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A longer Way

Teil 3

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Vorwort

Hallo ihr Lieben! Hier gibt es ein Crossover mit Sommer. Wenn ihr vor habt, "Sommer 2006" und "Sommer - Der Boden der Tatsachen" noch zu lesen, dann solltet ihr das tun, bevor ihr in diesem Kapitel zu viel darüber erfahrt, was David und Max gerade so treiben. Liebe Grüße, ID

 

Mit den Krücken komme ich kaum vorwärts.

„Sean!“

Er fährt zu mir herum und entdeckt die beiden Männer. Ich sehe Glatzen, höre schwere Stiefel auf dem Asphalt.

„Was wollt ihr?“, höre ich Sean, deutlich besorgter als gerade eben.

Sie gehen auf ihn zu, einer packt ihn am Arm. Ich werfe die Krücken von mir und renne so weiter, der zweite Kerl passt mich ab. Er ist groß, größer als Dylan, lässt mich nicht vorbei, schubst mich türstehermäßig zurück.

„Was wollt IHR?“, röhrt der Hintere der beiden zurück.

Ich schalte schnell, weiß, dass ich nicht preisgeben darf, dass man über mich an Dylan rankommen kann.

„Geht euch kaum was an. Lass mich vorbei, verdammt!“

Die beiden schauen sich komisch an. Dann sagt der bei mir:

„Die sehen nicht so aus.“

„Ja, stimmt.“

„Sehen nicht wie aus?“, frage ich und merke plötzlich, dass mir mein Bein höllisch wehtut.

„Was wolltet ihr in dem Haus da?“, wird Sean gefragt.

„Ist okay, Jungs.“

Dylan. Er steht auf dem Rasen, oben ohne und in seiner tiefsitzenden Schlaf-Trainingshose. Ein imposantes Bild.

„Okay Boss.“

„Boss?! Was ist hier eigentlich los?! Dylan!“

Ich will einen Schritt auf ihn zu machen, knicke aber ein. Aus Reflex auf den Schmerz stoße ich einen Fluch aus und lasse mich widerwillig auf den Randstein sinken, um meinen Fuß zu betrachten, der immer noch total angeschwollen ist und sich lila verfärbt hat.

„Was willst du hier Jor… was ist denn mit deinem Fuß passiert?!“

Er kniet sich vor mich und schaut mich besorgt an. Ich muss lachen, sehr gehässig lachen.

„Du dämlicher Idiot bist drübergefahren, das ist passiert!“

„Was?! Aber … das … ich hab das nicht gemerkt.“

„Hast du vielleicht gemerkt, dass du seine Hand am Kühler zerfetzt hast?“

Sean drängt sich mit verschränkten Armen zwischen uns.

„Was?“, fragt Dylan leise und richtet sich wieder auf.

Ich hebe den bandagierten Arm hoch.

„Gott, das … das hab ich nicht gewollt, ehrlich Jordan.“

Sean lässt ihn nicht durch.

„Geh mir bitte aus dem Weg, damit ich meinen Mann umarmen kann.“

„Damit ich ihn nachher wieder zusammenflicken kann? Glaub ich eher nicht. Wo sind die Babies?“

„Die schlafen, was denkst du denn?“

„Wir werden sie wieder mitnehmen.“

„Das glaub ich nicht.“

Ich rapple mich hoch.

„Dylan, ich hatte nie vor, sie dir wegzunehmen. Ich wollte sie nur schützen.“

„Bei allem Respekt, das kann ich besser als du.“

„Und wie?“

Er zeigt auf die beiden Goliaths.

„So zum Beispiel. Jordan, ich hab das im Griff. Ich habe Vorkehrungen getroffen.“

„Du glaubst also nicht, dass die beiden in einem anderen Staat besser aufgehoben wären?“

„Nicht alleine. Wir sollten beide bei ihnen sein und ich kann hier nicht weg.“

„Weil dir das Zentrum wichtiger ist als die Sicherheit deiner Kinder“, stelle ich nüchtern fest.

„Jordan … ich, … soll ich die Kids im Zentrum wirklich im Stich lassen? Willst du das?“

„Dann bleib. Aber lass mich die Babies wegbringen.“

„Okay.“

„Echt?“

„Ja, Jordan. Wenn du wirklich meinst, dass es das Beste für die Zwei ist …“

„Ja. Ich meine … das Beste wäre wohl, wenn du mitkommen würdest …“

„Ich weiß. Wirklich, ich weiß. Aber ich kann das einfach nicht. Ich kann nicht weglaufen. Aber ich tu alles, um möglichst sicher zu sein, das musst du mir glauben.“

„Was denn?“

„Über das meiste kann ich nicht reden.“

„Was hast du gemacht?“

„Du musst mir einfach vertrauen.“

Wieder lache ich verächtlich auf.

„Dir zu vertrauen ist zurzeit nicht gerade leicht.“

„Nun, weißt du: Dir zu vertrauen auch nicht“, kontert er.

Treffer. Beschämt senke ich meinen Blick.

„Ich weiß. Aber bitte lass uns die Geschichte jetzt zurückstellen, das ist doch gerade nicht relevant.“

„Naja, ich finde es ziemlich relevant.“

„Dann lass uns drüber reden, sehen, ob wir das klären können …“

„So was klärt man nicht mal eben zwischen Tür und Angel.“

„Ja, ich weiß. Aber lass uns damit anfangen, Dylan. Lass uns reingehen und reden. Oder noch besser, lass uns die Kinder einpacken und wenigstens in ein Motel ziehen.“

„Glaubst du wirklich, die könnten uns da nicht finden? Die sind nicht dämlich.“

„Sie haben immer noch nicht rausgefunden, wo wir wohnen, also …“

„Das glaubst du doch nicht wirklich, oder?“

„Aber dann … wieso sind sie dann noch nicht hier aufgetaucht?“

„Weil sie das den Kopf kosten würde. Wie gesagt, ich hab Vorkehrungen getroffen.“

„Jetzt fühle ich mich hier noch weniger sicher. Bitte, lass uns in ein Motel ziehen, von mir aus jede Nacht in ein anderes.“

„Mit zwei Babies? Jordan, sei doch mal realistisch.“

„Dann musst du mich sie wieder mit zu meinen Eltern nehmen lassen!“

„Aber da kann ich sie nicht schützen, versteh das doch!“

Ich will gerade irgendwas zurückbrüllen, als mich eine plötzliche Erkenntnis trifft:

„Du denkst, die wissen, wo meine Familie lebt?“

Er nickt beschämt.

„Warum … warum hast du sie dann nicht gewarnt?!“

„Weil sie nichts tun könnten, wenn es die Leute tatsächlich auf sie abgesehen haben.“

„Dann musst du sie eben auch schützen, mit deinen streng geheimen Methoden!“

„Ich bin nicht allmächtig, Jordan. Sicherzustellen, dass unsere Kinder geschützt sind, ist alles, was ich bewirken kann.“

„Und Gwen und Josh?“

„Josh und Kate schlafen bei Freunden, Gwen ist bei Olivers Eltern.“

„Und wie lange soll das gehen?“

„Bis zur Wiedereröffnung des Zentrums in zwei Wochen.“

„Okay, zwei Wochen. Die zwei Wochen werde ich nutzen, um mit den Zwillingen einen Ausflug zu machen.“

„Und wohin?“

Ich schiele zu den beiden Glatzen.

