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Along the Way

Teil 7

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Sean

Gegen Vier packten wir und duschten.

"Auf. zurück in den Alltag.", flüsterte ich Brian wenig begeistert ins Ohr.

"Ich wünschte, es könnte immer so sein wie jetzt."

"Ich auch …"

Meine Hände schoben sich wieder unter sein Shirt.

"Nicht, Sean … es ist schon Fünf, die Anderen warten bestimmt schon unten."

"Noch fünf Minuten."

"Komm schon, lass uns runter gehen."

"Na schön."

Der Rest von Summerskin stand schon in der Lobby und auch Andy, Rico und Jamie. Aber von Jordan und Xander keine Spur. Das Gepäck wurde in den Bus geräumt.

Um zwanzig nach Fünf waren sie immer noch nicht in Sicht. Bei Jordans Handy ging die Mailbox dran.

"Was machen wir jetzt?", fragte Brian.

"Keine Ahnung …"

"Was ist jetzt Leute, wir wollen fahren."

Die Anderen wurden ungeduldig. Sie freuten sich bestimmt schon auf ihre Leute in L.A. . Brian meinte:

"Wenn wir jetzt hier warten und die ewig nicht mit dem Auto kommen, ist es auch Scheiße …"

"Gebt uns noch fünf Minuten, zum Telefonieren …", bat ich.

Milo und Sandra nahmen nicht ab, deshalb fragte ich an der Rezeption nach einem Telefonbuch.

"Ich suche ihnen gerne die Nummer raus. Wie ist denn der Name?"

"Anthony Bonanno. Und auch gleich noch ehm … Giuseppe Bonanno."

"Ist das ein Scherz?"

"Nein, warum?"

Er zeigte auf die Fernseher über der Bar. Ich ging rüber und schaute wie gebannt auf die Bildschirme. Da war Jordans Großvater, in Handschellen, wie er aus dem Haus geführt wurde. Ich versuchte, den Schriftzug zu lesen.

'Kopf des organisierten Verbrechens festgenommen. Örtliche Polizei spricht von Jahrhundertfang.'

Aber mehr stand da nicht. Brian kam rüber.

"Was ist los?"

Ich deutete nach oben.

"Giuseppe Bonanno? Hat der was mit Jordan zu tun?"

"Das ist sein Großvater. Ich muss rausfinden, was passiert ist."

Mir fiel nichts Besseres ein, als meine Schwester anzurufen. Zum Glück nahm sie ab.

"Josie, ich hab nicht viel Zeit, ich muss wissen, was passiert ist."

"Wo bist du? Du bist doch nicht bei denen, oder?"

"Nein, sag schon."

"Das Ganze ist erst vor einer Stunde passiert. Ich kenne auch nur Gerüchte. Bonannos Büro war verwanzt. Er soll Jemanden erschossen haben, in seinem eigenen Büro. Ziemlich dämlich."

"Wen?"

"Keine Ahnung."

"Jordan war heute dort."

"Lass dich da nicht sehen."

"Ich hab keine Wahl. Danke."

Andy stand plötzlich neben mir. Sie weinte.

"Was ist los?"

"Xander hat angerufen. Es ist Jordan. Sein Großvater hat auf ihn geschossen."

Mir war, als würde der Boden unter meinen Füßen plötzlich nachgeben. Das musste doch ein Albtraum sein! Das würde der Kerl doch nicht tun. Ich schaute in Brians Gesicht. Alle Farbe war daraus entwichen. Ich hörte Jemanden laut rufen.

"Okay, Leute, alle in den Bus. Wir fahren zur Klinik."

Ich trottete einfach hinterher. Keine Ahnung, wie lang wir brauchten, um in diese Klinik zu gelangen. Es war alles so unwirklich. Ich wartete nur darauf, aus diesem Albtraum aufzuwachen.

Es wurde erst real, als ich Xander sah. Er saß ganz apathisch da und hielt die schlafende Gwen eng umschlungen. Andy stürmte auf ihn zu. Erst reagierte er gar nicht, dann blickte er langsam auf.

"So viel Blut. Überall."

"Schhh. Schon gut. Gib mir die Kleine."

"Sie dürfen sie nicht bekommen."

"Nein, keine Sorge, ich gebe sie Sean, er wird gut auf sie aufpassen."

Er drehte seinen Kopf und war überrascht, dass da noch mehr Menschen standen.

"Aber pass auf, dass sie sich nicht weh tut. Da war so viel Blut. So dunkles Blut. Ich hab noch nie so viel Blut gesehen."

Er fing an zu weinen, Andy nahm ihn in den Arm. Ich musste etwas tun. Ich gab Gwen zu Brian und ging auf die nächstbeste Krankenschwester zu.

"Was ist los? Wo wurde er getroffen? Ist er im OP?"

"Einer der Ärzte wird …"

"… gleich zu uns kommen, ich weiß. Bitte speisen sie mich nicht damit ab. Bitte."

"Er ist im OP, mehr kann ich ihnen nicht sagen."

"In welchem OP? Gibt es einen Zuschauerraum?"

"Das würde ich ihnen nicht empfehlen."

"Ich studiere Medizin, ich weiß, worauf ich mich gefasst machen muss. Bitte, lassen sie mich dazu."

"Ich frage das Team."

Sie ging durch eine Schwingtür, ich ging ihr mit genügend Abstand hinterher. Niemand hielt mich auf. Sie ging in den OP 9, ich blieb an der Türe stehen. Kaum zehn Sekunden drauf kam sie wieder heraus und war erstaunt, mich zu sehen.

"Oh, da sind sie ja schon. Tut mir leid, aber momentan ist es nicht günstig. Gehören sie zur Familie?"

"Nein, zu denen gehöre ich nicht. Ich weiß nicht, was genau passiert ist, aber die haben ihm das angetan. Sie dürfen niemanden von denen zu ihm lassen!"

"Keine Sorge, ein bewaffneter Polizist ist im Besucherraum."

"Bitte lassen sie mich auch da rein."

"Das ist gerade sehr ungünstig."

Eine junge Ärztin kam heraus. Ich fragte einfach gerade heraus und möglichst unbeteiligt:

"Ist er tot?"

Sie dachte wohl, ich würde zur Klinik gehören.

"Er wird noch reanimiert."

"Nach eineinhalb Stunden?"

"Zwischendurch hatten wir Sinus, aber momentan …"

"Wie lange schon?"

Sie schaute auf ihre Uhr.

"Vierzig Minuten."

"Bitte hören sie nicht auf. Bitte. Er ist stark. Er kann das durchstehen."

Natürlich wusste sie jetzt, dass ich zu ihm gehörte.

"Wir sollten uns setzen."

Das bedeutete nichts Gutes. Sie ging vor wie im Lehrbuch.

"Wer sind sie?"

"Ich bin mehr Familie, als die Bonannos. Ich weiß, sie dürfen mir juristisch gesehen nichts sagen. Aber ich studiere Medizin, ich mache nächstes Jahr meinen Abschluss. Betrachten sie es als Konzil. Bitte."

"Na schön … Ich sage es ihnen ehrlich. Es sieht nicht gut aus. Wenn sein Herz nicht bald wieder schlägt, müssen wir aufgeben."

"Wo wurde er getroffen?"

"In die Brust und in den Kopf."

"Zwei Mal? Dieser Mistkerl! Wie schlimm ist es?"

"Einige Rippen sind gebrochen und er hat sehr viel Blut verloren. Wir haben schon acht Konserven gebraucht."

"Acht? Ich habe null positiv, genau wie er. Ich spende sofort. Ich hab meinen Blutspendeausweis dabei."

"Gut. Sie sollten das wirklich machen."

"Und wie schlimm ist der Treffer am Kopf?"

"Wir haben keine Austrittswunde gefunden."

"Lassen sie Dr. Getty einfliegen. Geld wird kein Problem sein."

"Erstmal muss sein Herz wieder schlagen."

"Bitte rufen sie ihn an. Er kennt mich, ich habe bei ihm studiert. Er wird kommen."

"Gut, ich werde ihn informieren. Wie ist ihr Name?"

"Sean Wittmore. Bitte, wenn ich sonst was tun kann, Herzmassage oder irgendwas …"

"Danke, wir sind genügend, um uns abzuwechseln. Eine Schwester kommt gleich und nimmt ihnen Blut ab."

Sie ging wieder rein.

Ich beobachtete den Sekundenzeiger auf meiner Uhr, um die Panik zu unterdrücken. Fünf lange Minuten vergingen, bis eine Schwester heraus kam.

"Ich soll ihnen sagen, dass wir wieder Sinus haben."

"Gott sei Dank. Konnte die Blutung schon gestillt werden?"

"Das wird gerade versucht. Ich habe gehört, sie wollen Blut spenden?"

"Ja."

"Kommen sie."

Eine viertel Stunde später saß ich wieder vor dem OP. Die Schwester sagte mir, dass alle größeren Blutgefäße abgeklemmt waren. Der nächste Schritt war ein künstliches Koma. Dr. Getty rief mich auf dem Handy an, er hatte also tatsächlich meine Nummer behalten. Ich schilderte ihm die Situation und machte ihm klar, wie wichtig Jordan für mich war. Er sagte, er würde den Nachtflug nehmen. Ich war ihm so unendlich dankbar. Es gab jetzt also nichts weiter zu tun. Ich ging zurück zu den Anderen.

"Wo warst du?", fragte Brian.

"Vor dem OP."

Xander sprang sofort auf.

"Konntest du was rausfinden?"

"Sein Herz schlägt wieder, die Blutung konnte gestoppt werden. Aber er muss operiert werden. Eine Kugel ist noch in seinem Kopf."

"Du meinst, er war tot?"

"Sein Herz hat für 45 Minuten nicht selbstständig geschlagen."

Das war der Punkt, an dem Xander einfach nicht mehr konnte. Ich schaffte es gerade noch, ihn einigermaßen sanft auf die Plastikstühle zu bekommen. Gwen weinte.

"Okay, also, Tobey, sag dem Bus, er kann fahren. Alle können fahren, hier könnt ihr nichts machen. Jordan wird in den nächsten Tagen nicht aufwachen. Fahrt, das ist das Beste. Macht morgen die Show in L.A. Das würde Jordan so wollen."

Brian protestierte natürlich, aber ich blieb hart. Die O–Scars rührten sich keinen Millimeter.

"Wir können ohne Xander sowieso nicht auf die Bühne. Wir bleiben."

"Okay, dann kümmert ihr euch um Xander und Gwen. Bringt sie in das nächstgelegene Motel, kauft Windeln und füttert die Kleine. Geht schon. Ich kümmere mich hier um alles. Gebt mir noch eure Handynummern."

Nachdem ich alles aufgeschrieben hatte, holte ich noch meinen Koffer aus dem Bus. Dann war ich allein. Ich überlegte, was als nächstes zu tun war und machte mich wieder auf den Weg zum OP. Ich musste wissen, was passiert war! Ich wartete, bis jemand heraus kam.

"Entschuldigung? Ich muss mit dem Polizisten im Zuschauerraum reden."

"Ich sperre ihnen auf. Einfach die Treppe hoch. Sie müssen oben anklopfen, er hat von innen

verriegelt."

"Danke."

"Wer sind sie?"

"Sean Wittmore."

"Was wollen sie?"

"Mit ihnen reden. Ich will wissen was passiert ist."

"Schieben sie ihren Führerschein unter der Tür durch."

Das tat ich.

"Okay, dann treten sie drei Schritte zurück."

Auch das tat ich.

"Drehen sie sich um."

"Okay."

Ich hörte, dass die Tür aufging, zwei Hände tasteten mich ab.

"Okay, kommen sie rein. Also, Sean Wittmore, was suchen sie hier?"

Ich trat erst mal an die Scheibe. Tränen schossen mir in die Augen. Da unten lag mein Jordan. Sein Kopf war bandagiert. Oben sah ich ein paar grüne Haare herausstehen. Sein Brustkorb war geöffnet. Überall lagen in Blut getränkte Tücher am Boden. Eine junge Ärztin begann gerade mit dem Schließen des Brustkorbes.

"Sie sind also kein Reporter. Wer sind sie?"

"Ich … wir waren zusammen, vor ein paar Jahren. Er ist der, dem ich alles verdanke."

"Tut mir leid, dass sie ihn so sehen müssen."

Ich wischte mir über die Augen und drehte mich um.

"Ich muss wissen, was passiert ist."

"Wir ermitteln noch."

"Warum wird er bewacht?"

"Weil er ein wichtiger Zeuge gegen einen großen Fisch sein könnte."

"Wo ist sein Großvater?"

"In Untersuchungshaft."

"Gut. Und der Rest?"

"Keine Ahnung. Vermutlich zu Hause. Oder sie haben sich schon aus dem Staub gemacht. Wir konnten durch die Sache ja endlich das Haus des Alten durchsuchen. Bestimmt sind die Kollegen dabei auf einiges gestoßen. Haben sie eine Ahnung, wieso der Alte auf seinen eigenen Enkel geschossen haben könnte?"

"Nein. Aber Jordan hatte nichts mit den Machenschaften dieser Familie zu tun. Er wusste noch nicht mal davon. Sie hatten nicht viel Kontakt."

"Wieso das?"

"Hauptsächlich, weil Jordan auf Männer steht und auch ansonsten nicht die Vorstellungen seiner Familie erfüllt."

"Was ist mit seiner Mutter?"

"Was soll mit ihr sein?"

"Wo ist sie?"

"Sie meinen, sie weiß noch nicht Bescheid? Sie wohnt in Phoenix. Ich ruf sie gleich an. Aber was soll ich ihr sagen? Ist es sicher, dass der Großvater auf ihn geschossen hat?"

"Wir haben ein Tonband davon."

"Und wo waren die Anderen?"

"Nebenan. Sie haben das Ganze scheinbar erst mitbekommen, als wir lautstark angerückt sind."

"Der arme Xander."

"Ist das der Typ mit dem Kind?"

"Jordans Freund und Jordans Tochter, ja."

"Wo sind die Beiden?"

"Warum? Denken sie, sie sind in Gefahr?"

"Möglich. Bei diesen Leuten weiß man nie. Aber ich hab das Tonband nicht gehört. Ich frag mal die Kollegen."

Ihm wurde mitgeteilt, dass vermutlich auch Anthony, Milo und Peter bis auf Weiteres festgenommen werden würden, aufgrund der Unterlagen, die man im Büro gefunden hatte. Man hatte aber inzwischen festgestellt, dass es bei dem Streit mit Jordan um nichts Geschäftliches gegangen war, sondern etwas moralisches, wie sich die Frau in der Zentrale ausdrückte. Ich wusste sofort, was das bedeutete und bekam Angst. Wäre mein Vater auch zu so etwas fähig? Jordan war wohl nicht mehr in Gefahr, aber zur Sicherheit sollte der Beamte noch bleiben, bis Jordan auf ein Zimmer auf der Intensivstation verlegt wurde. Ich rief endlich Carol und Klaus an.

Carol nahm ab. Sie schien vergnügt, war wohl noch nicht lange wieder zu Hause.

"Ja, hallo?"

"Ich bin's, Sean."

"Hey, was gibt's?"

"Ist Klaus da?"

"Ja, willst du ihn sprechen? Er steht neben mir."

"Und die Mädchen?"

"Spielen oben. Was ist los?"

"Es ist Jordan. Er ist im Krankenhaus."

"Was ist passiert?"

"Er ist soweit stabil. Aber du solltest kommen. Er muss operiert werden."

"Was ist passiert, Sean?"

"Er wurde angeschossen."

"Was? Wie?"

"Die Polizei ermittelt noch. Gib mir bitte Klaus."

"Wozu?"

"Bitte, Carol, vertrau mir."

"Sean, was ist los, was ist passiert?"

"Klaus, es ist ernst. Ihr müsst kommen. Jordan hat eine Kugel im Kopf. Es war sein Großvater, er wurde schon verhaftet. Du musst jetzt dafür sorgen, dass Carol nicht durchdreht. Lass sie keine Nachrichten hören. Das ist wichtig. Und kommt so schnell ihr könnt."

"Okay, verstehe. Wir machen uns auf den Weg."

"Ruft mich an, wenn ihr gelandet seid."

"Gut. Bis dann."

Gleich im Anschluss rief ich bei mir zu Hause an.

"Hier bei Wittmore."

"Hallo Loraine. Ich muss meine Mutter sprechen."

"Einen Moment."

"Wittmore."

"Mum, ich bin's. Stell keine Fragen. Geh rüber zu Klaus und Carol und hol die Mädchen. Sie werden ein paar Tage bei dir bleiben müssen."

"Aber was…"

"Bitte, tu es einfach. Ich erkläre es dir später. Ruf mich an, wenn Carol und Klaus weg sind."

"Na schön."

Mein Akku ging langsam aus.

"Mein Koffer steht noch auf der Treppe. Ich brauche mein Ladegerät."

"Ich hol es."

"Glauben sie immer noch, dass ich zur Familie gehöre?"

"Ich will nur vorsichtig sein. Wer so was dem eigenen Enkelsohn antun kann, ist noch zu ganz anderem fähig."

"Da haben sie vermutlich recht. Es müsste ganz vorne drin sein."

Eine Stunde später wurde Jordan verlegt. Noch eine Stunde später konnte ich zu ihm. Ich schlief in der Ecke des Zimmers, bis die Sonne aufging. Der Polizist war nicht weggegangen.

"Sie sind ja noch da."

"Meine Vorgesetzten haben herausgefunden, dass er so eine Art Rockstar ist, deshalb gehen sie auf Nummer sicher."

"Verstehe."

Es klopfte. Der Polizist machte die Tür erst einen Spalt und dann ganz auf. Es waren Xander und Andy. Xander stellte sich neben das Bett und schaute auf Jordan hinunter.

"Warum muss er beatmet werden?"

"Das ist sicherer."

"Und all diese Sensoren …"

"Sind leider nötig."

"Wann wird er aufwachen?"

"Du musst dich drauf einstellen, dass er nach der OP ein paar Wochen im künstlichen Koma bleibt. Die Schmerzen wären sonst einfach zu groß."

"Wird er es schaffen, Sean?"

"Er bekommt den besten Gehirnchirurgen an der Westküste. Alles hängt davon ab, was die Kugel in seinem Kopf zerstört hat. Es kann sein, dass er nicht mehr der Alte ist, Xander."

"Das ist mir egal. Hauptsache, er bleibt bei mir. Kann ich seine Hand halten?"

"Natürlich. Pass nur auf den Sensor hier auf."

Es verging eine halbe Stunde, dann kam eine Schwester herein.

"Mr. Wittmore, seine Eltern haben auf ihrem Handy angerufen, sie sind gelandet. Ich hab ihnen gesagt, wo wir sind. Sie werden in 20 Minuten da sein."

"Gut, danke."

"Sollten wir nicht irgendwen anrufen? Oh mein Gott, Josh! Ich hab Josh ganz vergessen. Er ist zu Hause, mit Ned und Elly. Sie werden sich schon Sorgen machen …"

"Ich rufe sie an, bin gleich wieder da.", beruhigte ich Xander.

Josh ging ans Telefon.

"Hey, hier ist Sean. Kann ich mit deinem Großvater sprechen?"

"Es ist ganz früh am Morgen."

"Oh, du hast recht. Aber es ist wichtig."

"Gut, ich wecke ihn."

"Ja hallo?"

"Sean Wittmore."

"Verdammt, wo steckt ihr denn? Alles in Ordnung?"

"Leider nicht. Jordan ist im Krankenhaus."

"Oh mein Gott, was ist passiert?"

"Er muss operiert werden."

"Was können wir tun?"

"Könnt ihr bei Josh bleiben?"

"Natürlich. Sean, was ist los, warum bist du so verhalten? Ist es was Ernstes?"

"Ich ruf gleich noch mal von einem anderen Apparat aus an."

"Gut."

Ich erzählte ihm, was passiert war. Er wollte sofort herfliegen.

"Hier könnt ihr nichts tun. Ich melde mich heute Abend, oder wenn es davor etwas Neues gibt."

"Ich weiß nicht …"

"Denk an Josh. Das ist das Beste für ihn."

Als ich aufgelegt hatte, fiel mir auf, dass ich Patricia nicht Bescheid gesagt hatte. Ich rief sie an. Sie hatte schon mit Josie gesprochen, also musste ich nicht viel sagen.

"Bleib solange du musst. Ich hab hier alles im Griff."

"Danke."

Das meinte ich auch so. Sie war trotz allem immer da, wenn ich sie wirklich brauchte.

"Schon gut …"

Bald darauf kamen Klaus und Carol. Ein Arzt redete sofort mit ihnen. Carol wollte einfach nur zu ihrem Kind. Sie und Xander hielten je eine Hand, bis Dr. Getty ankam und Jordan für die OP vorbereitet wurde, die mindestens acht Stunden dauern würde. Ich nutzte die Zeit und legte mich ein paar Stunden hin, duschte und ging zurück ins Krankenhaus. Dort warteten wir alle noch zwei Stunden, bis Dr. Getty zu uns kam.

"Die OP ist nach Plan verlaufen. Jetzt heißt es warten. Wir sollten ihm zwei Wochen geben. Mindestens."

Alle dankten ihm. Ich fing ihn später noch mal ab, um Genaueres zu erfahren.

"Ich dachte mir schon, dass sie mich noch mal aufsuchen würden. Also, wir konnten die Kugel entfernen, ohne viel herummetzgern zu müssen. Der Schaden beläuft sich also nur auf das, was die Kugel beim Eintritt verursacht hat."

"Wo ist sie durch?"

"Ich zeichne es ihnen auf, kommen sie mit."

"Und was müssen wir erwarten?"

"Sie wissen selbst, wie unterschiedlich das sein kann."

"Bitte, was meinen sie?"

"Gedächtnisstörung auf jeden Fall, über Persönlichkeitsveränderung möchte ich nicht spekulieren. Beeinträchtigte Intelligenz ist eher unwahrscheinlich, eher die Unfähigkeit zum Einschätzen von Konsequenzen. Physiotherapie wird alleine wegen dem Koma notwendig sein. Aber ich will ihnen nicht zu viel versprechen, erst mal muss er auch wieder aufwachen."

"Ich weiß … danke Doktor."

"Gern geschehen. Vielleicht entscheiden sie sich ihren Schwerpunkt betreffend, doch noch um …"

"Wer weiß. Wenn, dann melde ich mich bei ihnen."

"Das hoffe ich. Also, Sean. Ich wünsche ihnen noch viel Kraft, um das Ganze durchzustehen. Machen sie es gut."

Am nächsten Tag kam Renzo ins Krankenhaus. Carol ließ ihn nicht zu Jordan. Sie wollte überhaupt nicht, dass Jemand von uns mit ihm sprach. Ich fragte Carol, ob es vielleicht Zeit war, Scott und Vince anzurufen. Xander meinte nur, dass Scott definitiv Bescheid wüsste, durch die Band. Vince rief ich an. Ich sagte ihm auch, er solle erst in zwei Wochen kommen, vorher hatte es überhaupt keinen Sinn. Josie kam vorbei und klärte ein paar juristische Dinge mit Carol. Unter anderem, dass Xander und sie das Band hören durften, das die Polizei mitgeschnitten hatte. Danach wussten sie, was zu dem Streit geführt hatte, wollten aber nicht darüber reden. Die Tage vergingen schleppend. Xander's Mum kam aus Oregon und brachte ihren Sohn dazu, das Zimmer wenigstens für ein paar Minuten zum spazieren gehen zu verlassen. Er ließ Gwen kaum aus den Augen. Seine Mutter konnte ihn endlich überreden, Gwen von ihr nach Hause zu ihrem Bruder und ihren Großeltern bringen zu lassen. Klaus flog zurück zu den Mädchen und auch Rico und Jamie fuhren nach Hause.

Nach dem Ende der Tour kamen Brian und Tobey zurück. Mir war egal, wer uns zusah. Ich war so erschöpft und hatte Brian so sehr vermisst, dass ich ihm einfach um den Hals fiel und ihn küsste. Er hielt mich lange im Arm, dann brachte er mich ins Motel, wo ich 12 Stunden am Stück wie ein Stein schlief. Danach erzählte er mir, dass Kev sich mittlerweile beruhigt hatte und auch meinte, schon länger etwas geahnt zu haben.

Als wir zurück kamen, war gerade eine Ärztin da, um uns mitzuteilen, dass der Heilungsprozess noch nicht weit genug fortgeschritten sei, um Jordan aufzuwecken. Er sollte noch eine Woche schlafen. Täglich kam zwei Mal eine Physiotherapeutin, um, soweit es ging, zu verhindern, dass sich die Sehnen verkürzten.

Mittlerweile gab es viele Berichte in den Medien. Um zu vermeiden, dass nur Schwachsinn erzählt wurde, gaben Summerskin einige Interviews. Das Interesse an ihnen war noch nie so groß gewesen. Josie kümmerte sich um alles juristische und erzählte mir, dass Scott mit ihr Kontakt aufgenommen hatte und ihr alle nötigen Unterlagen hatte zukommen lassen. Er wollte aber nicht nach San Diego kommen. Sehr seltsam.

Dann kam endlich der 19. Mai. Der Tag an dem Jordan hätte aufwachen sollen. Er wurde von der Beatmungsmaschine genommen, es war so schön, endlich wieder sein Gesicht zu sehen, ohne diese Apparatur. Aber er wachte nicht auf. Ich kannte die Statistiken, aber ich wollte zwei Wochen abwarten. Xander fing an, ihm Musik vorzuspielen und Vince ließ sich nicht mehr länger hinhalten. Irgendwann stand er da. Nur Xander und ich waren im Raum. Carol und Andy hatten sich überreden lassen, im Motel ein bisschen zu schlafen. Die Türe war immer offen, deshalb stand Vince plötzlich im Raum. Ich weiß nicht, wie lange schon. Als ich über meine Schulter schaute, stand er da, zwei Meter vom Bett entfernt. Ich wusste, was er fühlte. Mir ging es genauso, wenn ich den Raum betrat und Jordan sah, der wirkte wie schlafend, was mich an die vielen Male erinnerte, die ich ihn morgens so hatte daliegen sehen, wenn er mal wieder überhaupt nicht mehr hatte aufwachen wollen. Dann hatte ich mich immer über ihn gebeugt und ihn ganz zärtlich wach geküsst. Ich wünschte, ich könnte das versuchen. Vince trat näher heran und küsste Jordan tatsächlich auf den Mund. Xander schien es ihm nicht übel zu nehmen. Im Gegenteil, er versuchte zu lächeln, schaffte es aber nicht. Mit fiel auf, wie müde er aussah. In seinen Augen standen immer ein paar Tränen, er war ungeschminkt, seine Haare waren kurz und seine Piercings waren verschwunden. Er nahm sich keine Zeit mehr für sich selbst. Aber ich hatte einfach nicht immer die Kraft ihn zu trösten. Vince nahm ihn in den Arm und führte ihn aus dem Zimmer. Zwanzig Minuten später kamen sie zurück, hatten offensichtlich Beide geweint und setzten sich erschöpft wieder ans Bett. Wir redeten stundenlang kein Wort. Irgendwann kam ein Arzt und überprüfte die Pupillen und den Schmerzreflex. Jordan zog seinen Arm weg.

"Das war gerichtete Abwehr!", platzte ich hervor.

"Ja, das seh ich auch so. Ich würde ihn mittlerweile auf eins einstufen."

"Ist das gut? Sean?"

"Ja, das ist gut. Das ist auf jeden Fall eine gute Entwicklung."

"Die Musik ist eine gute Idee. Und sie sollten mit ihm reden, ihn berühren. Das hilft."

Als der Arzt weg war, fing Xander an, von Gwen und Josh zu erzählen und wie sehr die Beiden ihn vermissten.

"Und ich erst, Jordan. Ich brauche dich, es geht nicht ohne dich."

Er sagte so viele schöne Dinge. Irgendwann sprach er von ihrer ersten Begegnung und wie schlecht es ihm damals gegangen ist und wie sehr Jordan ihm damals Mut gegeben hatte.

"Du bist der Grund, warum ich überhaupt noch hier bin, deshalb darfst du mich jetzt nicht alleine lassen. Bitte. Ich vermisse dich, ich vermisse deine Küsse. Keiner hat mich je so geküsst, wie du. Ich tu alles, wenn du mich noch einmal so küsst. Ich hab dich dazu überredet, du wolltest nicht rein gehen …"

Er vergrub das Gesicht an Jordans Schulter und weinte. Ich musste raus.

