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A longer Way

Teil 6

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Die Ärztin öffnet langsam die Tür und lässt mich hinter sich eintreten. Unter der Bettdecke erkennt man eine deutliche Erhebung. Kein Geräusch bricht die Stille. Erst als ich näher herantrete, höre ich tiefe, schwere und unregelmäßige Atemzüge.

„Xander?“

Ich sehe, dass sich der Körper unter der Decke vor Schreck anspannt.

„Xander, ich bin’s. Darf ich zu dir?“

Als keine Reaktion folgt, setze ich mich neben ihn an den Bettrand und streichle da, wo ich seine Schulter vermute.

„Ich lasse sie dann jetzt alleine“, verkündet Doktor Garcia und verlässt den Raum.

Als die Tür ins Schloss gefallen ist, frage ich:

„Was ist denn bloß passiert, Liebling?“

Endlich bekomme ich so was wie eine Antwort. Ein Seufzen und ein Schulterzucken.

„Darf ich zu dir unter die Decke?“

Er nickt. Ich hebe also vorsichtig eine Ecke an, sehe kurz einen bandagierten Arm und schlüpfe dicht neben meinen Freund. Er umarmt mich, drängt sich an mich wie ein kleines, ängstliches Kind. Ich kann richtig spüren, wie schlecht es ihm geht. Ich rieche Angst und eine leichte Blutnote.

„Was ist passiert?“, frage ich noch mal.

„Schlechte Träume.“

„Aber … was ist mit deinem Arm passiert?“

„Ich konnte irgendwie nicht aufhören.“

„Wie geht’s dir jetzt?“

„Weiß nicht.“

„Wollen wir mal etwas Licht rein lassen?“

„Aber dann siehst du mich …“

„Ja, ich seh dich gern, Liebling. Also darf ich?“

Er zuckt die Schultern, was ich als Ja deute und die Decke zurückschlage. Es dauert einen Moment, bis sich meine Augen wieder an das plötzlich grell wirkende Tageslicht gewöhnen. Dann sehe ich Xander an.

Seine Wangen sind blutig gekratzt. Tausend rote Punkte sind auf seiner hellen Haut verteilt. Verschämt hält er sich die Hände vors Gesicht.

„Tut mir leid“, schluchzt er.

Ich bin für einen Moment zu geschockt, um etwas zu sagen oder zu tun. Dann nehme ich ihn in den Arm. Ganz fest. Sodass ich ihn nicht anschauen muss. Oh Gott. Ich habe Angst. Ich weiß nicht, wie ich Xander helfen kann. Aber ich muss irgendwas tun! Ich küsse ihn und versuche, ihm dadurch Kraft zu geben. Etwas Positives. Ich weiß auch nicht.

„Ich liebe dich“, flüstert er irgendwann und ich kann sehen, dass er es noch nie so sehr empfunden hat, wie in diesem Moment.

Wir gehören zusammen. Dieses Gefühl ist so intensiv, dass ich am ganzen Körper zittere.

„Ich hätte dich niemals verlassen dürfen. Ich hab mich selbst verraten, und vor allem auch dich.“

„Was ist damals passiert?“, frage ich und weiß, dass ich diesmal eine Antwort bekommen werde.

Weinend erzählt er mir alles. Brian hatte recht. Es ging um den Erfolg der Band. Er wurde vor ein Ultimatum gestellt und hat sich gegen uns und für den Vertrag entschieden. Und das war erst der Anfang. Diese Leute haben den O-Scars alles vorgeschrieben, über Jahre, bis heute. Xander schwört mir, dass er nie etwas mit Andy am Laufen hatte. Sie sei doch wie eine Schwester für ihn! Und da war noch mehr. Die Pillen. Diese Firma hat seine kompletten Behandlungskosten übernommen. Und sie haben damit Druck auf ihn ausgeübt.

Meine Hände sind zu unauflösbaren Fäusten geballt. Auch wenn ich das alles schon geahnt habe, es jetzt mit absoluter Sicherheit zu wissen … und das Schlimmste ist, dass die O-Scars immer noch bei denselben Menschen unter Vertrag sind! Sicher haben sie die Band weit gebracht, aber zu welchem Preis? Und die Songs … Xander erzählt, dass es jedes Mal ein Kampf ist, was Selbstgeschriebenes auf ein Album zu kriegen. Sogar da wird ihnen reingepfuscht! Ich laufe im Raum auf und ab und wettere gegen diese Haie. Xander sitzt in sich versunken auf dem Bett und nickt nur ab und an zustimmend. Ich hab mich richtig in Rage geredet und komme erst wieder zur Besinnung, als Xander wieder anfängt zu weinen. In zwei Schritten bin ich bei ihm und halte ihn fest. Ich muss was tun! Ich weiß nur nicht, was.

Mein Blick fällt auf die Uhr.

„Fuck! Es ist halb zwölf!“

Wo ist nur die Zeit hin?! Ich hole mein Handy raus und wähle Kates Nummer.

„Ja?“

„Hey, kannst du mir einen Gefallen tun und schon mal Gwen abholen? Ich komm ein bisschen später.“

„Was ist denn los?“

„Ich wurde aufgehalten. Also, geht das klar?“

„Sicher, kein Problem.“

„Danke Kate. Ich schulde dir was.“

Kaum habe ich aufgelegt, klingelt das Telefon neben Xanders Bett. Er reagiert nicht.

„Willst du nicht dran gehen?“

„Ich hab Angst, dass das meine Mutter ist.“

„Warum hast du Angst davor?“

„Weil ich zurzeit vor allem Angst habe“, gibt er leise zu.

„Dann lass es einfach klingeln.“

„Sie will nicht, dass ich mit dir zusammen bin.“

„Kann ich verstehen.“

„Sag so was nicht! Ich liebe dich und ich kann nicht ohne dich leben. Und wenn sie das nicht akzeptiert, dann muss sie mich einfach in Ruhe lassen. Ich will nicht immer mit ihr streiten müssen. Das kostet mich zu viel Kraft.“

„Okay, dann setz dich erst mal nicht mit ihr auseinander.“

„Ich will meine Familie nicht verlieren.“

„Wirst du nicht. Sie lieben dich und sie werden bald sehen, dass wir es zusammen hinkriegen und dann werden sie sich für uns freuen.“

„Das glaub ich nicht. Mein Vater … wenn er erfährt, dass ich jetzt doch wieder mit einem Mann …“

Er hält sich die Hände vors Gesicht und weint schon wieder. Ich kann jetzt unmöglich einfach gehen. Das Telefon wird stumm. Gott sei Dank.

Aber es dauert keine zehn Sekunden und das schreckliche Surren geht wieder los. Xander zuckt arg zusammen.

„Kann man das Scheißding nicht irgendwo ausstecken, verflucht?!“

Schließlich ziehe ich den Stecker aus der Wand. Diese Stille! Herrlich.

„Danke Schatz.“

Schon geht die Tür auf und eine Schwester kommt herein.

„Mr. Paulson, die Pforte hat angerufen. Ihre Mutter steht dort. Sie ist aber nicht mehr auf der Besucherliste, darum wird sie nicht durchgelassen.“

Xander sieht mich Hilfe suchend an.

„Lass uns das jetzt durchziehen“, erkläre ich kurzentschlossen. „Ich bin bei dir.“

Also nickt er der Pflegerin zu. Während wir auf seine Mutter warten, habe ich ihn ganz fest im Arm und rede ihm gut zu. Er ist erstaunlich gefasst.

Bis seine Mutter hereinstürmt. Sie schaut mich an, als wäre ich der Teufel.

„Raus!“

„Nein.“

„Raus mit dir oder ich rufe den Sicherheitsdienst!“

„Bei allem Respekt. ICH bin nicht derjenige, der nicht auf der Besucherliste steht.“

„Lass mich mit meinem Sohn allein. Jetzt sofort!

„Jordan? Kannst du kurz draußen warten?“, fragt Xander vorsichtig.

Ich schaue ihn überrascht an. Seine Mutter schreit auf:

„Um Gottes Willen! Was ist denn mit deinem Gesicht passiert?!“

Sie stürmt auf ihren Sohn zu. Ich hab keine Wahl, stehe auf, um sie vorbeizulassen. Ich gehe, schließe die Tür hinter mir und warte. Warte und warte. Zuhause sitzt meine Familie vermutlich gerade beim Essen. Und ich warte hier. Über eine halbe Stunde dauert es, bis die Tür aufgeht. Xanders Mutter kommt heraus, ziemlich verweint.

„Ich kann Xander nichts mehr verbieten, aber in meinem Haus bist du nicht willkommen.“

Ich weiß nicht, wie ich mich verteidigen soll. Sie würde mir ohnehin nichts glauben, also nicke ich nur und sehe zu, wie sie verschwindet.

Xander sitzt am Fensterbrett. Seine Wangen sind von einer weißen Salbe überzogen. Er reagiert erst auf mich, als ich ihm meine Hand auf die Schulter lege. Er sieht mich aus erstaunlich klaren Augen an.

„Versprich mir, dass nichts uns wieder auseinander bringt.“

„Ich verspreche es.“

Er zieht mich zu sich und küsst mich. Dann fängt er völlig unvermittelt doch wieder an zu weinen. Die Salbe verteilt sich auf meinem Shirt, er reibt sie an mir, nach Trost und Halt suchend.

Nach einer Weile trage ich ihn ins Bett. Ich bin schockiert, wie leicht er ist.

„Geh nicht weg.“

„Niemals.“

Mein Handy vibriert. Eine SMS von Dylan. Wo ich denn bleibe. Meine Handyuhr sagt mir, dass es nach eins ist. Verdammt. Was mach ich denn jetzt? Eigentlich ist mir das aber klar. Ich kann Xander jetzt nicht allein lassen. Also mache ich mein Handy aus und kuschle mich eng an meinen Freund. Jetzt ist alles gut. Ich schließe die Augen, rieche ihn, fühle ihn.

„Schatz?“

Xander haucht mir einen Kuss auf die Lippen.