„Das sage ich dir im Haus. Erst mal will ich die Babies sehen.“

Sean, der immer noch zwischen uns steht und grimmig schaut, stützt mich, während Dylan mir die Krücken reicht und wie ein geschlagener Hund davonschleicht. Sein Gewissen muss ihn gerade fertigmachen. Die Vorstellung, dass ich irgendwie dazu beigetragen hätte, dass er verletzt wird …

Die Babybetten stehen im Wohnzimmer, gepackte Taschen daneben, so als wäre Dylan auf eine schnelle Flucht vorbereitet. Mir läuft ein unangenehmer Schauer über den Rücken. Die Zwillinge schlafen friedlich, sind warm, aber nicht heiß.

„Zufrieden?“, fragt mich Dylan flüsternd.

Ich nicke und überlege, wie es jetzt weitergehen soll. Ein Ausflug mit den Zwillingen, ja. Aber wohin? Und vor allem: Wie soll ich mich mit kaputter Hand und Krücken um sie kümmern können? Im Kopf gehe ich alle meine Freunde durch, die weder in L.A. noch in Phoenix leben und stelle fest: Die sind dünn gesät. New York? Aber Hannah arbeitet, könnte mir nicht dabei helfen, Jake und April zu versorgen. Verwandtschaft fällt auch aus, Mums Eltern leben bei Phoenix, Ned und Elly in L.A.. Jemand in San Diego wäre jetzt natürlich praktisch. Gott, was für ein absurder Gedanke! Ich schüttle den Kopf. Wenn Menschen in Not sind, finden sie zu Gott … oder zur missratenen Verwandtschaft zurück, was? Dann wäre da noch Nina. Aber ein Transatlantikflug mit den Babies?

„Also, wie sieht dein genialer Plan aus?“

„Ich fliege nach München“, antworte ich aus Mangel an Alternativen.

„Mit den Babies?!“

„Ja, warum nicht? Ich rede natürlich erst mit dem Kinderarzt, aber wenn der keine Bedenken hat …“

„Und wie willst du dich allein um die Zwillinge kümmern können? Ich meine mit den Krücken und so …“

Wieder schaut er beschämt zu Boden.

„Ich rufe gleich Nina an. Mal sehen.“

Zu meinem Erstaunen widerspricht Dylan nicht weiter. Sean merkt noch an, dass ich erst mal einen ordentlichen Gips brauche. Er meint auch, dass eigentlich nichts dagegen spräche, mit Jake zu fliegen, mit ein paar Vorsichtsmaßnahmen zumindest.

Nina, die inzwischen im amerikanischen Konsulat in München arbeitet, erklärt sich sofort bereit, mich aufzunehmen, ohne weitere Fragen zu stellen. Außerdem kann sie mir praktischerweise auch gleich noch erklären, welche Papiere ich brauche, wenn ich mit Babies aus- und einreise. Also buche ich den nächstmöglichen Flug, um vier Uhr nachmittags mit Zwischenstopp in New York. Ich lasse auch gleich noch vermerken, dass ich Hilfe beim Umsteigen benötigen werde. Dylan packt alles zusammen, was die Zwillinge für zwei Wochen brauchen, während Sean mich ins Krankenhaus bringt, wo ich einen Gips bekomme. Schmerzmittel muss ich mir dann in Deutschland verschreiben lassen, sonst gibt’s Probleme mit dem Zoll.

Sonntags an einen Gips zu kommen, ist gar nicht so einfach, ohne Sean würde es mir vermutlich überhaupt nicht gelingen. Ein paar Besorgungen müssen noch gemacht werden, dann ist es auch schon Zeit, sich auf den Weg zum Flughafen zu machen. Ich telefoniere noch kurz mit Gwen. Sean verabschiedet sich nach Hause, er verspricht, meine Eltern zu warnen. Dylan fährt die Zwillinge und mich zum Flughafen, wo wir uns relativ angespannt verabschieden, er umarmt mich vorsichtig und küsst die Zwillinge. Ich sage ihm, dass er gut auf sich achtgeben soll, dann reihe ich mich in die lange Securityschlange ein, Jake vor der Brust und April in ihrer Wippe auf einem Gepäckwagen neben mir. Den kann ich allerdings nicht mit durch den Metalldetektor nehmen, also muss ich warten, bis jemand vom Bodenpersonal kommt, um mir zu assistieren.

Am Gate schicke ich noch eine SMS an David, mit dem ich, seit ich ihn bei meinem Besuch bei Nina im Sommer 2006 kennengelernt habe, regelmäßig ewig lange Skype-Telefonate führe. Ich schreibe nur, dass ich spontan zwei Wochen bei Nina sein werde und mich melde, wenn ich gelandet bin. Dann mache ich mein Handy aus.

Den Vierstundenflug bis New York verschlafen die Zwillinge komplett. Beim Umsteigen bekomme ich wieder Hilfe, am Gate wechsle ich noch Windeln. Um zehn geht es weiter, diesmal weinen die Kinder beim Start. Ich bin total fertig, habe Schmerzen und will einfach nur noch schlafen, aber das fällt jetzt wohl erst mal aus. Die Babynahrung mit in den Flieger nehmen zu dürfen, war eine Prozedur. Jetzt trinken die beiden gierig. Ich kann kaum noch die Augen offen halten, die Lichter werden gedimmt. Es ist schon nach elf Westküstenzeit, in New York ist es also mitten in der Nacht. Die anderen Passagiere beäugen die Zwillinge missmutig. Ich hoffe inständig, dass sie nicht mehr anfangen zu weinen, werde aber enttäuscht. Kaum haben sie aufgetrunken, geht es wieder los. Dummerweise kann ich immer nur einen im Arm wiegen. Außerdem tut mir mein Bein verflucht weh. Die längsten achteinhalb Stunden meines Lebens.

Um halb vier am Nachmittag steigen wir in München aus dem Flugzeug. Jetzt schlafen die Kleinen. Ein Herr vom Zoll hilft mir freundlicherweise dabei, mein Gepäck aufzulesen, die Babies schiebe ich humpelnd auf einem zweiten Wagen vor mir her. Kaum schalte ich mein Handy ein, vibriert es. Eine SMS:

„Hey, hoffe ihr seid gut gelandet. Musste kurzfristig in die Arbeit, habe aber Ersatz gefunden. Wir sehen uns morgen, Nina.“

Uff, auch das noch! Das war eine scheiß Idee. Ich kenne Nina doch eigentlich kaum, hab sie vor fast drei Jahren zum letzten Mal gesehen und nur sporadisch mit ihr geschrieben. Jetzt bin ich mit den Zwillingen auf einen Wildfremden angewiesen. Toll. Was hab ich mir nur dabei gedacht, in diesen Flieger zu steigen?

