich …"

"Übermorgen sind wir zu Hause. Ich mein es ernst. Ich kann keinen Sex mit dir haben, während Gwen drei Meter weiter schläft."

"Oh Mann, … dann lass uns raus gehen oder so…"

"Du willst draußen Sex haben?"

"Ich bin verzweifelt, okay?"

"Sollen wir zu den Müllcontainern fahren?"

"Das ist echt nicht lustig."

"Ich weiß, tut mir leid. Komm her. Ich massier dich, ja?"

"Das macht alles bloß noch schlimmer. Jetzt hab ich Kopfschmerzen …"

"Manchmal glaub ich, sind die Schmerzen psychosomatisch. … Du instrumentalisierst den Schmerz."

"Du redest wie ein Seelenklempner. Das ist echt abturnend."

"Gut, das haben wir doch gewollt, oder?"

"Ich geh fernsehen."

"Bist du sauer?"

"Ich bin frustriert."

"Tut mir leid. Ich bin echt müde. Komm bald ins Bett, ja?"

"Mal sehen …"

Mum saß vor dem Fernseher und schaute sich die Aufzeichnung ihrer Soap an.

"Mein Gott, schaust du den Müll immer noch?"

"Na komm, setz dich zu mir. Du hast viel verpasst in den letzten … acht Jahren. Ich glaube, wir haben seit acht Jahren nicht mehr zusammen ferngesehen!"

"Kann gut sein …"

"Alles okay?"

"Ach, wir hatten nur gerade einen kleinen Knatsch …"

"Worum ging es denn?"

"Ach, er ist bei Gwen einfach total gluckenhaft."

"Will er nicht mit dir schlafen, wenn sie im Zimmer ist?"

"Muuuum!"

"Komm schon, jetzt stell dich nicht so an. Das Problem kennt ja wohl jeder der Kinder hat. Wir beide haben uns ein Schlafzimmer geteilt, bis du fast fünf warst."

"Ich glaube, darüber will ich gar nichts mehr hören …"

"Ich kann ihn jedenfalls verstehen. Und in zwei Tagen seid ihr ja wieder zu Hause. Das wirst du ja wohl noch aushalten."

Ich machte ein Geräusch, das ausdrückte, dass das Thema jetzt beendet sei. Sie verdrehte grinsend die Augen und fragte:

"Wie war dein Klassentreffen?"

"Immer das Gleiche, irgendwie haben wir uns nicht wirklich was zu sagen. Und Sara kann echt schauen wie der Teufel höchstpersönlich. … Naja. Alex hat eine eigene Firma, ist verheiratet … Susi macht jetzt in Immobilien, das passt echt wie die Faust aufs Auge. Hannah war nicht da, Summer war nicht da, … nach einer Stunde hab ich mich wieder verzogen."

"Glaubst du, dass mit Sean alles okay ist?"

"Er muss da jetzt durch, angenehm ist es bestimmt nicht, aber er hat ja Brian."

"Und du hast Dylan."

"Genau."

"Bist du glücklich?"

"Total. Wirklich."

"Ich kann gar nicht glauben, dass du heiratest!"

"Ich auch nicht …"

"Du bist so erwachsen geworden, mein Baby."

"Ach Mum …"

"Ich bin wirklich stolz auf dich."

"Jetzt hör aber auf …"

"Doch, es ist wichtig, dass du das weißt. Du bist der Sohn geworden, den ich mir immer gewünscht habe. Ein fürsorglicher Vater, ein unabhängiger Geist, ein berühmter Musiker, besser geht es doch gar nicht!"

"Fang nicht an zu heulen, okay …?"

"Komm her, mein Schatz."

Nachdem ich Mum ausreichend getröstet hatte, verzog ich mich wieder ins Schlafzimmer, um mit meinem Verlobten Frieden zu schließen.

"Hey, du schläfst ja noch gar nicht."

"Ich kann doch nicht einschlafen, wenn du sauer auf mich bist."

Seine Stimme klang wirklich traurig.

"Ich bin nicht sauer. Es tut mir leid, ich war ein ziemlicher Idiot, hm?"

"Eine Woche kein Sex mit dir, das geht mir auch an die Nieren, … aber …"

"Ich weiß, Gwen. Ich verstehe das."

"Wirklich?"

"Ja, komm her, lass uns schlafen, hm?"

"Ich liebe dich, Jordan."

"Und ich liebe dich."

"Nein, wirklich, ich liebe dich, total, von ganzem Herzen, ich kann mir keinen Tag ohne dich vorstellen. Ich will für immer bei dir sein."

"Deshalb heiraten wir ja auch. Jetzt komm in meinen Arm. Entspann dich. Alles ist in Ordnung."

"Du darfst nie wieder im Zorn weggehen."

"Werde ich nicht, versprochen."

Am nächsten Tag gab es viel für die Party am Abend vorzubereiten. Die Wittmores sagten kurzfristig ab, aber es würden dennoch zirka 20 Leute werden. Ernst, Klaus' Vater, kam schon am Nachmittag, ich stellte ihm Dylan vor, erzählte, dass wir vor hatten zu heiraten, er spielte mit den Kindern, machte sein berühmtes Käsedip und bevor die ersten Gäste eintrudelten, nahm er mich noch beiseite und fragte mich aus, wie das mit dem heiraten bei zwei Männern eigentlich funktioniere. Als es klingelte, stand ich am nächsten bei der Tür, deshalb machte ich sie auf und bekam fast einen Herzinfarkt. Meine Großeltern mütterlicherseits standen vor der Tür.

"Oh … Hallo. Kommt rein."

Ich wollte sie eintreten lassen, aber die beiden blieben stehen.

"Jordan? Bist das wirklich du?"

"Wusstet ihr nicht, dass ich hier bin?"

"Nein! Oh mein Gott, wie erwachsen du geworden bist. Wir haben uns ja seit Carols Hochzeit nicht mehr gesehen!"

"Stimmt."

"Ist unsere Enkelin auch da?"

"Ich hab die beiden Kinder dabei, ja. Und meinen Freund. Jetzt kommt doch erst mal rein. Ich bring euch was zu trinken."

Und schon verschwand ich in der Küche.

"Mum! Warum hast du mir nicht gesagt, dass die Masons kommen?"

"Wie bitte? Ich hab sie nicht eingeladen!"

"Jedenfalls stehen sie da draußen und warten auf was zu Trinken."

Mum bekam offensichtlich Panik.

"Ich hab sie echt nicht eingeladen!"

"Ich glaub dir ja."

"Was wollen die hier?"

"Geh und frag sie."

"Komm mit."

"Warum ich?"

"Weil sie deine Großeltern sind, jetzt komm schon."

Sie zerrte mich wieder nach draußen.

"Mum, Dad, was für eine … Überraschung!"

"Ja, ein Spontanbesuch. Wie es scheint, gebt ihr eine Party?"

"Wie jedes Jahr zu Silvester, ja. … Na gut, also, was führt euch her?"

"Wir sind bei Freunden in der Nähe eingeladen und wollten mal wieder vorbeischauen. Wir haben die Mädchen schon so lange nicht mehr gesehen. Die Weihnachtsgeschenke sind im Auto. Jordan, würdest du deinem Großvater beim Reinbringen helfen? Ich kann mich ja so lange in der Küche nützlich machen."

"Klar …"

Wortlos brachten wir die zwei Wäschekörbe voll Geschenke herein und gingen in die Küche.

"Also, kann ich jetzt meine Enkelin kennenlernen?", fragte meine Großmutter.

"Natürlich. Dylan macht sie oben gerade bettfertig."

"Und Dylan ist zurzeit dein … Freund?"

"Wir werden heiraten, er ist also mehr als 'zurzeit mein Freund'."

"Ah, das ist doch schön, na dann, stell uns deine Familie mal vor."