„Was? Oh, verdammt! Ich bin eingeschlafen. Wie spät ist es?“

„Gleich drei.“

„Scheiße!“

„Du musst los.“

„Kann ich dich allein lassen?“

„Komm morgen Vormittag, okay?“

„Okay.“

Ich küsse ihn noch, dafür muss Zeit sein.

In der Rekordzeit von vierzig Minuten schaffe ich die Strecke.

Oh oh. Nikkis Auto steht in der Einfahrt. Ich stelle den Wagen ab und gehe zögerlich auf das Haus zu. Diesmal nutze ich nicht den Schlüssel, sondern klingle.

Es dauert nur ein paar Sekunden bis Kate öffnet. Mit steinerner Miene lässt sie mich eintreten. Im Wohnzimmer sitzen Josh und Dylan, die gerade die Zwillinge füttern.

„Hey …“

Beide werfen mir statt einer Begrüßung nur einen eisigen Blick zu.

„Wo ist Gwen?“

„Oben im Kinderzimmer.“ Dylan steht auf und legt April neben Josh, bevor er auf mich zukommt. „Sie weint sich die Augen aus dem Kopf, weil ihr Papa nicht da war, wie versprochen.“

„Ja, ich konnte nicht, ich wurde aufge…“

„Spar dir das.“

„Aber …“

„Weißt du, wie du mit mir umgehst ist eine Sache. Auch den Streit zwischen dir und Josh kann ich ertragen. Aber dass du ein Versprechen brichst, das du deiner Sechsjährigen gegeben hast, nur um noch ein paar Stunden länger mit deinem Kerl im Bett liegen zu können!“

„So war das doch überhaupt nicht!“, entrüste ich mich.

„Sicher. Schau dich doch mal an! Deine zerknitterten, fleckigen Klamotten …“

„Das ist Salbe!“

„Was auch immer! Du warst nicht da. Ende. Die Gründe sind egal!“

„Und jetzt?“

„Am besten gehst du einfach.“

„Ich muss mit Gwen reden und ihr erklären, warum ich nicht da war.“

„Nikki kümmert sich schon um sie.“

„Warum habt ihr die denn geholt?!“

„Weil eure Tochter nicht mehr zu beruhigen war und abwechselnd nach ihrem Papa und ihrer Mama geschrien hat. Tja, Nikkis Handy war an. Im Gegensatz zu deinem.“

„Ich geh jetzt und red mit ihr.“

„Wie du meinst.“

Endlich tritt mir Dylan aus dem Weg.

Nikki sitzt mit Gwen auf dem Schoß auf der kleinen gelben Couch im Kinderzimmer. Sie hält unsere Tochter, als wäre sie noch ein Baby. Normalerweise würde die Kleine lautstark protestieren, aber jetzt ist sie mit Schluchzen beschäftigt. Meine Exfreundin sieht auf, ihre Augen verengen sich zu Schlitzen. Ich ignoriere das und setze mich neben die beiden.

„Gwen? Schätzchen …?“

Sie schaut mich kurz aus roten Augen an, was mir einen gewaltigen Stich ins Herz versetzt. Dann dreht sie sich ärgerlich weg und vergräbt ihr Gesicht im Oberteil ihrer Mutter.

„Es tut mir leid, dass ich dich habe warten lassen. Aber der Nachmittag ist noch nicht vorbei. Wir können immer noch Gitarre spielen. Komm schon, Spätzchen, lass uns den größten Verstärker, den wir finden können, aus dem Keller holen.“

„Ich will nicht mehr Gitarre spielen!“, schreit sie mir ins Gesicht und verschwindet gleich darauf wieder im Stoff von Nikkis Bluse.

„Aber Schatz, das hat dir doch so viel Spaß gemacht. Komm, sei ein großes Mädchen und hör auf zu weinen. Dann können wir noch was zusammen unternehmen. So versaust du dir bloß auch noch den restlichen Nachmittag.“

Nikki zieht scharf die Luft ein und schaut mich warnend an. Ich zucke nur die Schultern und stehe auf.

„Also Gwen, ich warte unten auf dich. Wenn du in den nächsten Minuten kommst, kannst du noch das Alien-Effektgerät ausprobieren, ansonsten mach ich’s alleine.“

Ich gehe geräuschvoll zur Tür und hoffe, dass der Bluff funktioniert.

Unten sitzen Dylan, Josh und Kate ganz verschworen auf der Couch. Ja, böser Jordan. Ich hab’s ja schon verstanden.

„Ich bin im Keller, falls jemand nach mir fragt“, verkünde ich und bin schon wieder weg.

Ich muss einiges an Kram beiseite räumen, um an mein Equipment zu kommen. Ein paar Gitarren in ihren Koffern, Kabel, Verstärker, Effektgeräte, Ordner mit Tabs drin und alles was man sonst noch so braucht. Davon werde ich gleich mal einiges ins Auto packen. Demnächst sollte in der Wohnung ja wieder Platz dafür sein. Ich krame rum, sortiere aus, entstaube und schwelge in Erinnerungen, bis ich die Türe oben höre. Jemand steigt die Treppe herab. Die Schritte sind zu schwer, als dass es Gwen sein könnte. Dylan steht nach ein paar Sekunden vor mir. Ich drücke ihm eine Schachtel in die Hand.

„Kannst du das schon mal zum Auto bringen?“

„Jetzt? Du fängst jetzt an, dein Zeug mitzunehmen?“

„Worauf soll ich denn noch warten?“

„Glaubst du nicht, du solltest erst das mit deiner Tochter klären?“

„Die kommt schon runter, wenn sie sich beruhigt hat. Ich kenn doch meine Kleine.“

„Sie sind vor fünf Minuten gefahren.“

„Was?! Verdammt, Nikki versaut’s echt ständig!“

„Nein, Gwen wollte weg. Nikki hat versucht, sie zu überreden, noch zu bleiben. Aber sie wollte nicht. Josh und Kate sind auch mitgefahren.“

„Spitze. Ich lad schnell das Auto voll und dann hast du wieder deine Ruhe.“

„Was ist eigentlich los, Jordan?“

Er setzt wieder diesen einfühlsamen Blick auf, der mir immer Schuldgefühle einimpft. Aber diesmal nicht.

„Ach komm schon, Dylan. Gwen hat total überreagiert. Manchmal kommen Erwachsene eben zu spät, das ist doch kein Grund, die Pferde scheu zu machen …“

„Das ist doch nicht dein Ernst, oder? Glaubst du, ihr geht es nur um die Verspätung? Sie vermisst dich! Und sie spürt, dass ihr euch entfremdet und das macht ihr Angst.“

„Das ist doch Bullshit. Erst vor ein paar Tagen …“

„Ja, da hast du ihr mal wieder teure Geschenke gemacht und sie mit Süßigkeiten vollgestopft. Aber langsam kommt sie in ein Alter, wo das nicht mehr reicht. Sie wünscht sich deine Anerkennung, checkst du das nicht? Warum meinst du, hat sie sich die Gitarre ausgesucht? Doch nur weil sie wusste, dass dir das gefallen würde!“

„Ach Quatsch, ich hatte damit nichts zu tun. Die hat sie ganz allein gefunden.“

„Zufall war es trotzdem nicht. Jordan, ich weiß, dass in deinem Leben gerade viel Neues passiert, aber du kannst das Alte nicht einfach so ausradieren!“

Er klingt seltsam verletzt.

„Das will ich doch auch gar nicht! Ich geb mir alle Mühe, es allen recht zu machen. Aber ich kann mich nicht vierteilen!“

„Vielleicht solltest du dann deine Prioritäten noch mal überdenken …“

„Xander hat mich heute am allerdringendsten gebraucht. Ich konnte ihn nicht allein lassen. Zu dieser Entscheidung stehe ich.“

„Du stellst ihn also über deine Familie?“, fragt Dylan ungewohnt leise.

„Das hab ich nicht gesagt. Aber er GEHÖRT zu meiner Familie.“

Dylans Augen wechseln von einem überraschten zu einem enttäuschten und dann zu einem resignierenden Ausdruck.

„Ach so ist das. Na gut, ich bringe die Kiste zu deinem Wagen. Und dann kümmere ich mich um die Zwillinge. Weißt du, Jordan, du hast die beiden nicht mal kurz begrüßt. Ich glaube, du liebst sie nicht mehr. Vielleicht willst du die Adoption annullieren. Das geht erstaunlich einfach …?“

Das scheint sein Ernst zu sein. Und er sagt das nicht, weil er die Babies für sich allein haben will. Im Gegenteil. Er hat Angst vor meiner Antwort. Ich muss schlucken. Er denkt tatsächlich, ich würde nicht mehr der Vater seiner Kinder sein wollen. Langsam nehme ich ihm den schweren Karton wieder ab, stelle ihn beiseite, nehme meinen Ehemann in den Arm.

„Niemals“, flüstere ich. „Ich liebe diese Kinder. Und nichts wird das jemals ändern.“

Er atmet tief durch, scheint sich zu entspannen. Als er sich löst, sehe ich Tränen in seinen Augen. Ich habe ihn mal wieder falsch eingeschätzt. Er verkraftet das Ganze nicht annähernd so gut, wie er es erscheinen lässt.

„Kann ich noch ein bisschen Zeit mit euch verbringen?“, bitte ich.

„Wir würden uns freuen.“

Nachdem der Kofferraum voll ist, wärmt mir Dylan ein paar Reste vom Mittagessen auf. Zu viert sitzen wir am Tisch. April schafft es schon, sich in ihrem Hochstuhl eine Weile aufrecht zu halten. Jake wird in seiner Wippe gefüttert. Dylan erzählt vom Zentrum und von den Babies und ich erzähle von der Musik und, nachdem Dylan mir versichert hat, dass er es wirklich hören will, auch von Xander.

„Es ist schön, dich hier zu haben. Wenn auch nur als … Fr…“

„Sag es noch nicht“, bitte ich. „Ich glaub, ich bin noch nicht bereit dazu, dich so zu nennen.“

Er nickt verständnisvoll und setzt mir April auf den Schoß.

„Windelwechselzeit“, grinst er.

Das Stereo-Wechseln haben wir immer noch gut drauf und den Babies scheint es auch Spaß zu machen.