„Werden sie abgeholt?“, fragt der Zollbeamte in gebrochenem Englisch.

„Ich hoffe es“, antworte ich missmutig und schmiede schon einen Plan B.

Eine automatische Glastür gibt den Weg in die Empfangshalle frei. Und da steht er. David. Ich war noch nie im Leben so froh, jemanden zu sehen. Ich erkenne ihn auch sofort wieder, allein schon von den vielen Videogesprächen. Er lächelt mich an, ich sehe aber auch, dass er mich kurz besorgt und überrascht mustert. Ich muss eine jämmerliche Erscheinung abgeben.

„Was ist denn mit dir passiert?“, fragt er, während er mich umarmt.

„Lange Geschichte.“

Der Zollbeamte zieht sich dezent zurück.

„Okay … hallo Babies.“

„Das ist April, das Jake.“

„Sie scheinen so müde zu sein, wie du aussiehst. Also, setz dich noch kurz hier her. Ich bringe die Koffer schon mal zum Auto. Dann hol ich dich und die Kleinen.“

„Ach, ich kann die Zwei schon schieben.“

„Nichts für ungut, aber ich glaube, auf meine Art geht’s schneller.“

Da kann ich nicht widersprechen und setze mich solange auf eine Wartebank. Schlafen, ich will echt nur noch schlafen.

„Schläfst du?“

David grinst mich an. Ich gebe ein kurzes Knurren zurück und rapple mich hoch.

„In zwanzig Minuten sind wir bei meinen Eltern, so lange musst du noch durchhalten.“

Er schiebt die Zwillinge schon mal Richtung Ausgang, während ich meine Gliedmaßen wieder einrenke und ihm dann gemächlich folge. Seine Haare sind ziemlich kurz. Mir fällt auf, dass ich seit der Geburt der Zwillinge, … nein noch länger, nicht mehr mit ihm telefoniert habe. Warum eigentlich nicht? Für gewöhnlich hat er immer angerufen, nun aber nicht mehr. Ein paar Emails haben wir ausgetauscht, das war alles. Dabei verstehen wir uns echt gut. Er hat mir auch erzählt, dass es mit Max nicht ganz so toll läuft. Das hat sich inzwischen aber vermutlich wieder eingerenkt, die Zweiwaren eigentlich immer ein Herz und eine Seele, aber darüber werde ich sicher noch mehr erfahren.

Im Auto muss ich mich ziemlich zusammenreißen, um nicht wieder einzudösen. David scheint das zu merken und bemüht sich gar nicht erst, ein Gespräch anzufangen. Sein Volkswagen sieht nicht mehr gerade neu aus, aber scheint gut in Schuss zu sein. Die Straßen sind klein, selbst das kurze Stück Autobahn, das wir über das wir fahren. Grün und hüglig ist die Landschaft, aber ich will eigentlich echt nur noch ein Bett sehen. Zum Glück fahren wir tatsächlich bald durch eine Kleinstadt und halten vor einem Haus am Siedlungsrand.

„So, Endstation, bitte alles aussteigen.“

„Nett hier.“

„Ja, so zur Abwechslung etwas Landluft. Ah, da kommen auch schon meine Eltern. Die lagen wohl schon auf der Lauer.“

Er stellt sie mir als Mona und Gert vor, alle schnappen sich ein Gepäckstück, David nimmt die Zwillinge, alles ohne mein Zutun. Scheinbar kann ich mich jetzt tatsächlich erst mal entspannen und habe auch wieder Zeit, Schmerz zu fühlen. Während ich zum relativ weit entfernten Eingang humple, steht mir kalter Schweiß auf der Stirn. David führt mich nach oben, zeigt mir das Schlafzimmer seiner Schwester und das Badezimmer. Ich nutze die günstige Gelegenheit, dass beide Kinder schlafen, und gehe unter die Dusche, wobei ich das eine Bein natürlich draußen lassen muss, und die Hand eigentlich auch.

Danach bin ich nervlich echt total am Ende, alles tut mir weh und im Nebenraum brüllt ein Baby. Hilfe! Nachdem ich mich notdürftig abgetrocknet habe, humple ich wieder rüber, rutsche mit den Krücken ab, muss eine Auffangbewegung mit dem kaputten Bein machen und spüre den Schmerz bis hoch in die Hüfte. David sitzt zum Glück schon am Bett und tröstet April, die wohl aufgewacht ist und Angst bekommen hat, weil niemand da war. Ich lasse mich neben ihm nieder.

„Danke.“

„Kein Problem. Also, hast du Hunger? Oder willst du gleich schlafen?“

„Essen … nee. Schlafen wäre gut, aber erst wollen die beiden noch versorgt werden.“

„Darum kann ich mich doch kümmern.“

„Meinst du echt? Ich würde das nicht verlangen, aber ich kann gerade echt nicht mehr.“

„Kein Problem. Alles ist in der Tasche da, nehm ich an?“

„Ja und wenn sie wieder einschlafen, lass sie einfach in den Wippen.“

„Alles klar. Brauchst du sonst noch was? Wasser hab ich dir da hingestellt.“

„Oh cool, danke. Dann bin ich wohl versorgt. Ach so, kannst du die Schnallen vom Koffer noch aufmachen? Das klappt mit einer Hand nicht so gut.“

„Sicher. … So. Die Kleinen sind dann bei mir drüben. Sag gute Nacht.“

„Gute Nacht Krümel, gute Nacht Keks“, flüstere ich und gebe beiden ein Küsschen.

„Sehr süß.“

„Nacht David.“

„Gute Nacht. Und wenn irgendwas ist …“

„… weiß ich, wo du zu finden bist.“

Dann bin ich alleine. Ich ziehe mir noch Shorts und Shirt an, schreibe Dylan eine kurze SMS und schlafe ein.

Es ist noch dunkel, als mich der ziehende Schmerz in meinem Bein weckt. Ich lagere es hoch, warte ab, stelle fest, dass es nichts nutzt. Dann versuche ich es mit anderen Stellungen, mit Atemübungen gegen den Schmerz, sogar mit autogenem Training. Aber ich habe das Gefühl, dass es immer schlimmer wird. Ich setze mich auf, mache Licht, betrachte den Gips, überprüfe, ob er vielleicht zu eng sitzt. Ich trinke Wasser, suche meinen MP3-Player, höre leise Musik, kann mich aber trotzdem nicht ablenken. Dieses Ziehen! Verdammt unangenehm. Was mach ich bloß? Es ist gerade mal fünf Uhr morgens. Vielleicht etwas Kühlung? Zumindest den Rest vom Bein könnte ich mit kaltem Wasser beruhigen. So leise wie möglich humple ich ins Badezimmer. Da brennt Licht. David wickelt gerade Jake.

„Oh, hey“, flüstere ich.