Als wir zu viert die Treppe hochstiegen, rief ich Dylan. Er war scheinbar gerade damit fertig, Gwen zu wickeln. Sie war mal wieder dabei eingeschlafen und er trug sie uns entgegen.

"Dylan, das sind meine Großeltern. Und das sind Dylan und Gwen."

Meine Großmutter nahm die Kleine auf den Arm, die gähnte nur müde und schlief weiter.

"Ein kleiner Engel, wie niedlich. Deine Tochter ist wirklich wunderschön."

"Danke. Ah, und das ist Josh. Ihr habt ihn mal kennengelernt, als er jünger war, als Gwen jetzt …"

"Natürlich. Wie alt bist du denn jetzt, Junge?"

"Im April werde ich 13."

"So ein großer Kerl. Du spuckst uns bald allen auf den Kopf!"

Mein Großvater hatte scheinbar sofort einen Narren an Josh gefressen. Während Dylan Gwen schlafen legte, begrüßten die Großeltern die Mädchen und gaben ihnen ihre Geschenke. Unten klingelte es wieder. Mum und ich gingen also wieder runter. Die restlichen Gäste waren Menschen, die ich kaum kannte. Arbeitskollegen, Eltern aus Lauras oder Maries Klasse, ein paar Nachbarn, die ich auch nur vom Sehen kannte. Als alle mit Getränken und Snacks versorgt waren, verzog ich mich wieder nach oben, weil Dylan noch nicht wieder aufgetaucht war.

Er saß mit Josh und meinem Großvater in Maries Zimmer. Die drei schauten sich ein paar Fotos durch, die Josh gemacht hatte.

"Hey, ihr wisst schon, dass die Party unten steigt?"

"Schau dir mal die Fotos an. Die könnte man ja fast ausstellen", verkündete mein Großvater stolz. Josh winkte ab:

"Ach, ihr übertreibt … außerdem sind das nur die besten zehn. Ich hab über 200 Bilder geschossen, bis mal was Brauchbares dabei war. … Vince meint, dass ich noch an der Objektiv-Wahl arbeiten muss."

"Wann hat er das denn gesagt?", fragte ich erstaunt.

"Ich schick ihm öfter mal Fotos per e-Mail. Ich dachte das wüsstest du. … Egal, jedenfalls hab ich noch viel zu lernen. Aber der Fotokurs in der Schule ist echt für Babys …"

"Dann müssen wir eben einen anderen Kurs für dich finden."

Aus dem Nebenzimmer kam lautes Gelächter. Die Mädels hatten anscheinend Spaß mit ihrer Großmutter.

"Na dann werde ich mal wieder runterschauen. Kommst du mit, Dylan?"

"Ich komm gleich nach."

"Na schön."

Das "gleich" wurde zu einer Ewigkeit. Ich wurde von Mum immer wieder irgendwelchen Fremden zum Small-Talk-Fraß vorgeworfen. Ich überlegte schon, wie ich es ihr zurückzahlen konnte. Sie und Klaus schienen sich köstlich zu amüsieren. Immerhin hatten sie einander. Dylan hatte mich ja zum Strohwitwer gemacht. Endlich kam er die Treppe herunter.

"Entschuldigen sie mich."

Ich riss mich los und ging ihm entgegen.

"Wenn wir erst verheiratet sind, darfst du mich auf Partys nie mehr alleine lassen. 'In guten wie in schlechten Zeiten.'"

"Hey, hast du etwa keinen Spaß? Also ich hatte bisher einen tollen Abend. Dein Großvater ist echt lebenserfahren. Er war in einer verdeckten Vorkriegs-Mission in Vietnam …"

"Als meine Mutter geboren wurde. Ja ich weiß. Sehr imposant."

"Er sagt, dass er nichts mehr bereut, als dass er die Geburt verpasst hat."

"Tja, dann hätte er mal nicht in den Krieg ziehen sollen."

"Er hatte keine Wahl, und das weißt du auch. Er hatte sich verpflichtet, um zu einem Studium zu kommen …"

"Wollen wir jetzt echt darüber diskutieren?"

"Nein, mein Punkt ist, dass er mir von dem Land erzählt hat. Auch wie es heute dort ist und so weiter. Und er hat erwähnt, dass viele Amerikaner Kinder aus Vietnam adoptieren. Waisenkinder, es gibt viele Agenturen. Ich dachte nur, damit sollten wir uns mal befassen."

"Ja stimmt, aber nicht jetzt."

"Nein, jetzt brauch ich erst mal was zu trinken."

Als meine Großeltern und Josh auch bei uns waren und die Mädchen oben eingeschlafen waren, erhob Klaus sein Glas.

"Darf ich kurz um eure Aufmerksamkeit bitten? Ich möchte einen Toast ausbringen. Auf das neue Jahr und all die guten Dinge, die es mit sich bringt. Zum Beispiel eine Hochzeit. Carols Ältester, unser Jordan, hat sich verlobt. Willkommen in der Familie, Dylan."

Wir schauten uns zusammen das Feuerwerk an. Dylan hatte seinen Arm um mich gelegt und ich hatte wirklich Schmetterlinge im Bauch.

"Das war ein gutes Jahr. Auch wenn es schlecht angefangen hat, alles hat sich so toll entwickelt", flüsterte ich ihm zu.

"Letztes Silvester hab ich noch das Gefängnisfeuerwerk durch vergitterte Fenster betrachtet und jetzt hab ich dich im Arm und weiß, dass du für immer bei mir sein wirst. Weißt du eigentlich, wie glücklich du mich machst? Manchmal hab ich Angst aufzuwachen und festzustellen, dass alles nur ein Traum war."

Ich kniff ihm in den Arm.

"Aua! … Haha. Na warte!"

Er pikste mich in die Rippen und zog mich so eng an sich, so das ich spürte, dass er mich wollte. Wir küssten uns im Licht des Feuerwerks.

"Lass uns hinters Haus gehen."

"Dylan?!"

"Komm schon. Alle schauen in den Himmel, keiner wird uns vermissen."

Wir schlichen uns ums Haus und durch den Garten ein Stück weiter zwischen die Bäume. Ich lehnte mich gegen einen Baum. Dylan machte meine Hose auf und kniete sich vor mich. Plötzlich war das Feuerwerk in meinem Körper.

Ein paar Minuten später stellten wir uns wieder zu den Anderen, als wären wir nie fort gewesen, aber ich konnte nicht aufhören, Dylan anzusehen. Er war einfach perfekt, das war alles, was ich denken konnte.

Danach sahen wir nach Gwen, gaben ihr Tee, streichelten sie in den Schlaf zurück. Die Party dauerte bis drei Uhr früh.

Endlich durfte ich bis Mittag schlafen, Josh neben mir, Dylan schon längst auf den Beinen, um die Mädchen zu bändigen, alle drei.

"Dad?"

"Hm?"

"Es gibt da ein Mädchen …"

"Das du magst?"

"Mhm."

"Mag sie dich auch?"

"Mhm."

"Ist sie deine Freundin oder so was?"

"Ja …"

"Aus deiner Klasse?"

"Eine Klasse über mir. Sie ist 13 …"

"Wie heißt sie?"

"Kate."

"Schöner Name."

"Ich … wir … sie will mit mir Sex haben."

"Was?!"

"Sei nicht sauer."

"Du bist noch zu jung!"

"Warum?"

"Weil du erst 12 bist!"

"Fast 13."

"Das ist einfach viel zu jung."

"Aber warum?"

"Man sollte verliebt sein, bevor man miteinander schläft."

"Warst du immer verliebt?"

"Das ist was anderes. Ich rauche auch, aber wenn ich dich dabei erwischen würde, würde ich dich grün und blau prügeln, … im übertragenen Sinn, … du weißt schon."

"Ja, weil Zigaretten schlecht für einen sind. Aber Sex doch nicht."