„Ich kann es gar nicht erwarten, die Zwei wieder öfter um mich zu haben. Wenn erst mal das Kinderzimmer eingerichtet ist …“

„Ah, gut dass du’s sagst! Für übermorgen ist die Wohnungsübergabe geplant. Am Vormittag fangen sie an mit dem Ausräumen. Sollte nicht so lange dauern. Ich komm dann so gegen elf, wenn das in Ordnung ist?“

„Sicher. Dann kann ich endlich loslegen. Das wird klasse. Und Ria hat schon angekündigt, dass sie meine Einkaufsberaterin wird.“

„Ich werde nicht zulassen, dass mein Sohn in einem rosa Mädchenzimmer aufwächst“, droht Dylan.

„Vince kauft Danny Barbiepuppen“, fällt mir dabei ein.

Mein Mann ist geschockt und belustigt zugleich. Wir lachen miteinander, total normal. Dylan ist sooooo toll!

„Hör mal, Jordan, ich wollte dich eigentlich nicht drum bitten, aber es gibt da so eine Sache …“, stammelt er unvermittelt.

„Spucks schon aus!“

„Also am Freitagabend ist so eine Gala … eine ziemlich wichtige. Viel Prominenz, viel Presse. Vanessa und ich sind eingeladen. Und du.“

„Ich?“, frage ich überrascht.

„Naja, die Einladung ist an Mr. und Mr. Handerson adressiert. Und du weißt ja, wie das ist. Wenn ich alleine hinkomme, dann wird immer nachgefragt und ich weiß nicht, was ich dann sagen soll. Und das Zentrum braucht gerade jede Unterstützung. Ich will die Aufmerksamkeit also nicht unbedingt auf unser Privatleben lenken …“

„Bittest du mich, dich zu begleiten?“

„Wenn du es irgendwie einrichten könntest …?“

„Klar.“

„Sehr gut. Dann hol ich dich gegen sieben ab?“

„Meine schicken Klamotten sind alle noch hier. Wie wärs, wenn ich einfach hierher komme zum Umziehen?“

„Auch gut.“

„Wen bringt Vanessa mit?“

„Das weiß sie noch nicht.“

„Was ist mit dem Freund, den sie hatte?“

„Vergangenheit.“

„Achso.“

„Du sollst dich mal bei ihr melden, wegen den Forschungsarbeiten.“

„Stimmt. Mache ich die Woche noch.“

„Sie ist jetzt übrigens umgezogen …“

Dylan erzählt eine Weile von ihr, erwähnt auch noch mal, dass er am Freitag unbedingt die von ihr geschenkte Krawatte tragen muss. Irgendwie empfange ich seltsame Schwingungen. Oder bilde ich mir das bloß ein? Es wird jedenfalls langsam Zeit, dass ich mich auf den Heimweg mache. Seminarvorbereitungen warten auf mich. Und eigentlich sollte ich Gwen noch anrufen. Oder mache ich das besser morgen? Naja, sie soll etwas Zeit bekommen, um sich abzuregen.

Zuhause platze ich ins Schlafzimmer, wo Vince und Ria gerade …

„Verdammt, könnt ihr nicht abschließen?!“, knurre ich, während ich meine Augen bedecke und rückwärts wieder hinausgehe.

Gut, dass ich noch keine Box getragen habe, die hätte ich vor Schreck sicher fallen lassen. Xander 2 kommt aus dem Bad.

„Hey …“

„Ach, kannst du mir vielleicht ein paar Sachen aus dem Auto holen helfen?“

„Sicher“, zuckt er gelangweilt die Schultern.

Auf der Treppe begegnen wir Tobey, der auch kräftig mit anpackt und mich danach noch auf ein Bier einlädt. Da ich mich eh noch nicht in Rias Zimmer zurück traue, nehme ich an. Ich erzähle von Gwens Gitarre, bekomme die aktuellsten Ultraschallbilder zu sehen und eine neue Komposition auf dem Keyboard zu hören.

„In die größere Wohnung passt dann mein Klavier auch wieder“, entschuldigt er sich.

„Das Zeug ist trotzdem toll. Ich bin zurzeit auch wieder ziemlich produktiv. Xander und ich schreiben zusammen.“

Er fragt mich, wie es Xander geht. Ich erzähle ihm von den Verletzungen und auch vom Grund unserer Trennung damals.

„Da wird einem erst so richtig klar, was für ein Glück wir mit Scott damals hatten“, erklärt Tobey. „Er hat nicht zugelassen, dass wir an die falschen Leute geraten. Die O-Scars sollten sich schnell nach Alternativen umsehen.“

„Tja, so einfach ist das vermutlich nicht.“

„Dann brauchen sie halt ein paar Anwälte und so. Geld sollte ja wohl kein Problem sein …“

„Das wohl nicht, nein. Wenn es Xander erst mal besser geht, sehen wir weiter.“

„Xander 2 hat dir übrigens auf den Hintern geschaut.“

„Was?!“, pruste ich in mein Bier.

„Jedes Mal, wenn du vor ihm die Treppe hochgegangen bist. War sehr witzig mitanzusehen.“

„Dylan hat gar nicht erwähnt, dass er schwul ist.“

„Vielleicht weiß er es nicht.“

„Er weiß alles über die Leute, die er in die Wohnung lässt.“

„Hm, naja, vielleicht weiß der Junge es selbst noch nicht? Ich meine, er ist noch jung …“

„Kann sein. Naja, er wird noch eine Zeit lang bei mir wohnen. Ich werd’s also vermutlich rausfinden. Und jetzt sollte ich Vince und Ria mal auseinanderreißen. Ich brauche meine Unterlagen, um noch was zu lernen.“

„Ja, Janet wird vermutlich bald heimkommen. Ich sollte was kochen und so …“

Kurze Zeit später klopfe ich an Rias Schlafzimmertür.

„Komm rein!“, höre ich Vince.

Ria bewundert gerade die Sonne an der Wand und küsst dabei Vinces Nacken. Voll bekleidet inzwischen.

„Ich bin gleich wieder verschwunden, ich brauche nur ein paar Sachen von hier drinnen.“

„Bleib ruhig. Ich muss sowieso los. Wenn diese Verrückte mich mal lässt“, lächelt er selig.

„Geh doch!“, tut Ria beleidigt und bekommt für die Zickerei sogar einen Versöhnungskuss.

Dann reißt er sich doch los, flüstert ihr noch etwas zu, gibt mir dann meine Begrüßungs- und gleichzeitig Verabschiedungsumarmung und geht.

Ria schaut verklärt auf die Sonne.

„Ist er nicht großartig?“

„Mh-Hm. Also ist alles wieder okay zwischen euch?“

„Wir haben geredet … und Sex gehabt … und noch mehr geredet und noch mehr …“

„Schon gut, ich erkenne das Muster.“

Die Tür geht wieder auf. Vince.

„Ich hab vergessen, dir das zu geben.“

Er drückt mir ein Foto in die Hand, von Gwen mit der Gitarre.

„Oh, wow!“

„Ja, sie macht sich verdammt gut auf Fotos.“

Mir fällt ihr Modeljob wieder ein. Ich war immer noch nicht bei einem Shooting dabei. Ich hab keine Ahnung, wie oft sie das macht. Ich kenne ihren Alltag wirklich kaum.

„Danke.“

„Alles in Ordnung?“, fragt Vince besorgt.

„Klar, sicher. Ich bin nur etwas müde.“

„Na gut, ich bin dann mal weg. Bye, meine Süße“, schmachtet er in Rias Richtung, die daraufhin seufzt und noch breiter lächelt.

Ich lasse mich gar nicht auf ein Gespräch ein, sondern verziehe mich mit meinem Lernkram in die Küche. Da bin ich zum Glück ungestört. Ich muss morgen unbedingt mit Gwen sprechen. Ich weiß nur nicht, wann ich das noch schaffen soll. Naja, das muss halt irgendwie gehen.

Den Vormittag verbringe ich mit Xander, dem es zwar etwas besser geht, aber immer noch nicht gut. Raus möchte er nicht, weil er nicht will, dass ihn jemand so sieht. Er erzählt mir, wie er nach der Trauerfeier erst ewig im Auto gesessen und dann den Entschluss gefasst hatte, nicht mehr leben zu wollen. Er hat einfach aufgegeben, wollte nicht mehr fühlen, was er fühlte. Diese Hoffnungslosigkeit und die Sehnsucht, von der er dachte, sie würde nie mehr erfüllt werden können. Er erzählt, wie er in die Apotheke gegangen ist, um sich massenweise Aspirin zu besorgen, wie er sich ein Bad eingelassen, sich ausgezogen, in das warme Wasser gelegt und sich von der Welt verabschiedet hat. Dabei habe er nicht geweint. Er sei erleichtert gewesen, endlich seine Bürde los zu sein, sich nicht mehr durch sein Leben kämpfen zu müssen. Auch jetzt weint er nicht. Im Gegensatz zu mir. Ich bettle ihn an, mich nie allein zu lassen, nehme ihm das Versprechen ab, so etwas nie wieder zu tun, mache ihm Vorwürfe, küsse ihn, finde es unfassbar, dass er keinen anderen Ausweg mehr gefunden hat.

Nach dem Mittagessen verabschiede ich mich mit verquollenen Augen und verspreche ihm, am nächsten Nachmittag wiederzukommen.

Irgendwie scheint mir plötzlich alles so … unbedeutend. Das Seminar bei Tisha, die ganze Uni. Ich meine, wofür mache ich das eigentlich? Ich will mein Geld in der Musikbranche verdienen. Nach einem Collegeabschluss wird man da eher selten gefragt. Aber ich reiße mich zusammen, beantworte die hypothetischen Fragen, nehme an den sinnlosen Diskussionen teil und notiere mir brav die Aufgaben für’s nächste Mal.

In der Pause zwischen den Seminaren sitze ich wieder im Innenhof. Diesmal versuche ich das,was Xander mir erzählt hat, in einem Song zu verarbeiten. Wie irre kritzle ich auf meinen Block, bis mich eine Hand auf der Schulter hochfahren lässt.