Vince und er blieben die ganze Nacht und den ganzen nächsten Tag bei Jordan und redeten mit oder über ihn. Am Abend war ich alleine mit ihm. Ich erzählte ihm alles was mir einfiel und wenn mir nichts mehr einfiel, spielte ich Musik. Mir fiel auf, dass sein Arm manchmal zuckte und seine Augen sich mehr bewegten als normal, deshalb holte ich eine Schwester. Es lief gerade 'Knocking on Heavens Door'. Die Schwester schaute ihn sich kurz an und holte einen Arzt. Jordan griff sich tatsächlich an den Kopf. Und dann schrie er. Ich werde diesen Schrei mein Leben lang nicht vergessen und ich war so froh, dass Carol und Xander nicht im Raum waren. Der Arzt hatte schon ein Schmerzmittel parat, das er sofort spritzte.

"Zu viel Druck auf dem Gehirn. Da müssen wir was tun."

Sie machten ein CT und stellten fest, wo die Schwellung war. Danach entschieden sie sich, Jordan wieder unter starke Schmerzmittel zu setzen und in einer Woche zu sehen, ob die Schwellung zurückgegangen war. Ich erklärte den Anderen, was passiert war und dass in der nächsten Woche nichts zu tun war, außer zu warten. Dass er mit der Dosis Schmerzmittel zu Bewusstsein käme, war ausgeschlossen.

"Xander, fahr zu den Kindern. Und Carol, fahr du zu deinen Kindern. Wir können hier nichts tun."

Ich redete zwei Stunden lang auf sie ein, bevor sie nachgaben.

"Aber wir können ihn doch nicht alleine lassen."

"Janet und Joe kommen her. Und Mickey und Tobey auch. Ich warte hier auf sie, ihr fliegt schon mal."

Ich hatte nicht vor heimzufliegen, aber wenn ich ihnen das gesagt hätte, hätten sie sich ebenfalls geweigert.

Am Abend kamen die Vier an und hatten einen Riesenstapel Vorlesungsmitschriften von Patricia dabei und Scott. Er verhielt sich so seltsam, dass ich ihn darauf ansprach, als wir am nächsten Morgen alleine bei Jordan waren.

"Ich hab mit ihm geschlafen."

"Ja ich weiß, dass ihr zusammen wart …"

"Nein, danach. Ende März, in New York. Xander und er hatten deswegen einen Riesenstreit. Ich hab ihn seitdem nicht mehr gesehen. Xander würde bestimmt nicht wollen, dass ich hier bin. Eigentlich wollte ich kündigen, aber jetzt brauchen mich die Jungs noch eine Weile, bis es Jordan besser geht."

"Das wird noch lange dauern. Summerskin sollte sich etwas überlegen."

"Davon wollen die Jungs nichts hören …"

"Scott, du musst ihnen klar machen, dass wir nicht wissen können, wie es Jordan geht, wenn er aufwacht. Und selbst wenn sein Gehirn keine größere Schädigung davon getragen haben sollte, dann wird er Schmerzen haben. Er wird für lange Zeit Medikamente brauchen und Physiotherapie. Er liegt hier schon seit einem Monat. Seine Muskeln sind total verkümmert und er wird noch eine ganze Weile nicht aufstehen können. Mach das den Jungs klar."

Ich schaute in sein entsetztes Gesicht.

"Ich dachte … ich dachte, er wacht auf und alles ist gut …"

"Es tut mir leid …"

"Ich, … entschuldige mich."

Er verließ den Raum, vermutlich weil er vor mir nicht weinen wollte.

Zwischendurch versuchte ich, so viel wie möglich zu lernen. Die Woche bis zum nächsten CT verging auch irgendwie und die Schwellung war deutlich zurückgegangen. Scott und die Anderen machten sich auf den Rückweg, Carol und Xander kamen wieder. Josh war dabei. Er war so groß geworden. Wie ein kleines Kind hing er an Xander, der offensichtlich neue Kraft getankt hatte. Josh nahm Jordans Hand und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Danach setzte er sich zu Xander in einen Sessel und vergrub sein Gesicht in dessen Shirt. Jordan bekam mittlerweile wieder eine geringere Dosis Schmerzmittel. Er konnte jederzeit wieder aufwachen.


Jordan

Aus weiter Ferne hörte ich leise Musik. 'Knocking on Heavens Door', wie passend. Es war, als würde ich tauchen und immer tiefer hinabschwimmen. Ich spürte diesen Druck auf den Ohren, der immer stärker wurde und sich auf den ganzen Kopf auszuweiten schien. Ich hörte auf zu schwimmen, aber der Druck wurde trotzdem immer stärker, als würde mein Kopf gleich zerspringen. Ich hörte einen markerschütternden Schrei, dann wurde alles wieder dunkel.

Das Nächste was ich wahrnahm, war ein Flüstern. Dann schwamm ich wieder. Immer tiefer, aber der Druck war auszuhalten. Als ich am Grund ankam, stellte ich fest, dass das eigentlich die Wasseroberfläche war. Ich blieb ungefähr einen Meter darunter und sah verschwommen etwas da oben.

"Mein Schatz? Bist du wach?"

Ich versuchte zu reden, aber mein Mund lief voll Wasser. Seltsamerweise musste ich nicht husten. Ich versuchte, näher an die Oberfläche zu schwimmen, um mehr erkennen zu können. Dann kam für einen Moment die Erinnerung zurück. Ich fasste mir an die Brust. Meine Arme waren schwer wie Blei.

"Ganz ruhig, Jordan. Alles ist okay, ich bin da. Ich pass auf dich auf."

Ich erkannte die Stimme nicht. Und ich konnte nicht richtig sehen. Jemand kam und leuchtete mir in die Augen. Da waren mehrere Menschen, sie redeten, aber ich verstand nicht alles. Plötzlich wurde ich ganz schrecklich müde.

Ich wurde immer mal wieder wach und schaffte es immer näher an die Wasseroberfläche. Ich sah immer deutlichere Gesichter, erkannte aber niemanden. Irgendwann konnte ich endlich husten. Dabei stach meine Brust, aber ich konnte endlich ein Geräusch von mir geben. Ich spürte, wie mir jemand etwas ins Auge tropfte. Erst wurde alles noch verschleierter, dann aber immer klarer. Ich sah freundliche Gesichter, konnte sie aber nicht zuordnen. Eines war immer da und redete mit mir.


Sean

Am 2. Juni, war es so weit. Carol und Josh waren im Motel, ich holte gerade Kaffee. Als ich zurückkam, stand Xander am Bett und schaute Jordan in die offenen Augen. Ich holte einen Arzt, der kurz die Reflexe überprüfte, die Pupillen checkte und nickte. Ich war so erleichtert und mich überkam dieses Gefühl, dass alles gut werden würde. Ich rief Carol im Hotel an, die sich mit Josh sofort auf den Weg machte. Als sie ankamen, schlief Jordan.

Nach zwei Stunden machte er wieder die Augen auf. Aber er war total benommen, das kam vermutlich von den Schmerzmitteln. Er redete nicht. Ein paar Minuten später schlief er schon wieder. So ging es ein paar Mal. Dann fing er irgendwann an zu husten und hielt sich die Brust, was uns einen gehörigen Schrecken einjagte. Danach versuchte er zu reden, aber er war nicht zu verstehen.


Jordan

Irgendwann schaffte ich es ganz durch die Wasseroberfläche. Ich erkannte eine Gestalt in der Ecke. Als ich mich ein bisschen bewegte, sprang die Gestalt sofort auf. Es war wieder das Gesicht, das immer da war. Ich erkannte, dass es ein junger Kerl war. Er stand neben mir und beugte sich über mich.

"Jordan? Zwinkere, wenn du mich verstehst.”

Ich zwinkerte.

"Gott sei Dank. Du bist im Krankenhaus. Alles wird gut."

"Was … passiert?"

"Das hat Zeit. Hast du Schmerzen?"

Ich wollte den Kopf schütteln, aber das tat weh.

"Nicht bewegen. Ruh dich aus. Willst du Musik hören? Zwinkere einmal für ja."

Zwinker.

"Ist Greenday okay?"

Zwinker.

Ich schlief beim dritten Song ein. Als ich wieder aufwachte, war es viel heller als vorher. Der Kerl saß wieder in der Ecke. Langsam machte es mich stutzig, dass ich nicht wusste, wer er war. Er kam rüber.

"Hey, du bist wach."

Zwinker.

"Schmerzen? Zwei Mal heißt nein."

Zwinker. Zwinker.

"Gut. Brauchst du irgendwas?"

Zwinker. Zwinker.

"Weiß du, wer ich bin?"

Was sollte ich antworten? Ich entschied mich dazu, ja zu sagen, denn irgendwie sagte mir sein Tonfall, dass ihm das wichtig war.

Zwinker.

"Gut."

Er beugte sich zu mir runter. Ich spürte seine Lippen auf meinen. Ich wollte protestieren, aber mein Körper reagierte ganz anders als mein Kopf. Es fühlte sich gut an. Aber er war doch ein Kerl. Und ich auch, oder? Ich suchte nach Erinnerungen in meinem Kopf und wusste, dass sie da waren, ich konnte sie nur nicht finden, so wie wenn einem ein Name auf der Zunge liegt. Ich zwinkerte, bis der Kerl darauf aufmerksam wurde.

"Was ist los? Tut dir was weh? Soll ich einen Arzt holen?”

"Spiegel."

"Du willst einen Spiegel? Bist du sicher? Du hast schon besser ausgesehen …"

Zwinker.

"Ich bin gleich wieder da."

Kurz darauf hielt er mir einen Taschenspiegel vors Gesicht. Ja, ich war ein Kerl, die Bartstoppeln ließen keinen anderen Schluss zu. Mein Kopf war bandagiert. Ich sah ziemlich müde aus. Wie alt war ich wohl? Vielleicht an die dreißig? Oder ließen mich die Augenringe nur so alt erscheinen? Warum konnte ich mich nicht erinnern? Ich hob die Hand, die immer noch sehr schwer war, und tastete an meinen Kopf.

"Kannst du dich erinnern, was passiert ist?"

Zwinker. Zwinker.

"Du wurdest angeschossen. Eine Kugel hat dir die Rippen gebrochen, die andere ging in den Kopf. Aber du wirst wieder gesund, Jordan. Es wird nur eine Weile dauern."

Ich spürte, wie er nach meiner Hand griff. Ich versuchte zu lächeln. Keine Ahnung, ob es mir gelang. Wieso konnte ich mich nicht an ihn erinnern? Er streichelte mein Gesicht und ich fühlte, dass ich das mochte. Es klopfte, eine junge Frau kam herein.

"Guten Tag Mr. Bonanno. Ich bin ihre Physiotherapeutin. Ich würde gerne ein paar Übungen mit ihnen machen."

Der Kerl setzte sich in eine Ecke, während die Frau mich die Arme heben ließ, dann die Beine. Alles ging so schwer, bald war ich total fertig.

"Das war schon sehr gut. Ich komme morgen wieder."

"Danke."

Sie lächelte mich an und ging. Der Kerl kam wieder heran.

"Alles okay?"

"Ja."

"Bist du müde?"

"Erschöpft.”

"Ruh dich aus.”

"Warte.”

"Überanstreng dich nicht, mein Schatz.”

Er hatte mich Schatz genannt. Das alles gab doch gar keinen Sinn.

"Kann mich nicht erinnern …"

"Die Ärzte sagen, das kann zeitweise vorkommen, aber du findest die Erinnerungen bestimmt bald wieder."

"An dich."

"Du kannst dich nicht an mich erinnern?"

"Tut mir leid …"

Ich konnte sehen, dass ihn das verletzte, aber ich durfte ihm auch nichts vorspielen.

"Keine Sorge, das kommt wieder. Ich bin Xander. Wir sind seit acht Monaten zusammen. Du sagst, … hast gesagt, dass ich die Liebe deines Lebens bin. Jedenfalls bist du meine."

Ich sah, dass Tränen in seinen Augen standen und das brach mir das Herz. Ich hob die Hand und er hielt sie sich an die Wange.

"Du bist so hübsch."

"Ach, Jordan …"

"Aber müde. Geh schlafen.”

"Mach dir um mich keine Sorgen. Ich warte, bis deine Mutter wieder hier ist, dann geh ich schlafen, versprochen. Kannst du dich an sie erinnern?"

Ich dachte angestrengt nach, aber:

Zwinker. Zwinker.

"Vielleicht wenn du sie siehst. Ich bin so froh, dass ich endlich wieder mit dir reden kann, Jordan."

"Wie lange?"

"Heute ist der vierte Juni. Du bist seit 28. April hier. Etwas über fünf Wochen. Ich hab dich so vermisst, Jordan. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr. … Tut mir leid, ich bin für dich momentan ein Fremder, ich weiß …"

"Wenn ich dich ansehe, hab ich Schmetterlinge im Bauch."

Er lachte und weinte, alles gleichzeitig. Ich schaffte es, ihn zu mir runter zu ziehen und spürte seine heißen Tränen über meinen Hals laufen. Ich hatte jemanden, der mich von ganzem Herzen liebte. Egal ob Mann oder Frau, das war ein schönes Gefühl. Ich spürte seine Beine neben meinen. Sein Atem wurde immer langsamer. Er war eingeschlafen. Ich sog seinen Geruch ein und dabei fiel mir auf, dass ich nicht toll roch. Ich schlief erst mal ebenfalls ein. Als ich aufwachte, lag Xander immer noch neben mir. Ich versuchte, meinen Kopf zu bewegen, ließ es aber gleich wieder sein. Ich musste tief durchatmen, um die Welle des Schmerzes zu verdrängen. Davon wachte er auf.

"Alles okay?"

"Kopfschmerzen.”

"Ich hol dir was.”

"Ich stinke …”

"Nicht schlimm."

"Kann nicht aufstehen."

Er lachte.

"Nein, das kannst du nicht. Ich kann es der Schwester sagen …"

"Okay."

Bald darauf kam er mit einer jungen Frau zurück, die eine Schüssel trug und noch andere Utensilien. Das war ja wohl zu demütigend. Ich konnte mich nicht mal alleine waschen. Ich fragte mich kurz, warum ich die ganze Zeit über nicht auf die Toilette musste, dachte aber lieber nicht mehr darüber nach.

"Kannst du das machen, Xander?"

"Natürlich, wenn dir das lieber ist?"

Zwinker.

Wir schickten die Schwester raus und Xander stellte einen Stuhl vor die Tür. Ich schlug die Decke beiseite und stellte tastend fest, dass ich einen dieser schrecklichen Krankenhaus–Kittel trug, die hinten offen waren. Xander schien das zu amüsieren. Ohne Umschweife löste er die Schleife in meinem Nacken und zog den Kittel weg.

"Hey …"

"Ich hab das schon alles gesehen, mein Schatz. Hab dich nicht so."

"Wie seh ich aus?"

"Du hast viel abgenommen. Und das Fitnessstudio sieht man dir auch nicht mehr an. Aber hässlich bist du nicht."

"Danke …"

"Am Anfang war dein ganzer Brustkorb blau, das war kein schöner Anblick. Jetzt ist da diese Narbe, aber ich mag Narben."

Während er so vor sich hin plapperte, wusch er mich ganz nebenbei. Er war wirklich toll.

Danach legte er mir einen neuen Kittel um und deckte mich wieder zu.

"So, noch eine Rasur gefällig?"

"Wenn du mir nicht die Kehle durchschneidest?"

"Mit einem elektrischen Rasierer sind die Chancen eher gering. Vertrau mir, ich bin da Experte."

"Können wir versuchen, das Bett hochzuklappen? Ich kann meinen Kopf nicht heben …"

"Dazu hol ich lieber eine Schwester."

"Okay."

Es tat zwar zwischendurch höllisch weh, aber kurz darauf konnte ich endlich mehr vom Raum sehen als nur die Decke.

"Alles okay?"

"Die Schmerzen lassen schon nach."

"Du bist echt tapfer, Schatz."

"Wie nenn ich dich?"

"Xander. Du bist nicht so der Kosenamen–Fan."

"Ich mag's, dass du mich Schatz nennst."

"Sieh an."

"Ich hab sogar vergessen, dass ich schwul bin."

"Dann hast du dich sicher gewundert, als ich dich geküsst habe."

"Allerdings …"

"Du magst auch Frauen. Also so generell."

"Okay."

"So, halt still."

Als er fertig war, rieb er vorsichtig seine Wange an meiner.

"Mhm, weich wie ein Babypopo."

"Danke."

"So kannst du dich sehen lassen. Deine Mum wird bestimmt bald auftauchen."

"Ich weiß ich hab gesagt, du sollst dann schlafen gehen … aber könntest du vielleicht doch noch eine Weile hier bleiben? Was, wenn ich mich an sie auch nicht erinnere?"

"Wart es ab. Ich bleib bei dir, solange du willst. In dem Bett ist genug Platz für uns Beide."

Ich verliebte mich sofort in dieses anzügliche Grinsen. Bald darauf stand meine Mum in der Tür. Natürlich, das war meine Mum. Ich erkannte sie. Sie küsste vorsichtig meine Wange.

"Mein Baby, ich bin so froh."

"Hey Mum."

"Wie geht es dir?"

"Seltsam."

"Das glaub ich. Ruh dich aus, damit du bald wieder zu Kräften kommst."

"Du bist schon lange hier, oder?"

"Natürlich, du bist mein Kind, ich kann dich doch nicht alleine lassen."

"Aber ich bin nicht dein einziges Kind."

Das war ein totaler Schuss ins Blaue. Aber anscheinend traf ich.

"Die Mädchen sind gut versorgt."

"Ich auch. Ich hab Xander. Du siehst wirklich erschöpft aus. Du solltest nach Hause fahren."

"Morgen vielleicht, aber heute noch nicht."

Aus irgendeinem Grund konnte ich vor ihr keine Schwäche zeigen. Ich übernahm mich total. Xander merkte das. Er versicherte meiner Mum, dass er sich gut um mich kümmern würde und schickte sie ins Motel zurück, um ihre Sachen zu packen.

"So und jetzt wird geschlafen, mein Schatz."

"Danke Xander."

"Kann ich in deinen Arm?"

"Solang ich dazu den Kopf nicht bewegen muss, geht alles, denk ich."

Als ich aufwachte, war es noch dunkel draußen. Eine Schwester kam und gab mir Pillen. Xander lag neben mir und schlief wie ein Murmeltier. Das war ansteckend. Die Sonne im Gesicht weckte mich und auch Xander regte sich.

"Morgen."

"Morgen."

"Darf ich dich küssen?"

"Wie lange hab ich nicht mehr Zähne geputzt?"

Er dachte kurz drüber nach und lachte los.

"Oh mein Gott, du hast recht. Ich will dich gar nicht küssen! Okay, du erinnerst dich vermutlich nicht mehr daran, aber ich hab dir schon kurz vor … den Schüssen gesagt, dass ich dich nicht mehr küsse, bevor du dir nicht die Zähne geputzt hast."

"Warum?"

"Weil du einem anderen Kerl einen geblasen hast."

"Das würde ich nicht tun."

"Oh doch, es kommt noch besser: Es war ein katholischer Priester."

"Nein?!"

"Doch."

"Und du bist deshalb nicht wütend auf mich?"

"Es hat nichts bedeutet. Warum sollte ich deshalb wütend auf dich sein?"

"Ich will nicht, dass du was mit Anderen hast."

"Ich weiß. Ich hab nichts mit Anderen."

"Aber …"

"Du ja eigentlich auch nicht. Das ist kompliziert. Ich geh und frag eine Schwester, ob du Zähne putzen darfst."

"Na gut."

Er kam mit einigen Utensilien und zwei Zahnbürsten zurück.

"Also, du sollst erst versuchen, einen Schluck zu trinken. Ganz vorsichtig. Schluck mal normal. … Das funktioniert ja scheinbar."

Er füllte etwas Wasser in einen kleinen Becher.

"Kannst du ihn selber halten?"

Ich versuchte es, aber es klappte nicht gut, deshalb hielt er ihn mir an die Lippen und ich nahm einen kleinen Schluck.

"Gut, das passt ja. Okay, willst du das mit der Zahnbürste selbst versuchen?"

"Okay."

Er legte mir ein Handtuch rum und richtete alles her. Ich hielt die Zahnbürste fest, er meinen Arm. Eigentlich hätte ich mich wegen meiner Hilflosigkeit geschämt, aber nicht vor Xander. Es ging so einigermaßen. Danach putzte er sich auch noch kurz die Zähne und räumte alles bei Seite.

"So also, dann frag ich noch mal: Darf ich dich küssen?"

"Ich bin schon neugierig. Ich kann mich nicht erinnern, schon mal einen Typen geküsst zu haben, außer mit 14 mal."

"Und Frauen?"

"Doch, ja …"

"Seltsam …"

"Küss mich endlich."

Er kam nicht etwa von der Seite, sondern er setzte sich auf mich, ohne tatsächlich sein Gewicht auf mich zu verlagern. Durch das hochgeklappte Bett saß ich fast aufrecht. Sein Gesicht war direkt vor meinem.

"Ich liebe dich, Jordan."

Er kam vorsichtig näher, ganz sachte berührten sich unsere Lippen. Ich öffnete den Mund und ließ seine Zunge rein. Er kannte mich offensichtlich. Das war nicht unser erster Kuss. Ich spürte sein Zungenpiercing. Er wusste damit umzugehen. Ich konnte mich an keinen besseren Kuss erinnern. Ich erschrak fast, als ich merkte, was sich in meiner Hose regte. Xander spürte es.

"Gut zu wissen, dass da unten auch noch alles funktioniert … Ich würde dir ja einen blasen, aber ich glaub, das wäre noch etwas viel für dich."

"Ich weiß das Angebot trotzdem zu schätzen …"

"Alles okay?"

"Es ist nur irgendwie seltsam. Alles fühlt sich so vertraut an, aber ich kann mich nicht erinnern …"

"Das kommt schon wieder und wenn nicht, schaffen wir einfach neue Erinnerungen. Hauptsache wir sind zusammen."

"Ich merke, wie viel ich dir bedeute und das ist wunderbar. Es tut mir wirklich leid, dass ich mich nicht erinnern kann …"

"Schon gut, es ist nicht deine Schuld."

"Ich mag dein Piercing. Ich hab gar nicht damit gerechnet, dass du eines hast."

"Ich hab die Anderen alle rausgenommen, als sie dir deine rausgenommen haben."

"Du hattest noch mehr? Du siehst nicht aus, wie jemand, der Piercings trägt …"

"Ich hab in letzter Zeit nicht viel Lust gehabt, mich um mein Äußeres zu sorgen. Die Haare mussten praktisch kurz sein, für schminken war keine Zeit und schwarz wollte ich irgendwie nicht mehr tragen, ich hatte Angst, das sei ein schlechtes Omen …"

"Nimm dir die Zeit ruhig. Ähm … hast du schminken gesagt?"

"Ja …"

"Okay, da bin ich gespannt."

Eine Schwester kam rein, Xander kletterte von mir runter, sie grinste.

"Frühstück. Heute gibt es vorerst keine Infusion."

"Toll, das sieht aus wie Babynahrung …"

"Das kommt daher, dass er Babynahrung ist. Kriegt ihr Zwei das hin?"

"Klar."

"Ich hab eigentlich nicht wirklich Appetit … ."

"Komm schon, wir versuchen es mal, hm?"

Die Schwester verschwand.

"Mann, ich hab echt Hunger. Ich hol mir nachher was aus der Kantine. Aber jetzt bekommst du erst mal deinen Babybrei."

"Du bist grausam."

"Das ist noch gar nichts. Iss lieber, sonst bekommst du meinen Zorn zu spüren."

Ich gab mich geschlagen und löffelte mit Xander's Hilfe das komische Zeug. Danach bekam ich noch einen Kuss und was zu trinken. Dann kam auch schon die Therapeutin.

"Wir versuchen heute mal eine halbe Stunde."

"Ich gehe mich solang duschen und umziehen. Dann komm ich wieder."

"Vergiss nicht was zu essen."

"Du hörst dich an wie meine Mutter."

Ich grinste noch, als Xander schon weg war.

"Wie lange seid ihr schon zusammen?"

"Acht Monate."

"Es wirkt länger. Er war immer hier. Zeitweise hab ich mir wirklich Sorgen um seine Gesundheit gemacht. Er ist kaum rausgegangen. Sie haben wirklich Glück, so Jemanden zu haben."

"Ich weiß."

Als die Therapie vorbei war und ich total erschöpft, kam auch noch die Visite. Die Ärzte stellten mir viele Fragen, von denen ich bei Weitem nicht alle beantworten konnte, und klopften ständig irgendwo an mir rum. Es machte ihnen etwas Sorgen, dass mein Kopf noch so unaushaltbar wehtat. Sie kündigten an, im Laufe der Woche noch ein paar Untersuchungen machen zu wollen. Ich vermisste Xander. Er wartete wohl schon vor der Tür, die Ärzte redeten draußen noch eine Weile mit ihm, bevor er herein kam.

"Warum reden die nicht mit mir?"

"Weil es darum ging, wie wir wegen deiner Gedächtnislücken vorgehen. Ob wir dir alles erzählen, oder drauf warten, dass es dir selbst wieder einfällt. Und ob du schon bereit bist für Besuch."

"Noch nicht. Ich brauch noch etwas Zeit mit dir alleine."

"Okay, kein Problem."

"Aber ich will wissen, was passiert ist."

"Das würde für dich doch gar keinen Sinn ergeben, bis du dich nicht wenigstens an die beteiligten Menschen erinnern kannst. Die Ärzte meinen, du sollst eine Art Biographie erstellen und die Lücken, die sich ergeben, erforschen, oder so einen Scheiß. Ich bin aber der Meinung, dass du erst mal einfach noch ein bisschen Frieden brauchst."

"Ich glaub, du hast recht. Ich will erst mal niemanden sehen. Kannst du das … du weißt schon, meiner Mum schonend beibringen?"

"Ich versuch's."


Sean

Xander blieb jetzt Tag und Nacht im Krankenhaus. Er bat mich, Josh zurückzubringen, bis sein Vater klarer war. Ich blieb also bis auf weiteres in L.A. und besuchte Vorlesungen. Alle paar Stunden rief ich an und ließ mir von Xander und Carol alles erzählen. Jordan hatte Erinnerungslücken. Er konnte sich nicht an Xander erinnern. Das machte dem natürlich zu schaffen.

Für einige Wochen wollte Jordan niemand Anderen sehen, nur ihn. Xander rief mich und Carol an und wir gaben alles an die Anderen weiter.


Jordan

Fast zwei Wochen dauerte es, bis ich die Erinnerungen nach und nach wiederfand, mir Namen in den Sinn kamen und Gesichter.

"Ich hab eine Tochter, oder?"

"Gwen."

"Wo ist sie?"

"In L.A., bei ihren Großeltern."

"Ich will zu ihr."

"Die Ärzte sagen, ein Transport wäre noch zu anstrengend."

"Ich will nach L.A.."

"Na gut, ich tu was ich kann."

Drei Tage später fuhr mich ein Krankenwagen nach L.A.. Ich versuchte zu schlafen. Mein Kopf tat höllisch weh. Ich war froh, nach drei Stunden in einem nicht wackelnden Krankenzimmer zu liegen. Xander war vorne drin mitgefahren. Jetzt lag er neben mir auf dem Bett und wir warteten auf den Oberarzt.

Am nächsten Tag wollte ich Gwen sehen. Xander holte sie ab. Sie war das süßeste Kind, das ich jemals gesehen hatte.

"Sie sieht Nikki sehr ähnlich."

"Du erinnerst dich an Nikki?"

"So langsam. Wo ist sie?"

"Das wissen wir nicht."

Die Kleine brabbelte vor sich hin und Xander spielte mit ihr Flugzeug.

"Ich hoffe, ich kann sie auch irgendwann wieder so rumwirbeln. Ich kann mich kaum bewegen, ohne dass es weh tut. Was soll ich denn den ganzen Tag machen?"

"Songs schreiben. Auf einem Keyboard vielleicht."