"Weißt du, was da alles passieren kann?"

"Ich bin aufgeklärt, Dad. Sie nimmt die Pille und …"

"Sie nimmt mit 13 die Pille? Wissen ihre Eltern das?"

"Ja, sie war mit ihrer Mutter beim Arzt …"

"Die erlaubt das?"

"Sie sagt, besser so, als dass ihre Tochter schwanger wird. … Und wir werden auch ein Kondom benutzen …"

"Weiß deine Mutter davon?"

"Vor Mum ist mir so was peinlich …"

"Weil es nicht richtig ist. Du solltest damit noch warten."

"Wann war dein erstes Mal, ganz ehrlich?"

"Viel zu früh - und es war nicht gerade eine tolle Erfahrung. Das will ich dir ersparen. Es ist viel schöner, wenn man wirklich verliebt ist."

"Wer sagt, dass wir nicht verliebt sind?"

"Ihr seid noch zu jung dafür. Warte noch ein Jahr, wenn ihr immer noch zusammen seid, dann werde ich nichts mehr dagegen sagen. Und ich will sie kennenlernen."

"Dad! Das ist voll peinlich! Und was wenn ich nicht mehr warten will?"

"Dann solltest du dich fragen, ob du wirklich in sie verliebt bist oder nur Sex haben willst."

"Du verstehst das nicht …"

"Doch. Versprich mir, dass du noch abwartest. Wenn ihr so verliebt seid, dann seid ihr doch bestimmt noch lange zusammen. Warum habt ihr es so eilig?"

Josh zuckte nur die Schultern und stand auf. Das Gespräch gab mir, wie man sich vorstellen kann, ganz schön zu denken. … Ich grübelte den restlichen Tag darüber nach, was ich Josh noch sagen konnte, kam mir dabei aber immer wie ein Scheinheiliger vor.

Abends im Bett fragte Dylan:

"Was war heute mit dir?"

"Was meinst du?"

"Du warst ständig irgendwie abwesend…"

"Ich weiß. … Warum sollen 12-jährige keinen Sex haben?"

"Weil sie nicht verantwortungsbewusst sind."

"Aber wenn das Mädchen sicher die Pille nimmt?"

"Dabei kann so viel schiefgehen. … Warum fragst du das alles?"

"Ach, wegen Josh, … egal. Lass uns schlafen, wir wollen morgen ja früh aufbrechen."

"Bist du sauer, dass ich morgen im Zentrum bin?"

"Nein, überhaupt nicht. Wirklich. Wir waren jetzt lange genug hier."

Nikki würde erst in ein paar Tagen zurückkommen, also blieben die Kinder noch bei uns. Gleich als wir das Auto ausgeräumt hatten, musste Dylan schon los ins Zentrum. Irgendwas bereitete mir Magenschmerzen. War es die Sache mit Josh, oder doch mein Arzttermin am Mittwoch?

Bald hatte uns der Alltag wieder. Am Mittwoch machte ich mich auf zu einem Rundumcheck, der wohl ein paar Stunden dauern würde. Ich ertappte mich dabei, wie ich ein paar Stoßgebete zum Himmel schickte. Endlich sagte mir der Arzt, dass soweit alles in Ordnung sei und ich wegen der Blutprobenergebnisse in ein paar Tagen anrufen sollte. Ich kam total erleichtert nach Hause, wo ich nur Josh vorfand.

"Dylan musste kurz ins Zentrum. Da gab's wohl einen Rohrbruch oder so. Er hat Gwen mitgenommen. Jetzt ist er schon über zwei Stunden weg …"

"Dann ruf ich ihn mal an."

"Hey Jordan, wir sind schon auf dem Heimweg."

"Alles okay?"

"Ja. Und bei dir?"

"Alles bestens."

"Ich wusste es. Ich hab's dir doch gesagt."

"Ja, … also dann bis gleich. Fahr vorsichtig."

Zehn Minuten später kam Dylan mit einer zufrieden schlafenden Gwen zurück.

"Was war denn im Zentrum los?"

"Ach, das war gleich im Griff. Als ich hinkam, war das Wasser schon abgestellt und fast alles aufgewischt. Danach bin ich mit Gwen noch in eine Mall, um ihr endlich andere Schuhe zu besorgen, weil die Schnürsenkel ja immer aufgehen."

Stolz präsentierte er Gwens neue Schuhe.

"Ich bring sie mal schnell hoch."

"Ich komm mit."

"Gut."


Dylan

Jedenfalls waren wir kaum in der Mall, da sieht Gwen einen Luftballon und büxt aus. Ich musste mich durch die Leute drängeln, beinahe hätte sie mich abgehängt, da seh ich sie auf dem Arm eines jungen Kerls. Er lächelt mich verständnisvoll an und gibt mir Gwen auf den zurück. Die Kleine wäre am liebsten bei ihm geblieben, um das Piercing an seiner Lippe zu bewundern. Jedenfalls meinte er:

"Hübsche Tochter."

"Danke. Und auch danke für die Hilfe."

"Sie ist in einem schwierigen Alter. Rennt schnell, aber weiß noch wenig von den Gefahren …"

"Ja, so ist es."

Ich ließ Gwen runter und sie bestaunte den Kerl mit großen Augen.

"Na gut, dann werde ich mal …"

"Okay, danke nochmal. Komm, Gwen."

"Gwen?"

"Ja, so heißt sie."

"Ich kannte mal ein kleines Mädchen das Gwen hieß und ihr verdammt ähnlich sah."

"Ja? Wo ist sie?"

"Bei ihrem Vater. Naja, Zufälle gibt's. Die beiden dürften sogar in etwa gleich alt sein."

"Unsere Gwen ist am 03.03.03 geboren."

Er schaute mich aus seinen großen Augen ganz entgeistert an.

"Ist sie wirklich deine Tochter?"

"Die von meinem Freund."

"Jordan?"

"Also kennst du diese Gwen, hm?"

"Ich … ja … als sie noch ganz klein war. Ich bin Xander."

"Tut mir leid, sagt mir nichts. Kennst du Jordan gut?"

"Er hat nicht von mir erzählt?"

Ich sah, dass ihn das sehr verwirrte, er konnte es kaum glauben.

"Also nur um sicherzugehen, wir reden von Jordan Bonanno, richtig?"

"Ja, wir sind seit August zusammen. Aber dass er dich nicht erwähnt hat, liegt nicht an dir. Wir haben eine Vereinbarung, nicht über die Vergangenheit zu sprechen. Ich heiße Dylan."

"Okay … das ist echt seltsam …"

"Willst du mitkommen? Ich suche Schuhe für Gwen, am besten mit Klettverschluss. Dann können wir uns noch unterhalten. Oder hast du's eilig?"

"Nein, ausnahmsweise nicht."

"Bist du allein unterwegs?"

"Ich wollte mich mal in Ruhe umschauen."

"Naja, mit Ruhe kann ich nicht dienen, mit dem kleinen Wirbelwind hier."

"Früher war sie eher ein stilles Kind. Da vorne ist ein Kinderschuhladen …"

Wir hatte recht schnell passende Schuhe gefunden.

"Ich glaube, ich sollte Gwen was zu Essen besorgen. Willst du mitkommen?"

"Gern."

Wir setzten uns zu einem Asiaten, wo Gwen gebratene Nudeln verschlang.

"Also, Xander. Wart ihr zusammen?"

"Ich weiß nicht, ob es richtig ist, darüber zu reden, wenn Jordan es nicht selbst will …"

"So ist das nicht … es ist nur … meine Vergangenheit ist recht kompliziert und ich rede nicht gerne darüber. Es hat sich irgendwie eingebürgert, dass Jordan auch nicht viel erzählt, aber ich weiß, dass er viel durchgemacht hat."

"Ich habe ihn verlassen, als er noch im Krankenhaus lag."