„Verzeihung, ich wollte sie nicht erschrecken“, erklärt Michael Buttler.

„Nein, ja, ich war nur gerade etwas versunken.“

„Schön, dass sie etwas haben, das sie mit so großer Leidenschaft betreiben.“

„Ja, naja. Es hat auch seine Schattenseiten.“

„Zum Beispiel, dass man einen Herzinfarkt bekommt, wenn sich jemand so anschleicht wie ich?“, grinst er und setzt sich neben mich.

„Ja. … Sie arbeiten also für Vuza?“

„Ah, sie haben sich informiert.“

„Ich hab die Rede im Fernsehen gesehen.“

„Ja, das war wirklich gute Arbeit von ihnen. Ich habe das Gefühl, wir würden uns gut ergänzen. Ich neige zu steifen Wendungen, sie finden dafür lockerere Worte, die dennoch authentisch klingen. Wissen sie, wir suchen immer noch Leute für das Wahlkampfteam …“

„Oh, ich weiß nicht so recht.“

Etwas in seinem Blick ändert sich.

„Also, was ist es bei ihnen?“, fragt er verbittert. „Rassismus oder Homophobie?“

„Sehen sie, genau das ist das Problem!“, schnappe ich zurück. „Ihr Kandidat versteckt sich hinter seiner Andersartigkeit. Wow, er ist schwarz und wow er ist schwul. Aber wofür steht er sonst noch? Und dieses ganze spirituelle Gequatsche, sorry, aber damit kann ich einfach nichts anfangen.“

„Okay, diese Begründung ist neu. Aber ich kann sie gut nachvollziehen. Mit Ramirs Spiritualität musste ich mich auch erst mal anfreunden. Aber das ist eben ein wichtiger Teil von ihm. Dass wir für nichts außer Andersartigkeit stehen, ist allerdings einfach nicht korrekt. Werfen sie doch mal einen Blick in unser Wahlprogramm online. Teilen sie mir nächste Woche ihre endgültige Entscheidung mit. Ich muss noch ein paar Anrufe machen. Wir sehen uns drinnen.“

Schon verschwindet er und lässt mich etwas verdutzt zurück.

Gerade noch, bevor es Zeit ist, in die Klasse zu gehen, denke ich daran, bei Gwen anzurufen. Josh geht dran.

„Hey, ich bin’s.“

„Hallo Jordan.“

„Ist deine Mum da?“

„Geht es um Gwen? Sie will dich nicht sehen.“

„Gib mir bitte deine Mutter“, fordere ich mit Nachdruck.

„Dylan zwingt mich, morgen beim Umzug zu helfen.“

„Was ist mit Schule?“

„Lehrerkonferenz.“

„Okay, naja, vielleicht können wir dann mal in Ruhe reden.“

„Glaub ich nicht.“

„Wir sehen uns morgen. Ich muss los. Bitte sagt deiner Schwester wenigstens, dass ich angerufen habe.“

„Mal sehen.“

Im Seminar geht es vor allem um die Plenumssitzung, die ich mir letzten Freitag natürlich nicht im Lokal-TV angesehen habe. Buttler wirft mir ein paar vorwurfsvolle Blicke zu. Als es um die Zeitungsthemen geht, kann ich ein wenig mitmischen. Am Ende hören wir noch ein Referat von einem Streber im Karohemd. Keine Ahnung, worüber der überhaupt redet.

Ich will mich fast bekreuzigen, so froh bin ich, als er seine Ausführungen um zehn nach acht schließlich beendet. Diesmal lasse ich mich nicht mehr aufhalten, sondern stürme nach einem kleinen Wink Richtung Dozenten aus dem Raum. Heute brauche ich meinen Schlaf.

Um halb acht werden Ria und ich von lautem Krach auf dem Flur geweckt. Der Umzug ist schon in vollem Gange. Wir mischen uns da nicht weiter ein, sondern frühstücken erst mal. Wir lassen uns aufklären, dass die neue Wohnung eine halbe Stunde entfernt liegt und sie sich keinen Möbeltransporter gemietet haben, sondern alles in drei oder vier Fuhren mit einem normalen Auto transportieren wollen. Das dauert natürlich seine Zeit.

Ich fahre kurz einkaufen und komme zurück, als das Auto gerade zum zweiten Mal beladen wird. Diesmal kann ich mich nicht mehr drücken und packe ein bisschen mit an.

Gegen zehn kommen auch Dylan und Josh. Ich verwende in letzter Zeit häufig das Adjektiv ‚eisig’ in Zusammenhang mit meinem Sohn. Und auch dieses Mal trifft es das wieder. Er hilft beim Verpacken von Kleinkram, aber kaum betrete ich den Raum, schnappt er sich irgendeine Kiste, die er scheinbar dringend zum Auto bringen muss.

„Ich wusste gar nicht, dass Dylan einen Neuen hat“, reißt Ria mich aus meinen Gedanken.

„Hä? Was? Seit wann?“, frage ich überrascht und spüre einen Schwall Eifersucht in mir aufsteigen.

„Na den Kerl, den er dabei hat …?“

„Was?! Josh?! Nein! Iiiieh, oh Gott, NEIN! Josh ist mein Sohn.“

„Was?!“

„Er ist gerade mal sechzehn, also bitte!“

„Oh … ich dachte, er wäre so in meinem Alter …Aber sechzehn! Moment … dann warst du ja erst fünfzehn!“

„Lange Geschichte. Und jetzt werde ich ihn mal abpassen. Er ist sauer auf mich.“

„Ist mir aufgefallen. Ich dachte, das ist wegen Dylan …“

„Waaah! Jetzt hör auf damit! Allein die Vorstellung!“

Ich flüchte aus dem Raum und treffe Josh im Treppenhaus.

„Können wir reden?“

„Hab zu tun.“

„Josh, bitte.“

„Was gibt es denn zu sagen?“

„Dass ich froh bin, dass du da bist, zum Beispiel. Und dass ich dich vermisse. Und dass ich mir wünsche, dass wir Frieden schließen.“

„Weißt du eigentlich, wie das Leben bei uns zuhause ist, seit du fort bist?! Neben der Schule müssen Kate und ich uns auch noch um zwei Babies kümmern! Und Dylan! Du hast ihm das Herz gebrochen! Das hat er nicht verdient. Alles in seinem Leben kollabiert gerade und du laberst ihn auch noch mit Xandergeschichten zu! Aber du bist viel zu selbstsüchtig und unsensibel, um zu merken, was du ihm antust! Deine Handlungen haben Konsequenzen. Und mit denen müssen wir alle jetzt leben. Ich bin verdammt wütend auf dich, und dazu hab ich auch jedes Recht! Also LASS-MICH-ZUFRIEDEN!“

Damit schiebt er sich an mir vorbei und rennt die Treppen hoch in die Wohnung.

Oh Gott. Er hat recht. Er hat absolut recht. Die Kinder sind bei einer Trennung die Leidtragenden. Das sagt man so. Und es ist verdammt wahr. Aber was kann ich jetzt noch tun? Nichts. Ich hab genau das getan, was jeder, der mich kennt, erwartet hat. Jordan als Ehemann. Das konnte doch nur schief gehen. Ich hätte ihnen so gerne das Gegenteil bewiesen. Allen. Vor allem den Bonannos. Was würde mein Vater sagen, wenn er mich jetzt sehen könnte? Er würde nie so etwas tun. Er hätte sich nicht von Leidenschaft leiten lassen, sondern wäre pflichtbewusst geblieben. Eine Erkenntnis trifft mich. Er hat genau denselben Fehler gemacht wie ich. Wenn auch aus anderen Motiven. Er hat sein Baby und die Frau, die er liebte, verlassen. Um den Erwartungen seiner Familie zu entsprechen. Er ist keinen Deut besser als ich. Nein. Ich bin keinen Deut besser als er.

„Jordan?“

Dylan flüstert meinen Namen. Ich nehme die Hände vor meinem Gesicht weg und sehe ihn an.

„Egal was Josh gesagt hat …“, redet er weiter.

„Nein, er hat nur die Wahrheit gesagt. Was ich dir antue, tut mir so leid. Aber ich kann nicht anders.“

„Ich weiß. Aber ich kann auch nicht anders.“

Er küsst mich.

Seine Wangen glühen und seine Lippen zittern fiebrig. Wenn es doch nur ein wollüstiger Kuss wäre, dann hätte ich keine Skrupel, ihn sofort zu beenden. Aber es ist ein Verzweiflungskuss. Ich kann ihm das nicht verwehren. Dazu bin ich zu schwach. Nach einigen Sekunden beendet Dylan selbst das Geschehen. Ohne etwas zu sagen, dreht er sich um und geht zurück nach oben.

Ungläubig berühren meine Fingerspitzen meine Lippen. Sie fühlen sich prall und warm an. Ich bleibe an Ort und Stelle stehen, muss mir erst mal darüber klar werden, was ich empfinde. Nein. Xander. Nach wie vor. Was soll ich jetzt machen? Wo soll ich hingehen? Wieder nach oben in die Wohnung? Das wäre zu merkwürdig. Vielleicht sollte ich mich erst mal für eine Weile verziehen. An den Strand oder so. Ja, das sollte ich tun.

Ich bin gerade am Laden vorbei, als ich meinen Namen wieder aus Dylans Mund höre. Diesmal lauter und weiter entfernt.

„Jordan! Warte.“

Als ich mich umdrehe, sehe ich ihn aus dem Haus auf mich zu joggen. Ich bleibe stehen und bereite mich innerlich darauf vor, meinen Ehemann von weiteren Dummheiten abzuhalten. Aber er bleibt zwei Meter von mir entfernt von selbst stehen.

„Es tut mir leid. Ich hätte das nicht tun dürfen.“

„Ganz richtig!“, schnauze ich zu meiner eigenen Überraschung. „Wie kommst du dazu, mich in so eine Situation zu bringen?! Wie soll ich denn jetzt damit umgehen? Egal was ich mache, alles ist verkehrt.“

„Ich weiß. Tut mir leid, ich hab mich gehen lassen. Das kommt nicht wieder vor. Ich will wirklich, dass wir es schaffen, wie Freunde miteinander umzugehen.“

„Aber wir sind verheiratet, in Gottes Namen!“

„Wir müssen eben einen Weg finden. Und der beginnt damit, dass ich dich nicht mehr einfach küssen darf. Keine gemeinsamen Nickerchen auf der Couch mehr und keine versehentlichen Liebesschwüre am Telefon. Am besten halten wir vorerst etwas mehr Abstand“, erklärt er.