„Hey. Du schaust aber gar nicht gut aus.“

„Mein Bein bringt mich um.“

„Hast du Pillen dagegen?“

„Nein, ich wollte mir hier welche verschreiben lassen.“

„Unser Hausarzt macht um acht auf. Hältst du’s so lange durch?“

„Hab wohl keine Wahl, oder?“

„Schlafen ist dann wohl nicht mehr drin, hm?“

„Nicht wirklich …“

„Dann komm mit rüber.“

„Willst du dich nicht noch etwas hinlegen?“

„Ich unterhalte mich lieber mit dir. Komm schon. Du musst mir erzählen, warum du hier bist und woher die Verletzungen stammen.“

Ich schnaube, sehe aber ein, dass ich es früher oder später erklären muss.

April liegt friedlich in ihrer Wippe neben dem Bett und Jake ist inzwischen auch schon wieder eingeschlafen. David gibt mir mit einem Wink zu verstehen, dass ich das Bett bekomme. Er zieht sich einen Sessel heran.

„Also …?“

„Ja, warum bin ich hier?“

Ich erzähle die Geschichte vom Bagger und vom geplanten Anschlag auf die Eröffnungsfeier des Zentrums. David sieht ziemlich schockiert aus. Er deutet auf mein Bein.

„Hat das irgendwas damit zu tun?“

„Nein, das war ein Unfall. Ist ziemlich blöd gelaufen. Dylan ist mit seinem Geländewagen drübergefahren.“

„Und da ist auch das mit der Hand passiert?“

Ich betrachte meine Rechte.

„Naja, ja, irgendwie schon …“

„Der Verband ist übrigens blutig.“

„Ich weiß, das kommt vom Aufstützen auf die Krücken.“

„Willst du nicht drüber reden?“

„Ich hab Angst, dass du das falsch auffasst.“

„Was ist passiert?“

„Das war der Kühlergrill meines Autos.“

„Wie ist deine Hand da hingekommen?“

„Das ist irgendwie im Streit passiert …“

„Dylan?“, fragt er ruhig, zu ruhig und einfühlsam für meinen Geschmack. Fast wie irgendein Psycho-Heini.

„Es war keine Absicht.“

Oh mein Gott, ich höre mich an wie meine Mutter, nachdem sie mal wieder irgendein Kerl verprügelt hatte.

„Ist so was schon öf…“

„Nein! Und wird es auch nicht mehr. Warum tun alle so, als wäre ich das kleine Frauchen, das sich gegen ihren Ehemann nicht wehren kann? Ich bin hier nicht das Opfer. Wir hatten Streit, Dylan war zu Recht wütend auf mich, er ist für einen Moment etwas grob geworden, ich hatte keinen guten Stand und hab mich dummerweise an einer falschen Stelle abgestützt. Eine Verkettung unglücklicher Umstände, sonst nichts. Thema beendet.“

David schaut mich mit einem schwer zu deutenden Ausdruck an, nickt dann vorsichtig.

„Dann … lass uns mal was gegen deine Schmerzen unternehmen.“

„Kühlen wäre glaub ich gut.“

„Ich hol was.“

Ich strecke mich erst mal auf dem Bett aus. Hoffentlich nimmt er mir meine deutlichen Worte nicht übel. An seiner Stelle hätte ich ja auch noch mal nachgefragt. Aber wie soll ich ihm klarmachen, dass es nicht so ist, wie es den Anschein hat?

„So, wickle da noch die Decke drum, sonst ist es zu kalt.“

Er drückt mir ein Kühlaggregat in die Hand und setzt sich wieder in den Sessel.

„Also bleibt ihr zwei Wochen?“

„So war es mit Nina abgemacht, ja.“

„Meine Eltern haben angeboten, dass ihr auch hier bleiben könnt. Sie fahren in Urlaub, ich bin eh hier … würde sich anbieten, oder?“

„Wenn das okay ist?“

„Sonst hätte ich’s nicht vorgeschlagen.“

„Und wo ist Max?“

„In Hamburg. Er macht da ein Praktikum. Danach verbringen wir den Sommer hier. Und dann, das könnte für dich auch ganz interessant sein, gehen wir im September nach Kalifornien. San Jose, um genau zu sein.“

„Ohne Scheiß?! Das sind keine vier Stunden Fahrt von L.A. aus!“

„Jo.“

„Wie das?“

„Max hat da eine Stelle bekommen. Erst mal für ein Jahr, aber vermutlich dann bis zum Master, also sechs Semester.“

„Cool!“

„Jo …“

„Oder nicht?“

„Doch klar, für ihn schon.“

„Du willst hier nicht weg, oder?“

„Naja, außer meiner Familie hält mich hier eigentlich nichts …“

„Verstehe.“

„Aber ich will Max nicht verlieren, wir haben grad so noch mal die Kurve bekommen, also hab ich nicht wirklich eine Wahl.“

„Naja, es gibt Schlimmeres als Kalifornien.“

„Du musst es wissen.“

„Studierst du dann dort weiter?“

„Keine Ahnung, das ist ein ziemlicher Papierkrieg und das meiste wird hier dann gar nicht anerkannt. Vermutlich such ich mir einen Job und spar mir genug für ein eigenes Restaurant zusammen, wenn Max dann mal weiß, wo er sich für länger niederlassen will.“

„Verstehe. Alles nicht so einfach, was?“

„Nein …“

„Was war denn zwischen euch los? Oder ist das zu persönlich?“

„Keine Ahnung. Erzählst du mir, was mit dir und Dylan war?“

„Du zuerst.“

Er rutscht auf dem Sessel nach vorne und stützt seine Ellbogen auf die Knie. Dann atmet er noch mal tief durch.

„Okay. Also wir hatten gerade ein Tief, … aus vielen Gründen, zum Beispiel weil Max’ Eltern mal wieder Stress gemacht haben und weil er mehr in der Uni war als zuhause und wegen meiner Arbeit haben wir uns dann kaum gesehen und so weiter. Jedenfalls … naja, ich hab mich in jemand anderen verknallt. In meinen besten Freund. Die Sache ist zwar nicht sehr weit gegangen, hat aber gereicht, um die Freundschaft zu ruinieren und Max ziemlich zu enttäuschen. Na, kannst du das toppen?“

„Ob du’s glaubst oder nicht, das kann ich. Ich hab nämlich noch größeren Müll gebaut. Die Vorgeschichte ist so ähnlich. Der Alltagsstress und Meinungsverschiedenheiten haben die Dinge mit Dylan kompliziert gemacht. Dann hab ich mit Xander geschlafen. Dylan hat es rausgefunden. Er hat mich vor die Wahl gestellt und ich habe gezögert. So dämlich muss man erst mal sein! Dann hab ich Xander doch weggeschickt. Daraufhin hat er versucht, sich das Leben zu nehmen. Ich vermute, er ist jetzt in der Psychiatrie. Wissen tu ich es aber nicht, denn natürlich kann ich keinen Kontakt mehr zu ihm haben. So hab ich die Freundschaft zu meinem Exfreund und meine Familie zerstört. Ende der Geschichte.“

„Uff.“

„Ja …“

„Also seid Dylan und du getrennt?“

„Keine Ahnung. Ich hoffe, dass er mich zurücknimmt, in zwei Wochen. Aber ich könnte auch verstehen, wenn er das nicht tut.“

„Du hast echt Scheiße gebaut.“

„Ich weiß.“

„Ich meine, die Babies sind gerade erst auf die Welt gekommen …“

„Ja David, ich weiß.“

„Tut mir leid, ich wollte nicht …“

„Schon okay, ich hab das verdient.“

„Liebst du Xander noch?“

Ich atme schwer ein und überlege meine Antwort gut.