"Nach der Sache mit seinem Großvater? Warum?"

"Mir wurde alles zu viel. Ich bereue es, aber es wäre nicht mehr lange gut gegangen. … Und ihr seid seit August zusammen? Dann ging es in dem Medienwirbel um dich? Ich hab das Ganze nur halbwegs mitbekommen …"

"Schon am zweiten Tag wurden wir fotografiert und Jordan musste sich outen. Das war alles ganz schön scheiße, aber wir haben es durchgestanden und das hat uns zusammengeschweißt. Gwen, nicht an der Hose abwischen!"

"Verstehe."

"Alles okay?"

"Ach, es ist nur … in letzter Zeit hab ich mich oft gefragt, wie es gewesen wäre, wenn ich durchgehalten hätte. Gwen war für mich wie eine Tochter und jetzt hab ich sie nicht mal wiedererkannt …"

"Ach, Kinder in dem Alter verändern sich schnell."

"Stimmt wohl … Also, wie geht es Jordan?"

"Recht gut. Als wir uns kennengelernt haben, war gerade alles ziemlich durcheinander. Aber inzwischen hat er sich wieder gefangen. Er macht ein paar College-Kurse, arbeitet in einem Jugendzentrum mit ein paar Kids, die eine Band gegründet haben. … Gwen ist oft bei uns …"

"Ihr wohnt zusammen?"

"Ich bin recht bald bei ihm eingezogen …"

"Also ist es richtig ernst, hm?"

Ich wollte ihm irgendwie nicht erzählen, dass wir heiraten werden. Ich hatte das Gefühl, das würde ihn ziemlich treffen. … Deshalb hab ich schnell was anderes gefragt.

"Bist du mit jemandem zusammen?"

Er schüttelte den Kopf und seine Augen wurden irgendwie traurig.

"Bei mir läuft zurzeit irgendwie gar nichts, wie es soll …"

"Das passiert, aber es wird auch wieder besser …"

"Ich weiß. Das sagen mir alle, aber, … ach, keine Ahnung. Ich bin froh, dass es Jordan gut geht. Ich dachte, die Sache mit Summerskin würde ihn ziemlich fertig machen."

"Darüber redet er nie."

"Musik ist doch sein Leben, ich meine … auf der Bühne ist er zu Hause. Wenn ich ihn da gesehen habe, das war irgendwie, ich weiß auch nicht, als würde ich die Essenz seiner Seele sehen …"

"Wow, sehr poetisch …"

"Ach, ich schreibe grad an ein paar Songs, irgendwie hat sich davon was in meine Alltagssprache gemischt …"

"Du bist also Musiker?"

"Gitarrist. Wir arbeiten gerade an einem Konzeptalbum. Naja, ich bin sicher, davon willst du gar nichts hören. Jordan erzählt dir bestimmt schon genug Fachchinesisch und spielt dir seine neusten Songs vor und so …"

"Eigentlich überhaupt nicht. Seine Gitarre ist schon ziemlich eingestaubt. Das Einzige, was er mit Musik zu tun hat, ist die Band im Zentrum …"

"Was? Aber … er kann doch nicht einfach keine Musik mehr machen!"

"Hm, ich hab ihn so kennengelernt …"

"Aber er singt doch … unter der Dusche, nach dem Sex, beim Kochen …?"

"Ähm, nö, kaum."

"Aber er kann doch keinen Song im Radio hören, ohne wenigstens mitzusummen!"

"Das Radio läuft eigentlich eher selten …"

"Aber das … das geht doch nicht! Wenn ich an meine Zeit mit Jordan denke, dann denke ich eigentlich fast nur an Musik. Da war immer Musik!"

"Hm, ich hab mich darüber schon auch gewundert, aber ich dachte das kommt davon, dass er eben Berufsmusiker ist und das nicht mit zu Hause vermischen will oder so was."

"Musik ist doch kein Beruf, das ist sein Leben!"

"Hm … vielleicht hat sich das mit der Trennung der Band geändert. Vielleicht ist das seine Art zu trauern oder so …"

"Aber du bist sicher, dass es ihm gut geht?"

"Natürlich."

"Woher willst du das wissen? Ich meine …"

"Xander, wir leben zusammen. Er ist glücklich, das weiß ich. Das was wir haben, macht ihn glücklich. Die Kinder machen ihn glücklich, das College gibt ihm das Gefühl, kein Versager zu sein, sein Kopf macht ihm seit der OP keine Probleme mehr und im Zentrum arbeitet er ja einmal die Woche mit der Band …"

"Das ist doch nicht das Gleiche. Er gehört auf die Bühne, das ist sein Lebensinhalt!"

"Xander, ich weiß nicht, ob sich Jordan im letzten Jahr tatsächlich so verändert hat, aber glaub mir, sein Lebensinhalt ist seine Familie. Er will ein ganz normales Leben, ohne Presse, ohne Tourleben. Ein Haus in einer ruhigen Gegend mit vielen Kindern."

"Ein normales Leben?! Das ist doch nicht Jordan! Er ist nun mal kein normaler Mensch!"

"Vielleicht will er gerade deshalb etwas ganz Normales. Bei mir ist es jedenfalls so."

"Und was meinst du mit vielen Kinder?"

"Xander, du steigerst dich da ja total rein."

"Glaubst du, Jordan wird in einem Vorort glücklich? Mit einer Horde Pflegekinder und einem Hund? Vielleicht noch ein weißer Gartenzaun, oder was?"

"Ehrlich gesagt glaube ich das, ja."

"Nein. Er ist Künstler, ein Freidenker, eine alte Seele! Er muss kreativ sein, ja und auch auf seine Art immer traurig …"

"Ich denke, er hat einfach genug vom Dasein als exzentrischer Neurotiker. Hör mal, ich glaube, das Ganze hier macht nicht wirklich viel Sinn. Gwen ist schon recht verunsichert wegen unserem Ton. Und müde ist sie auch …"

"Was bist du eigentlich für ein Typ?"

"Ach komm schon, jeder Mensch, der die Boulevardpresse verfolgt hat, weiß was ich für ein Typ bin …"

"Ich aber nicht."

"Warst du im Dschungel, oder was?"

"Nein, in einer Entzugsklinik."

"Siehst du? Genau davon hat Jordan genug. Kannst du nicht verstehen, dass er das alles mit meiner Hilfe hinter sich lassen will?"

"Nein, das ist einfach nicht er."

"Ich lass dir eine Hochzeitseinladung zukommen, dann kann er es dir selbst sagen."

Ich weiß, das war gemein, aber du hättest ihn erleben sollen. Er war so … selbstgefällig und sich seiner Sache so sicher. Ich hab es sofort bereut, als ich es ausgesprochen hatte. Ich dachte, das würde ihn verletzen, aber er lachte nur verächtlich und sagte so was wie:

"Jetzt bin ich mir sicher, dass er sich da bloß in was verrannt hat. Vermutlich brauchte er mal eine Pause, ein bisschen Sicherheit und du willst ihn gleich vor den Altar schleppen!"

"Ich bring jetzt die Kleine nach Hause. Aber eines noch: Er hat mir den Antrag gemacht."

Ich bin mit Gwen aufgestanden und gegangen ohne mich umzudrehen.


Jordan

"Armer Xander … da ist er ganz schön auf dem Holzweg …"

"Das musst du mir nicht sagen", meinte Dylan selbstbewusst.

"Nicht? Bist du nicht mal ein klein wenig verunsichert?"

"Überhaupt nicht, wirklich. Ich liebe dich, du liebst mich. Wir werden heiraten, weil wir das beide wollen. Punkt. Heute Morgen hat übrigens jemand für dich angerufen. Ein Damian."

"Echt! Krass! Den hab ich ja seit … seit San Diego nicht mehr gesprochen!"

"Ich hab seine Nummer aufgeschrieben."