„Vielleicht sollten wir das versuchen“, pflichte ich ihm bei.

„Okay … ich tausche noch die Schlösser aus, dann bin ich weg.“

„Gut.“

„Gut.“

Er geht ein paar Schritte auf das Haus zu, dann fragt er:

„Aber bei Freitag bleibt es doch, oder?“

„Ich weiß, wie wichtig das ist. Ich werde da sein.“

„Danke.“

Ich gehe in die andere Richtung davon.

Erst nach einer Minute oder so traue ich mich, über meine Schulter zurückzusehen. Dylan ist verschwunden. Ich taste in meiner Hosentasche nach meinem Autoschlüssel. Da ist er. Ich will jetzt gleich zu Xander fahren. Kurzentschlossen gehe ich zum Wagen und fahre los.

Kurz vor halb zwölf parke ich. Malik lässt mich anstandslos passieren und ich komme gleichzeitig mit dem Mittagessen in Xanders Zimmer an. Wir küssen uns, genießen die Schmetterlinge im Bauch, lächeln uns einfach nur an. Worte sind nicht nötig. Xander isst sogar, ohne dass ich ihn dazu auffordere. Danach liegen wir einfach nur im Bett und hören einander beim Atmen zu. Ich spüre Xanders Herzschlag und bin plötzlich total überwältigt davon. Das ist ein Wunder. Das Leben, wie alles zusammenarbeitet und funktioniert und wie die einzelnen Teile diesen einen, besonderen Menschen bilden, der die Liebe meines Lebens ist. Nach jedem Herzschlag warte ich eine schreckliche Sekunde lang auf den nächsten. Was, wenn das Organ einfach aufhört, seine Aufgabe zu erledigen? Was, wenn irgendein kleiner Defekt das ganze System stilllegt? Was, wenn mir dieser Mensch, wodurch auch immer, genommen wird? Xander zieht mich weg von seiner Brust und an seinen Mund.

„Der Moment zählt“, flüstert er.

Ich versuche, den Moment festzuhalten. Aber schon ist er wieder weg. Die Zeit rauscht an uns vorbei, wir werden nicht ewig hier liegen können.

„Ich muss zur Therapie.“

Ich nicke und lasse Xander aufstehen, bleibe selbst einfach liegen und sehe den Baumspitzen vor dem Fenster zu, wie sie sich leicht hin und her bewegen. Ein Vogel zwitschert. Leben pulsiert nicht nur hier drinnen, sondern auch da draußen. Wir alle gehören zusammen, ticken in einem Takt, atmen dieselbe Luft, werden von der gleichen Sonne gewärmt. Das Leben hat so viel zu bieten. Ich muss es mir nur nehmen. Ich will Xander. Ich will ihn mehr als alles andere. Ich will seinen Körper. Ich will seinen Geist. Ich will sein Herz. Und ich bin bereit, alles zu tun, um ihn glücklich zu machen.

„Schläfst du?“, fragt er.

„Nein.“

„Du hast gelächelt.“

„Ich hab an dich gedacht.“

„Die ganze Stunde lang?“

„Die ganze Stunde lang. Und ich hab immer noch nicht genug an dich gedacht.“

„Kann ich in deinen Arm, während du weiter an mich denkst?“

„Du darfst mich sogar küssen, während ich weiter an dich denke.“

Unsere beiden Systeme verschmelzen. Meine Augen sind die ganze Zeit über weit offen, beobachten Xanders entspannte Gesichtszüge, während unsere Zungen sich umkreisen. Ich muss all diese Gefühle in mir mit ihm teilen, halte ihn ganz fest, drücke mich an ihn, versuche, durch die Kraft meiner Gedanken in seinen Kopf zu gelangen, meine plötzlich, mich selbst durch seine Augen zu sehen, lächle, denke ganz fest an alles, was ich Xander sagen möchte, bis seine Stimme die Stille durchbricht.

„Ich liebe dich auch. Mehr als alles. Und ich werde nie wieder von deiner Seite weichen, so lange ich lebe.“

Er hat mich gehört. Natürlich hat er das. Weil wir eins sind.

Immer wenn ich von Xander weggehe, fühle ich mich gestärkt und allem gewachsen. Auch wenn ich es kaum erwarten kann, ihn wiederzusehen.

Am Freitag sitzen wir nebeneinander auf der Bank unter der Weide. In den letzten Tagen haben Xander und ich über vieles geredet. Über Politik, über Familie, vor allem darüber, dass ich die Zwillinge mit hierher nehmen könnte. Natürlich möchte er die beiden kennenlernen und seine Ärztin findet die Idee auch gut. Jetzt muss ich nur noch mit Dylan darüber sprechen.

„Sehen sie dir ähnlich?“, fragt Xander.

„Die Zwillinge? Nein, allein schon, weil unsere Leihmutter asiatisch aussieht …“

„Bist du der Vater? Oder Dylan?“

„Das verraten wir nicht.“

„Aber ihr wisst es?“

„Sicher wissen wir es. Ich meine, einer von uns musste ja schließlich in einen Becher wichsen.“

„Ich hab gehört, dass es Paare gibt, die das Sperma vermischen lassen und dann die Natur entscheiden lassen, wer … naja, schneller ans Ziel kommt.“

„Wirklich? Hm … nein, so haben wir es nicht gemacht.“

„Also ist Dylan der Vater.“

„Wie kommst du drauf?“

„Er hatte noch keine leiblichen Kinder. Und dir sind die Gene sowieso egal. Siehe Josh.“

„Mag sein“, grinse ich.

„Also hab ich recht?“

Ich zucke die Schultern, werde daraufhin von einem wilden Tier angesprungen und in den Hals gebissen. Aber ich halte dicht. Xander ist sich eh ziemlich sicher, richtig geraten zu haben. Und es spielt nun mal wirklich keine Rolle, wessen Erbgut Jake und April haben.

Xander will auch noch wissen, ob ich das mit Gwen klären konnte. Tatsächlich haben wir gestern Abend ihre Gitarre heißgespielt. Ich glaube, sie ist mir nicht mehr böse. Aber sie ist wirklich sehr anhänglich, so als hätte sie Angst, dass ich nicht mehr wiederkomme, wenn ich weggehe.

Um halb sieben klingle ich bei Dylan. Kate macht mir in Sweatshirt und Schlabberhose und mit roter Nase auf.

„Oh, bist du erkältet?“

„Geht so. Josh kümmert sich gut um mich. Jetzt badet er gerade die Babies. Dylan ist noch am Telefon.“

„Naja, ich muss mich eh erst mal schick machen.“

„Soll ich dir die Haare machen?“

Das hat sie früher immer getan, als ich noch hier gewohnt habe. Kate vollbringt Magie mit Haarwachs. Auch wenn ich zurzeit nicht viel zum Stylen auf dem Kopf habe, nehme ich das Angebot gerne an. Allein schon, um etwas Zeit mit meiner Schwiegertochter in Spe zu verbringen. Sie hat mir früher immer alles über die Probleme mit ihren eher strengen und konservativen Eltern erzählt.

Ich suche meinen Anzug aus dem Schrank. Ja, zu solchen Anlässen trage ich tatsächlich die volle Montur. Inklusive Krawatte. Dazu brauche ich aber Dylans Hilfe. Der ist immer noch im Büro und telefoniert. Ist vermutlich sowieso keine so gute Idee, ihm so nahe zu kommen.

„Joooooooooooooooooooooooosh?!“

„Hm?“, kommt es aus dem unteren Bad zurück.

Ich trabe nach unten und muss erst mal dringend meine Babies auffressen, die gerade ihr Bad hinter sich haben und frische Windeln bekommen.

„Vermisst du die beiden?“, fragt Josh unvermittelt.

„Manchmal stehe ich nachts auf, um nach ihnen zu sehen, bis mir einfällt, dass sie gar nicht da sind.“

„Haben Ria und du schon mit dem Zimmer einrichten angefangen?“

„Wir haben am Mittwochabend neu gestrichen. Und die Betten werden wohl morgen geliefert. Ansonsten brauchen sie ja nicht viel. Decken und Spielsachen kann man von hier mitnehmen, Flaschen und so auch …“

„Ich bin schon froh, wenn du dich wieder mehr um sie kümmern kannst. Ich meine, versteh mich nicht falsch. Ich möchte die beiden nicht missen, aber mit der Schule und so … Kate kommt bald ins Abschlussjahr und ich … ich brauch einfach dringend mal Ferien.“

„Ihr fliegt ja bald nach Hawaii.“

„Ja, ich zähle schon die Tage.“

„Ab nächster Woche werden die Zwillinge bei mir sein, wenn Dylan arbeitet. Dann habt du und Kate auch mal wieder Zeit für euch. Ich weiß, euch wurde in den letzten Wochen viel abverlangt.“

„Tja, das war auf jeden Fall eine gute Übung für eigene Kinder.“

Ich reiße meine Augen auf, Josh kichert.

„Keine Sorge, ich meine in ferner Zukunft.“

„Puh.“

Ich fächere mir mit der offenen Krawatte um meinen Hals Luft zu.

„Soll ich dir die binden?“, fragt mein Sohn.

„Ah, ja bitte.“

Er nimmt sie mir ab, schlingt sie fachmännisch um den eigenen Hals und vollführt die seltsamen Bewegungen, die irgendwie zu dem typischen Krawattenknoten führen, den er allerdings nicht festzieht, sondern über seinen Kopf abstreift und mir gibt.

„Bitteschön. Du musst ihn nur noch festziehen.“

„Danke.“

Er wendet sich wieder den Zwillingen zu und ich suche Kate.

Sie hat in der Küche schon einen Stuhl und ihre Hilfsmittel hergerichtet.