„Auf eine Art sicher, ja. Aber Dylan liebe ich mehr.“

„Aber du denkst, dass man auch zwei Menschen gleichzeitig lieben kann?“

„Definitiv.“

„Ich dachte immer, dass ich in Noah verliebt bin, müsste automatisch bedeuten, dass ich Max nicht mehr liebe.“

„So kann man das nicht sagen. Ich meine, Xander ist ganz anders als Dylan. Er bringt ganz andere Seiten an mir zum Vorschein. Bei ihm bin ich der Starke, der Beschützer, der Begehrte. Er gibt mir das Gefühl, der Mittelpunkt der Welt zu sein. Dylan hingegen muss immer stark sein, bleibt immer etwas auf Sicherheitsabstand, aber ich kann mich immer auf ihn verlassen. Er hat die Dinge im Griff und ist der beste Vater, den ich mir für meine Kinder nur wünschen kann. Er ist mein Mann, meine Familie. Xander taugt eher zum ‚Boyfriend’.“

„Verstehe.“

„Und was ich jetzt will und brauche, ist eine Familie. Auch wenn Xander verführerisch ist.“

„Noah auch. Oder war es. Wir haben seit über einem Monat nicht mehr miteinander gesprochen.“

„Warum nicht?“

„Zuerst mal wegen Max. Und außerdem … naja, er hat einen neuen Freund und ich will ihn irgendwie nicht mit dem zusammen sehen. Aber bald muss ich ihnen doch über den Weg laufen. Ich muss meine Papiere im Flags abholen.“

„Du arbeitest da nicht mehr?“

„Nein.“

„Warum nicht?“

„Na, weil Noah da arbeitet.“

„Ach der ist das, dein Kollege! Der Gutaussehende mit dem amerikanischen Vater?“

„Genau der.“

„Das ist natürlich blöd.“

„Ja. Du siehst also: Du bist nicht der Einzige, der mit einem Schlag ziemlich viel vermasseln kann.“

„Wenn du willst, komm ich zum Papiereholen mit.“

„Würdest du?“

„Klar, ich will diesen Noah doch auch mal beäugen.“

„Hätte ich mir ja denken können, dass es dir nur darum geht! Typisch.“ Er piekst mich in den heilen Oberschenkel und meint: „Du brauchst doch nicht wirklich das ganze Bett für dich, oder?“

„Spring rein, ist ja deins.“

Er steigt vorsichtig über mein kaputtes Bein und richtet sich rechts von mir häuslich ein.

„Ich hatte deine Stimme irgendwie tiefer in Erinnerung“, erklärt er recht unvermittelt.

„Ja? Macht wohl das Mikro.“

„Nein, auch damals, als wir uns bei Sonia im Garten kennengelernt haben.“

„Schon möglich. Ich denke mir das oft, wenn ich irgendwelche Aufzeichnungen von damals höre. Machte wohl einfach das ganze Stimmtraining damals.“

„Singst du nicht mehr so oft?“

„Höchstens mal ein Schlaflied für die Zwillinge. Die Zeiten sind vorbei.“

„Ich liege mit Jordan Bonanno im Bett! Das ist irgendwie ziemlich irre.“

„Du liegst mit Jordan Handerson im Bett“, korrigiere ich ihn.

„Ist doch das Gleiche. Oder der Gleiche.“

„Nicht wirklich. Da hat sich viel getan, in den letzten drei Jahren.“

„Ja? Also jetzt wo du sogar wieder deinen Iro trägst …“

„Das sind bloß Haare …“

„Du siehst jedenfalls nicht aus wie einunddreißig.“

„Was soll denn das heißen?! Einunddreißig ist ja auch nicht alt oder so!“

„Na wenn du meinst …“

„Du spinnst doch!“

„Wenn’s um dein Alter geht, verstehst du keinen Spaß, was?“, grinst er breit.

„Na warte, dich krieg ich auch mit einer Hand klein!“

Ich kitzle ihn mit der Linken, er wehrt sich erst nur halbherzig, versucht es mit der Taktik „Ich bin doch gar nicht kitzlig“, aber das hält er nicht lange durch.

„Nicht! Sonst muss ich schreien und die Babies aufwecken!“

„Schreien, hm?“, grinse ich, und der Hinweis entgeht ihm nicht.

„Hey, das hab ich dir im Vertrauen erzählt, und weil ich dachte, dass wir uns niemals mehr von Angesicht zu Angesicht treffen!“

„Jetzt weiß ich es und werde es gegen dich verwenden. David steht auf lauten Sex“, singe ich zur Melodie eines Kinderlieds.

„Pssst!“

„Was denn? Bin ich zu LAUT?“

„Du weckst nur die Babies! Und außerdem kenne ich auch ein paar pikante Details, deine Vorlieben betreffend. Vergiss das nicht.“

„Ach ja? Ich hab dir gar nichts erzählt!“

„Nein? Woher weiß ich dann zum Beispiel, dass Dylan dir teilweise den Mund zuhalten muss, weil du sonst das ganze Haus aufwecken würdest?“

„Das … das ist gar nicht wahr!“

„Ist es wohl!“

„Naja gut, aber was kann ich denn dafür? Ich meine, ich bin eben ein sehr … akustischer Mensch.“

„Ja, so kann man’s auch nennen.“

„Jetzt tu doch nicht so! Du würdest dir doch wünschen, dass Max diesbezüglich ein bisschen mehr so wäre wie ich.“

„Stimmt. Und jetzt reicht’s wieder. Da schlafen schließlich zwei Babies.“

„Jaja, schieb deine prüden Anwandlungen mal nicht auf meine schlafenden Kinder.“

„Ich hab unsere Gespräche vermisst.“

„Ich auch.“

„Ich bin froh, dass du da bist.“

„Und ich bin froh, dass du uns Obdach gewährst. Ich hätte sonst wirklich nicht gewusst, wohin.“

„Dafür sind Freunde da.“

„Und Internetbekanntschaften“, füge ich hinzu.

„Ja, und die.“

„Was ist eigentlich mit euerer Wohnung?“

„Ich arbeite wieder im Restaurant meiner Tante. In München zu wohnen, wäre also ungünstig. Und den Sommer verbringen wir eh immer hier, deshalb haben wir die Wohnung gleich freigemacht. Interessenten gab es genug.“

„Ah, so ist das.“

„Ja. Keine Privatsphäre bis September.“

„Und keinen lauten Sex“, ergänze ich grinsend.