"Musik, ja, ich erinnere mich …"

"Da ist dieser Song den du geschrieben hast … dein Agent könnte ihn gerade gut verkaufen. Kannst du so eine Entscheidung gerade treffen?"

"Um was geht es in dem Song?"

"Um uns Beide"

"Dann triff du die Entscheidung."

"Es ist ein großartiger Deal und wir könnten die Kohle bestimmt gut gebrauchen …"

"Gut, dann soll er ihn verkaufen."

"Okay."

"Ich glaube, Gwen will wieder Flugzeug spielen."

Am nächsten Tag schleppte Xander tatsächlich ein kleines Keyboard an.

"Ich hab mit den Ärzten gesprochen, die finden es eine gute Idee. Und noch was …"

"Hm?"

"Ich weiß, wenn du deinen Kopf hebst, hast du Schmerzen, aber so versteift sich dein Nacken. Und es schaut auch etwas seltsam aus. Du sollst es üben."

"Hast du eine Ahnung, wie sich das anfühlt?"

"Nein. Ich wünschte, ich könnte dir was davon abnehmen, aber da musst du alleine durch. Aber ich bin bei dir. Und du bekommst eine professionelle Masseurin. Ist das nichts?"

Die nächsten beiden Tage waren schrecklich.

"Dagegen war der Heroinentzug ein Zuckerschlecken."

"Siehst du, schon wieder eine neue Erinnerung."

"Eine, die ich nicht zurückgebraucht hätte. Ich erinnere mich an noch etwas."

"An was denn?"

"Daran, wie es sich anfühlt, mit dir zu schlafen. Ich hab heute Nacht davon geträumt."

"Bald wirst du nicht mehr nur davon träumen …"

Ich musste zugeben, dass ich es langsam schaffte, den Schmerz auszublenden. Meine Mum hatte mir CDs mit Übungen dafür geschickt. 'Die Farbe des Schmerzes' und so Zeug. Vorsichtig den Kopf hin und her bewegen ging bald einigermaßen, aber nicken tat immer noch weh. Xander meinte, dass das kein Problem sei, da ich eh immer gegen alles war.

Der Juni verging, ich beschäftigte mich mit Musik hören und machen und Physiotherapie. Ich schaffte es, mich alleine aufzusetzen und mit Hilfe in einen Rollstuhl zu klettern. Nachts war Xander zu Hause und ich träumte viel. Langsam wurde es Zeit, zu erfahren, was passiert war. Zu diesem Zweck kam meine Mum aus Phoenix angeflogen. Zusammen erzählten Xander und sie mir, was sie wussten. Ich konnte mich langsam wieder erinnern, an die Kugel in der Brust und dass ich umgefallen war. Dieser Mistkerl hatte mir dann noch mal in den Kopf geschossen, total kaltblütig. Xander erzählte, was er erlebt hatte.

"Plötzlich hörten wir die Sirenen näher kommen und liefen vors Haus. Die Polizisten richteten sofort ihre Waffen auf uns und einige stürmten ins Haus deiner Großeltern. Kurz darauf kamen sie mit deinem Großvater in Handschellen wieder raus und Sanitäter rannten rein. Ich hörte über Funk, wie die Cops miteinander redeten. Irgendwas von einer Riesensauerei und jemandem mit grünen Haaren, der wiederbelebt wurde. Ich lief rüber, ein Cop hielt mich auf, ich sagte ihm, dass du mein Freund bist und er brachte mich hoch zu irgendeinem Detective, der mir irgendwelche dämlichen Fragen stellte. Sie wollten mich nicht zu dir lassen. Erst als du im Krankenwagen warst, schaute ich kurz in das Zimmer. Überall war Blut, eine Riesenlache, ich war mir sicher, dass du das nicht überlebt haben konntest. Erst da wurde mir klar, dass dein Großvater das getan hatte. Ich riss deiner Großmutter Gwen aus den Händen und ließ mich von einem Polizisten ins Krankenhaus fahren. Niemand sagte mir etwas. Nach einer Weile fiel mir ein, dass ich den Anderen Bescheid geben musste und ich rief Andy an. Und von da an hab ich nur noch gewartet. Darauf, ob du die Nacht überstehst, darauf, ob du die OP überstehst, darauf, ob du wieder aufwachst und darauf, ob du noch mein Jordan bist, wenn du aufwachst …"

"Es tut mir echt leid …"

"Es ist nicht deine Schuld."

"Ich hätte das mit dem Priester nicht machen sollen. Tut mir leid, dass du das mitbekommen hast, Mum …"

"Bei mir musst du dich deshalb nicht entschuldigen."

"Du hast recht. Xander … "

"Schon okay. Wir sollten langsam mal über Besuch reden. Viele Leute würden dich gerne sehen."

"Ich will das noch nicht."

"Dann lass uns mal rausfahren, mit dem Rollstuhl."

"Müssen wir das jetzt diskutieren?"

"Ich geh mir mal einen Kaffee holen …"

Mum verschwand.

"Jordan, ich mein es doch bloß gut mit dir. Du musst mal was anderes sehen, als dieses Zimmer."

"Warum?"

"Na gut, ich muss mal was anderes sehen."

"Dann geh doch raus."

"Ich will aber mit dir rausgehen."

"Xander, versteh mich doch. Ich will nicht, dass mich jemand so sieht."

"Das ist doch albern …"

"Mein Schädel ist kahl rasiert und von dieser tollen Narbe geziert, ich kann nicht alleine aufs Klo oder mich sonst wohin fortbewegen, ständig hab ich diese Kopfschmerzen …"

"Es gibt Menschen, die dich vermissen und die sich um dich sorgen. Ihnen ist egal, wie du aussiehst. Sie wollen dich einfach nur sehen."

"Lass uns klein anfangen. Morgen ist der 26. Ein dreiviertel Jahr. Lass uns das draußen feiern."

"Okay. Danke, Jordan."

"Ich erinnere mich an Josh. Ich kann mir vorstellen, dass er dir damit in den Ohren liegt, mich sehen zu wollen, aber ich brauche einfach noch ein bisschen …"

"Okay."


Sean

Jordan wollte unbedingt nach L.A. verlegt werden, was sicher keine schlechte Idee war. Kaum war er wieder dort, tauchte Nikki auf. Scott schaltete sich sofort ein, aber sie blieb hartnäckig und wollte Josh unbedingt sprechen. Jordan konnte sich immer noch an kaum etwas erinnern und wollte den ganzen Juni lang keinen Besuch außer Xander. Ich konnte das schon verstehen. Und ich musste mich ohnehin auf die Uni konzentrieren. Ich schaute regelmäßig in der Klinik vorbei, aber ging nicht zu Jordan. Ich warf nur immer mal wieder einen Blick in sein Krankenblatt und regelte die Sachen mit der Versicherung. Scott hatte vor ein paar Jahren scheinbar dafür gesorgt, dass Jordan eine ordentliche Krankenversicherung abschloss, deshalb war das eigentlich kein Problem. Carol hatte mittlerweile unterschrieben, dass Xander und ich alles für ihn regeln durften. Beth kam mich für ein paar Tage besuchen und verbrachte viel Zeit mit Maddy. Sie merkte auch, dass etwas zwischen Patricia und mir nicht stimmte und sprach mich drauf an.

"Ich hab gehört, dass sie in der Küche telefoniert hat und als ich rein kam, hat sie ohne Abschied einfach aufgelegt."

"Ja, das mit dem Vertuschen hat sie nicht wirklich drauf."

"Du meinst, sie hat eine Affäre?"

"Schon lange, ja."

"Und das stört dich nicht?"

"Nein. Diese Ehe existiert eh nur noch, bis wir mit dem Studium fertig sind und uns eine Scheidung leisten können. Ich bin schwul, weißt du noch?"

"Du siehst es also endlich ein?"

"Ja."

"Aus einem bestimmten Grund?"

"Er heißt Brian."

"Kann ich ihn kennenlernen?"

Brian war wegen Summerskin ziemlich im Stress. An Jordan kam ja keiner ran, deshalb wollten plötzlich alle seine Bandkollegen interviewen. Aber als ich ihm erzählte, dass meine Schwester ihn gerne kennenlernen würde, lud er uns sofort zu sich zum Essen ein. Die Beiden verstanden sich auf Anhieb und Beth sagte mir auf dem Heimweg, dass sie sich wirklich für mich freute.

Xander rief oft an oder kam mit Gwen vorbei, wenn er irgendwie Zeit hatte. Ihm wurde langsam alles zu viel, die Kinder, die Band, die ihr erstes Album produzieren wollte, das College. Er beschloss, ein Semester frei zu nehmen, woraufhin seine Eltern ihm Stress machten. Da wurde mir mal wieder bewusst, wie jung er noch war. Zudem hörte Josh nicht mehr auf ihn, was man deutlich auf den Einfluss seiner Mutter schieben konnte. Er machte wirklich Probleme, wurde auch in der Schule schlechter und machte abfällige Bemerkungen über Schwule. Neben all dem fuhr Xander auch noch jeden Tag für ein paar Stunden zu Jordan. Er erzählte oft, dass Jordan von einem Moment auf den anderen einschlief und ein paar Minuten später einfach wieder aufwachte und seine angefangenen Sätze beendete. Und er hatte keine Erinnerung mehr an die Zeit nach seinem ersten Entzug. Xander hatte Angst, Nikki würde irgendwann bei Jordan auftauchen und das ausnutzen. Dann tauchten auch noch Fotos von Jordan und Xander zusammen auf der Bühne auf, die die Gerüchteküche anheizten, was dem Management anscheinend nicht gefiel.


Jordan

Am nächsten Morgen kam nach dem Frühstück wie üblich erst mal eine Physiotherapeutin. Ich erzählte ihr von meinen Plänen, mit Xander auswärts zu essen und sie übte mit mir noch mal Rollstuhlfahren und Klamotten anziehen. Danach kam Xander, er hatte meine alte Gitarre dabei.

"Alles Gute zum dreiviertel–Jährigen."

"Danke, wünsch ich dir auch."

"Erkennst du sie?"

"Mum hat sie mir zum 11. Geburtstag geschenkt. Sie hat dafür bestimmt ein halbes Vermögen gezahlt …"

"Gut. Ich dachte, du willst es vielleicht mal versuchen."

"Ich weiß nicht … Ich schaffe es gerade mal, einen Löffel zu halten …"

"Dann versuchen wir es nachher zusammen. Aber jetzt wird erst mal geduscht, hm?"

Xander half mir in den Rollstuhl und fuhr mich rüber in die große Dusche. Wenn ich erst mal auf dem Klapp–Dusch–Stuhl saß, kam ich alleine klar. Inzwischen hingen keine Schläuche oder Sensoren oder Infusionen mehr an mir und diese Freiheit wusste ich sehr zu schätzen. Die Naht an meiner Brust war vernarbt, die Kruste war weg. Xander cremte mich jeden Tag mit einer Narbensalbe ein. Dank der Schmerzmittel spürte ich die zusammenwachsenden Rippen und das Brustbein kaum. Auf der Stirn, etwa einen Zentimeter unter dem Haaransatz, war die Kugel rein. Da hatte ich jetzt ein Loch im Schädel, das irgendwann vielleicht in einer weiteren OP geschlossen werden sollte. Die Haut darüber war mit nur zwei Stichen genäht worden, man sah eine kurze Narbe, welche Xander ebenfalls täglich eincremte. Richtig seltsam sah die Narbe von der OP aus, wo die Kugel raus geholt worden war. Sie war quadratisch, etwa acht auf acht Zentimeter groß und in der Nähe des Haarwirbels. Genau dort war das Zentrum der Schmerzen. Nachdem ich mich abgetrocknet hatte, half Xander mir aufs Klo und ließ mich alleine. Danach zog ich mir ein normales Shirt und Shorts an, die ich in dem neuen Kittel versteckt hatte. Dann rief ich Xander.

"Ich bin dann bereit für unseren Ausflug, naja, Jeans wären nicht schlecht."

"Wow. Du siehst gleich viel gesünder aus, wenn du nicht diesen seltsamen Kittel trägst. Wo wir gerade hier drinnen sind … glaubst du, du bist bereit für einen Blowjob?"

"Oh ja."

"Kannst du dich an frühere erinnern?"

"Ich hab festgestellt, dass ich mich bis zum Entzug eigentlich an alles erinnern kann. Erst danach wird alles irgendwie unklar."

"Vielleicht solltest du versuchen, von da ab alles aufzuschreiben, wie die Ärzte gemeint haben …"

"Ja, hab ich mir auch schon überlegt."

"Na gut, entspann dich und wenn es dir zu viel wird, sag gleich Bescheid."

"Okay …"

"Das war … Wahnsinn! Boah, jetzt hätte ich voll Bock auf nen Burger."

Xander stand auf und schaute mich irritiert an.

"Ähm …"

"Was denn?"

"Einen Burger? Mit Fleisch?"

"Und BBQ–Sauce, ja."

"Soll ich einen Arzt holen, oder so?"

"Warum?"

"Jordan, du bist Vegetarier."

"Oh nein, ich hab nur selten Bock auf Fleisch."

"Du hattest noch nie Bock auf Fleisch."

"Jetzt eben schon."

"Okay … Nebenan ist ein 'Denny's'. Ich kann die Ärzte fragen, ob wir zu Mittag da rüber dürfen."

"Cool."

"Ist echt alles okay?"

"Klar. Jetzt schau nicht so besorgt. Ich hab nach diesem fantastischen Blowjob einfach nur Bock auf einen Burger."

"Okay. Dann holen wir dir mal eine Hose. Gut dass Sean den Koffer vorbeigebracht hat. Erinnerst du dich an ihn?"

"Ich kann mich an Gesichter erinnern, aber nicht an Namen."

"In deinem Geldbeutel ist ein Foto von ihm."

"Warum das?"

"Weiß ich nicht, ich hab es entdeckt, als ich dein Zeug durchgesehen habe."

"Ich war kein so toller Freund, hm?"

"Ach, es ist nur ein Foto …"

"Komm her, mein Herz, setz dich."

Er setzte sich auf meinen Schoß.

"Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe, ein Foto von einem anderen Kerl mit mir rumzutragen, oder einem Priester einen zu blasen …"

"… oder mit Scott zu schlafen …"

"Mit wem?"

"Vergiss es …"

"Warum hab ich dich so schlecht behandelt? Bin ich echt so ein mieser Kerl?"

"Dann wäre ich nicht mit dir zusammen. Viele Menschen mögen dich und du bist einfach schlecht im nein sagen …"

"Ich liebe dich, Xander."

"Aber du erinnerst dich doch gar nicht …"

"Ich erinnere mich an alles, was du im letzten Monat für mich getan hast. Und dafür bin ich dir sehr dankbar."

"Hör auf, oder ich fang noch an zu heulen …"

Er gab mir einen Kuss auf die Wange und stand auf.

"So, jetzt aber raus an die frische Luft."

Wir holten mir noch eine Hose aus dem Zimmer und machten uns auf den Weg zum Krankenhauspark. Ich rollte so viel wie möglich selbst, bis mein Kopf zu sehr weh tat, dann übernahm Xander. Das Wetter war herrlich, wir suchen uns eine Bank im Halbschatten und Xander parkte mich daneben. Ich sog die frische Luft ein und streckte mich.

"Das war eine gute Idee."

"Ich sag doch, am Anfang bist du immer gegen Alles …"

"Du hast es nicht leicht mit mir, hm?"

"Das wäre ja auch langweilig."

Immer wieder spazierten (meist alte) Leute an uns vorbei, manchmal eilten auch Ärzte vorüber.

"Mum sagt, du hättest dich äußerlich sehr verändert …"

"Das stimmt wohl."

"Warum?"

"Früher hab ich viel Zeit drauf verwendet, das erscheint mir jetzt irgendwie albern."

"Kannst du es dir leisten, den ganzen Tag bei mir zu sein?"

"Die Kinder sind gut versorgt."

"Also wohnt Josh auch bei uns?"

"Ich dachte, daran kannst du dich erinnern?"

"Nicht so ganz. Gwen sah aus wie Nikki, an Nikki kann ich mich erinnern und damit auch an Josh als er drei war. Ich hab eins und eins zusammen gezählt."

"Sehr schlau."

"Nicht wahr? Er ist jetzt elf, oder?"

"Ja. Er ist schon 1,52. Wenn er so weiter wächst, dann spuckt er uns bald auf den Kopf."

"Wie alt bist du?"

"Wieso stellst du plötzlich so viele Fragen?

"Ich kann es eben nicht mehr erwarten, bis die Erinnerungen zurückkommen."

"Ich kann dir einen Laptop besorgen. Dann könntest du schauen, ob die Erinnerungen beim Schreiben zurückkommen …"

"Das dauert doch auch. Also, du bist definitiv ein Stück jünger als ich. Irgendwas Anfang 20?"

"Schätz mich lieber nicht zu alt."

"Na gut, dann tippe ich auf 21."

"Weil du denkst, dass das bestimmt nicht zu alt ist?"

Er fletschte die Zähne

"Oh oh. Du bist jünger als 21?"

"Ja. Und vor gar nicht allzu langer Zeit wurde ich auch noch viel jünger geschätzt."

"Ich würde gerne Fotos von dir sehen. Vielleicht hilft das meiner Erinnerung auf die Sprünge."

"Ich hab schon eine Schachtel mit Fotos in deinem Zimmer deponiert. Ich hab nur darauf gewartet, dass du danach fragst."

"Können wir sie hier draußen anschauen?"

"Klar. Ich hol sie. Kommst du alleine klar?"

"Natürlich."

Er stand auf und gab mir einen Kuss auf die Lippen. Ich erschrak, denn in dem Moment schlenderten gerade einige ältere Leute an uns vorbei und beäugten uns erstaunt.

"Bist du gerade zurückgeschreckt?"

"Es ist nur seltsam, in der Öffentlichkeit …"

Er setzte sich wieder hin und sah nicht gerade erfreut aus.

"Darüber sollten wir reden."

"Ich gewöhne mich immer noch an den Gedanken, schwul zu sein. Ich kann mich nicht mal erinnern, Gedanken in der Richtung gehabt zu haben, geschweige denn, sie auszuleben. Ich will niemanden aufzwingen, uns dabei zusehen zu müssen …"

"Was?! Du verarscht mich, oder?"

"Nein, ich meine … wir können uns doch in der Öffentlichkeit ein bisschen zurückhalten, das ist doch kein Problem …"

Er atmete tief durch und lehnte sich zurück, wie um sich zu strecken.

"Du hast recht. Kein Problem. Ich bin gleich wieder da."

Er stand auf und ging Richtung Tür, ohne sich noch mal umzudrehen. Irgendwas war seltsam

"Jordan?"

Ein junger, blonder Arzt im Kittel stand vor mir.

"Ja?"

"Ich bin's, Chris. Aus Phoenix."

"Tut mir leid, ich erinnere mich nicht …"

Ich sah, wie er die Narbe auf meinem Kopf musterte. Er setzte sich neben mich auf die Bank.

"Hat es was damit zu tun, dass du dich nicht erinnerst?"

"Vermutlich. Wenn wir uns nach 96 kennengelernt haben …"

"Ende 97."

"Dann liegt es daran."

"Ich hab gehört, was passiert ist, aber ich wusste nicht, dass du inzwischen in dieser Klinik bist."

"Kennen wir uns gut?"

"Nicht besonders. Ich hab mal deinen Arm eingegipst und dich heimgebracht. Danach haben wir noch ein paar mal telefoniert, wegen L.A., das war's."

"Woher weißt du dann, was passiert ist?"

"Kannst du dich an die letzten paar Jahre überhaupt nicht erinnern?"

"Wenn, dann nur sehr bruchstückhaft und ich weiß das bisschen, das Xander mir erzählt hat."

"Xander?"

"Er ist … mein Freund."

"Ah, okay. Warum sagst du das so zögerlich?"

"Ich hab mich wohl noch nicht so recht dran gewöhnt, dass ich mit nem Kerl zusammen bin."

"Das ist aber nichts Neues für dich. Aber ich will dich nicht durcheinander bringen."

"Ich wünschte, irgendwer würde mir mal irgendwas erzählen …"

"Hast du schon mal versucht, alles aufzuschreiben, der Reihe nach?"

"Den Tipp hab ich schon bekommen. Vielleicht sollte ich das mal tun …"

"Na gut, ich muss weiter. Darf ich mal bei dir vorbei schauen?"

"Klar."

"Gut, also dann."

Und schon war er wieder weg. Ich überlegte, mit wie vielen Kerlen ich wohl in den letzten acht Jahren zusammen gewesen war und beschloss, um einen Aids–Test zu bitten. Wenn ich ungefähr so viele gehabt hatte, wie zwischen 93 und 96 Frauen, dann war der Test mehr als nötig. Es war irgendwie, als hätte ich seit acht Jahren im Koma gelegen, weil ich von der ganzen Zeit kaum etwas wusste. Plötzlich war ich 26, Vater und schwul.

"Hey, worüber grübelst du denn nach?"

"Ach nichts weiter …"

"Na schön, also, ich hab alle gebeten, Fotos von sich zu schicken und hab auch die beiden Fotoalben von zu Hause dabei. Ich würde gerne chronologisch vorgehen. Und nicht zu viele auf einmal."

"Okay …"

Er machte den Deckel auf und nahm die obersten paar Fotos heraus.

"Das hat deine Mum geschickt. Das ist ein paar Monate vor deinem ersten Entzug."

"Du meinst, danach kamen noch mehr?"

"Nur einer, aber dazu kommen wir viel später."

"Ich schau ganz schön Scheiße aus. Da war Nikki wohl schon weg, hm? Danach wird alles ziemlich verschwommen, das liegt aber an den Drogen."

"Dann kam der Entzug."

"Ja, genau…"

"Was war danach?"

"Ich weiß nicht … Ich kam nach Hause, hab die Schule gewechselt, glaub ich."

"Kennst du sie?"

"Sie kommt mir bekannt vor … hübsch. War sie in meiner Klasse?"

"Ja. Das hier ist ein Foto von eurem Jahrgang. Erkennst du jemanden?"

"Ich weiß nicht, ein paar vielleicht."

"Erkennst du Sean?"

Ich ließ meinen Blick noch mal über die Reihen wandern.

"Nein …"

"Okay, nicht schlimm."

"Wer ist das?"

"Das ist Willie. Über ihn reden wir jetzt aber nicht."

"Warum nicht?"

"Vertrau mir."

"Na schön. Das kleine blonde Mädchen kommt mir bekannt vor."

"Ja, sie war in deinem Freundeskreis."

"Woher weißt du das?"

"Ich war mit dir auf einem Klassentreffen. Aber nicht alles durcheinander. Kannst du dich an sie erinnern?"

"Irgendwie … sie redet viel, glaub ich. Mein Kopf tut weh …"

"Dann hören wir besser auf …"

"Eins noch. Meine Mum hat einen neuen Kerl. Hast du ein Foto von ihm?"

"Ja, hier."

"Das ist ein Hochzeitsbild."

"Ja."

"Der Kerl ist okay, oder?"

"Ja."

"Er hat einen seltsamen Namen. Klaus."

"Sehr gut!"

"Ich hab keine Ahnung, woher die Info kam …"

"Das ist okay. So, genug für heute."

"Ich hab noch eine Frage …"

"Ja?"

"Denkst du, ich sollte einen Aids–Test machen?"

"Der letzte ist eine Weile her. Schaden kann es nicht."

"War ich oft unvorsichtig, was meinst du?"

"Nein. Du hast sogar darauf bestanden, dass wir Beide Gummis benutzen. Ich hab übrigens erst vor zwei Wochen einen gemacht. Negativ."

"Gut."

"Morgen früh wird dir eh wieder Blut abgenommen. Ich denke, du brauchst es bloß sagen …"

"Okay, mach ich."

"Willst du Musik hören?"

"Immer."

Nach einer Weile knurrte mein Magen.

"Was ist jetzt mit meinem Burger?"

"Das geht okay."

"Gut. Hast du schon Appetit? Ich nämlich schon."

"Ich bring noch die Fotos zurück und dann können wir rüber."

"Ich rolle schon mal Richtung Ausgang."

"Willst du nicht lieber hier warten?"

"Das Stück schaff ich auch alleine."

"Na gut, aber wenn du nicht mehr kannst …"

"Geh schon."

Es war wirklich nicht weit, aber als ich am Ausgang ankam, kam ich mir ganz toll vor. Die Kopfschmerzen ignorierte ich einfach. Kurz darauf kam auch schon Xander, gab der Empfangsdame einen Zettel und schob mich nach draußen, über den Parkplatz.

"Alles okay?"

"Ja–ha. Ich melde mich schon, wenn etwas nicht stimmt."

"Tut mir leid."

"Ach Xander, du machst dir doch bloß Sorgen um mich. Das braucht dir nicht leid tun. Mir tut es leid …"

"Siehst du, was soll ich denn jetzt machen? Normalerweise würde ich mich jetzt zu dir runter beugen und dir einen Kuss geben."

"Aber hier sind überall Leute …"

"Was kümmert uns denn, was die denken?!"

"Ich will nur nicht, dass sie mich für … du weißt schon … halten."

"Aber du bist doch schwul!"

"Das muss ich aber doch nicht jedem auf die Nase binden …"

"Du hast dich echt verändert."

"Wäre es dir lieber, wenn ich dich mit Anderen bescheiße, so wie dein alter Jordan?"

"Er … du. Du hast mich nicht wirklich beschissen. Du hast es mir ja danach erzählt. Außerdem sind wir ja nicht verheiratet oder so."

"Klar, dann ist das okay."

"Warum versuchst du, dich selbst so schlecht dastehen zu lassen?"

"Wenn ich mich zurückgehalten hätte, dann wäre das alles nicht passiert."

"Und wenn ich dich nicht überredet hätte, zu deiner Familie zu gehen, wäre das auch alles nicht passiert. Aber vor allem wäre es nicht passiert, wenn dein Großvater kein geisteskranker Irrer wäre, der auf seinen eigenen Enkel schießt, um die Familienehre zu bewahren! Also fang gar nicht erst mit dem 'Alles hätte anders laufen können'–Mist an. Ist es aber nicht und Ende! Jetzt müssen wir damit klar kommen und so eine Scheiße hilft dabei gar nichts. So und jetzt kannst du dir überlegen, ob du mit mir als Paar zum Burgeressen willst, oder du dich weiter für uns schämst und ich dich zurückbringe."

"Dann will ich zurück."

"Schön."

"Schön."

Wütend schob er einen Halbkreis und brachte mich zurück ins Zimmer. Er half mir noch ins Bett und meinte dann, dass ich ja gut versorgt sei und er erst mal etwas Abstand brauche. Dann war er weg und ich war alleine. Mir kam es so vor, als wäre lange angestaute Wut jetzt endlich aus ihm herausgebrochen. Ich saß in meinen Klamotten auf dem Bett und dachte nach, was ich jetzt tun sollte. Alles lag außerhalb meiner Reichweite. Alles außer der Fernbedienung. Warum lag die eigentlich hier? Ich hatte den Fernseher noch nie an gemacht. Die nächsten zwei Stunden stierte ich in das Teil, bis eine Schwester klopfte.

"Mr. Bonanno, sie haben Besuch. Ich weiß, sie wollen niemanden sehen, aber ich wollte noch mal nachfragen, um sicherzugehen."

"Eigentlich ist mir gerade tatsächlich nach Besuch …"

"Gut, dann schicke ich ihn herein."

Kurz darauf stand ein großer, blonder Typ in der Tür. Er trug schicke Klamotten und eine Laptop–Tasche. Ich fand ihn auf Anhieb irgendwie anziehend.


Sean

Irgendwann rief Xander mich total wütend an. Jordan hatte plötzlich eine ganz andere Einstellung zum Schwulsein in der Öffentlichkeit und damit konnte Xander gerade absolut nicht umgehen, darum bat er mich, bei Jordan vorbeischauen und auch gleich meinen Laptop mitzubringen, auf dem Jordan schreiben konnte, um seine Erinnerung endlich zurückzubekommen.

Es war seltsam in das Zimmer zu kommen und zu wissen, dass Jordan sich nicht mehr an mich erinnern können würde.


Jordan

"Hey …"

"Hallo …"

"Du erkennst mich nicht, oder?"

"Ich befürchte nicht …"

Er kam ein paar Schritte näher.

"Ich heiße Sean. Wir … haben eine gemeinsame Vergangenheit."