„So, nehmen sie bitte Platz. Darf ich ihnen was zu trinken anbieten?“

„Nein danke, wissen sie, ich hab es heute eilig. Mein Mann führt mich noch schick aus.“

„Ah, wo geht’s denn hin?“, fragt Kate wie eine alte Friseurin und macht sich an meinen Haaren zu schaffen.

„Das weiß ich eigentlich selber nicht so genau. Er will mich überraschen“, fahre ich im Plaudertonfall fort.

„Ach, sie haben’s gut. Mein Alter ist schon Jahre nicht mehr mit mir aus dem Haus gegangen.“

„Ja wissen sie, man muss die Männer halt bei Laune halten“, grinse ich vielsagend.

„So? Ja wie denn?“

„Red ja nicht weiter“, unterbricht mich mein Sohn, der gerade in die Küche kommt.

„Och schade, das hätte ich jetzt gern gewusst“, lacht Kate. „Vielleicht kann ich von deinem Dad ja noch was lernen“, zieht sie ihren Freund auf.

Dylan kommt rein.

„Was ist so lustig?“

„Dad gibt Kate Sextipps.“

Er hat mich Dad genannt! Mein Herz hüpft, aber ich kann leider nicht aufspringen und ihm um den Hals fallen, weil Kate meine Haare fest im Griff hat und irgendwas einmassiert oder so.

„Ach tatsächlich?“, grinst Dylan. „Na dann hör nur gut zu. Da spricht der Fachmann.“

„Das hört sich an, als wäre ich ein Stricher“, beschwere ich mich.

„Können wir das Thema jetzt vielleicht lassen?“, wünscht mein prüder Sohn.

Kate äfft ihn nach, aber wir tun ihm den Gefallen und reden stattdessen über die Babies, bis Kate mit meinen Haaren zufrieden ist und fragt, ob Dylan als Nächster auf den Stuhl will.

„Haha, sehr witzig“, mault er und streicht sich über die zwei Millimeter kurzen Haare.

Nachdem wir uns von den Zwillingen verabschiedet haben, können wir los.

„Müssen wir Vanessa abholen?“, frage ich im Wagen.

„Nein, ihr Date fährt sie.“

„Ah, okay. Sag mal, Dylan?“

„Hm?“

„Darf ich dich was Persönliches fragen?“

„Was kommt denn jetzt?“, fragte er skeptisch.

„Kannst du dir eigentlich auch vorstellen, mit Frauen zu schlafen?“

„Wie kommst du denn darauf?!“

„Naja, bisher war das ja nicht wichtig, weil wir ja eh nur miteinander Sex hatten, aber jetzt …“

„Geht es um Vanessa? Willst du wissen, ob wir mehr sind als Freunde?“

„Naja, ich dachte nur, wegen der Krawatte …“

„Bei allem Respekt, Jordan. Aber das geht dich wirklich nichts mehr an.“

Und Bamm: kaum wird es persönlich, mauert er wieder. Typisch Dylan. Langsam frage ich mich, wie ich es überhaupt vier Jahre lang mit ihm ausgehalten habe.

Nach ein paar Minuten Schweigen meint Dylan:

„Nein, ich schlafe nicht gerne mit Frauen. Hab es in meiner Jugend ausprobiert und festgestellt, dass es zur Not funktioniert. Aber mehr auch nicht. Dementsprechend sind Vanessa und ich auch nur gute Freunde. Nicht mehr, nicht weniger. Zufrieden?“

„Warum erzählst du mir das jetzt doch?“

„Weil du es wissen wolltest.“

„Ich wollte schon viel von dir wissen, das hat dich doch noch nie interessiert.“

„Gut, dann eben nicht.“

„Tut mir leid“, sage ich schnell. „Danke, dass du es mir erzählt hast.“

Er nickt nur und starrt weiter auf die Straße.

Nach zwanzig Minuten parken wir vor einer großen Halle, in der wir schon öfter irgendwelche Galaveranstaltungen besucht haben. Es ist noch etwas früh. Dylan erzählt mir, mit wem er alles unbedingt sprechen muss. Viele Industriebosse und Politiker und B-Promis. Vanessa erwartet uns am Eingang, mit einem molligen, kahl werdenden Latino, der kaum größer ist als sie selbst. Dylan und sie begrüßen sich mit Küsschen, mir reicht sie etwas feindselig die Hand. Dann stellt sie ihren Begleiter als Diego irgendwas vor und bemerkt Dylans Krawatte. Und dann können wir endlich reingehen.

Wir müssen unsere Einladungen vorzeigen und werden auf einer ellenlangen Liste abgehakt. Leise Streichermusik und schwerer Blumenduft sind das erste, was ich wahrnehme. Und viele schwarz-weiß gekleidete Menschen, die in lockeren Grüppchen stehend ihre Begrüßungs-Cocktails einnehmen.

„Na dann: Auf ins Gefecht.“

Dylan und Vanessa steuern davon, ich kenne das schon, aber Diego scheint leicht verwirrt.

„Da drüben ist die Bar. Halt dich daran“, rate ich ihm und mache mich auch davon, weil ich keinen Bock habe, die ganze Zeit mit diesem Fremden rumzuhängen.

„Jordan!“

Ah, ein bekanntes Gesicht. Eine ältere Frau, macht irgendwas mit Kinderbetreuung, genau, sie leitet ein Waisenhaus. Wenn mir jetzt auch noch ihr Name einfällt … ah!

„Rosemary! Hallo!“

Sie ist wohl auch auf Spendenfang. Leider scheinen aber noch keine Geber anwesend zu sein, also vertreibt sie sich ein bisschen Zeit damit, dass sie mich über die Kinder ausfragt.

Langsam füllt sich der Saal immer mehr und die Stimmung wird gespannter. Es gibt ein paar offizielle Begrüßungsworte von einem Kinderstar aus den 70ern, der inzwischen ein glatzköpfiger Durchschnittskerl geworden ist, dann wird das Buffet eröffnet und die Leute scharen sich um die Bistrotische, die im Raum verteilt stehen. An meinem Tischchen kenne ich niemanden und stelle auch schnell fest, dass sich keine Bekanntschaft lohnen würde. Lauter Begleiter von Assistenten von halbwegs wichtigen Leuten. Dafür haben wir Spaß, ziehen ein bisschen über die anwesenden Prominenten her und schmieden Pläne dafür, die Streichmusiker aus dem Konzept zu bringen. Mehr Rebellion als das kann man auf so einer Veranstaltung nicht erwarten.

Dylan findet mich und zerrt mich zum Vorzeigen zu ein paar Leuten, aber keine großen Fische. Er scheint ziemlich unzufrieden damit, wie der Abend bisher gelaufen ist.

„Keiner will auch nur mit uns sprechen! Ständig werden wir von irgendwelchen Assistenten abgewimmelt.“

„Naja, dann macht doch mal in einer anderen Ecke weiter …“

Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass die Leute, die was brauchen, rumrennen, während die großen Geber sich irgendwo eine Basis einrichten und ihre Leute aussenden, um für sie interessante Menschen zu finden und sie zu ihnen zu schleifen.

„Ja, Vanessa ist gerade dabei. Ich werd dann auch mal wieder.“

„Kann ich was tun?“

„Nicht wirklich, aber danke“, erklärt er frustriert.

Ich unterhalte mich also weiter mit ein paar Ehemännern und Ehefrauen und trinke zu viel Champagner, als dass ich nachher noch von Dylan zu mir fahren könnte. Naja, nehme ich halt gleich von hier aus den Bus. Im Anzug. Das kommt bestimmt gut. Wahrscheinlich werde ich ausgeraubt. Vermutlich sollte ich doch besser ein Taxi nehmen. Aber an Gehen ist jetzt eh noch nicht zu denken. Es ist noch nicht mal neun und die „Party“ ist auf ihrem Höhepunkt.

Eine halbe Stunde später habe ich genug über die außergewöhnlichen Talente fremder Kinder gehört, und beschließe, etwas frische Luft zu schnappen. Alarmgesicherte Nottür, sicher. Ich drücke die Klinke nach unten und nichts geschieht, außer dass ein Bewegungsmelder dafür sorgt, dass der Rasen in warmem Orange erstrahlt. Ich sehe einen Pavillon in der Ferne. Nein, zu kitschig. Ich gehe in die andere Richtung, wo es schön dunkel ist. Was würde ich jetzt für eine Zigarette geben?

Ich trete um eine antik anmutende Ziegelmauer herum, wo nur noch eine kleine Solarleuchte den Weg erhellt und werde fast umgerannt und zumindest kräftig angerempelt.

„Woah!“, mache ich und stolpere zurück.

„Oh, Verzeihung. Alles noch heil?“

„Ja, klar, war ja genauso meine Schuld.“

Der Mann ist nicht viel kleiner als ich und schwarz. Er trägt einen Smoking und eine seltsame Kopfbedeckung. Jetzt erkenne ich ihn.

„Sie sind Ramir Vuza.“

Hinter ihm taucht noch jemand auf. Buttler.

„Mr. Handerson!“

„Mr. Buttler. Guten Abend.“

„Mr. Vuza, das ist der Student, von dem ich erzählt habe. Jordan Handerson.“

„Erfreut, sie kennenzulernen“, erklärt er und gibt mir die Hand.

„Gleichfalls, wenn mir auch ein weniger konfrontatives Aufeinandertreffen lieber gewesen wäre.“

Vuza lacht kurz, und es hört sich ehrlich an. Selbst im Halbdunkeln erkennt man das, was man Charisma nennt, an ihm.

„Wir sollten wieder reingehen“, erklärt Buttler.

„Nun, Mr. Handerson, vielleicht haben wir die Chance, uns später im Hellen zu begegnen.“

„Ja, ich denke, ich geh auch wieder rein. Genug Zusammenstöße in der Dunkelheit für heute.“

Kurz bevor wir die angeblich alarmgesicherte Tür wieder betreten, hält Buttler mich zurück.

„Auf ein Wort.“

„Sicher.“

Vuza betritt den Raum alleine und ist sofort von einer Menschentraube umringt.