Und damit war das Thema Xander gegessen. Hach, ist das schön wenn nicht alles immer so kompliziert sein muss. Und dann rief ich Damian an. Und die Vorwahl war in L.A.!!

"Hallo?"

"Sag mir nicht, dass du jetzt wieder hier bist!"

"Jordan?"

"Jip."

"Doch, ich bin wieder in der Stadt und ich hab ein Haus und einen Garten und eine schöne, reiche Frau."

"Nicht dein Ernst!"

"Ich hab keine Ahnung, wie das passieren konnte, aber ich bin ein verheirateter Mann."

"Ich glaub, die apokalyptischen Reiter sind grad an meinem Fenster vorbeigeflogen."

"Wir müssen uns treffen! Mit Brian und Kev! Summerskin reunited!"

Gleich am nächsten Wochenende zogen wir das durch. Bei Brian zu Hause. Ich kam ein bisschen früher und hörte mir noch an, wie das Outing gelaufen war. Der alte Wittmore wäre fast komplett ausgetickt, aber seine Frau und die beiden Töchter standen hinter Sean, dadurch wurde Schlimmeres verhindert. Angenehm war es trotzdem nicht und Brian und Sean hatten beschlossen, die Sache erst mal abkühlen zu lassen.

Bald klingelte auch schon Kev und Sean machte sich auf den Weg zur Arbeit. Wir waren alle drei irgendwie nervös und zuckten zusammen, als es wieder klingelte, nur um daraufhin einen Lachanfall zu bekommen. Wir empfingen Damian alle an der Tür. Er sah so erwachsen aus. Klar, er war jetzt wohl auch schon über 30.

"Hallo zusammen!"

"Hey!"

"Gut siehst du aus!"

"Bist du echt verheiratet?"

"Spielst du noch Bass?"

"Hast du ein Foto von deiner Angetrauten?"

"Seit wann bist du wieder hier?"

"Hey, ganz ruhig! Wir haben den ganzen Abend Zeit!"

Zwei Stunden lang brachten wir uns gegenseitig auf den neusten Stand der Dinge, dann beschlossen wir, noch ein bisschen um die Häuser zu ziehen.

Bald kam das Thema auf die Trennung von Summerskin und ich erwähnte, dass Brian und ich uns die Rechte an dem Namen gesichert hatten. Darüber schien Damian echt froh zu sein.

"Wir sind Summerskin, sonst niemand. Wir sollten wieder Musik machen, Jungs. Was meint ihr?"

"Also ich weiß nicht … ich hab Maddy und Kev hat seinen Job und Jordan heiratet auch bald und so …"

"Ja ich red doch nicht von exzessivem Tourleben, nur ein bisschen zum Spaß. In einer Garage oder so …"

"Oder in einem Jugendzentrum? Ich wüsste da eines, wo wir bestimmt ab und an jammen könnten?"

"Seht ihr? Jordan ist dabei! Na, was ist?"

"Naja, ab und an … wäre schon nett, oder Brian?", meinte Kev.

"Ja logo!", grinste Brian endlich.

"Vielleicht könnten wir morgen schon ins Zentrum, … ich könnte mal Dylan fragen …"

"Ja! Ruf ihn an."

"Er ist grad mit ein paar Kollegen unterwegs …"

"Dann wär's doch cool, wenn wir uns gleich treffen würden, oder? Ich würde ihn gern kennenlernen."

"Ja, ich kenn ihn auch noch nicht. Mich würde schon interessieren, wie der Kerl so ist, der es schafft, dich vor den Altar zu schleppen", fügte Kev grinsend hinzu.

"Na gut, dann ruf ich ihn mal an…"

"Hey du."

"Hey, was gibt's?"

"Was macht ihr denn gerade?"

"Sind mit essen fertig und überlegen, noch in einen Club zu gehen oder so …"

"Wir sind hier in einem netten, kleinen Laden mit Live-Musik. Kommt doch hier her. Die Jungs wollen dich kennenlernen und wir hätten da noch was zu besprechen …"

"Ähm … ich frag mal in die Runde und ruf dich gleich zurück."

Zwanzig Minuten später stellte ich Dylan, Vanessa, Marc und Amy den Jungs vor und nochmal zwanzig Minuten später war geklärt, dass wir schon am nächsten Tag unser Zeug aufbauen konnten. Wir machten also nicht mehr zu lange Party. Das war auch besser so, denn es war wieder einer dieser Tage, an denen Dylan und ich nicht die Finger voneinander lassen konnten. Also schnell ab nach Hause.

Um halb Zehn am nächsten Morgen machten Dylan und ich uns auf den Weg ins Zentrum, das sonntags eigentlich geschlossen ist. Wir waren die Ersten und schleppten den Verstärker und meine beiden Gitarren nach oben.

"Noch ein Quickie hinter der Bar?"

"Sehr witzig, Dylan."

"Hey, ich hab mir das schon oft vorgestellt …"

"Soso, aber Vanessa kann jeden Moment dastehen …"

"Seit wann bist du denn so schrecklich vernünftig?"

"Hey Jungs."

Okay, erst mal einen Lachanfall bekommen, während Vanessa uns verdutzt anschaut. Dann klingelte es auch schon. Vanessa machte auf. Brian stapfte bepackt die Treppe hoch, gefolgt von Sean und … Mein Herz setzte einen Schlag aus.

"Tobey!! Oh mein Gott!"

Er stellte ab, was auch immer er trug und lächelte mich an. Er war mir nicht böse? Ich umarmte ihn, ganz fest. Ich hatte Angst, ihn loszulassen und dann vielleicht doch in vorwurfsvolle Augen zu schauen.

"Du musst mich irgendwann loslassen und mir Dylan vorstellen, dass ist dir schon klar, oder?"

Ich nickte, zählte bis fünf, nahm all meinen Mut zusammen und ließ ihn los. Er lächelte noch immer. Dylan tauchte neben mir auf und reichte Tobey die Hand. Während auch Kev und Damian ankamen und aufbauten, verzog ich mich mit Tobey nach unten.

"Verdammt, du hättest mich echt warnen können, dass du hier auftauchst. Ich hätte fast einen Herzinfarkt bekommen. Ist es normal, dass ich dich am liebsten gleich wieder umarmen will?"

"Wir haben nie so richtig abgeschlossen …"

"Ich hab dich vermisst."

"Ich dich auch, Jordan."

"Weißt du, vielleicht ist es gar nicht so schlecht, dass alles Körperliche zwischen uns jetzt tabu ist. Das ist doch ideal, jetzt musst du nicht mehr aus Mitleid mit mir in die Kiste springen und wir können platonisch befreundet sein. Also, wenn du willst …"

"Sonst wäre ich wohl kaum hier."

"Ich liebe dich, Tobey, das weißt du, oder? Ohne dich wäre ich damals vor die Hunde gegangen, kein Zweifel. Du hast mir echt den Arsch gerettet und dafür hab ich dich von heute auf morgen abserviert."

"Ich war ganz schön geschockt, am Anfang, … aber weißt du, im Endeffekt wollte ich nur eines: Dass es dir gut geht. Und das tut es offensichtlich."

"Allerdings. Weißt du, dass ich Dylan einen Antrag gemacht habe?"

"Brian hat das erzählt, ja. Gratuliere."

"Danke."

"Trotzdem irgendwie seltsam, oder?"

"Allerdings. In den letzten paar Monaten ist viel passiert. … Einerseits ist die Zeit voll schnell vergangen, andererseits kommt es mir vor, als würde ich Dylan schon ewig kennen."

"Ich war schon ziemlich geschockt von den Medienberichten, … aber Brian hat gesagt, dass der Kerl in Ordnung ist, das hat mich etwas beruhigt. Wir sollten uns jetzt aber mal ein wenig nützlich machen, oder?"

"Okay …"

"Und Jordan?"