"Ich hab von dir gehört. Wir waren zusammen in der Schule."

"Ja, stimmt. Xander hat mich angerufen. Er hat mir erzählt, was passiert ist und dass er denkt, dass ich eine Weile bei dir bleiben sollte."

"Ihr Beide redet miteinander?"

"Klar, warum nicht?"

"Tut mir leid, ich muss dich das ganz direkt fragen. Wir hatten was miteinander, oder?"

"Ja … das hier ist seltsam. Wir hatten nicht einfach nur was miteinander. Wie soll ich dir das bloß erklären …? Also … Xander sagt, du kannst dich nach dem ersten Entzug an so gut wie nichts erinnern. Wir haben uns ziemlich bald danach kennengelernt. Du hast jetzt also die gleichen Erinnerungen im Kopf wie damals, als wir uns getroffen haben. Der Rest war damals ja noch nicht passiert. Das ist seltsam …"

"Ja … also bist du hier, um mir zu erzählen, was damals war?"

"Nein, ich bin hier, um dir zu helfen, dich zu erinnern. Ich hab meinen Laptop dabei. Ich will, dass du einfach mal anfängst zu schreiben."

"Ich weiß nicht, ob das was bringt …"

"Fang einfach mal an … Ich ergänze dann später, was mir dazu noch einfällt"

Er packte das Notebook aus und stellte es mir auf den Schoß.

"Also, woran erinnerst du dich?"

"Kann ich auch ein Stück weiter vorne anfangen?"

"Klar, wenn dir das leichter fällt."

Er zog sich einen Stuhl heran, während ich los tippte.

"Mal sehen, also … ich erinnere mich an mein Zimmer …"

Über einem kleinen Bett hingen Filmplakate an der Wand. Auf dem Bierkasten, der als Nachttisch fungierte, lagen Pillen verstreut. Daneben stand ein Terrarium, das von Rotlicht beleuchtet wurde. Ein kleiner Sessel war das einzige Möbelstück, das noch neu und unverziert war. Alles andere war beklebt mit Mottostickern, wobei es mehr schien, als würden sie den alten Schrank und das Regal neben dem Fenster zusammenhalten und nicht nur schmücken. Das Zimmer war nur mittelgroß und sah trotz der dunklen Möblierung und dem spärlichen Licht, das, neben dem Rotlicht, auch noch von ein paar Kerzen kam, die neben dem Bett am Boden standen, doch irgendwie einladend aus. In der Mitte des Raumes hing ein Boxsack und überall waren Hanteln verteilt, die schnell zu einer Stolperfalle für unerwünschte Besucher werden konnten. Das Parkett hatte schwarze Streifen, wie in einer Turnhalle. In der Ecke des Zimmers, wo der Schrank stand, war ein kleiner Fernseher. Es gab 2 Türen, eine zum Gang, eine in ein separates Bad.

Sean las es sich durch.

"Was war in dem Terrarium?"

"Eine Vogelspinne. Mum hat sie später verschenkt …"

"Das kann man ihr nicht verübeln. Willst du weiterschreiben? Wo bist du? Bist du im Zimmer?"

"Wie man's nimmt …"

Ich tippte weiter.

Um 3 Uhr morgens kamen von dort immer die einzigen Geräusche aus der Wohnung. Ein junger Mann in Lederjacke und Jeans hing über der Kloschüssel (das war ich) und der Raum erfüllte sich mit dem Geruch von Alkohol und Erbrochenem. Jemand rüttelte an der abgeschlossenen Zimmertür. Nach einer Weile drückte ich die Klospülung. Kaum hatte ich die Zimmertür aufgesperrt, fiel ich auch schon der Länge nach um und blieb zuckend am Boden liegen.

Ich fand mich im Krankenhaus wieder, zum 2. Mal in diesem Monat. Doch diesmal war es richtig schlimm. Ich wäre fast gestorben. Die Sanitäter hatten die Polizei verständigt. In meinem Zimmer waren verschiedenste "illegale Substanzen" gefunden worden, wie ein Cop mir mitteilte. Mein Drogenscreening wies ebenfalls die verschiedensten Wirkstoffe auf.

Meinen 19. Geburtstag feierte ich in einer Entzugsanstalt. Während der nächsten Monate wurde niemand von meinen Freunden zu mir gelassen. Und auch nicht meine Freundinnen. Weder Conny, noch Sandy oder Kicky und Nelly.

"Angeber. Und nach der Klinik?"

Er gab mir den Laptop wieder.

"Die Batterie ist fast leer …"

"Ich hab hier irgendwo das Ladegerät."

Nach 9 Monaten war ich nur noch dem Tabak und dem Koffein verfallen, was niemand mehr für bedenklich hielt. Und so kehrte ich zurück in das Zimmer, doch der Nachttisch war jetzt aus echtem Holz und die Pillen darauf waren verschwunden. Und auch sonst schien der Raum heller und gesünder. Das klapprige Regal mit den Stickern war durch ein neues aus hellem Holz ersetzt worden. Die Abteile waren fast leer. Kein Wunder, denn das Regal hatte in erster Linie als Lagerplatz gedient. Alles war durchsucht und die "illegalen Substanzen" entfernt worden. Der Raum wirkte jetzt freundlich, gepflegt, gesund. Alles sollte anders werden.

Da saß ich also jetzt, in einem fremden Zimmer, das einmal meins war. Ich fühlte mich, als hätte ich auch gleich noch einen neuen Körper mitbekommen. Kein Zittern, keine Kopfschmerzen, ich fühlte mich fast zu gut. Nächste Woche würde ich wieder zur Schule gehen. Neue Schule, selbe Stufe. Das Abschlussjahr. Kein idealer Zeitpunkt, um Freundschaften zu knüpfen ...

Ich wollte meiner Mutter zeigen, dass sich etwas geändert hatte, und sie zur Abwechslung mal stolz machen. Deshalb ging ich 5 mal die Woche in die Schule, kam gleich danach nach Hause, machte Hausaufgaben, lernte genug auf Klausuren um meine Vierer zu schreiben, und hielt mich aus jeder Form von Ärger raus. Meine alten Freunde hatten mich schon bald vergessen und meine neuen Klassenkameraden ächteten mich, oder ich sie. Zum Trost schenkte mir meine Mutter, die kaum 15 gewesen war als sie schwanger geworden war und mich allein aufgezogen hatte, eine Stereoanlage, die sie sich von ihrem Sekretärinnengehalt kaum hätte leisten können. So stellte sie mir Klaus vor, ihren neuen Freund (und Geldgeber, wie ich in Gedanken hinzufügte). Er sei Steuerberater in der Kanzlei, in der sie arbeitet.

"Sehr gut. Das ist schon ein Stück weiter, oder?"

"Ja. Ich erinnere mich, als ich dich das erste Mal gesehen habe. … Da dachte ich, dass du ungefähr genau das Gegenteil von mir bist. Klug und ehrgeizig, beliebt und mit einem hübschen Mädchen fest zusammen. Aber auch total langweilig."

"Soso. Willst du weiterschreiben? Ich hab was zu lernen dabei, dann kannst du den Laptop noch eine Weile benutzen …"

"Gern."

Ich schrieb und schrieb. Draußen wurde es dunkel. Es war so seltsam. Die Erinnerungen kamen meistens kurz bevor ich sie aufschrieb. Es war wie ein Buch lesen und es gleichzeitig abtippen. Ich schrieb bis an die Stelle, wo Sean und ich uns näher kamen. Ich konnte mich erinnern, was ich dabei empfand und wie verwirrt ich war. Im Endeffekt waren es die gleichen Gedanken wie im letzten Monat wegen Xander. Ich verstand Seans Reaktion schon. … Als ich so nachdachte, starrte ich ihn an. Er sah von seinem Buch auf.

"Was denn? Was schreibst du gerade?"

Er kam rüber.

"Zeig mal."

"Aber, nein, ich bin gerade …"

Er hatte sich schon neben mich gesetzt und fing an, den letzten Abschnitt laut vorzulesen.

"Ich spürte, wie sich meine Shorts spannten und zog ihm sein T–Shirt über den Kopf. Seine Haut war weich und hell. Feine blonde Härchen waren über seine Brust verteilt. Ich küsste jeden Quadratzentimeter seines Halses und schob meine Hand in …"

Er las leise weiter, wie gebannt. Bald griff er nach meiner Hand.

"Jordan, das ist wunderschön geschrieben."

Er schaute auf unsere Hände und sprang auf.

"Ich muss langsam los. Ich lass dir den Laptop da. Morgen Nachmittag hol ich ihn. Also. Wir sehen uns morgen … oh, mein Buch. Bye!"

"Bye."


Sean

An dem Tag hast du also angefangen, die Geschichte aufzuschreiben und ein paar Tage später hast du mich gebeten, im Groben meine Version zu schreiben. Immer, wenn ich wieder einen Teil von dir bekam, schrieb ich also dazu, wie ich das erlebt hatte.


Jordan

Ich konnte es kaum erwarten, weiterzuschreiben. Die Nachtschwester ermahnte mich, dass ich bei der Therapie um halb Neun fit sein musste, aber ich konnte einfach nicht aufhören. Endlich erinnerte ich mich. Morgens um Vier fand ich einen Abschnitt, an dem ich Schluss machen konnte.

Zum Frühstück um Acht wurde ich erbarmungslos geweckt und danach musste ich zum ersten Mal zur Therapie im Therapieraum. Eine Schwester holte mir lockere Klamotten aus dem Schrank und ich schaffte es irgendwie, mich alleine umzuziehen. Mit Stehen üben klappte es so gut wie gar nicht, deshalb machten wir Krafttraining. Sobald ich auf meinem Zimmer war, wurde der Laptop wieder aufgeklappt.

Irgendwann kam das Mittagessen. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie die Zeit vergangen war. Meine Finger rasten über die Tastatur, so schnell sie konnten. Das war bestimmt eine gute motorische Übung …

Mir fiel wieder ein, woher ich den jungen Arzt kannte, der mich in den nächsten Tagen besuchen wollte, Chris. Und, dass Mum unsere Wohnung aufgegeben hatte, um zu Klaus zu ziehen, weil sie schwanger war … und dass das in Seans Straße war. Um Vier klopfte es und er stand da.

"Hey, ich wollte schauen, wie das Schreiben läuft. Und das Erinnern."

"Fantastisch. Die Erinnerung kommt im Moment des Schreibens. Ich kann gar nicht mehr aufhören."

"Komm mit mir eine halbe Stunde raus, dann lass ich dir den Laptop noch einen Tag hier."

"Na schön. Aber ich brauche Hilfe, um in den Rollstuhl zu kommen …"

"Kein Problem."

"Du lebst hier in L.A., oder? Du bist nicht in die Firma deines Vaters eingestiegen. Hast du Medizin studiert?"

"Du findest es bestimmt bald selbst raus."

Er ließ mich den Arm um seine Schultern legen und half mir auf. Statt mir zu helfen, mich rüber in den Rollstuhl zu setzen, hielt er mich um die Hüften fest, wie die Physiotherapeutin.

"Leg die Arme um meinen Hals. Das kennst du doch schon."

"Das klappt aber noch nicht besonders gut."

"Es ginge besser, wenn ich dich unter den Armen halten könnte, aber …"

"… meine Rippen, ich weiß …"

"Aber das ist reine Übungssache. Okay, dann rüber mit dir in den Rollstuhl."

Er fing gar nicht erst an, mich zu schieben, sondern ließ mich selbst zum Aufzug rollen.

"Willst du dich nicht umdrehen?"

"Hier ist doch kein Platz …"

"Willst du rückwärts rausfahren? Versuch es doch mal. In ein paar Zügen klappt das schon."

"Das ist echt nervig."

"Gut, dann strengst du dich umso mehr an, aus dem Ding bald rauszukommen."

In der Empfangshalle war ich total außer Atem und mein Kopf tat weh.

"Brauchst du eine Pause?"

"Wäre es nicht einfacher, wenn du mich das letzte Stück schiebst?"

"Wieso? Wir haben es doch nicht eilig. Wir bleiben einfach kurz hier stehen."

"Oh Mann …"

Er grinste nur und setzte sich ein paar Meter weiter auf einen Plastikstuhl.

"Sag Bescheid, wenn du so weit bist."

Draußen parkte ich wieder neben einer Bank ein. Sean setzte sich drauf und schaute mich erstaunt an.

"Willst du dich nicht zu mir setzen?"

"Warum? Ich sitze doch schon."

"Ich dachte, du kannst das Teil nicht ausstehen?"

"Aber das ist so anstrengend. Und was, wenn ich mich nicht halten kann?"

"Dann frag mich, ob ich dir helfe."

"Na schön. Hilfst du mir bitte aus diesem Teil raus?"

"Gerne."

Natürlich konnte er es sich nicht verkneifen, wieder eine kleine Steh–Übung einzubauen.

"Wenn uns Jemand so sieht, denkt er, wir sind ein Paar."

"Und das stört dich?"

"Ich weiß auch nicht. … Kann ich mich erst mal wieder hinsetzen?"

"Kannst du nicht mehr?"

"Doch, aber sitzen ist bequemer …"

"Komm schon. Noch ein paar Sekunden. Tut dir dabei was weh?"

"Nein, es ist nur alles so starr."

"Je mehr du dich bewegst, umso besser wird es."

"Langsam wird es aber echt anstrengend."

"Na schön."

Er ließ mich vorsichtig auf die Bank hinunter.

"Ah, diese Armfreiheit!"

"Viel besser als in dem Teil, oder?"

"Ja, da hast du recht."

"Du könntest dich zum Schreiben auch in den Sessel in deinem Zimmer setzen. Du musst nicht immer im Bett liegen."

"Aber da brauch ich immer jemanden, der mir hilf."

"Dafür ist das Pflegepersonal doch da. Um dir zu helfen. Ich hab gesehen, deine Schmerzmittel sind recht hoch dosiert …"

"Also doch Medizin, hm?"

"Wer weiß. Also, hast du oft Schmerzen?"

"Wenn ich mich anstrenge, oder schnell bewege."

"Vielleicht sollte man langsam mal runter gehen. Ich will nicht, dass du am Ende einen harten Entzug durchstehen musst."

"Ich weiß nicht. Die Kopfschmerzen können ganz schön unangenehm werden."

"Bei Bedarf kannst du ja etwas dazubekommen. Aber generell sollte man sich langsam ausschleichen."

"Warum sind wir nicht mehr zusammen?"

"Du weißt, was ich darauf antworten werde."

"Ja, ich würde ja gern weiterschreiben …"

"Na dann machen wir uns mal auf den Rückweg."

"Hast du was von Xander gehört?"

"Klar, keine Sorge, er versteht dich schon, aber er braucht jetzt mal eine Pause. Er ist bei den Kindern. Das Pflegepersonal hat die Nummer, falls du was brauchst. Und ich bin ja auch da."

"Bisher war er immer da … es gibt ein paar Sachen, für die ich ihn brauche …"

"Du musst lernen, unabhängig zu werden. Und du musst lernen, falschen Stolz zu überwinden. Wenn du Hilfe brauchst, um ins Bad zu kommen, dann bitte eine Schwester, oder mich. Das ist doch ganz selbstverständlich."

"Das ist mir trotzdem peinlich …"

"Gibst du mir eine Chance, dir zu zeigen, wie es nicht peinlich ist?"

"Okay …"

"Also, es geht schon mal damit los, dass du deine Wäsche selbst aus dem Schrank holen können musst. Da oben kommst du nie im Leben dran. Das räumen wir alles nach unten. Hier ist doch überall genügend Platz. … Okay, und dann suchst du dir zusammen, was du brauchst. Ein extra Handtuch brauchst du und einen Beutel. Ah ja, so einen … Okay, haben wir alles?"

"Den Rasierer."

"Hängt der Spiegel drüben tief genug?"

"Ich glaube schon …"

"Gut. Du solltest übrigens um ein Zimmer mit eigenem Bad bitten, damit du dir Zeit lassen kannst."

"Geht das?"

"Klar, sobald eines frei wird."

"Das wäre schon gut. … Dann müsste ich mit dem ganzen Zeug auch nicht über den Gang."

"Ich kümmere mich drum, während du duschst."

"Gut, also, jetzt kommt ja erst der eigentliche peinliche Teil."

"Dann roll mal rüber."

"Okay. Das Bad ist eh dafür ausgelegt, dass Rollstuhlfahrer möglichst selbstständig duschen können. Die einzige Hürde ist, dass du aus dem Rollstuhl auf den Klappsitz kommen musst und wieder zurück. Das geht auch angezogen. Ein Bademantel wäre natürlich am praktischsten. Ich sag Xander, dass er dir einen besorgen soll. Also, die Handtücher und alles was du sonst noch brauchst, kommen in Griffweite. Dafür gibt es schließlich die Ablage hier. Du musst nur aufpassen, dass du nicht da rüber spritzt. Okay, ich helf dir rüber … so. Und ich drehe draußen das Besetzt–Zeichen hin, damit keiner rein kommt. Du legst deine Klamotten in Griffweite auf die Ablage und duschst dich, trocknest dich ab und mit dem Extra–Handtuch machst du den Stuhl trocken. Dann kannst du dich wieder anziehen und auf den Knopf da drücken, dann kommt jemand, also heute noch ich, und hilft dir wieder in den Rollstuhl. Wenn du alles gut vorausplanst, hast du also kein Problem. Und danach können wir das Gleiche mit der Toilette machen. Alles klar?"

"Ich denke schon …"

"Also, drück einfach den Knopf, ich bin eh da vorne."

"Okay …"

Er ging vor mir in die Hocke.

"Ich bin froh, dass es dir wieder so gut geht. Ich weiß, es ist anstrengend, aber es wird leichter werden. Wir sehen uns nachher."

Er legte kurz die Hand an meine Wange und ging dann raus.

Es dauerte zwar ewig, aber alles klappte so wie er es gesagt hatte. Als das Abendessen kam, verabschiedete sich Sean und danach schrieb ich wieder bis zwei Uhr nachts. Sean hatte gerade mit seiner Freundin Schluss gemacht und allen von uns erzählt.

Nach der Therapie und der anschließenden Visite schrieb ich noch eine Stunde, bis das Mittagessen kam. Ja, Summer. Wie hatte ich nur Summer vergessen können? Ich sah sie deutlich vor mir, wie sie sich einfach so an meinen Tisch gesetzt und auf mich eingeredet hatte. Ich stopfte das Essen in Rekordtempo in mich hinein. Wenn ich gewusst hätte, was als nächstes kam, hätte ich es nicht so eilig gehabt, mich zu erinnern. Erst die Diskussion mit Mum über meinen Vater und dann Willie. Die Erinnerung brach geradezu über mich herein, ob ich es wollte oder nicht. Ich legte den Laptop bei Seite und verkroch mich unter meiner Bettdecke. Natürlich klopfte es. Ich reagierte einfach nicht, es klopfte noch mal, dann hörte ich, dass die Tür aufging. Jemand setzte sich zu mir ans Bett.

"Schatz?"

Ich war so froh, Xander's Stimme zu hören. Ich hob die Decke für ihn und er kroch zu mir.

"Was ist los?"

"Eine schlechte Erinnerung …"

"Welche?"

"Weißt du das von Willie?"

"Ja. Mein armer Schatz."

"Ich konnte es nicht mal aufschreiben …"

"Dann lass es weg."

"Dann ist ein Loch in der Geschichte."

"Du kannst es ja später dazuschreiben."

"Ja, vielleicht …"

"Ich hab dir was mitgebracht."

"Was denn?"

"Einen Bademantel und einen eigenen Laptop."

"Echt jetzt? Können wir uns das leisten?"

"Ja. Scott hat den Song–Deal abgeschlossen, von dem ich dir erzählt habe und du hast einen Batzen Geld bekommen und Gewinnbeteiligung natürlich."

"Cool."

"Können wir jetzt unter der Decke raus kommen?"

"Zuvor will ich mich noch bei dir entschuldigen …"

"Wie kommt's?"

"Ich war du und Sean war ich, oder so …"

"Ja, ich weiß."

"Ich hab mich damals ziemlich mies gefühlt."

"Kann ich verstehen …"

"Ich glaube, es hat auch was damit zu tun, dass ich weiß, dass mein Großvater nicht auf mich geschossen hätte, wenn er nicht gewusst hätte, dass ich auf Kerle stehe."

"Fang nicht schon wieder damit an."

"Ich weiß ja … ich geb mir Mühe, okay?"

"Okay … vermutlich ist das, wie alles andere, Übungssache. Lass uns den Laptop konfigurieren …"

Zwei Stunden später kam Sean vorbei. Zu meiner Überraschung begrüßten die Beiden sich mit einer Umarmung.

"Ich sehe, du hast keine Verwendung mehr für meinen Laptop. Deiner ist eh viel toller."

"Ich will ja erst mal nur drauf schreiben …"

"Wir können gerne tauschen."

"Nein, nein."

"Morgen bekommst du ein Zimmer mit Bad, im Erdgeschoss. Dann hast du es auch nicht weit zu den Therapieräumen."

"Perfekt, danke."

"Xander … ich soll dir das hier geben."

"Ah, gut."

Er gab ihm einen Briefumschlag.

"Warum seid ihr so geheimnistuerisch?"

"Ich glaub, wir lassen dich jetzt mal weiterschreiben …"

"Du wolltest doch das, was ich schreibe, ergänzen. Ich hab dir eine Kopie auf dem Desktop gelassen."

"Okay, ich bin gespannt."

Sean ging und kurz darauf verabschiedete sich auch Xander.

"Bekomm ich keinen Kuss?", musste ich fragen.

"Ich war mir nicht sicher, ob du das willst. In deinem Kopf geht bestimmt gerade viel vor."

"Du bist immer viel zu verständnisvoll …"

Er kam zurück ans Bett und gab mir einen Kuss.

"Ich kann morgen übrigens nicht kommen, es sei denn, ich darf Gwen mitbringen."

"Dann bring sie mit."

"Dann komm ich vormittags."

"Okay."

"Bis morgen, mein Schatz."

"Bis morgen."

Danach schrieb ich auf meinem Laptop. Weihnachten mit den Bonannos. Ich schrieb nur ab und an weiter, denn mittlerweile kamen die Erinnerungen viel schneller zurück, als ich tippen konnte. Laura und auch die Erinnerungen an das Ende der Beziehung mit Sean. Irgendwie wollte ich die Geschichte trotzdem weiter aufschreiben, zwang mich aber gegen Eins zu schlafen, um für die Therapie und den Umzug ins neue Zimmer fit zu sein.

Das war auch alles anstrengend genug. Ich konnte mich beim Umräumen nützlich machen, indem ich Gwen beschäftigte. Sie nannte mich Daddy, da war es um mich geschehen. Ich sagte Xander, er solle sie mitbringen, sooft er konnte.

Ich schrieb in jeder freien Minute meine Geschichte weiter. Bald kam ich zu Vince und Xander fragte mich, ob ich ihn sehen wollte.

"Klar, wenn er will …"

"Machst du Witze? Er liegt mir schon damit in den Ohren, seit du aufgewacht bist und ruft fast jeden Tag an. Wenn ich es ihm sage, ist er noch die Woche hier."

"Na gut, dann …"

Mittlerweile hatte ich erkannt, dass eigentlich alle Erinnerungen irgendwo da waren, aber das wusste ich nicht, bis ich sie einmal abrief. Dazu war das Schreiben gut, aber auch das Erzählen von alten Geschichten, wie ich es mit Sean und am Telefon mit Mum tat. Außerdem hatte ich mir die Fotobox und die beiden Alben angeschaut.

Und dann kam Vince. Ich saß gerade im Schneidersitz (dazu hatte ich einige Minuten gebraucht) mit dem Laptop auf dem Bett, als er klopfte und vorsichtig den Kopf zur Tür reinsteckte.

"Hey Vince."

Ich sah genau, was in seinem Kopf vorging. Xander hatte ihn bestimmt gewarnt, dass ich ihn wohl nicht erkennen würde. Er kam rüber, ich stellte den Laptop bei Seite. Dicht neben dem Bett blieb er stehen. Er wusste offensichtlich nicht, wie er mich begrüßen sollte, setzte sich erst mal aufs Bett und starrte mich an.

"Du siehst gut aus."

"Du lügst."

"Nein, wirklich. Hast du Schmerzen?"

"Meistens nicht."

"Muss ich auf irgendwas achten, wenn ich dich umarme?"

"Meine Rippen sind noch nicht ganz okay."

Er umarmte mich ganz vorsichtig und küsste mich auf die Wange. Danach nahm er meine Hände in seine.

"Ich hatte solche Angst. Wenn du gestorben wärst ... als wir uns das letzte Mal gesehen haben, hatten wir einen Streit."

"Wegen Scott. Du warst im Recht."

"Trotzdem. Ich hätte mich nicht einmischen sollen. Oder ich hätte vernünftig mit dir reden sollen …"

"Lass uns von was anderem reden. Wie geht es Summer?"

"Sie hat eine Ausrede, um sich ständig neue Klamotten zu kaufen, das findet sie toll. Sie würde dich auch gerne besuchen …"

"Vielleicht ruf ich sie bald an."

"Das würde sie sicher freuen."

Er hielt immer noch meine Hände.

"Xander hat gesagt, ich soll dich dazu bringen, mit raus zu kommen …"

"Na schön …"

"Ich helfe dir in den Rollstuhl …"

"Das schaff ich jetzt einigermaßen alleine."

"Okay."

Ich brauchte dazu zwar gute zwei Minuten und machte dabei bestimmt keine gute Figur, aber ich hatte es in der Therapie oft genug geübt, um es zu schaffen. Ich konnte an Vinces Gesicht ablesen, dass es ihm zu schaffen machte, mich so zu sehen.

"Keine Sorge, Vince. Ich werde jeden Tag besser."

"Tut mir leid …"

"Schon okay."

Draußen unterhielten wir uns über alles Mögliche. Ich konnte mich tatsächlich an vieles erinnern. Irgendwann wurde er ernst.

"Glaubst du nicht, es ist an der Zeit, dass Josh dich mal besuchen kommt?"

"Ich will ihm das nicht zumuten …"

"Denk noch mal drüber nach. Er vermisst dich und er versteht nicht, warum er dich nicht sehen darf. Das macht ihm Angst. Ich meine, das hat sogar mir Angst gemacht. Ich war erstaunt, wie normal du aussiehst. Es sind bloß die Haare und die Narbe. Und deine Beine eben … aber du musst vor ihm ja nicht aufstehen."

"Warum ist dir das so wichtig?"

"Na weil er eben deswegen enttäuscht ist. Gwen darf ja auch zu dir."

"Das ist was anderes."

"Ich weiß das, aber Josh nicht. Er denkt, es ist, weil er nicht dein richtiger Sohn ist."

"Das ist doch Schwachsinn!"

"Hör auf meinen Rat und lass ihn dich bald besuchen kommen. Das wird bei ihm den geringeren psychischen Schaden hinterlassen …"

"Geht es nicht auch irgendwie ohne psychischen Schaden für ihn?"

"Nein. Du hast über einen Monat im Koma gelegen …"

"Ich bin so wütend auf die Bonannos."

"Nicht nur auf deinen Großvater?"

"Ich bin mir nicht sicher, ob mein Vater damit vielleicht auch etwas zu tun hatte …"

"Was? Wie kommst du darauf?"

"Er hat mich rüber geschickt … und dann war da noch was, das mein Großvater gesagt hat …"

"Hast du das schon jemandem erzählt?"

"Nein, ich erinnere mich ja noch nicht so lang wieder dran."

"Du solltest das jemandem sagen."

"Das ist ja nur so ein Gefühl und ich meine, wenn er nichts damit zu tun hatte, warum meldet er sich dann nicht?"

"Vielleicht solltest du das Xander fragen …"

"Was denn? Jetzt sag schon."

"Dein Dad ist im Gefängnis."

"Also hatte er doch was damit zu tun?"

"Nicht deswegen. Steuerhinterziehung. Es wird immer noch ermittelt, weil die Firma wohl dazu benutzt wurde, Blutgeld zu waschen. Es ist die Rede von organisiertem Verbrechen …"

"Du meinst Mafia? Die Bonannos?"

"Naja, das stand wohl schon länger im Raum. Dadurch, dass dein Großvater den Fehler gemacht hat, in seinem eigenen Haus auf dich zu schießen, konnte es durchsucht und einiges Zeug gefunden werden. Ich weiß auch nicht so genau Bescheid. Red mit Xander."