„Dein Bein scheint dir nicht mehr besonders weh zu tun, was?“

„Danke für’s dran erinnern.“

„Gern geschehen.“

Ich gähne ausgiebig.

„Vielleicht könnte ich doch noch ein bisschen schlafen …“

„Sei mein Gast.“

„Dein Bett ist viel bequemer als das von deiner Schwester.“

„Machs dir nicht zu gemütlich. Morgen schlafen wir wieder separat. Nicht dass noch Gerüchte aufkommen.“

Ich verdrehe nur die Augen und ziehe die Decke hoch.

„Gute Nacht.“

„Gute Nacht, Jordan Bonanno.“

„Grrrr.“

Mich weckt nicht etwa mein Bein, sondern ein hungriges Baby. David sitzt sofort kerzengerade im Bett.

„Jake ist wach“, verkünde ich unnötigerweise und setze mich ebenfalls auf.

„Das höre ich.“

„Dann werd ich mal …“

„… liegen bleiben und mir alles überlassen. Ich ruf dann auch gleich bei Doktor Berger an.“

„Dann … steh ich eben langsam auf, ich brauch eh für alles ein bisschen länger.“

„Gut, dann sehen wir uns unten.“

Und schon ist er mit den Babies verschwunden.

Zwanzig Minuten später trudle ich auch mal ein, Mona und Gert decken gerade den Frühstückstisch. Mir entgehen die begeisterten Blicke nicht, die sie zu ihrem Sohn rüber werfen, der die Zwillinge auf seinen Beinen wippt. Vermutlich hätten sie nichts gegen Enkelkinder einzuwenden.

„Guten Morgen.“

„Ah, da kommt ja unser Gast. Gut geschlafen?“

Gert’s Englisch ist ziemlich gut, wenn auch mit starkem Akzent.

„Ja, wie ein Baby. Na David? Du scheinst ja gut klarzukommen.“

„Alles im Griff. Frühstücke erst mal, dann fahr ich dich zum Arzt. Und dann hat meine Mum angeboten, auf Jake und April aufzupassen, sodass wir nach München fahren können. Also wenn du immer noch Lust hast, mich ins Flags zu begleiten …?“

„Auf jeden Fall! Aber wir können die Zwillinge doch auch mitnehmen, ich meine, ich will nicht noch mehr Umstände machen …“

„Das ist okay. Ich mache das gerne. Die Zwei sind so süß“, erklärt Mona in sehr gebrochenem Englisch.

„Na gut, dann danke.“

Beim Doc bekomme ich einen frischen Verband für die Hand und eine Spritze ins Bein. Außerdem verschreibt er mir Tabletten und ermahnt mich, den Fuß nicht zu sehr zu belasten.

Nach einem kleinen Abstecher zu den Zwillingen geht es ab nach München. David fühlt sich sichtlich unwohl.

„Hey, so schlimm wird’s schon nicht werden“, versuche ich ihn zu beruhigen.

„Ich weiß. Trotzdem … das Flags war so was wie mein zweites Zuhause. Und Noah mit einem anderen zu sehen … ich kann mir Angenehmeres vorstellen.“

„Vielleicht sind sie ja gar nicht da.“Angenehmeres

„Noah ist immer da. Und sein Kerl … keine Ahnung. Aber Noah allein reicht mir auch schon. Ich will nicht. Ich lasse mir das Zeug zuschicken. Und dann unterschreib ich und schick es zurück. Das ist ja wohl hinzukriegen.“

„Bring’s hinter dich.“

Er schnaubt und funkelt mich ein klein wenig wütend an. Ziemlich niedlich und das sage ich ihm auch. Das passt ihm gar nicht. Er droht damit, mich am nächsten Parkplatz rauszuschmeißen, und zwar ohne meine Krücken, deshalb bin ich lieber still und schalte am Radio herum.

„Das nervt“, motzt er.

„Sorry, aber wenn du auch keinen CD-Player hast …“

„Als das Auto gebaut wurde, gab’s noch nicht mal CDs.“

„Gutes Argument. Wie lange noch?“

„Du Kind.“

„Wie lange also noch?“

„Zwei Songs lang, vielleicht drei.“

„Uff.“

„Hast du ne Uhr?“

„Hat das Auto etwa keine?“, frage ich leicht belustigt.

„Nein.“

„Gab’s die damals auch noch nicht?“

„Sehr witzig. Also?“

„Also was?“

„Wie spät ist es?“, fragt er seine Augen verdrehend.

„Halb elf.“

„Gut, dann ist noch nicht so viel los.“

„Jetzt mach dir doch keinen solchen Kopf. Das ist gleich vorbei. … Ich hab Hunger.“

„Weil du auch nicht richtig gefrühstückt hast.“

„Kinder zuerst, so ist das halt.“

„Ja toll und ich muss jetzt sehen, wie ich dich satt kriege.“

„Zum Glück sind wir ja auf dem Weg zu einem Restaurant“, merke ich an.

„Du willst da essen?“

„Kannst du die Küche nicht empfehlen?“

„Das dauert ja dann noch länger!“

„Während du den Papierkram erledigst, kann ich doch einen Happen essen.“

„Wie du meinst, aber wenn ich fertig bin, verziehen wir uns, egal ob dein Teller leer ist oder nicht.“

„Muss ich halt schnell essen. Darin hab ich Übung, sonst essen mir die Kids alles weg.“

„Wie war das mit ‚Kindern zuerst’?“

„Das gilt nur für Säuglinge. Josh würde mir sonst die Haare vom Kopf fressen. Ist echt beneidenswert, was der in sich hineinschaufeln kann.“

„Irgendwie fällt es mir schwer, mir vorzustellen, dass du einen so gut wie erwachsenen Sohn hast.“

„Tja, ich bin älter als ich aussehe, hast du selber gesagt.“

„Da kann ich nicht widersprechen. So, das ist unsere Ausfahrt. Dauert nicht mehr lange.“

„Darf ich versuchen, ob ich noch einen annehmbaren letzten Song finde?“

„Tu, was du nicht lassen kannst.“

Ich wechsle noch ein paar Mal den Sender und gebe mich mit „Wake me up when September ends“ zufrieden. Wir schlingen uns durch den Stadtverkehr, David hat darin offensichtlich Übung, dann parken wir an einer vergleichsweise viel befahrenen Straße.

„So, noch ein kleines Stück zu Fuß.“

„Du siehst blass aus.“

„Ich könnte auch echt kotzen“, erklärt David sehr überzeugend.

„Ich würde ja zur Beruhigung Händchen halten, aber die brauch ich zum Gehen.“

„Ich werd’s überleben …“

„Das ist die richtige Einstellung!“

„Mach dich nur lustig über mich.“

„Nur zu gern. Aber jetzt ernsthaft. Bleib mal stehen.“

„Was denn?“

Ich nehme meine Krücken in eine Hand und lege ihm die andere auf die Schulter.

„Du siehst gut aus.“

Er schaut mich kurz abschätzend an, dann lächelt er etwas verlegen.

„Danke …“

„Und jetzt geh da selbstbewusst und erhobenen Hauptes rein und bring die Sache hinter dich.“

„Okay …“, nuschelt er.