"Hm?"

"Ich liebe dich auch und ich vermisse dich und ich brauch dich … rein platonisch. Lass uns ab jetzt wieder reden, okay?"

"Darauf kannst du deinen Arsch verwetten."

Dass das Rocken mit den Jungs einfach gigantisch-lebensverändernd-toll war, brauche ich wohl nicht extra zu erwähnen. Irgendwie habe ich dadurch die Musik zurück bekommen. Ich fing wieder an, Songs zu schreiben und merkte, wie sehr ich das eigentlich vermisst hatte. Wir beschlossen, das mindestens ein Mal im Monat zu machen, wenn nicht öfter.

Die Hochzeitspläne wurden langsam konkreter. Als erst einmal die Location stand, war auch ein Termin schnell gefunden. Der elfte März 2006. Zwei Monate waren, wie wir feststellten, nicht gerade lang für die Vorbereitungen. Das Juristische musste geklärt, Einladungen verschickt, eine Band gebucht werden. Das uferte langsam in Stress aus, aber wir bekamen es hin.

Dylan erhielt das Angebot für einen Buchdeal. Das war mit einer Stange Geld verbunden, darum überlegte er sich das. Ende Februar kam er später als üblich aus dem Zentrum, wollte aber nicht sagen, warum.

Am nächsten Tag packte er Gwen, Josh und mich ins Auto, Ziel: Geheim.

Nach zwanzig Minuten fuhren wir durch eine angenehm inhomogene Wohngegend und hielten vor einem etwas ramponiert aussehendem, großen Haus mir verwildertem Garten.

"Na, was sagt ihr?"

"Ehm …"

"Ja, ich weiß, noch sieht es nicht nach viel aus, aber wenn ich damit fertig bin …"

"Du damit fertig bist?"

"Ich meine natürlich, wenn wir damit fertig sind …"

"Du willst das da kaufen?!"

Josh schaute mindestens genau so entsetzt wie ich.

"Ihr habt einfach keine Visionen! Bei Sofortzahlung bekommen wir einen unschlagbaren Preis. Das Grundstück allein ist schon so viel wert! Und das Beste ist, ich kann dir, wenn ich den Buchdeal mache, fast die Hälfte davon zurückzahlen. Und den Rest arbeite ich ab. Ich bin schließlich gelernter Tischler", grinste er und hatte dieses Leuchten in den Augen. Ohjeh, das würde er sich nicht mehr ausreden lassen.

Er führte uns drinnen herum, fachsimpelte irgendwas von den Wasserleitungen, die noch völlig intakt seien, genau wie die Kabel. Es seien alles nur Schönheitsmängel und die würde er hinbekommen. Langsam erkannte ich auch, dass das Haus an sich wirklich schön war. Geräumig, große Fenster, günstig geschnittene Zimmer und der Wohnbereich im Erdgeschoss war offen und zugleich gemütlich, denn die einzelnen Räume waren durch Rundbögen-Durchgänge verbunden. Ja, ich sah langsam das, was Dylan sah.

Nach einer Stunde war ich restlos überzeugt. Der Garten war toll verwinkelt und irgendwie märchenhaft mit all den Ranken. Als Dylan einen kleinen Fischteich hinterm Haus vorschlug, hatte er mich endgültig an der Angel. Und dann kam auch noch eine Nachbarin rüber, um zu fragen, ob wir überlegten, das Haus zu kaufen. Sie hatte ihren Dreijährigen dabei, der sofort mit Gwen Freundschaft schloss. Wir wurden auch gleich zum Abendessen am darauffolgenden Freitag eingeladen.

Dylan war kaum noch zu bremsen und hatte schon nach ein paar Tagen alle alten Holzvertäfelungen entfernt. Er wollte alles Alte erst einmal weg haben, erklärte er, bevor er mit dem Neuen beginnen würde. So wie in seinem Leben eben auch. Josh und ich gingen ihm nachmittags zur Hand. Josh stellte sich gar nicht dumm an, im Gegensatz zu mir. Schon am zweiten Tag hatte ich einen rostigen Nagel in der Hand stecken und ließ erst mal meine Tetanusimpfung auffrischen.

Anfang März, spätabends im Bett, machte Dylan ein ungewohnt ernstes Gesicht.

"Weißt du, die Arbeit erinnert mich sehr an früher. Ich hab viel von meinem Dad gelernt. Er ist Zimmerer, weißt du? Er hatte eine eigene Firma, ich hab oft ausgeholfen. Meine Brüder haben sich nie dafür interessiert. Das war etwas, wobei ich meinen Dad mal nur für mich hatte, das fand ich toll."

Ich traute mich gar nicht, was zu sagen. Endlich erzählte Dylan mal was von sich! Ich schaute ihn nur aufmunternd an. Tatsächlich redete er weiter.

"Wenn Josh mir über die Schulter schaut, dann kommt mir das so vertraut vor und ich sehne mich nach der Zeit, als mein Vater noch gesund war. Er hat bei einem Arbeitsunfall den rechten Daumen verloren. Er konnte nicht mehr weiter als Zimmermann arbeiten. Die Firma ist pleite gegangen, seitdem trinkt er zu viel und macht sonst gar nichts mehr. Er ist total vor die Hunde gegangen. Ich hab es nicht mehr ausgehalten, ihn so zu sehen und bin ständig irgendwo unterwegs gewesen. Wohin das geführt hat, weißt du ja …", fügte er bitter hinzu.

"Tut mir leid. Darf ich, … soll ich dich in den Arm nehmen?"

Seine Körpersprache gab mir eigentlich eh schon die Antwort, aber ich hatte trotzdem gefragt, in der Hoffnung, dass ich seine abweisende Haltung falsch gedeutet hatte.

"Ich geh noch mal mit Stan raus."

Er zog sich was über und war für die nächste Stunde verschwunden.

"Bist du wach?"

"Mh … nein, ja. Weiß nicht."

"Ich sollte meine Eltern zur Hochzeit einladen, oder?"

Jetzt war ich wach.

"Ja sicher, ich meine … wenn du das auch willst?"

"Ich glaube nicht, dass sie kommen. Aber ich werde ihnen eine Einladung vorbeibringen. Ich meine, sie erfahren es eh aus der Presse …"

"Hör mir damit auf. Scott hat schon wieder ein Dutzend Interviewanfragen. Aber das ist jetzt nicht wichtig. Warum willst du sie jetzt doch einladen? Nur aus schlechtem Gewissen?"

"Nein, … ich weiß auch nicht, ich will einfach, dass sie sehen, wer ich jetzt bin. Vielleicht können sie ja doch ein bisschen stolz auf mich sein …"

Am nächsten Tag war er sich sicher und wir fuhren zu ihnen. Ich war wahnsinnig gespannt, nervös … wusste einfach nicht, was auf mich zukommen würde. Die Gegend war … naja, man erkannte, dass es hier mal schön gewesen sein musste, aber inzwischen waren die meisten Häuser verfallen. Außerdem waren sie recht klein, sahen irgendwie provisorisch aus. Auffällig viele Latinos und Schwarze lungerten an der Straße rum.

"Es sieht hier von Jahr zu Jahr schlimmer aus. Keiner kümmert sich um die Fassaden … jeder ist damit beschäftigt, genug Geld aufzutreiben, um von hier weg zu kommen. Meine Eltern hatten schon die Anzahlung auf ein schönes kleines Häuschen geleistet, als das mit Dad's Hand passierte. Das fiel dann natürlich ins Wasser, genau wie das Collegegeld für mich und meine Schwester. Ich war damals 14, mir war das egal. Aber sie war im Abschlussjahr und hatte immer davon geträumt, Lehrerin zu werden. Jetzt ist sie Sekretärin im Autohaus meines Bruders. Ja, mein großer Bruder hat es weit gebracht. Er verkauft Gebrauchtwagen …"

"Naja, das ist nicht der schlechteste Job …"

"Aber auch nicht der ehrlichste. Neue Fahrgestellnummern in geklaute Autos, so arbeiten seine Zulieferer. Als ich das raus hatte, hab ich mir von ihm auch nichts mehr sagen lassen. Er war der Einzige, auf den ich noch manchmal gehört hatte, aber danach war er für mich nur noch ein mieser Heuchler. Das ist es, hier bin ich aufgewachsen."