„Was wollten sie da draußen?“

„Das gleiche könnte ich sie auch fragen“, gebe ich zurück.

„Nun, wir haben etwas besprochen.“

„Im Dunkeln?“

„Man hat da drinnen keine Sekunde Ruhe. Was machen sie eigentlich hier?“

„Ich war eingeladen. Warum sind sie so misstrauisch?“

„Es ist schon ein seltsamer Zufall, dass sie erst in meiner Vorlesung auftauchen und dann hier.“

„Wenn man paranoid ist, mag man das seltsam finden. Was erwarten sie? Soll ich ihnen meine Einladung zeigen?“

„Wenn es ihnen nichts ausmacht?“

„Wenn sie Zeit für so was haben?“

„Die nehme ich mir“, lächelt er süßlich.

Ich verdrehe nur die Augen und halte die Tür für ihn auf.

Ich muss mich kurz orientieren. Zum Glück ist Dylan durch seine Größe und seine Frisur immer gut zu finden.

„Ah, da hinten. Kommen sie.“

Wir schlängeln uns durch die Menge. Buttler scheint wohl kein Unbekannter zu sein, denn er wird ständig angesprochen, würgt aber jeden freundlich ab. Ich tippe Dylan auf die Schulter.

„Hey, sorry. Könnte ich kurz mal die Einladung haben?“

„Ehm, ja sicher. Wozu?“

„Der Sicherheitschef hier hat mich beim Rumschleichen im Garten erwischt und glaubt mir nicht, dass ich einer von den oberen Zehntausend bin.“

Buttler schnaubt, Dylan schaut mich nur verwirrt an und kramt nach der Einladung in der Innentasche seines Jacketts.

„Hier.“

Buttler überfliegt die paar Zeilen.

„Mr. und Mr. Handerson?“

„Ah ja richtig, Michael Buttler, das ist Dylan Handerson. Mein Ehemann.“

„Sehen sie, ich sag doch, dass sie gut in unser Team passen würden!“

„Und ich will nicht in ein Team passen, nur weil ich schwul bin.“

„Ich fand schon, dass sie gut in unser Team passen, als ich sie noch für einen heterosexuellen Punk-Schrägstrich-Poeten gehalten habe.“

„Und ich habe gewusst, dass ich nicht ins Team passe, als ich den Titel von Vuzas erstem Buch gelesen habe. Ich meine ‚God, Gays and Globalization’? Plakativer ist es wohl nicht mehr gegangen, oder?“

„Plakative Titel gehören zum Geschäft.“

„Tja, das ist einfach nicht mein St…“

„Habt ihr gerade Vuza gesagt?!“, fällt Dylan mir ins Wort.

„Ja, das ist sein Chef.“

„Und er könnte ihr neuer Chef werden.“

„Warum wollen sie mich eigentlich so unbedingt?“

„Weil sie so unbedingt nicht wollen.“

„So ein Bullshit! Und überhaupt …“

„Ramir Vuza?“, fragt Dylan noch mal.

„Ja, Dylan. Der erste farbige Schwule im Stadtrat, wenn er denn die Wahl gewinnt.“

„Und sie sind sein Assistent?“, fragt er an Michael gewandt.

„Ganz richtig. Und sie, Jordan, kommen jetzt mit mir mit und lernen Ramir erst mal kennen, bevor sie sich durch ihre Sturheit diese Chance verbauen.“

Dylan wirft mir einen fordernden Blick zu.

„Na schön. Aber nur wenn mein Mann mitkommen darf. Wir gehen nirgendwo ohne den anderen hin“, erkläre ich schnulzig.

„Von mir aus …“

Dylan wartet mit seiner Siegesgeste kaum bis Buttler sich umgewendet hat.

Der führt uns zielsicher durch die Menge und unterbricht seinen Boss mitten im Gespräch mit einem grauhaarigen Kerl in einem schlecht sitzenden Anzug.

„Mister Vuza? Darf ich ihnen jetzt ganz offiziell Jordan Handerson vorstellen? Und seinen Ehemann, … Verzeihung?“

„Dylan Handerson“, übernimmt Dylan selbst, schüttelt Vuza fachmännisch die Hand und erzählt gleich weiter: „Ich leite den ‚Past Drub Club’, das ist ein Jugendzentrum für Aussteiger aus der rechtsradikalen Szene und wir …“

„Ich kenne ihre Arbeit, Mister Handerson“, erklärt Vuza freundlich lächelnd und würgt Dylan damit ab.

So leicht gibt mein Mann nicht auf. Da ist er Schlimmeres gewohnt:

„Freut mich, das zu hören. Denn natürlich ist Xenophobie und Aggression gegenüber Minoritäten ein Thema, das in ihren Wahlkampfschwerpunkt …“

„Ja sicher, Mister Handerson. Ich würde gerne bei Gelegenheit mehr über ihr Projekt erfahren, doch momentan …“

„Sind sie damit beschäftig, einen völlig Fremden davon zu überzeugen, bei ihnen einzusteigen?“, falle diesmal ich ihm ins Wort. „Hier haben sie ihre Chance, mir zu zeigen, dass ich tatsächlich in ihr Team passe. Geben sie meinem Mann und seiner Kollegin ein wenig ihrer Zeit. Hören sie sich an, was sie zu sagen haben. Das ist ein konkretes Projekt, das auf der Kippe steht. Ein verdammt wichtiges Projekt, das mir sehr am Herzen liegt. Zeigen sie mir, dass ich wirklich etwas bewirken kann, wenn ich bei ihnen einsteige und dass mein Job nicht nur darin besteht, leere Worte unterhaltsamer klingen zu lassen.“

Vuza mustert mich abschätzend. Dann wendet er sich an Dylan.

„Nun gut. Machen sie mit Mr. Buttler einen Termin für kommende Woche. Und sie, Jordan: Ich treffe sie in einer Stunde. Am Ort unserer ersten Begegnung. Dann sprechen wir über ihre Zukunft in meinem Team.“

Damit wendet er sich wieder dem Grauhaarigen zu, der geduldig gewartet hat.

Dylan schaut mich total ungläubig an.

„Hast du mir gerade einen Termin bei Vuza besorgt?!“

„Ja, das hat er in der Tat“, entgegnet Buttler und tippt auf seinem elektronischen Organizer rum. „Mittwoch, zehn Uhr früh. Sie haben zwanzig Minuten. Nutzen sie sie weise.“

„Oh, das werden wir ganz sicher. Wow! Ich kann es gerade noch gar nicht glaube. Ich muss sofort Vanessa suchen.“

Und schon ist er weg.

„Seltsam. Ich dachte, sie würden wenigstens einen Dankeschönkuss bekommen.“

Ich schaue Buttler überrascht an.

„Was denn? Glauben sie, sie sind der Einzige, der taktlos sein kann?“, fragt er schief grinsend.

„Wir leben getrennt.“

„Oh, tut mir leid.“

„Taktlossein will geübt sein.“

„Da haben sie recht. Also ist er … solo?“

Ich ziehe überrascht meine Augenbraue hoch.

„Also wirklich! Das fragen sie seinen Noch-Ehemann? Sehr taktlos.“

„Verstehe, sie beide haben also doch noch nicht so ganz abgeschlossen?“

„Doch! Ich bin in einer neuen Beziehung.“

„Ah, gut für sie! Also dann spricht ja nichts dagegen, wenn ich …“

„Wir haben vier Kinder. Die jüngsten beiden sind im März geboren“, versuche ich ihn zu vertreiben.

Ich weiß, dass das nicht fair ist, aber ich bin eben eifersüchtig. Ich will nicht, dass mein Dozent sich an Dylan ranmacht. Bin ich hier im falschen Film, oder was?!

„Wirklich? … Hm.“

Hah! Wusste ich’s doch. Wenn der sich so einfach verschrecken lässt, dann ist der sowieso nicht der Richtige für Dylan. Wah! Der Richtige für DYLAN !!!! Für meinen Mann! Okay, Xander. Ich muss jetzt einfach nur ganz fest an Xander denken.

„Naja, wir sehen uns in einer Stunde draußen.“

„Ich werde da sein.“

Vanessa fällt mir um den Hals und ist total aus dem Häuschen. Sie dankt mir in dreißig Sekunden ungefähr hundertfünfzig Mal und erklärt, dass sie sich morgen gleich zusammensetzen müssen, um eine Präsentation auszuarbeiten.

„Ich könnte die Zwillinge nehmen“, biete ich an.

„Wirklich? Fährst du nicht … zu Xander?“

„Doch, aber seine Ärztin findet, dass es eine gute Idee wäre, wenn die drei sich schon mal kennenlernen.“

Vanessas Blick verfinstert sich augenblicklich. Dylan sieht mich eher hin- und hergerissen zwischen Dankbarkeit und Sorge an.

„Hältst du es wirklich für eine gute Idee, die beiden mit in … so eine Klinik zu nehmen?“

„Warum denn nicht? Da gibt es einen tollen Park und die Leute da sind ja keine Massenmörder oder so, also …“

Vanessa sendet mir einen Todesblick und streichelt Dylans Rücken.

„Hey, Buttler ist scharf auf dich“, sage ich schnell.

„Was?!“

„Er will mal mit dir ausgehen oder so.“

„Mit MIR??“

„Sicher, warum nicht?“, frage ich so locker wie möglich.

„Weil ich … ich meine … ja, stimmt. Warum nicht?“

„Eben. Also, ich werde mir jetzt eine ruhige Ecke suchen und noch ein bisschen in mich gehen, vor meinem großen Bewerbungsgespräch.“

„Viel Glück dabei.“

Ich steuere wieder nach draußen, wo inzwischen ein paar Raucher stehen und schnorre mir zwei Zigarillos. Danach begebe ich mich zur antiken Mauer und setze mich auf die von Dunkelheit umgebene Bank dahinter. Ich schreibe Xander eine SMS und frage, ob wir telefonieren können. Er ruft sofort an und ich erzähle ihm von meinem Vorstellungsgespräch und wie es dazu kam. Ich verkünde auch ganz stolz, dass ich ihm morgen meine beiden Jüngsten vorstellen werde. Irgendwie muss die Zeit wohl verflogen sein, denn plötzlich treten Vuza und Buttler um die Ecke.