„Wie bitte? Mehr Elan!“

„Ja, selbstbewusst und erhobenen Hauptes. Alles klar. Danke.“

„Keine Ursache.“

Tatsächlich achtet er jetzt auf seine Haltung, wirkt gleich ein Stück größer und geht zielstrebig auf eine Glastür unter einem Schild mit der Aufschrift „Flags“ zu.

Vom ersten Moment an fühle ich mich wohl. Der Raum wirkt, obwohl er nicht besonders voll ist, lebendig. Meine Augen haben viel zum ansehen. Bilder an den Wänden, verschiedene Tische, Nischen, eine Bar. Und die Musik ist unaufdringlich und fängt genau die Stimmung ein. Ein Kellner steuert sofort auf uns zu.

„David, hey.“

„Hallo Noah.“

Den Rest verstehe ich nicht. David stellt mich nicht vor, sondern zieht, sich in seiner Haut sichtlich unwohl fühlend, ab. Die beiden verschwinden in der Küche. Naja, dann such ich mir mal einen Platz.

Die Bistrotische mit den Retrohockern sprechen mich am meisten an. Die Speisekarte ist natürlich deutsch. Hm, erst mal Trinken bestellen. Ein asiatisch aussehender, ausgesprochen hübscher Kellner kommt rüber und spricht mich auf Deutsch an.

„Sprichst du Englisch?“

„Klar, was darf’s sein?“

„Also Orangensaft und … gibt es so was wie vegetarische Pizza?“

„Pizzabaguette hätte ich da anzubieten.“

„Das nehm ich.“

„Alles klar, kommt sofort.“

Und da verspricht er nicht zu viel. Er kommt keine drei Minuten später mit Saft und einem dampfendheißen Baguette zurück.

„Wie hast du das denn so schnell hinbekommen?“

„Die Veggie-Baguettes gehen gut. Wir haben davon immer schon ein paar vorbereitet. Die müssen dann nur noch zu Ende gebacken werden. Du hast also eine gute Wahl getroffen.“

Mir fällt auf, dass sein Lächeln etwas halbherzig wirkt, er schielt immer wieder zur Küche und sieht mich kaum an, wenn er mit mir redet.

„Ich würde gern gleich zahlen, wenn das okay ist.“

„Hm? Achso, klar. Fünf Zwanzig macht das.“

„Stimmt so.“

Als er das Geld entgegen nimmt, schaut er mich doch mal an. Und ich kenne diesen überraschten Ausdruck in seinen Augen, auch wenn ich ihn in letzter Zeit ziemlich selten gesehen habe.

„Du … du bist Jordan Bonanno.“

„Handerson, inzwischen. Ja.“

„Wow, das … ich hab dich grad gar nicht erkannt, eigentlich seltsam, du siehst genau aus, wie ich es in Erinnerung habe.“

„Naja, ist ja auch noch nicht so lange her …“

„Wow, ich bin grad … als Teenie hing immer ein Poster von dir über meinem Bett. Und jetzt sitzt du hier. Krass.“

„Dankeschön.“

„Was … was machst du denn in München?“

„Ich besuche einen Freund.“

„Dann bist du noch länger hier?“

„Zwei Wochen vermutlich.“

„Also dein nächstes Essen hier geht natürlich auf’s Haus.“

Diese tattrige, nervöse Art steht ihm wirklich gut, lässt ihn weniger glatt wirken.

„Danke, aber ich befürchte, ich werde nicht die Möglichkeit haben, das Angebot anzunehmen.“

„Ach schade. Mann, weißt du, wie oft ich mir vorgestellt habe, was ich zu dir sagen würde, wenn du mal vor mir stündest? Und jetzt fällt mir das alles nicht ein. Ich hätte so viele Fragen! Zu deinen Songs, zu deinen Zukunftsplänen, all das eben. Verdammt. Und als rauskam, dass du schwul bist! Leider hast du ja dann ziemlich bald geheiratet. … Gott, ich red nur Müll!“

„Tust du nicht, du hältst dich eigentlich ganz gut. Ich hab schon Schlimmeres erlebt, glaub mir.“

„Gott, ich wollte dich nicht vom essen abhalten.“

„Geht gleichzeitig, siehst du?“

Ich stopfe mir ein großes Stück in den Mund.

„Wow, okay. Also darf ich dir ein paar Fragen stellen?“

„Qua“, was er richtig als ‚klar’ identifiziert.

„Machst du noch Musik? Also ich meine, veröffentlichst du noch?“

„Mh-mh.“

„Ach schade … okay, aber dein altes Zeug, ja? Das hast doch wirklich alles du geschrieben, oder? Ich meine, die Leute reden und so und meinen, ihr hättet halt Songschreiber und so.“

„Das stimmt, es gibt viele Bands, die sich Songs schreiben lassen, darüber kann man natürlich streiten. Aber wir haben tatsächlich das Meiste selbst verbrochen. Manchmal in Zusammenarbeit mit anderen, aber da wo unsere Namen drunterstehen, kann man sicher sein, dass es auch echt von uns ist.“

„Wusste ich es doch! Und ich wusste auch schon viel früher, dass du auf Kerle stehst. Man musste sich ja nur deine Songs genauer anhören. Und noch eine ganz persönliche Frage. Du musst nicht antworten, aber ich MUSS sie stellen.“

„Ja?“

„Xander, von den O-Scars … es gab immer Gerüchte. … Also dass er schwul ist, das finde ich ziemlich offensichtlich, auch wenn das nicht die offizielle Version ist, aber … stimmt es, dass ihr zwei …?“

„Wie du schon sagst, offiziell ist das natürlich totaler Schwachsinn, weil Xander ja total hetero ist und so. Aber … du weißt ja, wie das ist. Solche Gerüchte tragen meistens einen Funken Wahrheit in sich.“

„Wusste ich es doch!“

„So, jetzt bin ich mit fragen dran.“

„Okay …?“

„Wie alt bist du?“

„Zweiundzwanzig.“

„Dann warst du bei der Bandauflösung 2005 ja grad mal achtzehn. Das erklärt wohl das Poster.“

„Hey, ich schütte dir hier mein Herz aus und du machst dich lustig über mich!“, grinst er.

„Ich beneide dich natürlich nur um deine Jugend.“

„Klar. Ich heiße übrigens Dayu, fällt mir ein.“

„Schön dich kennenzulernen.“

„Die Freude ist g…“

Er bricht ab und starrt Richtung Küche.

Ich wende mich um und entdecke David und Noah. Sie wirken beide ziemlich niedergeschlagen und trotten langsam rüber. David sieht aus, als könnte er dringend eine Umarmung gebrauchen. Tatsächlich kommt er, ohne Noah weiter zu beachten, zu mir. Ich nehme ihn in den Arm. Er ist kühl und total verspannt. Ich reibe mit der linken Handfläche über seinen Rücken und flüstere ihm ins Ohr, ob er gehen will. Er schüttelt den Kopf, also halte ich ihn einfach nur fest, bis er sich nach ein paar Sekunden löst, nicht ganz allerdings. Er bleibt dicht neben mir stehen, sodass mein rechter Arm auf seinem Rücken bleibt, und stellt mir Noah und „seinen neuen Freund Dayu“ vor.