"Okay …"

"Und mach bald deine Aussage, wenn du dich jetzt wieder erinnerst."

"Okay …"

Das war durchaus ein ganz schöner Brocken zu schlucken.

Bald darauf kam Xander. Er war jetzt zwei Tage nicht hier gewesen. Zwei ereignisreiche Tage, zumindest in meinem Kopf. Viel war zurückgekommen und er war jetzt kein Fremder mehr. Vince machte sich auf den Weg zu Scott und würde am nächsten Tag noch mal vorbei schauen und Xander und ich gingen zurück in mein Zimmer. Er wollte mir, wie immer, aus dem Rollstuhl helfen.

"Warte mal."

"Was machst du? Du …"

Er war sprachlos. Als ich auf dem Bett saß, fiel er mir, ausgelassen wie schon lange nicht mehr, in den Arm.

"Das ist fantastisch. Kaum komme ich mal zwei Tage nicht vorbei …"

"Ja, wo warst du eigentlich?"

"Ach, ich hatte so viel zu erledigen …"

"Verheimlichst du mir irgendwas?"

"Wenn, dann würde ich es dir vermutlich nicht auf die Nase binden, oder?"

"Hm. Wie geht es Josh?"

"Er hält sich ganz gut, aber er vermisst dich."

"Und mein Dad ist im Gefängnis, hm? Warum hast du mir das nicht erzählt?"

"Was hätte das gebracht?"

"Ich glaube, ich bin bereit, meine Aussage zu machen."

"Du erinnerst dich daran, was passiert ist?"

"Ja und ich sollte es jemandem von der Polizei erzählen. Was ist mit Renzo?"

"Was soll mit ihm sein?"

"Geht's ihm gut?"

"Keine Ahnung."

"Hat er nicht nach mir gefragt?"

"Seit San Diego nicht mehr, nein."

"Ich würde gern mit ihm reden. Und mit Milo."

"Was? Wozu das denn?"

"Ich will sichergehen, dass es ihnen gut geht. Renzo hat sich immerhin vor allen geoutet und Milo … naja, kaum verheiratet, schon bricht das Chaos los."

"Ich halte das für keine gute Idee. Jetzt mach erst mal deine Aussage und dann sehen wir weiter."

Schon am nächsten Vormittag, nach der Therapie, wartete ein Polizist auf mich.

"Detective Morgan. Ich bin hier, um ihre Aussage aufzunehmen."

"Ah, okay … das ging ja schnell. Na dann …"

Ich hievte mich aufs Bett, was er teilnahmslos mit anschaute.

"Also, Mr. Bonanno. Am Nachmittag des 28.4., was ist da passiert?"

"Wo soll ich denn anfangen?"

"Wann kamen sie zum Haus der Bonannos?"

"Kurz vor Zwölf."

"Dann fangen sie am besten da an."

Ich erzählte ihm etwa eine halbe Stunde lang, was passiert war. Ich wusste von Mum und Xander, dass er ohnehin schon von dem Priester wusste. Das einzig Neue, was ich ihm erzählen konnte, war, dass mein Vater mich zu meinem Großvater geschickt hatte. Den Teil mit dem 'So was muss immer ich für deinen Vater erledigen.' kannte die Polizei natürlich, aber das alleine hatte nicht gereicht, um ihm etwas vorzuwerfen. Mein Großvater verweigerte ohnehin jede Aussage.

"War das alles, woran sie sich erinnern?"

"Ja."

"Na gut. Dann hab ich noch ein paar Fragen an sie."

"Ehm, okay …"

"Wie sehr waren sie in die Firma involviert?"

"Gar nicht. Ich kann mich erinnern, dass mein Vater mir mal sein Büro gezeigt hat, als ich noch ein Kind war. Und dieses schreckliche Fließband, wo das Fleisch zerlegt wird. Da war ich aber noch sehr klein. Seitdem hab ich die Firma nicht mehr von innen gesehen."

"Sie kannten sicherlich den Ruf ihrer Familie, wussten sie auch von ihren Machenschaften?"

"Nein! Natürlich nicht! Und die Gerüchte kannte ich auch nicht. Ich hab erst kürzlich erfahren, dass schon länger gegen sie ermittelt wurde. Ich bin nicht in San Diego aufgewachsen. Wie hätte ich das mitbekommen sollen?"

"Na schön. Und sie sind schwul?"

"Was genau tut das denn zur Sache?"

"Wir wollen das Motiv darlegen können. Seit wann wusste ihr Großvater das?"

"Weihnachten 97. Da hatte ich die Familie das letzte Mal gesehen."

"Und wie hat er darauf reagiert?"

"Gar nicht. Er hat mich ignoriert, wie immer."

"Sind sie bereit dazu, das alles auch vor Gericht auszusagen?"

"Natürlich."

"Gut. Der Prozess beginnt am 12. Juli."

"Das ist ja nächste Woche!"

"Ja. Es hat etwas länger gedauert, die Verlegung des Prozesses hier nach L.A. durchzubekommen. Aber in San Diego haben die Bonannos einfach zu viel Einfluss."

"Sehe ich dann die ganze Familie?"

"Ihren Großvater in jedem Fall. Wer sonst noch zuhört, kann ich nicht sagen. Ich nehme an, dass sie für Mittwoch geladen werden."

"Muss ich dann vor all den Leuten über den Priester sprechen?"

"Nein, ich denke, das können sie vor den Anwälten und der Richterin im Richterzimmer aussagen. Die Medien sind sehr interessiert an diesem Fall, wir wollen ihren Ruf ja nicht noch mehr schädigen …"

"Was meinen sie damit?"

"Verfolgen sie die Berichte über den Fall nicht?"

"Ich bin hier ziemlich abgeschottet …"

"Sie sind ein Bonanno. Sie gelten als Mitglied."

"Das ist doch Schwachsinn! Warum hätte mein Großvater dann auf mich schießen sollen?"

"So was kommt vor. Vielleicht haben sie einen Job nicht richtig erledigt, sich mit den falschen Leuten angelegt, etwas ausgeplaudert …"

"Das stimmt doch alles nicht!"

"Nun, bisher hat den Medien noch niemand den Grund gesagt, warum ihr Großvater tatsächlich auf sie geschossen hat. Ich weiß auch nicht, ob das klug wäre."

"Ich will aber auf keinen Fall, dass die Leute denken, ich würde zu denen gehören …"

"Tja, sie werden wohl bald ein paar Interviews geben müssen. So, sie werden in den nächsten Tagen eine Vorladung bekommen. Wir sehen uns dann höchstwahrscheinlich am Mittwoch."

"Okay. Wiedersehen."

Später kam Vince wieder vorbei, und auch Sean, der mir seine Version unserer Geschichte brachte und sich kopierte, was ich bisher geschrieben hatte. Dann war er auch schon wieder verschwunden.

Am Abend kam Xander ziemlich gestresst zu mir.

"Was ist denn los?"

"Was? Nichts …"

"Du musst nicht alles von mir fernhalten."

"Ich will auch einfach nicht drüber reden."

"Komm her, setz dich zu mir."

Ich zog ihn vor mich, legte ein Bein links und ein Bein rechts von ihm ab, und massierte seinen Rücken. Er war total verspannt, wurde aber immer lockerer und fing an, leise zu summen. Ich zog ihn näher, er lehnte sich an mich und ich fing an, seinen Nacken zu küssen. Ich spürte, wie die Anspannung von ihm abfiel. Er drehte seinen Kopf zu mir und ich küsste ihn. Meine Hände wanderten unter sein Shirt. Das erinnerte mich an unseren ersten Kuss. Ich wusste auch wieder, wie es damals weitergegangen war.

"Ich will mit dir schlafen."

"Das geht hier doch nicht, Jordan …"

"Warum nicht? Klemm einen Stuhl vor die Tür …"

"Deine Rippen, wie stellst du dir das vor?"

"Lass uns einfach mal sehen, wie es funktioniert …"

"Ich hab keine Gummis."

"Mein Test war negativ und deiner auch."

"Trotzdem … es ist noch zu früh. Ich will dir nicht wehtun."

"Och Mann …"

"Massierst du mich jetzt nicht mehr weiter?"

"Doch, gern … Xander, ich erinnere mich wieder an uns Beide."

"Wirklich? An alles?"

"Ich glaub schon. Warum hast du dein Aussehen verändert?"

"Hab ich doch schon gesagt. Ich will keine Zeit mehr damit verschwenden."

"Aber das war ein großer Teil von dir."

"Ich fühl mich jetzt eben anders. Gefall ich dir nicht mehr?"

"Schwachsinn, du bist bildhübsch, ich versteh es nur nicht …"

"Es ist auch schwer zu erklären …"

"Na gut. Aber versprich mir, dass du dir die Zeit nimmst, wenn du dich mal wieder danach fühlst."

"Versprochen."

"Kann Josh morgen kommen?"

"Klar. Ich kann ihn gegen Vier herbringen."

"Das wäre toll."

"Ich glaube, das ist die richtige Entscheidung."

"Warum hast du das vorher nicht gesagt?"

"Weil ich dich zu nichts drängen wollte."

"Ich will alles wissen."

"Ach, Jordan … was würde das bringen? Von hier aus kannst du eh nichts tun."

"Ich liege doch nicht mehr im Koma!"

"Bitte, Schatz, ich will heute nicht streiten … und um dir von allem, was so vor sich geht zu erzählen, brauch ich eh einen ganzen Tag. Lass uns damit nicht heute anfangen …"

"Okay … ich will doch nur nicht ausgeschlossen werden …"

"Ich weiß …"

Ich machte seine Hose auf und steckte meine Hand hinein.

"Und ich will mit dir schlafen …"

"Mhm … aber das … aaaah … das geht hier nicht …"

Ich wusste natürlich, dass es gemein war, aufzuhören, kurz bevor er kam. Aber ich wollte nun mal wirklich mit ihm schlafen.

"Wenn du mehr willst, musst du mich schon ficken …"

"Das ist unfair …"

Trotzdem drehte er sich zu mir um und zog mir die Jogginghose aus.

"Ich beeil mich."

"Tu das nicht."

Als wir uns zehn Minute später wieder anzogen, schaute Xander mich besorgt an.

"War es wirklich okay?"

"Hast du nicht gemerkt, dass ich gekommen bin?"

"Das mein ich nicht. Hattest du Schmerzen?"

"Kaum."

"Wo denn?"

"Ach vergiss es, nicht der Rede wert. Da tut die Physiotherapie bedeutend mehr weh."

"Wie du mich dazu gebracht hast, war echt nicht fair."

"Ich weiß, tut mir leid."

"Ich muss langsam los, Gwen ins Bett bringen …"

"Bist du sauer?"

"Nein. Ich fand es ja auch toll. Ich muss jetzt nur leider echt los."

"Okay …"

"Ich liebe dich, Jordan und ich liebe es, mit dir zu schlafen."

"Dito."

Er gab mir einen Kuss auf die Nase.

"Bis morgen gegen Vier."

"Ja, bis morgen."

Fünf Minuten nachdem er gegangen war, kam die Nachtschwester mit einem breiten Grinsen rein. Sie war etwa in meinem Alter, recht hübsch und hatte sich schon oft länger mit mir unterhalten.

"Na, wie geht es ihnen heute Abend?"

"Sehr gut, danke."

"Ja, das kann ich mir denken."

"Ehm …"

"Keine Sorge, niemand sonst hat was mitbekommen …"

"Gut."

"Ich wollte vor einer viertel Stunde die Pillen bringen, hab aber gar nicht erst angeklopft."

"Waren wir so laut?"

"Naja, die Türen sind auch recht dünn …"

"Oh … tut mir leid …"

"Schon gut. So was kommt öfter vor als man denkt …"

"Wirklich?"

"Ja, dadurch, dass das Physiotherapiezentrum angegliedert ist, bleiben die Leute zum Teil recht lange hier. Ich höre sie übrigens auch öfter singen. Sie sind gut."

"Ich bin Musiker …"

"Ja, ich weiß. Wie steht es mit den Erinnerungen?"

"Ich hab das Gefühl, ich kann mich an alles erinnern, hab mich aber noch nicht an alles erinnert. Macht das Sinn?"

"Durchaus. Das sagen viele Patienten. Sie schreiben ja auch fleißig, oder?"

"Ja natürlich. Ich glaube, ich hab schon über 200 Seiten."

"Nicht schlecht. Also, ihre Pillen."

"Danke. Zum Wohl."

Ich kippte sie runter und trank einen Schluck Wasser nach.

"Sie kennen Sean, richtig?"

"Sicher, er holt sich immer ihren Behandlungsplan und kümmert sich um die Versicherungssachen."

"Hatte er mal einen Brian dabei?"

"Rotblonde Haare, starke Oberarme? Den hat er oft dabei, wenn er nur kurz vorbei schaut. Er wartet dann immer im Flur."

"Ich würde gerne mit ihm reden, wenn er das nächste Mal dabei ist."

"Warum sagen sie das nicht Sean?"

"Sean und Xander sind etwas überfürsorglich …"

"Na gut, ich sag es ihm, wenn ich ihn sehe und gebe es auch an die Kollegen weiter."

"Danke."


Sean

In den Medien wurde immer mehr Mist über Jordan verbreitet. Zum Beispiel, dass er nicht nur über alles Bescheid gewusst hatte, was seine Familie so trieb, sondern auch aktiv daran teilgenommen hatte.

Josh wurde immer schwieriger, aber Jordan wollte ihn noch nicht sehen, woraufhin sich der Junge mehr und mehr seiner Mutter zuwandte. Als Vince zu Besuch kam, redete er mit ihm. Danach überzeugte er Jordan, ihn doch zu sich kommen zu lassen. Xander war währenddessen bei seinen Eltern, um ihnen zu erklären, dass er keineswegs vorhatte, sein Studium abzubrechen, sondern nur ein Semester zu verlängern. Sie wollten einfach nicht verstehen, dass es nicht anders ging und erzählten ihm, dass er den Kindern gegenüber genauso wenig Pflichten wie Rechte hatte. Frustriert kam er zurück.

Eine Woche vor Prozessbeginn kamen Jordans Erinnerungen an die Schüsse endlich zurück und er machte seine Aussage bei der Polizei.


Jordan

Am nächsten Tag war ich zu nervös zum Schreiben und übte lieber auf der Gitarre. Es war echt schrecklich. Ich wusste, wie die Songs sich anhören mussten, ich kannte die Akkorde, aber meine Finger stellten sich an, als wäre ich ein Anfänger. Nach dem Mittagessen musste ich gleich zur zweiten Therapie, wo ich das Gehen mit Krücken übte und danach duschte ich, was mittlerweile ganz alleine klappte. Dann war es auch schon fast Vier und ich platzierte mich draußen auf einer Bank. Ich hatte Xander schon per SMS mitgeteilt, dass mir das Treffen draußen lieber war. Ich hatte Josh sehr vermisst, seit die Erinnerungen zurückgekommen waren und ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie schrecklich das alles für ihn gewesen sein musste. Kurz nach Vier sah ich Xander mit Gwen auf dem Arm und Josh. Er war deutlich gewachsen. Als er mich gesehen hatte, rannte er auf mich zu. Am liebsten wäre ich ihm entgegen gelaufen. Er fiel mir in den Arm und vergrub sein Gesicht an meinem Hals.

"Ich hab dich vermisst."

"Ich dich auch, mein Kleiner."

"Wirklich?"

"Natürlich. Du bist mein Sohn, wenn du nicht da bist, fehlt ein Stück von mir."

"Kann ich dich jetzt öfter besuchen?"

"Klar, immer wenn Xander und du Zeit habt."

"Ich kann auch allein hier her fahren, mit dem Bus."

"Darüber reden wir noch mal, jetzt lass mich dich mal anschauen. Du bist schon wieder gewachsen."

"1,53. Ich bin jetzt der Größte aus der Klasse."

"Wahnsinn. Und deine Haare sind auch länger."

"Ich wollte mal was Neues ausprobieren."

"Nicht übel."

"Und deine Haare wurden abrasiert?"

"Ja, für die OP:"

"Aber jetzt sind sie ja schon wieder ein Stück nachgewachsen. Schaut nicht schlimm aus. Kann ich mir die Narbe mal anschauen?"

"Klar."

Ich beugte meinen Kopf und er fasste vorsichtig an die Narbe.

"Tut es weh?"

"Nur wenn ich mich zu sehr anstrenge, oder zu schnell bewege."

"Wann kannst du nach Hause?"

"Wenn ich alleine Treppen steigen kann. Sonst komm ich ja gar nicht in die Wohnung …"

"Und wenn wir in eine andere Wohnung ziehen? Zu Mum zum Beispiel?"

Xander warf ihm einen bösen Blick zu.

"Warum soll ich es ihm nicht erzählen? Du willst ihn ja nur für dich alleine."

"Josh, wir hatten eine Vereinbarung …"

"Nein, du wolltest mir was vorschreiben!"

"Stopp!"

Beide fuhren zusammen.

"Was ist los? Ist Nikki wieder da?"

Plötzlich waren Beide still.

"Xander, red schon."

"Ja, sie ist vor ein paar Wochen wieder aufgetaucht. Sie wittert wohl Kohle …"

"Gar nicht wahr, sie ist wegen Gwen und mir zurückgekommen! Und dir, Dad. Sie will, dass wir wieder eine Familie sind."

"Und das würdest du wollen? Nach allem, was passiert ist?"

"Sie ist meine Mum …"

"Natürlich, aber man kann sich nicht auf sie verlassen. Und was ist zwischen euch Beiden passiert? Ihr habt euch doch immer so gut verstanden."

"Wir bekommen das schon hin, Schatz, mach dir keine Sorgen …"

"Jetzt hör auf, mich beschützen zu wollen! Erzählt mir, was los ist."

"Josh will zu seiner Mutter ziehen. Ned und Elly sind natürlich dagegen."

"Gut. Ich will nicht, dass sie Gwen sieht. Und ich will nicht, dass sie mit Josh alleine ist. Wenn sie ihn sehen will, dann nur hier bei mir im Krankenhaus."

"Du hast kein Recht darüber zu bestimmen!"

"Oh doch, das habe ich. Ich bin dein Vater."

"Bist du n…"

"Wag es nicht, Josh! Das täte dir später leid. Du bist mein Sohn, so wie Gwen meine Tochter ist. Deine Mum bringt nur Ärger. Ich verstehe, dass du es nicht wahrhaben willst, aber so ist es. In ein paar Monaten ist sie wieder verschwunden. Und wie du Xander behandelst, ist alles andere als fair. Er hat sich immer gut um dich gekümmert. Glaubst du, für ihn war das alles leicht?"

"Nein, aber … wenn er nicht gewesen wäre, dann wäre das alles nicht passiert."

"Wer sagt denn so was?"

"Mum …"

"Natürlich! Hat sie dir das auch erklärt?"

"Ja … dein Großvater hat auf dich geschossen, weil er es nicht ausgehalten hat, dich mit einem Mann zu sehen. Das alles ist nur passiert, weil du schwul bist."

"Und das glaubst du? Bist du der Meinung, dass man auf jemanden schießen darf, weil er schwul ist?"

"Nein, natürlich nicht …"

"Das war nicht Xander's Schuld und auch nicht meine. Mein Großvater ist ein böser Mensch und das alles ist ganz allein seine Schuld. Ich werde niemals mit Xander Schluss machen und ich werde niemals mehr mit deiner Mutter zusammen sein. Auf Xander können wir uns immer verlassen, deine Mutter verschwindet, sobald es ein bisschen schwierig wird."

"Sie sagt, sie hat sich geändert …"

"Das sagt sie doch jedes Mal. Wie oft willst du denn noch auf sie reinfallen? Willst du echt, dass deine Schwester das Gleiche durchmachen muss wie du?"

"Nein, aber vielleicht wird es diesmal ja wirklich anders …"

"Josh, wenn es ihr Ernst damit ist, dann wird sie auch warten, bis ich wieder zu Hause bin und dann würde sie dich auch nicht gegen Xander aufhetzen. Da stimmt doch etwas nicht. Das macht doch keine gute Mutter!"

"Ich weiß nicht …"

"Bitte mach es Xander nicht noch schwerer, als es ohnehin schon ist."

"Ich …"

Er vergrub sein Gesicht wieder an meinem Hals. Xander schaute mich resignierend an und setzte mir Gwen auf den Schoß.

"Ich hol uns mal was zu trinken …"

"Danke."

Als er außer Hörweite war, tauchte Josh wieder auf.

"Hat Xander irgendwas getan, was dir nicht gepasst hat?"

"Nein … ich meine … er hat natürlich nicht so viel Zeit, weil er sich um viel kümmern muss … das ist schon okay. Aber manchmal redet er schlecht von Mum, und das kann ich nicht leiden."

"Redet deine Mum auch schlecht von Xander?"

"Ja, schon … aber das ist irgendwie was anderes. Ich wünschte, wir könnten eine ganz normale Familie sein …"

"Wieso stört es dich plötzlich, dass ich schwul bin?"

"Weil es jetzt so viele wissen und manche sind deshalb seltsam zu mir. Henry darf mich nicht mehr zu Hause besuchen …"

"Soll ich mal mit seinen Eltern reden?"

"Ich will auch nicht als Petze dastehen …"

"Das ist kein Petzen. Ich will ja nur ganz höflich mit ihnen reden. Vielleicht ist es ja ein Missverständnis."

"Na gut …"

"Du mochtest Xander doch immer gerne, oder?"

"Irgendwie hat sich alles verändert. Alles ist so kompliziert geworden …"

"Ich weiß. Aber das ist leider gerade nicht zu ändern. Aber du kannst mich jederzeit anrufen, wenn du reden willst. Oder jemand soll dich herbringen. Ich will aber nicht, dass du dich alleine auf den Weg machst."

"Okay."

"Ich hätte schon früher erlauben sollen, dass du mich besuchst, aber ich hatte Angst davor …"

"Warum?"

"Ich wollte vor dir keine Schwäche zeigen …"

"Das ist doch Schwachsinn."

"Ja, da hast du recht. Tut mir leid."

"Schon okay, solange ich dich ab jetzt besuchen kann, sooft ich will. Und ich kann dir auch helfen. Wenn du irgendwas brauchst, dann musst du es bloß sagen."

"Danke. Ich könnte wirklich deine Hilfe gebrauchen. Du musst mir versprechen, dass du nichts vor mir verheimlichst. Das würde mir schon sehr helfen."

"Okay, versprochen."

"Willst du mir noch was sagen, bevor Xander wiederkommt?"

"Mir fällt gerade nichts ein."

"Okay. Versprich mir, dass du nicht mehr gemein zu ihm bist. Das hat er nicht verdient. Er tut sein bestes und ist sehr erschöpft."

"Ich weiß. Wenn er spätnachts mit Gwen von der Bandprobe heimkommt, fällt er todmüde ins Bett und am nächsten Tag steht er schon vor mir auf."

"Die O–Scars proben also wieder?"

"Ja und Summerskin probt auch. Andy singt ja da jetzt auch, aber sie kann ja nicht Gitarre spielen, das muss Xander übernehmen."

"Aber Andy kann doch nicht in zwei Bands singen …"

"Nur vorübergehend, bis du wieder gesund bist."

"Sie haben sich niemand Neues gesucht? Ich weiß doch überhaupt nicht, ob ich das irgendwann wieder alles kann …"

"Die Leute wollen aber dich zurück."

"Welche Leute?"

"Die von der Plattenfirma, oder so …"

"Tatsächlich? Dazu werd ich Xander mal genauer befragen … ah, da kommt er."

"Hey, also, dreimal Cola, einmal Orangensaft für Gwen."

"Soll ich mit Brian reden, oder erzählst du mir, was bei Summerskin los ist?"

"Bist du sicher, dass du's hören willst?"

"Ja."

"Sie wurden quasi kalt gestellt, zumindest für größere Projekte."

"Warum?"

"Du bist durch die ganze Sache relativ bekannt geworden. Dich jetzt einfach zu ersetzen, würden die Leute den Jungs nach Meinung der Bosse übel nehmen. Also bleibt ihnen nur warten, bis du wieder fit bist."

"Und wenn ich selbst aussteige?"

"Würdest du das tun?"

"Das wäre das Beste für die Band …"

"Vielleicht jetzt, aber langfristig?"

"Und wenn es kein langfristig mehr gibt, weil alle bald vergessen haben, dass Summerskin überhaupt existiert?"

"Solange noch Verhandlungen gegen die Familie laufen, wird das nicht passieren. Du weißt schon, schlechte Publicity ist auch Publicity ..."

"Sehr tröstlich. Was sagen die Jungs dazu?"

"Sie wollen keinen anderen Sänger. Sie hoffen, dass du möglichst bald soweit bist, mit ihnen ins Studio zu gehen."

"Wenn ich erst mal auf Krücken einigermaßen laufen kann …"

"Aber übernimm dich nicht."

"Nein. Ich will nur bald nach Hause, zu euch Dreien. Physiotherapie kann ich auch ambulant machen …"

"Jetzt lass uns aber auch nichts übereilen. Nimm dir die Zeit, die du brauchst. Deine Gesundheit steht an erster Stelle."

"Ja, ich weiß."

"Gut. Also, Josh, ich glaube, dein Vater hatte für heute genug Stress."

"Kann ich morgen wieder kommen?"

"Da hast du ein Spiel …"

"Stimmt ja … dann am Sonntag?"

"Klar, das können wir machen."

"Okay. Dann bis übermorgen, Dad."

"Bis dann, mein Kleiner."

"Kommst du klar, oder soll ich dir noch rüber helfen?"

"Ich komm klar, danke. Sehen wir uns morgen?"

"Ja, ich komme so gegen Zwei …"

"Okay, dann bis morgen. Ich liebe dich, Xander."

"Ich liebe dich."

Mir fiel auf, dass Josh auf den Boden starrte, als Xander und ich uns küssten.

Am nächsten Tag kam Xander bald nach der Mittags–Therapie.

"Okay, jetzt erzähl es mir endlich."

"Naja, viel gibt es eigentlich nicht mehr dazu zu sagen. Die Bosse wollen dich, oder sie investieren nicht mehr. Ist ihnen zu unsicher …"

"Was? Ach, vergiss das. Ich meinte Nikki. Seit wann ist sie zurück? Wie sieht sie aus? Was sagt sie so? Wie oft hat sie die Kinder gesehen?"

"Seit Anfang Juni, sie sieht gut aus. Clean, gepflegt, hat eine Therapie gemacht … Sie sagt, diesmal sei alles anders, sie sei jetzt erwachsen und bereit, sich niederzulassen. Sie hat einen Job als Sekretärin, eine nette kleine Zwei–Zimmer–Wohnung, … Sie hat natürlich gehört, was passiert ist, deshalb will sie sich ab jetzt um Josh kümmern. An Gwen scheint sie kein großes Interesse zu haben, nach Marie hat sie zwischendurch mal gefragt, das war's. Sie wollte allen Ernstes, dass Josh zu ihr zieht. Scott hat das Rechtliche aber alles im Griff."

"Aber was ist mit dem Emotionalen? Josh ist total durcheinander …"

"Ja, das liegt natürlich vor allem daran, dass Nikki eine hinterlistige Schlampe ist, die ihn ständig gegen mich aufhetzt. So Sachen wie, dass er nicht auf mich hören muss, ich sei nur irgendein Kerl, den sein Vater momentan toll fände, aber bald bin ich wieder abgeschrieben und ihr könntet wieder eine Familie sein. Sie scheint das echt zu glauben …"

"Aber du doch nicht, oder?"

"Nein, über die Phase der Unsicherheit bin ich inzwischen hinaus, vor allem, seit du dich wieder an alles erinnern kannst."

"Gut. Und was machen wir jetzt weiter wegen Nikki? Kann man ihr nicht verbieten, die Kinder zu sehen? Sie hat damals immerhin alle Rechte abgetreten …"

"Scott meint, das würde wenn dann vor Gericht gehen und das sollten wir Josh jetzt gerade nicht antun … Das Beste ist wohl, wenn wir Feuer mit Feuer bekämpfen. Du musst eben viel mit ihm über das Alles reden und Nikkis Worte ins rechte Licht rücken. Das kann leider kein Anderer übernehmen."