„Ich muss Schluss machen, Xander. … Ich dich auch. Bis morgen.“

„Es werde Licht“, nuschelt Buttler und plötzlich gehen zwei weitere Lampen an.

„Beeindruckend“, grinse ich.

„Also, Mr. Handerson. Michael schwärmt in den höchsten Tönen von ihnen. Sie scheinen ein Genie mit Worten zu sein.“

„Dann sollten sie mich erst mal mit einer Gitarre erleben.“

„Ah, ein Musiker. Das erklärt die Attitüde.“

Ich forsche kurz in seinen Gesichtszügen, ob das jetzt positiv oder negativ gemeint war, werde aber nicht wirklich schlau draus.

„Also, Michael hätte sie gern im PR-Team. Und wenn er sagt, dass sie da hingehören, dann glaube ich ihm das.“

„Ja, ich bin mir nur nicht sicher, ob ich da hin will.“

„Wie das?“

„Naja, natürlich macht mir das Jonglieren mit Worten Spaß. Und ich bin gut im Gegenlesen und kann sehr überzeugend sein, wenn ich will. Aber ich muss auch wissen, dass ich mein Talent für einen guten Zweck einsetze.“

„Und daran zweifeln sie?“

„Ich habe echt ein Problem mit Religiosität. Vor allem in der Politik.“

„Sie sind Atheist?“

„Ja.“

„Manchmal wäre ich auch gerne Atheist. Das würde vieles unkomplizierter machen.“

„Und ich würde manchmal gerne glauben können. Das hätte mir sicher viel erspart.“

„Aber wir können beide nun mal nicht bestimmen, woran wir glauben. Genauso wie wir nicht steuern können, in wen wir uns verlieben.“

„Ich will nicht auf meine Sexualität reduziert werden“, erkläre ich und merke selbst, dass das nach einer leeren Floskel klingt.

„Mir geht es nicht um Sexualität. Mir geht es um Partnerschaft, um Freiheit und Liebe.“

„Sie benutzen gerne große Schlagworte.“

„Leider ist das nötig. Also, ich habe folgenden Vorschlag für sie: Fangen sie bei uns an. Suchen sie sich selbstständig Projekte und Themen, die in unser Programm passen. Einzige Voraussetzung: Es sollte etwas Medienwirksames sein.“

„Das Zentrum meines Mannes ist mit Sicherheit medienwirksam.“

„Machen sie daraus eine Geschichte, die die Wähler anspricht. Momentan muss das unser Schwerpunkt sein. Ich werde mich mit ihrem Mann treffen, um seine Arbeit besser kennenzulernen, und sie organisieren eine Presseaktion. Ich denke, so können wir alle profitieren.“

„Wieso komme ich mir gerade so vor, als hätte ich mich kaufen lassen?“

„So funktioniert Politik. Es kommt auf das Ergebnis an. Das wird dem Zentrum helfen, Gelder zu sammeln. Wenn sie für mich Wahlkampf machen, dann können sie sich meiner Unterstützung gewiss sein, wenn ich im Amt bin.“

„Ich schätze, damit könnte ich leben.“

„Schön, dann stehen sie ab sofort auf unserer Gehaltsliste.“

Er verabschiedet sich per Handschlag und verschwindet in der Dunkelheit.

Ich wende mich Buttler zu:

„Da ist noch was. Ich werde es auf keinen Fall schaffen, Vollzeit zu arbeiten. Ich meine, neben dem College und der Musik stecke ich gerade mitten in der Trennung von Dylan, habe vier Kinder, die zwischen drei verschiedenen Haushalten pendeln, und habe gerade eine neue Beziehung begonnen.“

„Keine Sorge, Jordan. Das Seminar müssen sie nicht mehr besuchen, mir reicht eine Abschlussarbeit, die eine Zusammenfassung ihres PR-Projekts sein kann. Und das Gegenlesen können wir online erledigen, oder telefonisch. Im Time-Management bin ich Profi.“

„Na dann kann ja nichts mehr schiefgehen.“

„Wir sollten wieder reingehen.“

„Ich komme nach. Ich muss meinem Freund noch erzählen, wie es gelaufen ist.“

Buttler nickt wissend und verschwindet.

Bald darauf verabschieden Dylan und ich uns von Vanessa und ihrem wieder aufgetauchten Begleiter. Im Auto kann Dylan von gar nichts anderem mehr reden, als dem Termin bei Vuza. Vielleicht konnte ich heute ein bisschen von dem, was ich ihm angetan habe, wieder gutmachen.

In der Auffahrt verabschieden wir uns.

„Danke noch mal, Jordan. Du hast heute wirklich ein Wunder vollbracht.“

„Ach Quatsch. Buttler hat nur irgendwie einen Narren an mir gefressen. Und an dir scheinbar auch.“

„Hör mir auf! Für so was hab ich zurzeit echt keinen Kopf. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, plötzlich mit einem Wildfremden ein Date zu haben.“

„Mit mir Wildfremdem hattest du damals kein Problem.“

„Tja, die Dinge haben sich geändert. Ich kann in meinem Kopf nicht so plötzlich auf Single umschalten, weißt du?“

„Sorry …“

„Das war kein Vorwurf.“

„Es ist aber okay, wenn du mir Vorwürfe machst. Friss nicht immer alles in dich hinein, Dylan.“

„Ja, danke für den guten Rat …“, erklärt er leicht angepisst.

„Tut mir leid …“

„Ich will keine Dates. Ich will das alles nicht noch mal von vorne machen müssen.“

„Verstehe.“

„Wirklich? Du hast ja nicht lange gebraucht …“

„Xander und ich mussten auch nicht von vorne anfangen.“

„Richtig. Du bist zu deinem Exfreund zurück. Daran brauchst du mich nicht erinnern. Sag mal, wie war das? War ich nur eine Episode in eurer Beziehungspause, oder was?“

„Du weißt, dass das Schwachsinn ist.“

„Nein, keine Ahnung. Ich weiß gar nichts mehr. Ich dachte, du seist der Mann meines Lebens. Dann stellt sich raus, dass ich aber nicht deiner bin. All die Leute, die schon vor unserer Hochzeit darüber getuschelt haben, dass ich für dich nur so eine Art Sicherheitsanker bin …“

„Dylan, hör bitte auf damit!“

„Warum?“

„Weil … weil das nicht so einfach ist.“

„Nicht? Wer ist die Liebe deines Lebens, Jordan?“

Ich kann ihm darauf nicht antworten. Er nickt wissend.

„Genau wie ich es erwartet habe.“

„Aber ich dachte, du wärst es! Ich hab all die Jahre nicht dran gezweifelt.“

„Tja, wärst du doch nur etwas skeptischer gewesen. Was wäre uns nicht alles erspart geblieben?“

„Die Zwillinge?“, schnappe ich.

„Komm mir nicht so. Du weißt, dass diese Kinder mein Leben sind!“

„Was würdest du also ungeschehen machen wollen?“

„Dass ich mich in dich verliebe.“

Ich trete einen Schritt zurück und krümme mich leicht, wie nach einem Schlag in den Magen.

„Jordan, ich hab das nicht so …“

„Nein. Hör auf, immer alles zurückzunehmen. Ich hab dir geraten, nicht alles in dich hineinzufressen. Das hab ich jetzt davon. Ich hole die beiden morgen gegen eins. Gute Nacht, Dylan.“

Ich glaube, er sagt noch irgendwas, aber ich steige einfach in mein Auto und fahre los. Ich taste nach meinem Handy, finde es und drücke Wahlwiederholung. Xander meldet sich ganz verschlafen.

„Oh, tut mir leid, ich wollte dich nicht wecken.“

„Schon okay, ich habe gerade von dir geträumt.“

„Ich wollte nur kurz deine Stimme hören und dir sagen, dass ich dich liebe.“

„Bist du im Auto unterwegs?“

„Ja, aber nur in einem Wohngebiet.“

„Trotzdem! Fahr vorsichtig und ruf mich an, wenn du zu Hause bist. Ich liebe dich auch.“

Damit legt er auf. Mann, seit wann ist er nur so schrecklich vernünftig?

Ich bin doch etwas aufgeregt, als ich am nächsten Tag mit den Zwillingen und einer großen Windeltasche die Pforte passiere. An jeder Schwingtür findet sich zum Glück jemand, Personal oder Patient, der mir behilflich ist. Dann muss ich mich nur noch an den gackernden und tätschelnden Schwestern vorbeikämpfen und klopfe endlich an Xanders Tür.

„Hey …“

„Hallo ihr drei!“

Er kommt uns sofort entgegen, nimmt mir April ab und stellt ihre Wippe auf sein Bett.

„Du hast April erwischt, und hier kommt Jake.“

„Hiiiiii, Gott bist du süß! Und du auch. Wow, die beiden sind echt … wow.“

Er drückt mir einen Kuss auf die Lippen und wendet sich sofort wieder den Babies zu.

„Seid ihr hungrig?“

„Sie sollten noch ne Weile durchhalten.“

„Windeln?“

„Vor der Fahrt gewechselt.“

„Kuscheln?“

„Immer gern.“

„Wer will zu mir, wer zu Daddy?“

„Du kannst beide haben, wenn du willst. Setz dich, ich leg sie dir in die Arme.“

Als er mit den beiden Babies so dasitzt und mich aus seinen großen Augen anstrahlt … wow, da sind der ganze Stress und der Ärger und die Probleme mit einem Schlag vergessen.

„Ich liebe euch drei mehr als ich sagen kann.“

Er lässt sich von mir küssen. Dann lächelt er:

„Das erinnert mich so sehr an den Nachmittag auf dem Campus, als du mir Gwen vorgestellt hast. Und mein erster Gedanke damals war, dass ich nicht nur dich bekomme, sondern dieses wunderhübsche kleine Mädchen gleich noch mit dazu. Und jetzt die beiden hier g…“

Er verdrückt ein paar Tränen.

„Alles wird gut, Liebling“, flüstere ich.

„Alles IST gut, mein Schatz.“

- ENDE - (des zweiten Bandes!)

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