Ich war geschockt und konnte das wohl auch nicht so gut vertuschen. Das Grundstück war winzig, das Haus nahm den gesamten Platz darauf ein, bis auf einen zwei Meter breiten Rasenstreifen, auf dem Unkraut wucherte. Die Fassade war aus Holz, von dem mintgrüne Farbe abblätterte. Das flache Dach sah ramponiert aus, das Haus hatte kein Obergeschoss und war an der höchsten Stelle vielleicht drei Meter hoch. Ich parkte auf der Straße, eine Auffahrt gab es nicht. Kommentarlos stieg Dylan aus, seine Gesichtszüge wie versteinert. Ich folgte ihm zur Türe, beachtete das zerrissene Fliegengitter kaum, weil mein Blick auf eine ausgemergelte Katze fiel, die im Schatten eines Gartenstuhls schlief, oder gestorben war?

Das Klopfen ließ mich hochschrecken. Drinnen hörte man Gepolter und ärgerliche Laute, dann ging die Türe behutsam auf. Eine alte Frau stand vor uns. Nein, bei näherem Hinsehen war sie wohl eher doch erst Mitte Fünfzig.

"Hey Mum."

"Dylan, so eine Überraschung", sagte sie leise und nur ein Aufleuchten in ihre Augen verrieten für einen kurzen Moment, dass sie sich freute.

"Können wir kurz rein kommen?"

"Dein Vater hat gerade noch geschlafen, also …"

"Es ist wichtig."

"Ich frage ihn."

Die Türe ging wieder zu, ich konnte es nicht glauben. Dylan mied meinen Blick. Die Türe ging wieder auf und die Frau meinte kleinlaut:

"Nur du, er nicht."

Dylan nickte und folgte ihr nach drinnen, warf mir noch einen ausdruckslosen Blick zu und schloss die Tür. Irgendwas an diesem Blick hatte mich daran gehindert, zu protestieren. Ich konnte wohl nichts tun als zu warten.

Mir fiel die Katze wieder ein, die zusammengerollt drei Meter entfernt von mir lag. Ich näherte mich langsam, schnalzte mit der Zunge, aber es kam keine Reaktion. Als ich bis auf einen Meter heran war, schlug mir ein eindeutiger Geruch entgegen. Ich hielt mir die Hände vor Nase und Mund und beugte mich ein Stück über den Kadaver. Das Tier war nicht erst seit heute tot, so viel stand fest. Ob sie wohl der Familie gehört hatte? Ich weiß nicht, warum ich so genau hingesehen habe, aber die Milchzitzen fielen mir auf. Das dürre Tier hatte Nachwuchs gesäugt. Was wohl aus den Kätzchen geworden war? Waren sie verhungert, weil niemand sich um sie gekümmert hatte? Ein leises Quietschen zeigte mir, dass dem nicht so war. Ein kleines, getigertes Kätzchen kam um die Hausecke getapst. Ein Auge war von einer Entzündung verklebt und das Tierchen sah etwa so ausgehungert aus, wie seine tote Mutter. Als ich gerade vorsichtig näher kommen wollte, ging die Türe wieder auf. Dylan, mit immer noch versteinerter Miene. Er sagte nichts, stand nur da.

"Die Katze ist tot."

Manchmal sagt man eben dumme Dinge, weil die Stille zu unheilvoll ist. Er folgte meinem Zeigefinger.

"Das ist Pebbles. Hat mal meiner Schwester gehört."

Dylan's Mutter war wieder in der Türe aufgetaucht, das Babykätzchen schoss aus seinem Versteck hervor, ihr Blick verfinsterte sich.

"Willst du schon wieder Milch? Wo treibt sich deine Mutter schon wieder rum? Arbeitet vermutlich am nächsten Wurf."

"Ist es das einzige Kätzchen?", fragte ich und schien sie mit dieser plötzlichen Regung fast zu Tode zu erschrecken.

"Die andern haben's nicht geschafft. Der Kater ist der Einzige."

"Kann ich ihn haben?"

Sie zuckte mit den Schultern:

"Er wird euch arm fressen", sagte sie laut und

"Schick mir die Fotos, Dylan", wisperte sie.

"Mach ich", antwortete er eisig und setzte sich Richtung Auto in Bewegung. Der Kleine ließ sich zu meinem Erstaunen einfach so hochnehmen. Mrs. Handerson war schon wieder verschwunden.

Ich setzte das Kätzchen in den Einkaufskorb auf der Rücksitzbank und fuhr los. Ein paar Minuten lang schwieg Dylan. Dann:

"Halt hier an."

"Hier?"

"Ja."

Als das Auto stand, griff er nach dem kleinen Kater und hob ihn vorsichtig auf seinen Schoß.

"Können wir ihn Laurel nennen? Stan & Laurel, du weißt schon."

"Sicher. Gute Idee."

"Ich will da nie wieder hin und ich will nie wieder über heute reden."

"Okay."

"Da ist eine Tierarztpraxis. Wir brauchen eine Augensalbe für Laurel und was gegen Flöhe und Würmer vermutlich auch."

"Okay. Dann wird das Laurels erster Tierarztbesuch."

Eine Stunde später schnupperte Stan neugierig an dem kleinen Tierchen und Dylan verteilte die frisch erworbenen Spielsachen, das Katzenklo und die Futternäpfe. Nur der kleine Kater erinnert daran, dass dieser Besuch wirklich stattgefunden hat. Wir haben nie mehr darüber gesprochen.

Diverse Zeitschriften hatten Wind von der anstehenden Hochzeit bekommen und da Dylan den Buchdeal unterschrieben hatte, kamen wir nicht umhin, Interviews zu geben. Nicht alle Beiträge fielen positiv aus. An Dylan wurde kein gutes Haar gelassen. Aber wir standen das durch und einige Magazine machten daraus eine wahrhaft schnulzige Geschichte.

Der Vorbereitungsstress ließ nicht zu, dass ich nervös wurde. Zwei Tage vor der Hochzeit ließen wir uns die Namens-Ring-Tattoos von JD stechen und mit Pflastern verhüllen. Janet war Dylan gegenüber noch immer distanziert, aber sie hatte mir zugesagt, zur Hochzeit auf jeden Fall zu kommen. Und sie machte mir nach dem tätowieren meinen guten, alten, grünen Iro. Der war schließlich echt wichtig für die Hochzeitsbilder und ich hatte Janet endlich mal wieder um mich, wie in alten Zeiten. Überhaupt hatten eigentlich alle zugesagt, bis auf Jerry und Dylan's Eltern natürlich. Naja, und Nina, aber nicht wegen Dylan, sondern aus logistischen Gründen.

Die Hochzeitsreise nach Vegas war organisiert, alle sonstigen Vorbereitungen koordinierte meine Mum, die Gelöbnisse waren im Kopf, es gab tatsächlich nichts mehr zu tun, so dass wir am Tag vor dem großen Tag noch ein paar Kleinigkeiten am neuen Haus machten und den Abend zu Hause vergammelten.

"Na, änderst du deine Meinung noch?", fragte ich Dylan grinsend.

"Würde dir so passen, hm? Du kommst aus der Nummer nicht mehr raus."

"Fuck. … Dann sag mir wenigstens dein Gelöbnis!"

"Vergiss es. Wart es ab."

"Gott, das wird bestimmt voll kitschig."

"Ist deines kitschig?"