"Gut, und es war mein Ernst. Gwen soll sie am Besten nie sehen und wenn, dann nur, wenn du oder ich dabei sind. Und Josh am Besten genauso."

"Ich rede mal mit Scott darüber."

"Ich würde auch gern mal mit ihm reden, wenn das für dich okay ist …"

"Oh … ja klar …"

"Danke. Das Alles ist bestimmt nicht einfach für dich …"

"Alle helfen, so gut es geht. Es läuft alles verhältnismäßig gut …"

"Ich streng mich an, hier bald rauszukommen. Seit heute hab ich drei Therapieeinheiten am Tag. Und auf der Gitarre werde ich auch immer besser. Und Songs schreiben ist eh wie Fahrrad fahren … Ich würde sagen, in zwei oder drei Wochen bin ich hier raus. Auf jeden Fall noch vor deinem Geburtstag, versprochen."

"Na schön. Morgen kommen Josie, Vince und Collin. Sie bleiben, bis du deine Aussage gemacht hast. Ein paar Freunde von ihnen aus San Francisco kommen auch."

"Lass mich raten, Dennis und Lucy. Geballte Anwalts–Power, hm?"

"Naja, Vorsicht ist besser als Nachsicht …"

"Mum muss doch von dem Mafia–Zeug gewusst haben, sie kommt aus San Diego."

"Sie hielt es für Gerüchte … jetzt macht sie sich deswegen Vorwürfe. Da ist noch was, das du wissen musst … gegen Milo und Peter laufen auch Verfahren. Sie sind gegen Kaution draußen."

"Glaubst du echt, Milo hing da mit drinnen?"

"Wie hätte er denn nichts davon mitbekommen sollen? Er arbeitete seit dem College in der Firma. Er muss es gewusst haben. Tut mir leid, Jordan …"

"Und Renzo?"

"Keine Ahnung … vielleicht wollte er deshalb nicht in die Firma einsteigen …"

"Ich hab irgendwie Angst davor, meinen Großvater zu sehen …"

"Verständlich."

"Und ich weiß nicht, wie privat die Fragen werden …"

"Der Staatsanwalt wird das schon einigermaßen abblocken, wenn es nichts zur Sache tut."

"Glaubst du, es wird Summerskin schaden, wenn herauskommt, dass ich schwul bin?"

"Es gibt eh schon Gerüchte darüber. Auch über uns Beide …"

"Wie sollen wir damit umgehen?"

"Wenn es nur um mich ginge, ganz offen. Aber es geht ja auch um die Band. Du solltest mit den Jungs reden. Und mit euren Bossen …"

"Dann hab ich in den nächsten drei Tagen ja noch einiges vor. Ach, hast du die Nummer von Henrys Eltern?"

"Hat Josh dir erlaubt, mit ihnen zu sprechen? Mir nämlich nicht."

"Ja. Ich werde sie nachher mal anrufen."

Xander suchte die Nummer aus seinem Handy und schrieb sie mir auf.

"Brian und Sean wollten morgen eh auch vorbeischauen. Vielleicht kommen die Jungs einfach mit, wenn das für dich okay ist …"

"Ja, klar."

"Na gut, dann geht ab morgen der Stress los …"

"Josh wollte doch auch vorbei kommen."

"Ob das Sinn macht?"

"Ich hab es ihm versprochen."

"Dann bring ich ihn eben mit, aber Gwen lass ich bei Janet."

"Wie geht es ihr?"

"Der große Unbekannte ist verheiratet, deshalb wollte sie ihn uns nie vorstellen …"

"Nein!? Hat sie noch immer was mit ihm?"

"Nach wie vor, ja."

Es klopfte.

"Ja?"

Chris steckte den Kopf zur Tür herein.

"Stör ich?"

"Nein, komm rein. Dann lernst du auch gleich Xander kennen. Das ist Chris, der Arzt aus Phoenix, von dem ich dir erzählt habe."

"Ah, ja klar. Hallo."

Als erstes fragte Chris, ob er einen Blick in mein Krankenblatt werfen dürfte und sein erster Kommentar war:

"Die Schmerzmittel sollten aber bald noch mehr runter dosiert werden. Bist du davon nicht recht müde?"

"Nein, überhaupt nicht. Ich bin wohl schon ziemlich resistent dagegen …"

"Ein Grund mehr, um es runterzuschrauben. Ab Donnerstag dann."

"Okay …"

Nach ein paar Minuten musste er wieder an die Arbeit. Gegen Fünf musste auch Xander los, um Josh abzuholen. Ich schrieb ein bisschen, spielte ein bisschen, dann gab es Abendessen und danach schrieb ich noch weiter. Ich war jetzt bei Alices Anruf, dass Catherine im Krankenhaus läge. Es war ein ereignisreiches Jahr für Xander und dabei war er noch nicht mal 21.

Gegen Sieben fiel mir ein, dass ich ja noch bei Henry zu Hause anrufen wollte, was ich dann auch gleich tat.

"Mendic."

"Guten Tag Mrs. Mendic, Jordan Bonanno … ich bin Joshs Dad."

"Ich weiß, wer sie sind, ja."

"Gut. Ich wollte mit ihnen mal über die beiden Jungs reden. Sie sind ja ziemlich gut befreundet."

"Das stimmt."

"Josh hat mir erzählt, Henry darf ihn nicht mehr zu Hause besuchen …"

"Sie müssen verstehen, dass ich meinen Sohn nur beschützen will."

"Wovor denn genau?"

"In letzter Zeit gab es großen Rummel um ihre Person, nicht alles davon war positiv. Jetzt, wo das Verfahren gegen ihren Großvater beginnt, ganz besonders. Josh kann jederzeit gern zu uns kommen, er ist ein guter Junge. Aber ich möchte gerne ein Auge auf die Beiden haben."

"Das verstehe ich, nur, sehen sie, mein Sohn fühlt sich dadurch nicht gerade wohler und er hat in letzter Zeit schon genug durchgemacht. Vielleicht könnten wir mal in Ruhe über alles reden und dann überdenken sie ihre Entscheidung ja vielleicht."

"Die Entscheidung steht wirklich fest."

"Ich würde sie trotzdem gerne kennenlernen. Unsere Jungs sind so gut befreundet und wir haben uns immer noch nicht kennengelernt."

"Ich habe ihre Exfrau kennengelernt, das reicht mir eigentlich."

"Nikki? Wir haben nicht das beste Verhältnis und falls sie irgendwas getan oder gesagt hat, was sie verärgert hat, dann möchte ich mich ganz klar von ihr distanzieren."

"Schön. Sie ist wirklich eine seltsame Frau."

"Ja, wem sagen sie das? Hören sie, ich werde noch einige Wochen in der Klinik verbringen müssen, ich würde aber wirklich gerne bald von Angesicht zu Angesicht mit ihnen reden. Der Kaffee hier ist gar nicht so übel …"

"Na schön. Am Dienstagnachmittag hätte ich Zeit."

"Perfekt. So gegen Zwei?"

"Gut."

"Danke."

Puh, das war eine harte Nuss gewesen und Nikki hatte sich mal wieder eingemischt. Naja, noch war ja nicht alles verloren. Ich schrieb noch eine Weile weiter, fuhr ins Bad und machte mich bettfertig. Das ging jetzt alles schon alleine. Die Physiotherapeutin hatte mir einen Rollator ins Zimmer stellen lassen, aber bisher hatte ich meinen Stolz noch nicht überwinden können, um dieses Oma–Gefährt tatsächlich zu benutzen.

Den nächsten Vormittag verbrachte ich mit vier Anwälten, die mir alle möglichen dämlichen Fragen stellten, auf die ich möglichst gelassen antworten sollte. Vince besuchte währenddessen Will und Todd, worum ich ihn tatsächlich beneidete. Die Anwälte ließen mich nicht mal über dem Mittagessen in Ruhe, danach musste ich zum Glück zu einer halbstündigen Therapie, die Zeit nutzten Josie, Collin, Lucy und Dennis, um selbst Mittag zu essen. Es war das erste Mal, dass die Therapie viel zu schnell vorbei war. Nach zwei weiteren Stunden 'Befragungstraining' klopften Brian und Sean.


Sean

Als Josh seinen Vater endlich besuchen durfte, erzählte er ihm auch gleich, dass seine Mutter wieder da war und Jordan zurück wollte und auch gleich noch, dass Summerskin wartete, bis er genesen war. Xander hatte keine Wahl mehr und musste ihm erzählen, was passiert war, woraufhin Jordan natürlich meinte, alles regeln zu müssen. Unter anderem wollte er mit Brian reden, also fuhren wir ins Krankenhaus.

Auf dem Weg dorthin fiel mir etwas ein.

"Oh."

"Was denn?"

"Josie ist ja gerade dort."

"Oh. Okay, mein Gott … wir müssen ja nicht Händchen halten oder so …"

"Vielleicht will ich das aber."

"Überleg es dir, bis wir dort sind."

"Brauch ich nicht. Beth weiß es ja auch, also sollte Josie es auch erfahren."

"Wenn du dir sicher bist, dann brauchst du mich ihr bloß vorzustellen. Deine Entscheidung."

"Weißt du, wie sehr ich dich liebe?"

Seine Ohren wurden rot. Ich hatte es ihm noch nie gesagt. Warum eigentlich nicht, nach fast einem Jahr?

"Ich kann es nicht sagen, Sean."

"Schon okay. Das erwarte ich nicht. Es kam nur so raus."

"Du weißt aber, dass es so ist, oder?"

"Ja, das weiß ich."

Als wir ankamen, waren einige Leute im Raum.


Jordan

"Hey, sollen wir später wieder kommen?"

Ich schoss hervor:

"Nein, ich fühl mich genug vorbereitet."

"Und morgen ist ja auch noch ein Tag.", meinte Collin salopp.

"Das ist nicht euer Ernst, oder? Morgen auch noch mal?"

"Klar, dann sehen wir, was du behalten hast."

Ich murrte noch ein wenig, während Sean seine Schwester begrüßte und ihr Brian vorstellte. Zu meinem Erstaunen bemerkte ich, dass sie sich an den Händen hielten. Okay … da hatte sich wohl einiges getan. Collin, Lucy und Dennis kündigten sich für Neun am nächsten Vormittag an und verschwanden.


Sean

Josie umarmte mich, dann nahm ich Brians Hand und meinte:

"Und das ist Brian McCormack"

"Ah, natürlich, der Drummer."

"Genau. Josie, wir sind zusammen."

Sie schaute ganz seltsam. Ich legte meinen Arm um sie und sagte Brian, dass ich sie kurz zum Auto bringen würde. Kaum hatten wir die Tür zugemachte, fuhr sie mich schon an.

"Was denkst du dir dabei?!"

"Patricia hat auch eine Affäre. Ich lebe nur einmal."

"Bist du dir wirklich sicher, dass er das ist, was du willst?"

"Ja."

"Sei vorsichtig, ja?"

"Okay, was auch immer du damit meinst."

"Er ist nicht irgendwer. Wenn ihr euch in der Öffentlichkeit nicht zurückhaltet, dann kann Dad euch in jeder Zeitschrift bewundern."

"Wir sind doch nicht blöd. Keine Sorge."

"Na gut … Also, bist du glücklich?"

"Ich wünschte, ich wäre endlich nicht mehr von Dad's Kohle abhängig und Jordan bräuchte keinen Rollstuhl, aber ansonsten bin ich mehr als glücklich."

"Na schön. Bringst du mich noch zum Auto?"

"Klar."


Jordan

Sean ging mit seiner Schwester raus, was Brian und mich alleine zurückließ.

"Hey Mann, schön dich endlich zu sehen. Ich hab es mir schlimmer vorgestellt."

"Ehm … danke, glaub ich …"

"Zeig mal."

Er begutachtete die Beiden Narben am Kopf.

"Ach, wenn die Haare erst mal länger sind, siehst du aus wie neu."

"Dann brauch ich bloß noch ganz viele Brusthaare …"

"Äh, nein, besser nicht. Kann ich die Narbe sehen?"

Ich zog mein Shirt hoch.

"Das sieht schon krass aus. Aber das heilt ja bestimmt noch besser … Tut's weh?"

"Mit all den Mitteln, die ich schlucke, spür ich kaum was."

"Wie läuft's mit dem Laufen?"

Ich deutete auf den Rollator.

"Bevor ich das Teil benutze, bleib ich lieber im Rollstuhl."

"Das sag ich Sean."

"Das ist unfair. Aber wo wir gerade von ihm sprechen, er hat dich gerade offiziell seiner Schwester vorgestellt, oder?"

"Ja … Beth kenn ich auch schon seit einer Weile …"

"Es wird ernst, hm?"

"Allerdings. Manchmal kann ich es selbst gar nicht glauben. Erst dachte ich immer, ich würde nie zulassen, dass etwas mit einem Kerl passiert, da hast du mir einen Strich durch die Rechnung gemacht, dann dachte ich, dass ich mich zumindest nie richtig in einen verlieben würde, dann kam Sean. Und dann war ich mir sicher, dass ich das vor allen geheim halten würde. Tja, es kommt immer anders, als man denkt …"

"Ja, wem sagst du das? Wie geht's den Jungs?"

"Naja, sie vermissen die große Bühne. Und wir haben so viele Ideen für das Album, die wir endlich umsetzen wollen …"

"Kann ich verstehen. Ich hätte auch echt Lust aufs Studio."

"Wann glaubst du, bist du soweit?"

"Musikalisch jederzeit, solang ich nicht Gitarre spielen muss. Aber ich bin noch nicht wirklich mobil."

"Außer mit dem Teil da …"

"Nur über meine Leiche."

"Wäre schon geil, wenn wir bald ins Studio könnten. Irgendwie dachte ich, dir ginge es noch viel schlechter."

"Jetzt wart ich erst mal ab, wie es mir geht, wenn ich nicht mehr mit Schmerzmitteln voll gepumpt bin …"

"Das hört sich vernünftig an. Wir sind ja froh, dass es dir soweit wieder gut geht. Du hast uns echt einen ganz schönen Schrecken eingejagt."

"Das kann ich mir vorstellen. Alles hätte so gut laufen können."

"Naja, wir bekommen das schon wieder hin. Wir haben das Jahr 99 überlebt, da ist das hier ein Klacks."

"Vielleicht könnt ihr ja hier mal vorbei kommen, dann könnten wir Ideen austauschen und so."

"Klar, das taugt den Jungs garantiert."

"Wissen sie eigentlich von Sean und dir?"

"So ganz offiziell nicht, aber wenn sie eins und eins zusammen zählen können, dürfte es ihnen mittlerweile klar sein. Tobey hat sogar mal gesehen, wie Sean mich geküsst hat, aber er hat mich nie darauf angesprochen."

"Über Xander und mich gibt es anscheinend Gerüchte ..."

"Allerdings."

"Wie sollen wir das handhaben?"

"Das ist eure Sache."

"Sehen das die Anderen auch so?"

"Einigermaßen, ja."

"Wenn es nach uns geht, dann machen wir keinen Hehl draus."

"Das haben wir uns gedacht. Von uns aus geht das okay. Aber du solltest noch mit den Leuten von der Plattenfirma reden und mit zwei oder drei Anderen. Oder noch besser, du sagst Scott, er soll mit ihnen reden."

"Das wäre natürlich das Beste. Wenn es von ihm kommt, dann wirkt es bestimmt viel durchdachter …"

Josh und Xander kamen, und ich besprach das noch mal mit ihnen. Josh war nicht gerade begeistert davon, wusste aber, dass er nichts daran ändern konnte. Xander wollte zu Hause gleich Scott eine E–Mail schreiben, um ihn zu bitten, das mit den 'Bossen' zu klären.

Am Montag kamen wieder die Anwälte und ließen mich erst in Ruhe, als Vince mal auf den Tisch schlug und mit mir raus ging.

"Danke, danke, danke. Dafür könnt ich dich knutschen."

"Besser nicht, das gibt nur Ärger."

"Scott hat sich immer noch nicht bei mir gemeldet …"

"Du bist ja in guten Händen."

"Ja, aber die Sache mit Nikki macht mir Sorgen …"

"Er hat das im Griff. Dass er sich nicht hier sehen lässt, heißt nicht, dass du ihm nicht wichtig bist. Eher im Gegenteil …"

"Schon, aber er könnte trotzdem mal vorbeischauen …"

"Er ist im Gericht. Übermorgen siehst du ihn da dann spätestens."

Gegen Vier zogen sie ab, bestanden aber darauf, am nächsten Tag nach dem Mittagessen noch mal eine Stunde lang alles zu wiederholen.

"Aber um Zwei kommt die Mutter eines Freundes von Josh vorbei. Da ist dann Feierabend."

"Na schön."

Ich merkte, wie geschlaucht ich war. Um Neun schlief ich ein und wachte erst kurz vor Acht am nächsten Morgen wieder auf. Frühstück, Therapie, Duschen, ein bisschen in die Sonne, Mittagessen und schon standen die Vier wieder da. Mein Kopf brummte schon den ganzen Tag und die Sonne hatte meinen Augen richtig weh getan. Aber die Stunde würde ich jetzt auch noch durchhalten …

"Alles okay, Jordan?"

"Hm? Achso, Nein, Euer Ehren, ich hatte keine Ahnung, dass mein Großvater eine Waffe besitzt."

"Brauchst du ne Pause?"

"Vielleicht ganz kurz …"

"Leute, es ist viertel vor Zwei …"

"Na schön, dann sehen wir uns also morgen. Und vergiss nicht …"

Es klopfte. Wunderbar, das hatte mir gerade noch gefehlt, dass Mrs. Mendic mich mit vier Anwälten sieht, wie einen Schwerverbrecher …

"Ja?"

Eine dunkelhaarige Frau Ende 30 schaute herein.

"Guten Tag. … Oh, ich warte draußen."

"Nein, nein, wir waren gerade fertig."

Ich hievte mich in den Rollstuhl und suchte mein Zeug zusammen.

"Also, ich brauch jetzt erst mal Kaffee …"

Die Vier klemmten sich ihre Aktentaschen unter den Arm und gingen schnellen Schrittes Richtung Ausgang, während wir uns etwas mehr Zeit ließen.

"Ihre Anwälte?"

"Freunde von mir, die zufällig Anwälte sind."

"Verstehe …"

Wunderbar, jetzt dachte sie bestimmt, dass 'die Familie' sie geschickt hatte, oder so …

"Wollen wir den Kaffee draußen trinken? Hier gibt es doch so einen schönen Garten."

"Klar, gerne."

Nachdem wir uns den Kaffee und zwei Muffins geholt hatten, machten wir uns langsam auf den Weg nach Draußen. Vor der Tür musste ich meine Sonnenbrille aufsetzen, sonst wäre mein Schädel in dem grellen Licht einfach explodiert. Sie musterte beiläufig die verspiegelten Gläser.

"Tut mir leid, aber meine Augen sind heute einfach enorm lichtempfindlich."

"Oh, jaja, natürlich, kein Problem."

Das lief ja blendend. Ich hätte mich sogar selbst für einen Mafiosi gehalten. Wir setzten uns auf eine Bank.

"Der Garten ist wirklich wunderschön. Er hat sogar schon ein paar Preise gewonnen, als schönster Krankenhausgarten im ganzen County." erklärte sie.

"Ah …"

"Ich habe mal Landschaftsarchitektur studiert, daher weiß ich das."

"Achso."

Da kam Chris.

"Hallo, na, alles in Ordnung?"

"Ja, danke. Meine Augen sind heute nur übermäßig lichtempfindlich …"

"Ich komm nachher mal vorbei und schau mir das genauer an."

"Ach nein, ich bin nur müde. Das gibt sich schon wieder."

"Na schön. Ich versuch trotzdem, nach meiner Schicht noch vorbeizuschauen."

"Okay, danke."

Als er weg war, schaute Mrs. Mendic mich ganz seltsam an.

"Chris ist ein Freund von mir …"

"Natürlich, hätte ich mir ja denken können …"

"Ich hab das Gefühl, sie machen sich ein falsches Bild von mir. Das sind meine Freunde, nicht die der Bonannos."

"Ich will darüber wirklich nichts wissen."

"Mein Großvater hat mich fast umgebracht, glauben sie wirklich, dass ich noch irgendwas mit denen zu tun habe?"

"Blutsbande, wer weiß …?"

"Wie kann ich sie davon überzeugen, dass es nicht so ist?"

"Gar nicht, denn sie sind nicht gerade der Vertrauenswürdigste."

"Wie kommen sie denn darauf?"

"Also, wer seine Frau noch im Kindbett dazu zwingt, irgendwelche Urkunden zu unterschreiben, die die Kinder der Familie zusprechen und die Mutter all ihrer Rechte berauben …"

"Was?! Hat Nikki das gesagt? Ich glaub es nicht, dieses Miststück!"

Sie stand auf, offensichtlich hatte sie Angst vor mir.

"Warten sie. Tut mir leid, dass ich laut geworden bin … das ist nur einfach nicht wahr."

"Sie bestreiten also, dass es diese Urkunden gibt?"

"Nein, aber ich bestreite, dass ich Nikki dazu gezwungen habe, sie zu unterschreiben. Ich hab die Urkunden das erste Mal gesehen, als sie schon freiwillig von Nikki unterschrieben waren. Und die Kinder wurden auch nicht 'der Familie' zugesprochen, sondern mir."

"Wo ist der Unterschied?"

"Der Unterschied ist, dass ich seit 97 keinen Kontakt mehr zu den Bonannos hatte."

"Warum? Weil sie schwul sind?"

"Weil ich mich mit der Verwandtschaft meines Vaters noch nie gut verstanden habe."

"Warum nicht? Weil sie Verbrecher sind?"

"Nein, das wusste ich nicht."

"Wie können sie das nicht gewusst haben? Es ist schließlich ihre Familie."

"Wie gesagt, wir hatten keinen regelmäßigen Kontakt."

"Sie wurden im Haus ihres Großvaters angeschossen, also hatten sie keinen so schlechten Kontakt."

"Mein Onkel hat geheiratet und mich eingeladen, deshalb blieb ich ein paar Tage dort. Das war das erste Mal, dass ich dort war seit … 94."

"Aber sie sind schwul?"

"Was hat denn jetzt das eine mit dem anderen zu tun?"

"Na, wenn ihr Großvater nicht auf sie geschossen hat, weil sie geschäftlich irgendwelche Auseinandersetzungen gehabt hatten, dann muss er ja irgendeinen anderen Grund gehabt haben. Ich habe Gerüchte gehört, dass sie mit dem Gitarristen der O–Scars zusammen sind …"

"Häh? Sie kennen Xander doch, er hat die Jungs schon oft zum Baseball gebracht."

"Also sind sie Beide zusammen?"

"Ja, natürlich. Ich dachte, das wäre ein Großteil des Problems, das sie haben."

"Eigentlich hab ich gar kein Problem. Danke, Mr. Bonanno, auf Wiedersehen."

"Was? Aber …"

Mein Handy klingelte. Xander's Nummer wurde angezeigt.

"Ja?"

"Wo bist du denn?"

"Na im Garten …"

"Hast du vergessen, dass du um Zwei mit Mrs. Mendic verabredet bist? Sie hat mich angerufen, weil du nicht in deinem Zimmer bist."

"Was?! Aber ich hab doch gerade … oh, ich glaube, wir haben ein Problem. Schick mir Scott vorbei, ja? Ich rede kurz mit der echten Mrs. Mendic."

"Was?"

"Ich weiß auch nicht … schick mir Scott, ja?"

"Okay …"

Es war zum Glück erst zehn nach Zwei, als ich wieder bei meinem Zimmer ankam. Da stand eine mittelblonde Frau in Mum's Alter.

"Mrs. Mendic, tut mir leid, ich dachte wir hatten verabredet, uns im Garten zu treffen. Mein Fehler."

"Kein Problem. Ich habe aber leider nicht mehr lange Zeit, deshalb komme ich gleich zum Punkt. Ich bezweifle nicht, dass sie sich gut um ihren Sohn kümmern und ich weiß, sie sind das Opfer in der Sache, aber ich möchte meinen Sohn aus dem ganzen Tumult raushalten."

"Also geht es nicht darum, dass ich mit einem Mann zusammen bin?"

"Ganz und gar nicht. Ich versuche, meinem Sohn Toleranz vorzuleben."

"Gut, dann verstehe ich das. Könnten sie mir einen Gefallen tun und das Josh noch mal in Ruhe erklären? Er denkt nämlich, Henry darf ihn nicht mehr besuchen, weil sie erfahren haben, dass ich schwul bin."

"Tatsächlich? Gut, dann rede ich natürlich noch mal mit ihm."

"Dankeschön."

"Keine Ursache. Auf Wiedersehen und gute Besserung."

"Danke."

Zehn Minuten später klopfte Scott. Er wartete gar nicht erst, bis ich herein sagen konnte, sondern kam schnellen Schrittes auf mich zu. Ich dachte, er würde mich umarmen, aber stattdessen drückte er mir einen Kuss auf die Lippen, erst danach umarmte er mich.

"Ich wollte dich schon so lange sehen …"

"Warum bist du nicht einfach vorbeigekommen?"

"Das weißt du so gut wie ich. Darum …"

Er küsste mich. Zugegeben, für einen Moment ließ ich es geschehen, bevor ich ihn zurückschob. Er räusperte sich und setzte sein Anwaltsgesicht auf.

"Also, was ist passiert?"

Ich erzählte ihm die ganze Geschichte.

"Ich hab eine Idee, wer das gewesen sein könnte. Komm mit."

Ich hievte mich wieder in den Rollstuhl und folgte Scott zum Schwesternzimmer.

"Entschuldigung, könnten sie für mich bitte einen Namen googeln?"

"Ausnahmsweise…"

"Eva Merandez. M–E–R–A–N–D–E–Z."

"Hier, bitte."

"Und jetzt auf Bild–Suche. War sie das, Jordan?"

"Ja, woher …?"

"Reporterin beim Daily Bulletin, führt sich aber auf, als wäre sie bei der Sun. Sie hat schon öfter hier rumgeschnüffelt. Ich kann das regeln."

"Gott sei Dank."

Er rief gleich ihren Verleger an, dessen Nummer Scott scheinbar sogar eingespeichert hatte, und machte ihm klar, wenn auch nur ein Wort dieses 'Interviews' in seiner Zeitung erscheinen würde, dann würde ihn das den Kopf kosten. Danach hinterließ Scott noch eine aussagekräftige Nachricht auf der Mailbox von dieser Merandez.

"Okay, das dürfte erst mal geklärt sein. Ich versuche sie weiter zu erreichen, um zu verhindern, dass sie versucht, das irgendwo anders zu veröffentlichen. Zumindest nicht, bevor die Bosse ihren Segen gegeben haben. Und Nikki knöpf ich mir auch mal vor."

"Danke, Scott."

Er beugte sich zu mir runter und stützte sich auf meine Knie.

"Für dich würde ich doch alles tun."

Er brachte es rüber wie eine Floskel … aber das war es nicht.

"Mir fällt ein, wer hat Red Snow eigentlich gekauft?"

"Warnerbros. Records."

"Nicht dein Ernst!"

"Oh doch. Sie haben da eine heiße junge Band am Start. Der Song passt zu ihnen, wie die Faust aufs Auge. Das Album soll schon im August erscheinen, dann gibt es noch mehr Kohle für dich."

"Und für dich, nehm ich an."

"Ach, naja … ich bekomme bescheidene fünf Prozent von deinen fünf Prozent. Ah, da kommt auch schon Xander. Dann mach ich mich mal aus den Staub."

Ich entschied mich dafür, ihm erst mal nichts von Scott zu erzählen. Meine Kopfschmerzen wurden immer schlimmer und er hatte auch so schon genug, worüber er sich Sorgen machen musste.

"Du siehst so blass aus, was war denn los?"

"Ach, so eine Reporterin … egal, Scott konnte das regeln."

"Und wie ist es mit Mrs. Mendic gelaufen?"

"Ich kann verstehen, dass sie es lieber hat, wenn Henry und Josh sich bei ihr zu Hause treffen. Sie redet noch mal mit Josh und macht ihm klar, dass der ganze Trubel um das Verfahren das Problem ist und nicht dass ich mit dir zusammen bin."

"Achso? Na gut. Dann ist das schon mal geklärt. Willst du dich nicht ein bisschen hinlegen? Du siehst echt nicht gut aus …"

"Vielleicht keine schlechte Idee …"

Xander half mir ins Bett und legte sich zu mir. Ich war sofort weg und wachte erst wieder auf, als das Abendessen gebracht wurde. Xander war scheinbar auch eingeschlafen gewesen.

"Wie spät ist es?"

"Halb Sechs."

"Oh, Mist, dann muss ich mich beeilen. Ich komme morgen nach dem Frühstück, dann machen wir dich für deinen großen Auftritt schick."

"Wenigstens kannst du mich zurzeit nicht mit einer Tolle nerven."

"Das kommt schon wieder."

"Das befürchte ich auch."

"Bis morgen, Schatz."

"Bis morgen."

Am nächsten Morgen duschte ich schon vor dem Frühstück, denn danach wuselte es in meinem Zimmer nur so vor Menschen. Mum und Klaus waren gekommen, die Anwälte und Vince und Xander natürlich. Alle redeten durcheinander. Mum zwang mich, mich noch mal zu rasieren und ein Hemd anzuziehen, Collin wollte ständig noch etwas mit mir durchgehen, ich war schon fix und fertig, bevor wir überhaupt los konnten. Scott tauchte auf und kündigte an, dass jede Menge Presse vertreten sei, aber nur außerhalb des Gerichtssaals. Er nahm Xander beiseite, woraufhin der mir eröffnete, dass er mit Vince und Collin fahren würde und wir uns dann dort treffen würden. Ich kam gar nicht dazu, zu widersprechen, da war er schon weg. Ich musste zu Mum und Klaus ins Auto und kam mir vor wie ein kleines Kind.

Wir parkten einen Block vom Gericht entfernt, wo wir auch auf die Jungs von Summerskin trafen, die sich ebenfalls in Schale geschmissen hatten und nicht glücklich darüber aussahen. Die Sonne brannte schon unangenehm vom Himmel, obwohl es noch nicht mal Zehn war. Als wir um die Ecke kamen, standen da neben einigen Schaulustigen tatsächlich bestimmt zwei Dutzend Reporter, dazu Fotografen und Kameras. Als einer uns entdeckt hatte, kamen sie sofort auf uns zu und belagerten uns. Aus meiner Perspektive von soweit unten wirkte das ganz schön bedrohlich. Scott tauchte mit zwei Polizisten vor uns auf, die uns einen Weg durch die Menschen bahnten. Ständig hielt mir Jemand ein Mikro vors Gesicht und jedes mal, wenn ein Foto geschossen wurde, blitzte der Schmerz in meinem Kopf auf. Ständig ruckelte mein Rollstuhl, weil ich über irgendwelche Zehen fuhr. Endlich kamen wir zur obligatorischen Rollstuhlrampe und Mum schob mich hoch. Dann waren diese unangenehmen fünf Minuten vorbei. Drinnen war es angenehm kühl und ruhig. Die Presseleute durften wohl nicht rein. Alle mussten durch einen Metalldetektor, was mit dem Rollstuhl natürlich sinnlos war, deshalb musste ich da raus und mit Mum's und Brians Hilfe drei Schritte ohne ihn zurücklegen, was mich mehr anstrengte als gewöhnlich. An dem Saal stand ein Schild 'Nur für Angehörige' und alle mussten ihren Ausweis vorzeigen und ihren Namen in eine Liste eintragen. Es war fünf vor Zehn, der Saal war schon fast voll. Alle außer Collin und mir suchten sich weiter hinten Plätze, wir gingen, beziehungsweise rollten, ganz zur ersten Reihe hinter der Staatsanwaltschaft durch und nahmen dort Platz. Ich drehte mich um und sah Xander ein paar Reihen hinter mir. Dann schaute ich zum Block hinter der Verteidigung und entdeckte dort Peter, Carmen, meinen Vater und meine Großmutter. Ich drehte mich schnell wieder zurück. Sie hatten nicht rüber geschaut, aber sie saßen hinter meinem Großvater. Was hatte ich auch anderes erwartet? Mein Großvater. Er trug einen Anzug, aber war in Handschellen, was den Effekt irgendwie ruinierte. Bei jeder Bewegung schepperten seine Ketten. Ich bemerkte, dass meine Hände zitterten. Collin legte mir beruhigend die Hand auf die Schulter und flüsterte:

"Keine Sorge, du bist gut vorbereitet."

Er zwinkerte mir zu und grinste. Ja stimmt, das war ich.

Die Geschworenen kamen herein, die Richterin wurde angekündigt und alle (außer ich) erhoben sich. Sie eröffnete den dritten Verhandlungstag, sprach kurz die Anwälte an, die bekundeten, sie seien bereit für die Zeugenvernehmung und schon wurde ich aufgerufen, also rollte ich nach vorne, wurde nach Alter, Anschrift, Familienstand, Kindern und so weiter befragt und belehrt, dass ich die Wahrheit sagen muss.

"Haben sie das alles verstanden?"

"Ja, hab ich."

"Also, Mr. Bonanno, erzählen sie uns, was am 28.4. passiert ist."

Ich erzählte so ziemlich das gleiche wie dem Polizisten. Während ich erzählte, dass mein Vater mich zu meinem Großvater geschickt hatte, schaute ich Anthony an. Er senkte den Blick. Den Teil mit dem Priester stellte ich erst mal nur als Gespräch dar. Der Verteidiger hakte sofort nach, als er mich befragte.

"Muss ich darauf jetzt genauer eingehen? Es steht doch alles in meiner Aussage."

"Ich kann das gerne noch mal vorlesen, um sicherzugehen, dass alles seine Richtigkeit hat. Wir werden nachher auch noch das Band anhören, also bleibt nichts geheim."

"Wunderbar."

"Also, erzählen sie uns von ihrer Beichte bei Pater Vendesso."

"Wir haben uns unterhalten, eins hat zum anderen geführt und wir sind uns näher gekommen."

Ich hörte ein Raunen durch die Jury gehen.

"Also sind sie schwul?"

"Bisexuell, offensichtlich. Ich habe ja Kinder."

"Sie leben in einer Beziehung?"

"Ja."

"Mit einem Mann?"

"Ja."

"Und trotzdem sind sie einem anderen Mann näher gekommen?"

Sollte jetzt nicht ein Einspruch kommen, weil das nichts zur Sache tut? Der Staatsanwalt rührte sich nicht.

"Na schön … es war ein Fehler, ich habe meinem Freund davon erzählt und er hat mir verziehen. Mein Großvater hat uns dummerweise gesehen. Daraufhin hat er beschlossen, mich zu erschießen."

"Einspruch, Spekulation."

"Stattgegeben."

Er stellte mir noch ein paar Fragen, um mich in Widersprüche zu verwickeln, was, dank der guten Vorbereitung, nicht klappte.

"Keine weiteren Fragen, Euer Ehren."

Damit war ich entlassen. Collin schaute den Staatsanwalt böse an.

"Er hätte eingreifen müssen.", zischte er mir zu.

"Naja, was macht das schon für einen Unterschied?"

"Ich will jetzt nicht das 'Schwulenhasser–Fass' aufmachen. Es hat dich auf jeden Fall Sympathie bei der Jury gekostet."

Es gab erst mal eine Pause, der Richter und die Geschworenen verließen den Saal. Von draußen kam Janet, setzte mir Gwen auf den Schoß und war wieder verschwunden.

"Was soll denn das? Was macht denn die Kleine hier?"

"Daddy."

"Hey mein Schatz, wo kommst du denn her?"

"Auto."

"Soso."

Ich gab ihr einen Schmatz und sie kicherte.

"Also, warum habt ihr Gwen hier her gebracht?"

"Ich weiß, das wird dir nicht gefallen, aber es ist Taktik. Die Geschworenen sollen dich nicht nur als den Kerl sehen, der einem Priester einen geblasen hat."

"Da hast du recht, Collin, das gefällt mir nicht."

"Keine Sorge, wenn die Pause vorbei ist und die Geschworenen wieder da sind, kommt Janet und nimmt Gwen wieder mit raus. Schau dir die Kleine an, sie hat keinen Stress. Sie ist froh, bei ihrem Daddy zu sein."

Er hatte ja recht, trotzdem … Gwen spielte ein bisschen mit meinem ausgeschalteten Handy, bis die Geschworenen wieder herein kamen. Janet kam betont langsam nach vorne, was mir Zeit ließ, Gwen einen Kuss zu geben und ihr zu erklären, dass wir uns bald wiedersehen würden. Sie winkte und brabbelte noch ein deutlich hörbares 'Daddy'. Ich sah, dass ein paar Frauen in der Geschworenenbank lächelten und kam mir schlecht dabei vor.

Mein Großvater wurde aufgerufen. Er wurde von seinen Handschellen befreit, was ein mulmiges Gefühl in meinem Bauch auslöste, obwohl mein Kopf mir sagte, dass das Schwachsinn ist. Nachdem er belehrt worden war und die formalen Fragen beantwortet hatte, erzählte er von dem Tag. Es wurde geklärt, dass die Waffe ordnungsgemäß auf ihn angemeldet und in einer abschließbaren Schublade aufbewahrt worden war. Er betonte, dass er nie vorgehabt hatte, tatsächlich auf mich zu schießen und dass die Tatsache, dass ich schwul war, nicht so schlimm war. Er habe ja noch einen schwulen Enkel, der im Gegensatz zu mir aber ein guter Junge sei.

"Es ging nicht darum, dass er schwul ist, sondern darum, dass er absolut keine Moral kennt."

Der Staatsanwalt fühlte ihm auf den Zahn, denn auf dem Band sagte mein Großvater, dass er vermute, der Priester habe mich verführt, um für seine Familie einen Vorteil daraus zu gewinnen. Ich war so froh, als er endlich nicht mehr weiter erzählte. Mir stand wirklich der Angstschweiß im Gesicht. Mein Großvater stellte die Kugel in den Kopf als Gnadenakt dar, damit ich nicht lange leiden musste.

Endlich war Mittagspause. Ich erschrak fast, als ich Xander sah. Er war leichenblass. Als wir uns in den Arm nehmen wollten, schickte Scott uns dazu tatsächlich auf die Toilette. Xander hielt mir die Tür auf und ich rollte rein.

"Kannst du das glauben? Jetzt darf ich dich schon nicht mehr öffentlich umarmen."

"Scott hat mit den Leuten von der Plattenfirma gesprochen. Sie wollen versuchen, nicht nach außen dringen zu lassen, dass wir zusammen sind."

"Aber allein durch die Berichte über den Prozess wird vermutlich rauskommen, dass ich schwul bin."

"Ja vielleicht, aber nicht, dass ich schwul bin."

"Dabei geht's um dich?"

"Ja … wir sind jünger … unsere Fans sind jünger. Wir haben schon eine Frau als Leadsinger. Ach was weiß ich … ich weiß, das ist Scheiße, aber ich hab gerade keine Wahl."

"Okay …"

"Wie geht's dir?"

"Mies. Ich hab Kopfschmerzen und ich hab echt Schiss vor meinem Großvater. Als er das alles gerade erzählt hat, so kalt ..."

"Ja, ich weiß. Mein armer Schatz."

Er beugte sich runter und nahm mich in den Arm.

"Es tut mir echt leid, Xander, dass du das alles noch mal hören musstest und ich nicht mal da war, um dich in den Arm zu nehmen."

"Hör auf, dich für Dinge zu entschuldigen, für die du gar nichts kannst. Was war das mit Gwen eigentlich?"

"Du wusstest auch nichts davon? Das sollte mich wohl als Familienmenschen zeigen. Ich kam mir echt schlecht dabei vor. Aber ich war auch froh, dass ich Gwen sehen konnte. Ich vermisse sie."

"Ich bring sie mit, sooft ich kann."

"Ich weiß. Wir sollten langsam wieder raus gehen …"

Die Anderen warteten vor der Tür, Gwen kam gleich angelaufen und wollte auf meinem Schoß durch die Gegend gefahren werden. Ich fuhr sie den Gang auf und ab. Ein Kerl kam aus der Toilette und schaute sofort auf den Boden, als er die Menschenmenge sah, die vor der Tür stand. Scott kam rüber.

"War der Kerl schon da drinnen, als ihr drinnen wart?"

"Keine Ahnung, wir haben jedenfalls nicht die Kabinen gecheckt oder so … warum?"

"Das war einer von den Geschworenen. Er hätte eigentlich gar nicht hier sein dürfen."

"Tja, nicht zu ändern …"

Gwen wollte runter und lief rüber zu Xander.

"Worüber habt ihr gesprochen?"

"Die Gwen–Taktik und dass wir das Beide nicht gut fanden. Und über die kalte Art meines Großvaters … und über die Plattenfirma. Nichts, was mich in ein schlechtes Licht stellen würde …"

"Naja … oh, da kommen die Bonannos."

Mum stellte sich neben mich. Dad ging mit seiner Frau und seiner Mutter an uns vorbei. Keiner der Drei hob den Blick. Das war echt zu viel. Sie standen tatsächlich immer noch hinter meinem Großvater, während sie mich im Rollstuhl einfach ignorierten. Ich klappte die Fußstützen zur Seite und stand torkelnd auf. Mum stützte mich sofort. Ich brauchte gar nichts zu sagen, denn mein Dad kam auch sofort rüber und stützte mich auf der anderen Seite. Ich hing zwischen meinen Eltern. Carmen war sichtbar wütend.

"Was machst du denn?!", zischte sie Anthony an.

"Ich weiß nicht …"

"Komm Anthony, du weißt was der Anwalt gesagt hat."

"Geht schon mal vor. Das ist mein Ernst. Geht."

Sie gingen tatsächlich.

"Setz dich wieder hin, Jordan."

"Ich habe jetzt lange genug gesessen. Wo wir davon sprechen. Ich dachte, du sitzt im Gefängnis?"

"Ich habe für die Verhandlung Strafurlaub."

"Ah ja, damit du deinem Vater moralischen Beistand leisten kannst?"

"Das ist kompliziert, mein Junge."

"Links sitzen oder rechts sitzen. Nicht wirklich kompliziert, oder?"

"Die Familie muss das jetzt erst mal gemeinsam durchstehen. Danach kann er von mir aus in der Hölle schmoren."

"Er hat in deinem Auftrag gehandelt."

"Das glaubst du doch nicht wirklich, oder?"

"Doch. Er hat es selbst gesagt."

"Vielleicht meinte er, es für mich zu tun, aber bestimmt nicht in meinem Auftrag. Jordan, ich war geschockt. Das hätte ich selbst von meinem Vater nicht erwartet. Ich habe Tag und Nacht gebetet, dass du nicht stirbst. Ich hab meine Leute geschickt, aber sie konnten nichts erfahren. Ich wusste zwei Tage lang nicht, ob du überlebt hast. Dann wurde ich festgenommen und hab endlich erfahren, dass du lebst, aber nicht wach bist. Nicht mal Renzo durfte zu dir und ich konnte nichts für dich tun. Setz dich. Du überanstrengst dich."

Ich gehorchte und er ging in die Hocke, um mit mir auf gleicher Augenhöhe zu sein.

"Du hättest anrufen können …"

"Ich wollte dich aus all dem, was in der Firma passiert, raushalten. Wenn ich aus dem Gefängnis angerufen hätte, dann hätte sicher jemand falsche Schlüsse daraus gezogen. So ist es das Beste für dich. Ich muss jetzt los."

Er knetete kurz meine Schulter und verschwand. Mein Kopf stach so sehr, dass ich die Augen zusammenkneifen musste und an die Narbe fasste. Mum legte mir die Hand auf die Schulter und erzählte irgendwas davon, dass ich die Farbe des Schmerzes ändern sollte. Alle setzten sich in Bewegung zur Kantine.

"Ich schieb dich ein Stück."

"Wo ist Gwen?"

"Bei Xander."

"Gut …"

Beim Essen wurden die Kopfschmerzen immer schlimmer. Ich merkte selbst, dass es einfach nicht mehr ging.

"Das hat doch keinen Sinn. Ich bring dich zurück ins Krankenhaus."

Klaus half mir noch ins Auto, Mum fuhr. Ich schlief neben Gwen auf der Fahrt ein und wachte erst auf dem Krankenhausparkplatz wieder auf. Ein Arzt hielt mir etwas vors Gesicht.


Sean

Zum Gericht konnte ich leider nicht, als Jordan seine Aussage machte, weil ich eine Klausur schrieb. Brian und der Rest der Band gingen natürlich hin. Er lieh sich von mir ein Hemd. Dazu kam er das erste Mal zu mir nach Hause. Patricia begrüßte ihn beiläufig und widmete sich wieder ihren Lernsachen. Wir gingen ins Schlafzimmer und suchten ein stinknormales, weißes Hemd raus. Ich fand, dass Brian darin toll aussah, er kam sich verkleidet vor, aber ließ es trotzdem an.

"Immerhin riecht es nach dir."

Und schon war er wieder weg, auf dem Weg zum Gericht. In der Mittagspause rief er mich kurz an und erzählte im Groben, was so gewesen war. Eine halbe Stunde später mailte er, dass Carol Jordan zurückgebracht hatte, weil er starke Kopfschmerzen hatte. Ich beschloss, nach meiner Klausur mal nach ihm zu sehen.


Jordan

"Was ist los?"

"Das ist Riechsalz. Sie waren nicht wach zu bekommen."

"Ist es schon dunkel geworden?"

"Haben sie Probleme mit dem Sehen?"

"Ist es nicht dunkel?"

"Aber sie sehen mich?"

"Natürlich, so dunkel ist es ja auch wieder nicht."

"Schaffen sie es in den Rollstuhl?"

Mit dem Arzt schaffte ich es und Mum schob mich rein. Sie sah übermäßig besorgt aus. Als wir ins Zimmer kamen, drückte ich als erstes auf den Lichtschalter. Es wurde hell. Der Arzt und Mum schauten mich verstört an.

"Was denn?"

"Ist es jetzt hell geworden?"

"Ja natürlich, seht ihr doch."

"Jetzt legen sie sich erst mal hin. Ich würde gerne ihren Blutdruck messen."

"Okay … wo ist Gwen?"

"Janet kümmert sich um sie."

"Aber Janet ist doch gar nicht mitgefahren."

"Nein, sie ist mit Gwen im Gericht geblieben."

"Aber Gwen war doch gerade noch neben mir im Auto."

Mum schüttelte dem Arzt zugewandt den Kopf.

"Mr. Bonanno, ich messe jetzt erst mal ihren Blutdruck."

"Okay …"

Offensichtlich war er von dem Ergebnis nicht begeistert.

"Wie ich mir dachte, viel zu hoch. Wir sollte so schnell wie möglich ein CT machen."

Er drückte auf den Schwestern–Knopf und rief von meinem Telefon aus beim CT an, um uns anzumelden. Ich wusste echt nicht, was der sich so aufregte.

Zehn Minuten später lag ich in dieser Röhre und hielt mich so still wie möglich. Als ich raus kam, stand Xander da. Er war geschminkt und sah aus wie früher.

"Wo kommst du denn her? Hast du dich umgezogen? Gut siehst du aus."

"Danke. Und was ist mit dir? Warum blutest du?"

"Was?"

"Na da."

Er deutete auf meine Brust. Mein Kittel war dunkelrot. Ich bekam Panik und versuchte, die Blutung zu stoppen. Eine Schwester kam und jagte mir eine Spritze in den Arm.


Sean

Als ich gegen Drei ins Krankenhaus kam, war Jordans Zimmer leer. Eine Schwester kam auf mich zu.

"Er liegt auf der neurologischen Intensiv."

"Was ist passiert?"

"Spontane intrazerebrale Blutung. Mehr weiß ich auch nicht."

Das konnte alles bedeuten, ich beeilte mich, in den dritten Stock zu kommen. Bevor ich überhaupt ins Zimmer kam, lief mir schon ein Arzt über den Weg.

"Entschuldigung?"

"Ja?"

"Wer behandelt Mr. Bonanno?"

"Ich. Gehören sie zur Familie?"

"Ich stehe als Berechtigter in seiner Krankenakte. Sean Wittmore."

"Gut. Also, bei Mr. Bonanno ist eine so genannte spontane intrazerebrale Blutung aufgetreten. Das bedeutet …"

"Ich studiere Medizin. Ich nehme an, aus einem Hämatom?"

"Ja, er war hyperton."

"Wie stark ist die Blutung, was sind die Symptome?"

"Es ist nicht so schlimm, ein Eingriff wird nicht notwendig sein. Wir bestimmen gerade seine Gerinnungsfaktoren."

"Hat er Lähmungserscheinungen?"

"Nein, psychotische Bewusstseinsstörungen."

"Oh …okay … kann ich zu ihm?"

"Er hat ein Beruhigungsmittel bekommen und schläft vermutlich noch eine Weile. Es ist schon jemand bei ihm, aber kurz rein schauen können sie von mir aus. Die letzte Tür links."

"Okay, danke."

Jordan war am EKG und bekam eine Infusion. Er schlief. Xander saß bei ihm. Als er mich bemerkte, stand er auf und fiel mir halb in den Arm.

"Ich kann nicht mehr, hört dieser Albtraum denn nie auf?"

"Ich hab mit einem Arzt gesprochen. Er sagt, es ist nicht so schlimm."

"Er fantasiert. Er hat sich eingebildet, Gwen säße neben ihm im Auto und er dachte es sei dunkel, obwohl es strahlender Sonnenschein war. Und als er das Licht eingeschaltet hat, dachte er tatsächlich, es würde hell werden … und dann nach dem CT hat er plötzlich mit jemandem geredet, der gar nicht da war und dann hat er angefangen, sich die Brust zu zerkratzen, bis er ruhiggestellt wurde. Carol hat das alles mitbekommen. Sie hat es mir total aufgelöst erzählt und jetzt ist sie zu den Kindern gefahren. Sie sagt, sie hält es nicht aus, ihn so zu sehen. Das erinnert sie zu sehr an seine Drogenzeit. Und ich muss zugeben, ich hab Angst davor, was er wohl zu sehen meint, wenn er aufwacht."

"Ich kann hier bleiben."

"Nein, ich will mit ihm alleine sein."

"Okay …"

Ich ließ ihn los und er setzte sich wieder hin. Ich verstand, welche Gefühle das Geschehene in Xander auslösen musste. Denn man kann den Menschen, den man liebt vor vielem beschützen, aber nicht vor sich selbst. Genau so hatte ich mich gefühlt, als ich von Jordans angeblichen BPS erfahren hatte.

Im Auto rief Brian an. Er wusste natürlich inzwischen auch davon. Summerskin musste noch die Presseleute zufrieden stellen und dann würden wir uns bei ihm zu Hause treffen. Ich wusste ja, wo der Ersatzschlüssel versteckt war.

Als er heim kam, musste ich ihm erst mal erklären, was mit Jordan passiert war und dass man das medikamentös in den Griff bekommen konnte.

"Glaubst du, dass er bald mit uns ins Studio kann?"

"Vielleicht in ein paar Wochen …"

"Das ist doch alles Scheiße. Das Album könnte jetzt schon draußen sein und wir auf PR–Tour. Stattdessen sitzen wir hier rum und haben nichts zu tun."

"Ihr habt viele Pressetermine und ihr probt doch auch mit Andy und Xander …"

"Das Pressezeug ist ein notwendiges Übel und das mit Andy und Xander ist nur dafür gut, dass wir Ideen ausprobieren können. Aber Jordan hat bestimmt auch einige Ideen. Wir können kein Albumkonzept entwickeln, solang wir nicht wissen, ob sein Zeug nicht besser ist …"

"Das ist jetzt gerade nicht zu ändern …"

"Und jetzt hab ich so viel Zeit wie bestimmt für lange Zeit nicht mehr und seh dich trotzdem nur alle paar Tage …"

"Ich schreibe eben noch ein paar Prüfungen …"

"Ich wünschte, du wärst morgens das Erste, was ich sehe …"

"Ich weiß, aber das geht nun mal noch nicht. In einem Jahr …"

"In einem Jahr bin ich vermutlich irgendwo in Europa unterwegs und du wirst eine 60–Stunden–Woche als Assistenzarzt haben."

"Was schlägst du vor, Brian?"

"Zieh zu mir. Scheiß auf deinen Vater. Ich hab mehr Kohle als der."

"Das kann ich doch nicht einfach so machen …"

"Warum nicht? Warum willst du das Jahr noch warten? Ich will jetzt mit dir zusammenleben. Meine Wohnung ist groß genug. Maddy kann ein eigenes Zimmer haben, für die Zeit die sie bei dir ist."

"Wir haben vorher noch nie darüber gesprochen, wie es wäre, zusammenzuziehen."

"Dann lass uns das jetzt tun. Von mir aus reden wir auch von in einem Jahr. Was hast du geplant?"

"Bewerbungen schreiben, Abschluss machen, eine Assistentenstelle annehmen. Ich hab schon etwas Geld bei Seite gelegt. Wenn ich weiß, dass ich ein festes Gehalt bekomme, rede ich mit Patricia, ziehe in eine kleine Wohnung und reiche die Scheidung ein. Und ich sage meinem Dad, dass er hingehen kann, wo der Pfeffer wächst."

"Komme ich in deinen Plänen denn gar nicht vor?"

"Du sagst doch selbst, du bist vermutlich in Europa."

"Aber ich will trotzdem ein Teil deines Lebens sein. Warum willst du dir irgendeine kleine Wohnung suchen, wenn du hier umsonst wohnen kannst?"

"Ich will dir nicht auf der Tasche liegen …"

"Ob die Wohnung leer steht oder du hier wohnst ist doch egal, da liegst du mir doch nicht auf der Tasche!"

"Ich kann doch nicht einfach mit meiner Tochter hier bei dir einfallen …"

"Warum nicht? Sean, wir sind zusammen. Wenn ich eine Frau wäre, würdest du dann auch zögern?"

"Das hat doch damit nichts zu tun. Wir haben einfach noch nie darüber geredet. Ich meine, es macht dich schon nervös, wenn ich dir nach zehn Monaten sage, dass ich dich liebe, aber der Gedanke, dass ich hier mit meiner Tochter einziehen könnte, macht dich kein bisschen nervös?"

"Ich werde bald 30. Ich fange an, über so Dinge wie Familie nachzudenken …"

"Willst du eigene Kinder?"

"Gerne, aber das wird wohl nichts."

"Warum nicht?"

"Sean … du willst es doch nur hören."

"Kannst du es mir verübeln?"

"Nein. Sean, ich plane, sehr, sehr lange mit dir zusammen zu bleiben. Vielleicht sogar für immer."

"Das will ich dir auch geraten haben …"

"Aber dir muss klar sein, dass das die meiste Zeit eine Fernbeziehung sein wird."

"Damit werde ich wohl leben müssen. Es sei denn, ich hänge den Arztberuf an den Nagel und werde Roadie."

"Vielleicht nach der Assistenzzeit, hm?"

"Ja, mal sehen. … Ich sollte langsam los."

"Mein Angebot war ernst gemeint. Ich gebe dir jederzeit das Geld für das Studium."

"Ich denke drüber nach … ich meine, wir könnten eine Art Kreditvertrag abschließen. Mit Zinsen und allem."

"Ach Schwachsinn …"

"Doch, wenn dann so. Ich schreibe morgen früh eine Prüfung und danach schau ich nach Jordan. Was machst du am Nachmittag?"

"Ich gehe mit meinem Freund und seiner Tochter in den Zoo."

"Schön. Dann holen wir dich gegen Drei ab?"

"Okay, dann bis morgen."

"Bis morgen, Brian."


Jordan

Ich wachte auf, weil etwas piepte. Als ich die Augen aufmachte, war es wieder dunkel. Xander saß an meinem Bett.

"Warum sitzt du denn hier im Dunkeln? Und warum hast du dich wieder abgeschminkt?"

"Keine Sorge, die Ärzte sagen, dir geht es bald wieder gut."

"Mir geht es aber gar nicht schlecht."

"Okay. Ich würde mich ja gern zu dir legen, aber da sind so viele Kabel und Schläuche."

"Nicht schon wieder. Ist das wirklich nötig?"

"Für eine Weile, ja."

"Na gut … ich bin wirklich müde …"

"Dann schlaf, mein Schatz."

Als ich aufwachte, war es wieder hell und Xander schlief in einem Stuhl. Das sah wirklich unbequem aus. Eine Schwester kam herein und gab mir Pillen.