"Ein bisschen."

"Meines gar nicht", meinte er cool.

"Wie hast du das denn geschafft?"

"Ich hab mich aufs Wesentliche beschränkt. Aber jetzt … wart's ab!"

"Aber …"

Die Türklingel rettete ihn aus dem Verhör. Er sprang sofort fluchtartig auf, ich hinter ihm her. Wir kamen gleichzeitig an der Tür an und balgten uns darum, wer sie aufmachen dürfte. Ich gewann, mit unfairen Mitteln.

"Renzo!"

"Hey, ich … ich bin sofort wieder weg, ich überbringe nur die Glückwünsche zur Hochzeit von Milo, Sandra und Dad. Und von Mama Maria ist die Kiste."

Er deutete auf eine große Schachtel, die neben ihm stand.

"Also, ich bin schon wieder weg. Lasst euch von mir nicht den Abend versauen."

Er wandte sich um und war schon fast wieder an der Treppe.

"Warte. Ich bitte dich nicht rein, aber … ich will euch wenigstens richtig vorstellen."

"Oh, okay …"

Er kam wieder zurückgeschlichen.

"Also Dylan, das ist mein kleiner Bruder, Lorenzo."

"Oh … hallo. Schön dich kennenzulernen, glaub ich."

"Gleichfalls."

"Was ist da drin?", fragte ich skeptisch.

"Schau rein. Keine Sorge, das fliegt nicht in die Luft oder so was", lachte er nervös.

Ich fand darin eine Auswahl der Plattensammlung meiner Großeltern. Hauptsächlich Elvis und Sinatra.

"Sie wollte, dass du die bekommst, weil es das Einzige an dir ist, das immer gleich geblieben ist. Wenn du bei ihr warst, hast du immer die Plattensammlung durchstöbert und so …"

"Sag ihr danke."

"Mach ich."

"Und danke für die Glückwünsche."

"Klar."

"Aber ich will niemanden von euch mehr sehen", sagte ich ruhig.

"Ich weiß."

"Komm nicht wieder."

"Okay, versprochen. Ich bin schon weg. Aber ich bin trotzdem froh, dass … dass es dich gibt. Bye Jordan, bye Dylan."

Schon war er wieder weg und ich hatte die Tür zugemacht.

"Alles okay?"

Kalter Schweiß stand mir auf der Stirn und ich fühlte mich alles andere als wohl. Trotzdem nickte ich.

"Soll ich die Platten wegschaffen?"

"Nein, ich will sie behalten. Irgendwo, wo ich sie nicht ständig sehe …"

"Okay, ich räum sie weg. Keine Angst, Jordan. Er ist weg. Die Bonannos werden nicht zurück in dein … unser Leben kommen, dafür sorge ich zur Not höchstpersönlich."


Heute haben wir bis weit nach Mittag geschlafen, gemächlich gefrühstückt, gepackt und sind in den Club gefahren, den wir uns für die Feier ausgesucht haben. Dort liefen die letzten Vorbereitungen. Mum, Klaus und die Mädchen waren schon eingetroffen und packten fleißig mit an. Die Band baute auf, wir machten uns schick und wurden langsam nervös. Nikki und Oliver kamen mit den Kindern, inklusive Joshs Freundin Kate. Hübsches Mädchen mit verwegenem Lächeln. So nach und nach trudelten die Gäste ein, ungefähr 40 sollten es werden. 30 alleine von meiner Seite und 10 Leute aus dem Zentrum. Anavrin sollten ja einen kleinen Gastauftritt haben.

Besonders freute ich mich natürlich auf Tobey, der extra aus Japan angereist war. Aber auch auf meine anderen Ex-Freunde, die nach und nach ankamen. Eine besondere Überraschung lieferte Scott, der nicht etwa mit seiner Frau auftauchte, sondern mit Patrick! Leider hatte ich vor der Zeremonie keine Zeit mehr, da weiter nachzuhaken. Jedenfalls hatte Patrick seine Kamera dabei und schoss eifrig Fotos von den Gästen. Überall hatten sich plötzlich Pärchen gebildet, fiel mir auf, als ich den Blick so durch den Raum wandern ließ. Selbst mein Sohn war jetzt die Hälfte eines Paares! Wie doch die Zeit vergeht. Hey, auf der eigenen Hochzeit ist es ja wohl erlaubt, sentimental zu werden! Am Rande bemerkte ich auch, dass Janet und Tobey sich gut zu verstehen schienen. Ich sag es ja, überall Pärchen, keins davon wirkte unglücklich auf mich. Mum und Klaus scheinen sowieso nie Probleme zu haben, Vince und Collin haben die Kurve wohl noch mal bekommen und Brian und mein Sean … mit dem damals alles angefangen hatte, die leben ihr Leben jetzt auch nach ihren Vorstellungen.

"Na, was denkst du?", fragte Dylan.

"Das spar ich mir fürs Gelöbnis auf."

"Scheinbar kann es losgehen. Wollen wir?"

"Absolut."

Die Musik wurde dann doch ein klein wenig kitschig, als wir uns Richtung Standesbeamten durch die Leute, die eine schmale Gasse bildeten, bewegten. Die Strecke war relativ lang, dafür konnte ich jeden Einzelnen der Anwesenden noch mal aus der Nähe sehen. Ganz am Ende des Weges erwarteten mich ein paar besonders breit grinsende Gesichter.

Sean, der mich umarmte und mir zuflüsterte:

"Ich hab es immer gewusst, du Angeber. Eigentlich stehst du voll auf diesen Kitsch."

Vince gab mir einen Kuss auf die Wange und meinte:

"Ich sag Dylan, dass er dir einen weißen Gartenzaun bauen soll."

Scott drückte meine Hand und fragte:

"Warum musst du eigentlich am Ende immer recht behalten? Aber in einer Sache hast du dich geirrt: Hochzeitsdates sind doch richtige Dates."

Er nickte kurz rüber zu Patrick, der gerade Dylan gratulierte. Dann trat er einen Schritt zur Seite und da stand …

"Xander!"

"Ich schätze, es ist zu spät, dich um eine zweite Chance zu bitten, oder?", grinste er.

"Wärst du nur eine viertel Stunde früher aufgetaucht …", gab ich zurück.

Dylan zog mich ein Stück näher zu sich. Xander meinte:

"Na dann bleibt nur noch, dir zu gratulieren, Dylan."

"Da kann ich mich nur anschließen", fügte Tobey breit grinsend hinzu.

Dann waren wir durch, der Standesbeamte sagte ein paar Worte und forderte uns auf, die Gelöbnisse vorzutragen. Ich musste zuerst.

"Dylan, was bleibt groß zu sagen? Ich stehe mit dir hier und will dein Mann werden. Wer mich kennt, weiß, wie viel das bedeutet. Wir haben beide einen langen und nicht immer einfachen Weg hinter uns, der uns zu denen gemacht hat, die wir sind. Du bist der Mensch, bei dem ich angekommen bin und bei dem ich bleiben werde."

Dylan lächelte mich selig an, dann verzog sich sein Lächeln zu einem Grinsen.

"Jordan, das zwischen uns ist einfach … der beste verlängerte One Night Stand meines Lebens."

– The End –

– ? –

Along the Way

Nachwort:

Ich denke, das hier ist eine gute Stelle, um mal ein paar Leuten zu danken, die "Along the Way" auf die ein oder andere Weise beeinflusst haben. Danke Torsten, für deine Korrekturen, deine Geduld und sogar für die Diskussionen, die auf jeden Fall lehrreich waren. Marco, deine Ratschläge und Ideen weiß ich sehr zu schätzen, außer wenn Aliens involviert sind natürlich. Danke für deine nicht immer positive, aber immer ehrliche Kritik. Dafür hat man Freunde, schätze ich. Bleibst noch du, mein Herz. Danke. Für alles eben.

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