"Wollen sie wissen, wofür die sind?"

"Eigentlich nicht. Ich bin mittlerweile so weit, dass ich schlucke, was mir jemand in weißen Klamotten gibt."

Sie lächelte und überprüfte Blutdruck und Puls.

"Alles im normalen Bereich."

"Okay."

Sie deutete zu Xander rüber.

"Der junge Mann sollte sich langsam auf den Heimweg machen. Er war die ganze Nacht hier."

"Ich versuche ihn heimzuschicken, aber ich glaube nicht, dass ich damit Erfolg haben werde …"

"Das glaub ich auch nicht." murmelte er aus der Ecke.

"Du bist ja wach."

"Tief kann man auf dem Stuhl nicht schlafen. Wie fühlst du dich?"

"Gut. Irgendwie high."

"High?"

Die Krankenschwester beugte sich zu mir runter und lächelte.

"Das kommt vom LSD, das ich dir gegeben habe."

Ich lachte los. An der Decke bewegten sich blaue Blumen im Uhrzeigersinn im Kreis und ich hörte 'Lucy in the Sky with Diamonds'. Aber es dauerte nicht lange und das Ganze schlug um und da waren die mir wohl bekannten, grünäugigen Spinnen, die über mich krabbelten. Ich schlug nach ihnen, aber eine schaffte es durch mein Ohr in meinen Kopf und das tat weh.

Es war, als würde ich aus einem Traum aufwachen. Ich stellte fest, dass ich fixiert worden war.


Sean

Gegen Mittag fuhr ich ins Krankenhaus. Xander saß auf dem Gang und war total durch den Wind.

"Was ist passiert?"

"Er hat gesagt, er fühle sich high und hat angefangen zu lachen. Und plötzlich wurde er total panisch. Er hat sich das Gesicht zerkratzt. Jetzt ist er fixiert und wird untersucht."

"Ich fahr dich jetzt nach Hause."

"Okay."

Dass kein Widerspruch kam, beunruhigte mich irgendwie. Etwas später war ich wieder in der Klinik. Ein Arzt sagte mir, das Trommelfell des rechten Ohres sei perforiert. Sie wollten abwarten, wie stark Jordans Hörvermögen eingeschränkt war. Momentan schlief er noch. Ich setzte mich neben ihn und wartete eine halbe Stunde, bis er aufwachte. Er war alles andere als erfreut, festgeschnallt zu sein.


Jordan

Sean saß neben mir. Die Blumen waren weg, und die Musik auch.

"Bist du wach?"

"Ja, siehst du doch. Warum bin ich fixiert?"

"Zu deiner eigenen Sicherheit. Du hast dir selbst das Ohr zerkratzt. Dein Trommelfell ist angerissen. Was hast du gesehen?"

"Da waren Spinnen …"

"So wie bei einem deiner Horrortrips?"

"Das war ein Horrortrip. Eine der Krankenschwestern hat mir LSD gegeben."

"Jordan, du halluzinierst."

"Aber sie hat es doch selbst gesagt!"

"Wie sah sie aus?"

Ich beschrieb sie ihm. Er ging kurz raus und kam nach ein paar Minuten zurück.

"In der Frühschicht arbeitet niemand, auf den die Beschreibung passt. Du hast sie dir nur eingebildet. Aber das geht vorbei. Es ist zwar ungewöhnlich, aber das kommt von einer kleinen Gehirnblutung …"

"Es war real. Ich kann das ja wohl noch unterscheiden. Ich hab genug Erfahrung mit Halluzinogenen. Die Spinnen gehörten zum Trip, aber die Frau war echt. Der Trip war echt. Ich war auf LSD."

"Beruhige dich erst mal."

"Wunderbar, du glaubst mir eh nicht."

"Ich glaube dir, dass du wirklich davon überzeugt bist."

"Wo ist Xander?"

"Zu Hause."

"Red mit ihm, er hat sie auch gesehen."

"Na schön. Ich muss ihn ohnehin anrufen … bin gleich wieder da."

Sean kam ewig nicht zurück. Da lag ich also, mit dem Riemen um die Brust, und konnte mich überhaupt nicht rühren. Ich konnte nicht mal in die Kamera winken, von wo aus mich das Personal sicher beobachtete.


Sean

Ich rief Xander an, um ihm zu sagen, dass Jordan wach war.

"Hat er Probleme mit dem Hören?"

"Davon hat er zumindest nichts gesagt. Er war zu beschäftigt, mir von seinem LSD–Trip zu erzählen. Er hat sich wohl eine Halluzination eingebildet. Ziemlich schräg, was?"

"Ja … hat er sonst noch was gesehen?"

"Spinnen und eine Krankenschwester, die gar nicht da war."

"Hm … Wir konnten ihn nicht davon abhalten, sich zu verletzen. Ich weiß gar nicht, wo er die Kraft hergenommen hat …"

"Wer war eigentlich noch dabei?"

"Na diese Krankenschwester, die ihm die Medikamente gebracht hatte."

"Kannst du sie beschreiben?"

"Ehm, 1,60, braune Haare, vielleicht 30 …"

"Genau so hat Jordan sie auch beschrieben…"

"Okay … und weiter?"

"Ich muss was überprüfen."

"Alles okay?"

"Ich ruf nachher wieder an."

Ich redete noch mal mit dem Pflegepersonal. Von den acht Leuten, die Dienst hatten, passte wirklich niemand auch nur entfernt auf die Beschreibung und niemand wusste, wer Jordan am Morgen die Medikamente gebracht hatte. Auf der Liste war er abgehakt und sein Becher war leer.

"Wir sollten ihn auf LSD testen, oder irgendwelche anderen Halluzinogene. Ich glaube, Jemand hat ihm was gegeben."

"Das Blut ist schon im Labor. Ich sage ihnen, wonach sie suchen sollen."

Eine halbe Stunde später hatten wir das Ergebnis.

"Positiv auf Lysergsäurediethylamid und 2,5–Dimethoxy–4–methylamphetamin. Aber wie kann das denn sein?"

Man sah auf dem Monitor, dass Jordan ganz ruhig im Bett lag und in die Kamera starrte.

Der Oberarzt war inzwischen auch dazu gekommen.

"Das erklärt all die Symptome, die wir der Blutung zugeschrieben haben. Vielleicht sogar die Blutung selbst. LSD wirkt blutdruckerhöhend."

"Oder ihm wurde noch etwas anderes gegeben. Etilefrin zum Beispiel. Das könnte man jetzt vermutlich nicht mehr nachweisen …"

"Wir sollten die Polizei einschalten. DOM wirkt erst nach zwei Stunden. Er hat es also vermutlich kurz vor seiner Aussage bekommen. Wahrscheinlich wollten die ihn als Junkie dastehen lassen, aber das Zeug hat wegen Jordans Vergangenheit nicht so stark gewirkt, wie sie es wollten."

"Dieses Zeug hätte ihn in seinem Zustand töten können. Wenn die Blutung stärker gewesen wäre, oder mehr Raum eingenommen hätte …"

Ich hatte schon mein Handy in der Hand und rief den Detective aus San Diego an, der bis zum Ende der Verhandlung in der Stadt sein würde. Er kam sofort mit ein paar Kollegen vorbei. Ich rief das Kindermädchen an, dass ich Maddy nicht nehmen konnte. Sie meinte, sie müsse aber dringend zum Arzt und konnte den Termin wirklich nicht verschieben. Patricia war nicht zu erreichen, also rief ich Brian an.

"Hey, kommst du später?"

"Ich befürchte, ich kann gar nicht kommen …"

"Ist was passiert?"

"Was mit Jordan. Aber mach dir keine Sorgen. Hör mal … ich weiß, es ist viel verlangt, aber …"

"Sag schon."

"Könntest du vielleicht zu mir nach Hause fahren und ein paar Stunden auf Maddy aufpassen? Das Kindermädchen hat einen wichtigen Termin und ich finde so schnell niemand Anderen …"

"Klar, kein Problem. Wo ist Patricia?"

"Keine Ahnung. Ihr Handy ist aus. Wenn sie nach Hause kommt, soll sie mich anrufen."

"Okay. Dann mach ich mich mal auf den Weg."

"Danke Brian, ich schulde dir was."

"Ach Quatsch. Ich verbring gern Zeit mit Maddy."

Wir schilderten den Polizisten, was wir rausgefunden hatten. Sie wollten Blut, um den Test zu wiederholen. Ich ging also zu Jordan, um ihm zu erklären, was passiert war.


Jordan

Endlich kam Sean hereingeschlichen.

"Wo warst du denn so lange?"

"Ich hab ein bisschen nachgeforscht. Du hattest recht. Die Frau heute Morgen hat dir LSD gegeben. Und am Mittwoch standest du vermutlich auch unter Drogen."

"Was?!"

"Die Polizei ist schon da, sie wollen noch eine Blutprobe."

"Okay … werde ich dann endlich losgebunden?"

"Du bist noch auf LSD …"

"Ach komm, das ist Stunden her. Ich bin wieder klar."

"Nach der Blutprobe vielleicht …"

Der Oberarzt persönlich nahm mir unter dem strengen Blick der Polizisten Blut ab. Sie glotzten blöd auf mich runter, ich glotzte blöd zurück und wartete nur darauf, einen Kommentar von ihnen zu hören. Ich konnte es kaum erwarten, dass sie endlich verschwanden und ich losgebunden werden würde. Sean ging noch mit ihnen raus und kam ein paar Minuten später recht missmutig zurück.


Sean

Ich schämte mich fast dafür, wie provokativ Jordan die Polizisten anstarrte. Im Gang meinte der Detective aus San Diego noch zu mir:

"Ein wahrer Sonnenschein, ihr Freund."

"Er hat in letzter Zeit viel durchgemacht …"

"Die Kollegen bringen das ins Labor und ich höre mich hier noch ein wenig um."

"Dann geh ich mal wieder zu Jordan."

"Ich kann verstehen, dass er keine Cops mag. Die haben ihm das Leben damals ganz schön ungemütlich gemacht, als er noch Drogen vertickt hat."

"Woher … ? Ich meine …"

"Seine Akte wurde nicht gelöscht. Er war bei seiner letzten Verhaftung ja schon volljährig."

"Ich weiß nichts von einer Verhaftung …"

"Mr. Wittmore, ich weiß nicht, wie sie an den Kerl geraten sind, aber egal ob er nun von den Geschäften seiner Verwandtschaft gewusst hat oder nicht, seine Weste ist auf keinen Fall blütenweiß."

"Das muss ewig her sein …"

"Zwischen 94 und 96 hat er seine kriminellen Energien nur so fließen lassen."

"Warum erzählen sie mir das?"

"Ich habe etwas recherchiert. Anwältin Wildgrove ist ihre Schwester."

"Ja, das stimmt."

"Und sie hat ihnen nie erzählt, dass gegen die Bonannos ermittelt wird?"

"Doch, aber da war ich schon nicht mehr mit Jordan zusammen. Sie hat ihn nicht gleich mit den San Diego–Bonannos in Verbindung gebracht. Er hatte ja auch keinen Kontakt zu ihnen."

"Warum haben sie ihm nichts davon erzählt?"

"Weil ich zu der Zeit keinen Kontakt zu ihm hatte und außerdem waren es ja nur Gerüchte …"

"Na gut, aber nehmen sie sich in Acht, dass sie in nichts mit hineingezogen werden."

"Vergessen sie nicht, wer hier das Opfer ist. Jordan hätte durch das Zeug sterben können."

"Ich schließe momentan nicht aus, dass er es selbst genommen hat."

"So ein Schwachsinn. Warum hätte er das machen sollen?"

"Vielleicht ist er wegen der Verhandlung nervös geworden und wollte sich beruhigen."

"Dann hätte er wohl Beruhigungsmittel geschluckt. Außerdem, wie hätte er denn an LSD oder DOM kommen sollen?"

"Er hatte doch Besuch, oder?"

"Aber keiner von denen würde ihm was geben."

"Na wenn sie das sagen … Ich geh mir mal die Videoaufnahmen besorgen …"

Ich ging zurück zu Jordan, der immer noch mies gelaunt war.

Naja, ab hier hab ich eigentlich nicht mehr viel hinzuzufügen. Warum schreibst du das eigentlich immer noch auf?


Jordan

Suchtverlagerung. Ich kann einfach nicht aufhören.

"Machst du mich jetzt mal los? Sonst mach ich in die Hose."

"Ich hole jemanden der das darf."

Eine Schwester kam und machte mich los. Ich setzte mich langsam auf. Sean schob den Rollstuhl ans Bett und machte den Sensor weg. Endlich konnte ich, mit Infusion, ins Bad fahren. Für einen Moment meinte ich wieder, grünäugige Spinnen zu sehen. Ich spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht, das reichte um sie zu verscheuchen. Als ich zurückkam, hatte ich plötzlich einen Riesenhunger.

"Ich hab Hunger."

"Ich schau, ob ich was auftreiben kann."

"Wo ist eigentlich Xander?"

"Zu Hause, bei den Kindern."

"Muss das Teil noch dran bleiben?"

"Das ist in einer viertel Stunde durchgelaufen, das wirst du noch aushalten. Ich schau jetzt nach Essen."

Kurz darauf kam er mit Toast und Käse zurück.

"So, sind Sandwichs genehm?"

"Klar. Solange keine Spinnen drauf sind …"

"Hast du eigentlich Probleme beim Hören?"

"Nein, alles wie immer."

"Gut. Ich muss das nachher noch mal desinfizieren …"

"Erst Essen."

"Natürlich, erst Essen."

"Du hast mir schon ewig keine Sandwichs mehr gemacht."

"Stimmt."

"Ich vermisse es, Sandwichs gemacht zu bekommen. Jetzt muss ich immer für andere Sandwichs machen …"

"Der kleine Jordan ist erwachsen geworden."

"Vielleicht will ich das aber gar nicht."

"Tja, zu spät …"

"Kommt Xander bald wieder?"

"Jetzt gönn' ihm doch mal ne Pause. Ich bin ja da."

Am nächsten Morgen kam ich wieder in mein altes Zimmer. Die Polizei befragte mich noch ewig darüber, was ich am Morgen der Verhandlung gegessen hatte, wer mir Pillen gegeben hatte und so weiter. Aber ich hatte selbst nicht den blassesten Schimmer, wann ich das DOM geschluckt haben könnte. Und das schlimmste war, dass ich merkte, dass ich mehr wollte. Die Schmerzmittel wurden heruntergeschraubt. Es fühlte sich an wie ein kleiner Entzug, ich bekam sogar Fieber. Xander tauchte nicht auf. Ich war alleine. Ein Polizist war vor meiner Tür und überprüfte Jeden, der zu mir wollte. Medikamente durften mir nur nach Überprüfung durch einen Arzt gegeben werden. Manchmal dachte ich, mein Kopf würde gleich zerspringen. Zu Hause nahm niemand ab.

Am Tag darauf, es war Sonntag, ging es mir eher noch schlechter. Xander war nirgendwo zu erreichen. Langsam fing ich an, mir Sorgen zu machen. Als ich gerade Janet anrufen wollte, klopfte es.

"Ja?"

Nikki stand in der Tür.

"Hallo."

"Was machst du denn hier?"

"Können die Kinder rein kommen?"

"Ja natürlich."

Josh kam strahlend mit seiner Schwester auf dem Arm herein.

"Hallo ihr Beiden."

"Hey Dad."

"Was macht ihr denn hier?"

"Wir waren gerade bei einem Spiel hier in der Nähe. Und Gwen wollte dich unbedingt besuchen."

"Soso, Gwen also."

"Na gut und ich auch …"

"Dachte ich es mir doch."

"Warum bist du so blass?"

"Medikamentenumstellung. Morgen geht's mir wieder gut."

"Also kannst du nicht ein bisschen mit uns raus in den Garten?"

"Ein andermal, mein Kleiner. Kannst du mit deiner Schwester zum Getränkeautomaten gehen und ihr Saft besorgen?"

"Klar."

"Kleingeld ist in der obersten Schublade."

"Weiß ich doch."

"Was machst du hier?"

"Ich wollte dich sehen. Und die Kinder auch."

"Warum sind die Beiden überhaupt bei dir?"

"Xander ist übers Wochenende zu seinen Eltern geflogen."

"Dann hätte Janet eben aufpassen sollen."

"Jordan, ich hab ein Recht auf sie, wenigstens jedes zweite Wochenende."

"Ich will aber nicht, dass du die Kinder siehst."

"Das ist aber mein gutes Recht. Sie sind auch meine Kinder."

"Ach, plötzlich?"

"Ich weiß und ich verstehe auch, warum du so reagierst. Aber ich bin jetzt wirklich clean. Der Groschen ist gefallen. Und ich will meine Kinder um mich haben. Ihnen gefällt es bei mir. Glaub mir, ich bin nicht mehr dieselbe."

"Stimmt. Meine Nikki hätte Josh nicht gegen meinen Freund aufgehetzt. Und sie hätte einer Reporterin keine Lügengeschichten aufgetischt."

"Sie hat mir das Wort im Mund verdreht. Und das mit Xander … er ist einfach überfordert und wer kann es ihm vorwerfen? Und all die schwulenfeindlichen Sprüche, die Josh plötzlich ausgepackt hat, kamen nicht von mir, auch wenn Xander mir das immer vorgeworfen hat. Und er schluckt Pillen."

"Schwachsinn."

"Doch, Jordan. Josh erzählt, dass er kaum noch schläft, sondern die ganze Nacht Gitarre spielt. Und er hat diese kleine Dose in seiner Jackentasche. Ich geb zu, ich hab rumgeschnüffelt."

"Ich will nichts davon hören. Du denkst dir das doch alles bloß aus, um uns auseinander zu bringen, damit du mich wiederhaben kannst."

"Du irrst dich, Jordan. Ich bin mit jemand Anderem zusammen. Die Kinder wissen es nur noch nicht."

"Ich muss mit Xander reden."

"Er kommt heute Abend zurück. Ich glaube, ich bring die Kinder jetzt besser nach Hause."

Irgendwie hatte ich schon öfter ein komisches Gefühl gehabt. Und ich wusste ja, dass Xander früher Pillen geschluckt hatte. Es machte Sinn. Je länger ich darüber nachdachte, desto logischer wurde es. Irgendwann kam mir der Gedanke, dass er mir die Pillen untergeschoben haben könnte. Aber das war total paranoid. Als er abends um Acht hereinschneite, war ich wütend auf ihn.

"Wo warst du? Warum hast du mich zwei Tage alleine gelassen?"

"Ich brauchte mal eine Pause und ich hatte noch was mit meinen Eltern zu klären."

"Warum hast du die Kinder bei Nikki gelassen?"

"Woher weißt du das?"

"Sie war mit ihnen hier."

"Oh … ich hatte keine Wahl. Sie kann ihr Besuchsrecht ohne Weiteres vor Gericht durchsetzen …"

"Ohne dass ich irgendwas dazu sagen kann?"

"Sie ist die Mutter, red mit Scott darüber."

"Komm her."

"Ich dachte schon, du willst den ganzen Tag sauer auf mich sein."

Er kam näher. In seiner linken Hosentasche erkannte ich den Umriss der Pfefferminz–Büchse, in der er schon damals seine Pillen aufbewahrt hatte. Als er mich küsste, griff ich in die Tasche und zog sie heraus.

"Was machst du?!"

Ich nahm den Deckel ab und fand die Bestätigung.

"Es ist nicht, wie du denkst … ich muss doch irgendwie Geld verdienen. Meine Eltern zahlen nichts mehr. Ich muss bald wieder Studiengebühren überweisen, und mein Auto ..."

"Verkauf mich nicht für blöd. Ihr habt an der Tour nicht schlecht verdient."

"Ja, aber wir haben Instrumente gekauft und das Tonstudio und der Probenraum müssen auch bezahlt werden …"

"Du bringst das Zeug mit nach Hause, zu meinen Kindern?"

"Ich hab es immer bei mir, sie kommen nicht dran."

"Deshalb hat Nikki auch nur in deine Jackentasche fassen müssen und die Box gefunden. Mit so einer Scheiße hat sie vor Gericht gute Chancen, das Sorgerecht zu bekommen."

"Jetzt übertreib mal nicht …"

"Du schluckst auch selbst was, oder?"

"Nein, natürlich nicht!"

"Dann macht es dir ja auch nichts aus, einen Test zu machen, oder?"

"Was soll denn der Scheiß, vertraust du mir nicht?"

"Ich glaube, das ist alles zu viel für dich. Ich denke, Mum sollte die Kinder holen und du solltest erst mal wieder clean werden."

"Josh fährt nächste Woche ins Baseball–Camp. Und mit Gwen komm ich klar."

"Xander, das stimmt einfach nicht. Du bist total am Ende. Ich hab es gemerkt, aber wollte es nicht wahr haben. Ich hätte nicht so sehr auf dich bauen sollen. Du bist noch so jung …"

"Komm mir nicht so! Was ich in den letzten Monaten alles leisten musste, hätte jeden fertig gemacht, egal wie erwachsen!"

"Ja, wahrscheinlich. Jedenfalls rede ich mit allen und du konzentrierst dich jetzt auf die O–Scars und zwar ohne Pillen. Ich bin gut versorgt, Gwen wird gut versorgt werden und Josh bekomme ich für die eine Woche auch noch irgendwo unter."

"Ich hab echt mein Bestes gegeben, Jordan."

"Ich weiß. Komm her, leg dich zu mir."

Er kletterte ins Bett und legte sich wie ein kleines Kind in meinen Arm, bis die Nachtschwester ihn darauf hinwies, dass die Besuchszeit längst vorbei sei.

Am nächsten Morgen rief ich Janet an und sagte ihr, dass Xander eine Pause brauchte.

"Allerdings. Wenn Nikki in den letzten Wochen nicht so oft eingesprungen wäre, hätten wir echt ein Problem gehabt."

"Nikki?"

"Ja, natürlich. Wusstest du das nicht? Sie ist echt ganz anders als damals und die Kinder sind gern mit ihr zusammen."

"Okay … irgendwie hab ich von Xander da ganz andere Sachen gehört …"

"Irgendwie können sich die Beiden nicht riechen, ich weiß …"

"Hast du Nikkis Nummer?"

"Hey, Nikki, ich bin's."

"Hey, ich hatte gehofft, dass du dich meldest."

"Hast du Zeit, heute noch mal mit den Kindern vorbeizukommen?"

"Klar. Ich hab um Vier aus, dann hol ich die Beiden."

"Okay."

Wir gingen in den Garten, Josh hatte eine kleine Digitalkamera von seiner Mutter bekommen, mit der er fleißig Fotos schoss. Während die Kinder herumliefen, erzählte Nikki mir von ihrem Entzug und ihrer Gruppe, zu der sie zwei Mal in der Woche ging, und auch von ihrem Job als Assistentin bei einer Zeitschrift. Sie hatte eine kleine Wohnung, war aber auf der Suche nach was Größerem. Alles hörte sich ganz vernünftig an. Sie betonte noch mal, wie leid ihr alles tat und dass sie jetzt wirklich gerne für die Kinder da sei. Ihre Eltern unterstützten sie scheinbar auch wieder …

"Wie sind deine Arbeitszeiten so?"

"Flexibel. Ich kann auch viel von zu Hause aus machen. E–Mails schreiben und so."

"Kannst du die Kinder diese Woche nehmen?"

"Klar, kein Problem."

"Wirklich?"

"Natürlich. Gwen kann ich mit ins Büro nehmen, da gibt es auch Kinderbetreuung. Und Josh kommt meistens eh nicht vor Drei heim, mit dem ganzen Sport den er macht. Ich krieg das hin."

"Und ansonsten kann Janet ja auch aushelfen."

"Was ist mit Xander?"

"Er braucht ne Pause."

"Okay."

Das Beste an der Sache war, dass ich nicht mal ein schlechtes Gewissen haben musste, es waren schließlich auch ihre Kinder.

Nikki rief mich jeden Tag an und ließ mich mit Josh sprechen. Er fand es toll, bei seiner Mum zu übernachten und er machte mit ihr fleißig Hausaufgaben und half überall kräftig mit. Im Hintergrund hörte ich öfter Gwen lachen, am Ende der Woche sagte sie Mama. Xander hatte sich während der Zeit nicht gemeldet. Janet erzählte, er sei seit Montagabend nicht mehr zu Hause gewesen. Als er sich am Wochenende immer noch nicht gemeldet hatte, rief ich Andy an.

"Oh, ja klar, der ist hier. Wir sind im Studio. Heiße Phase. Wir haben schon acht Songs fertig."

"Und wo schläft Xander?"

"Na bei mir. Ich wohne nicht weit von hier."

"Achso, und wie lange wird das noch dauern?"

"Keine Ahnung. Willst du mit ihm sprechen?"

"Nein, wenn er mit mir reden will, wird er schon anrufen."

"Oh–Kay …"

"Bye Andy."

Ich war wütend auf Xander, weil er sich nicht gemeldet hatte. Aber ich hatte ihm ja gesagt, dass er sich um nichts mehr kümmern brauchte. Die Sommerferien hatten begonnen, und am Montag fuhr Josh für drei Wochen in sein Camp. Gwen blieb bei Nikki. Die Beiden besuchten mich fast jeden Abend. Xander meldete sich auch die nächsten beiden Wochen nicht. Ich war ganz ehrlich zu stolz, um ihm hinterher zu telefonieren. Wenn er Abstand brauchte, konnte er ihn haben. Die Jungs schauten vorbei und hatten einige Demos dabei. Sie blieben, bis die Nachtschwester sie um halb Neun rausschmiss. Ich war total heiß aufs Studio und übte fleißig mit den Krücken. Innerhalb von einer Woche machte ich einen riesigen Sprung. Treppen waren kein Problem mehr und ich fühlte mich bald sicher genug, um alleine herumzugehen. Langsam dachte ich daran, wie es wäre, nach Hause zu kommen. Das einzige Problem war, dass mich jeden Tag jemand zur Physiotherapie fahren müsste. Nikki suchte im Internet nach Physiotherapiezentren in der Nähe meiner Wohnung und fand eines, das mit dem Bus in zehn Minuten erreichbar war.

Am sechsten August wurde meine Entlassung vorbereitet. Ich erzählte es nur Nikki, die mich am Nachmittag mit Gwen abholte und nach Hause brachte. Sie würde das Wochenende über bei uns bleiben, denn es war durchaus fraglich, ob ich mit Gwen alleine klar kommen würde. Sie konnte schneller laufen als ich humpeln und ich konnte sie mit den Krücken nicht hoch nehmen. Auf dem Weg nach oben klingelten wir bei Janet. Das war eine gelungene Überraschung. Oben legte ich mich erst mal eine Weile in Joshs Zimmer hin, während Nikki sich ums Essen kümmerte. Die Wendeltreppe zum Atelier würde wohl erst mal noch eine Weile unüberwindbar für mich sein, aber es war trotzdem toll, wieder zu Hause zu sein. Josh rief auf dem Handy an und ich erzählte ihm, dass ich zu Hause sei. Am Samstag gingen Nikki und ich mit Gwen in den Park. Es wurde ein richtig schöner Tag. Am Abend wickelte ich Gwen alleine. Auf dem Boden war das kein Problem, da konnte ich dabei ja sitzen. Am Sonntag kamen Ned und Elly vorbei. Sie fragten nach Xander. Ich hatte ihn fast drei Wochen nicht gesehen, nicht mal gesprochen. Als mir das bewusst wurde, bekam ich Angst. Warum hatte er sich immer noch nicht gemeldet? Und warum hatte ich mich nicht bei ihm gemeldet? Was war bloß los?

Am Abend rief Brian an.

"Ich hab in der Klinik angerufen und erfahren, das du seit Freitag zu Hause bist."

"Ja, ich wollte mich erst mal ein wenig eingewöhnen …"

"Schon okay. Hör mal, ich will dich nicht drängen, aber wir gehen morgen ins Studio. Wir haben drei Songs, die so genial sind, dass sie auf jeden Fall aufs Album sollen. Die wollten wir instrumental aufnehmen. Wenn du Lust hast …"

"Auf jeden Fall! Aber irgendwer müsste mich abholen."

"Kein Problem. Ist dir Neun zu früh?"

"Nein, überhaupt nicht. Ich kann's kaum erwarten."

"Cool. Dann sehen wir uns morgen."

Ja! Es ging bergauf.

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