„Der berühmte Jordan. Zwischenzeitlich dachte ich wirklich, David hätte sich das alles bloß ausgedacht. Schön dich mal kennenzulernen.“

„Danke, gleichfalls. Ich hab auch schon viel von dir gehört.“

Während ich spreche, kraule ich David beruhigend den Rücken. Er zuckt etwas zusammen, als Dayu Noah zu sich zieht. Worauf warten wir hier noch? Warum gehen wir nicht einfach? David zieht sich einen Hocker heran.

„Also Kaffee?“, fragt Noah.

„Ja …“

Er verschwindet schnellen Schrittes, Dayu folgt ihm langsamer.

„Wie ist es gelaufen?“

„Noah hat mich gebeten, zurückzukommen.“

„Du meinst …“

„Nur auf beruflicher Ebene. Der Besitzer hat uns ein Angebot gemacht, wir könnten den Laden pachten. Das hatten wir immer gehofft …“

„Und jetzt?“

„Was soll schon sein? Ich hab ihm gesagt, dass daraus nichts wird, weil ich mit Max nach Amerika gehe. Was hätte ich denn tun sollen?“

„Tut mir leid.“

„Ja, mir auch. Ich meine, dafür habe ich die letzen Jahre gearbeitet, wir haben so oft darüber gesprochen und jetzt ist die Chance zum Greifen nah.“

„Bist du sicher, dass du sie dann verpassen willst?“

„Wenn ich mich zwischen Karriere und Liebe entscheiden muss, dann ist die Entscheidung klar. Und Noah kann ich nicht mehr haben, also, so mies sich das anhört, bleibe ich bei Max. Schau mich nicht so an. Ich weiß, ich verhalte mich wie der letzte Abschaum, total selbstsüchtig.“

„Ich würde mir nicht anmaßen, über dich zu urteilen. Du steckst echt in einer scheiß Situation.“

„Ja … und jetzt muss ich das dem Chef sagen. Der wird demnächst vorbeikommen. Darum warten wir noch.“

„Achso. Hatte mich schon gewundert …“

Zum Glück taucht bald nach dem ich meine Pizza aufgegessen habe ein etwa fünfzigjähriger Mann im Anzug auf und verschwindet mit David und Noah im Büro. Dayu bleibt an der Bar zurück, bemerkt meinen Blick und … weicht ihm aus. Soll ich zu ihm rüber gehen? Für ihn ist die Situation bestimmt alles andere als leicht. Ich an seiner Stelle wüsste nicht, wie ich mich zu verhalten habe. Wenn mein Freund mit seinem besten Freund eine nicht ganz so platonische Beziehung haben würde und die beiden dann zusammen ein Geschäft eröffnen wollen würden und das dann nicht klappt und der Freund dann traurig ist deswegen, ich mich aber insgeheim freue … Die Entscheidung wird mir abgenommen, Dayu muss wieder weiterarbeiten. Ich schreibe solange SMSen an Nikki, Josh und Dylan.

David ist blass und traurig, wir setzen uns noch eine Weile in einen nahegelegenen Park, er versucht, Max anzurufen, erreicht ihn aber nicht. Er dankt mir tausend Mal, dass wenigstens ich da bin, und lässt sich von mir in den Arm nehmen. Er hat seinem Chef und Noah abgesagt. Er hat seinen großen Traum aufgegeben, für Max und dessen großen Traum. Dafür fasst er sich erstaunlich schnell. Ein Leben mit Max sei nun mal sein allergrößter Traum, und das sei das Opfer schon wert.

Den restlichen Tag verbringen wir mit den Zwillingen im Garten. David jätet wie wild Unkraut. Frustbewältigung. Ich muss daran denken, dass Kate und ich hinter dem Haus ein kleines Gemüsebeet angelegt haben. Wie das wohl inzwischen aussieht? Ob sie es allein hinkriegt? Ich vermisse mein Zuhause. Ich beschließe, nachdem David mir versichert hat, dass ein Gespräch in die Staaten nur sechs Cent die Minute kostet, Dylan anzurufen und ihn nach dem Garten zu fragen. Er wundert sich zwar etwas, weil er, wie ich selbst, bisher nicht gewusst hat, dass mir dieses Stückchen Erde so am Herzen liegt, versichert mir aber dann, dass Kate und Josh sich gut darum kümmern und es sogar schon die erste Tomatenernte gegeben hat.

Ich telefoniere auch mit Nikki, dann mit Gwen und dann noch kurz mit Janet, die Tobey endlich gesagt hat, dass er Vater wird. Sie meint, er wäre sehr blass geworden, sie habe schon Angst gehabt, er würde gleich in Ohnmacht fallen, aber nach dem ersten Schock habe er sich riesig gefreut. Er hat sofort beschlossen, wieder in die Staaten zu ziehen, ohne dass sie irgendwas in der Richtung verlangt hat. Ihre Freude ist total ansteckend und so verabschiede ich Davids Eltern, die sich am Spätnachmittag auf den Weg nach Süden machen, breit grinsend.

Nachdem wir genug gewunken haben, da das Auto um eine Straßenbiegung verschwunden ist, fragt mich David:

„Und was ist mit dir los?“

„Meine beste Freundin bekommt ein Baby. Der Papa hat es kürzlich erfahren und seither schweben beide ein paar Zentimeter über dem Boden.“

„Das kann ich mir vorstellen.“

„Ich weiß noch, am Tag als Dylan und ich erfahren haben, dass unsere Leihmutter tatsächlich schwanger ist, … ich glaube, ich bin in meinem Leben noch nie so glücklich gewesen, wie an diesem Tag. Da war einfach alles perfekt.“

Das Grinsen ist inzwischen aus meinem Gesicht verschwunden und ich schlucke schwer.

„Jordan …?“

„Ich … ich glaub ich leg mich ein bisschen hin.“

Meine Kinder schlafen friedlich auf Davids Bett. Ich habe solche Schuldgefühle ihnen gegenüber. Sie brauchen eine intakte Familie, sie haben nur das Beste verdient. Dylan muss mir einfach noch eine Chance geben! Ich lege mich dicht neben Jake, der im Schlaf meinen Zeigefinger umgreift. Es gibt nichts, was ich für diese beiden Babies nicht tun würde, soviel steht fest. April regt sich kurz, schaut sich um, sieht mich und ist beruhigt. Alles ist gut, solange unsere Familie nur zusammen ist.

Die Türklingel weckt mich. Es ist kurz vor sechs, draußen ist es noch hell, die Kinder scheinen noch weiterschlafen zu wollen, also stehe ich alleine auf, wasche mein Gesicht und gehe nach unten.

„Nina!“

„Hallo Großer!“

Wir fallen uns erst mal in die Arme, sie schmatzt mir einen Kuss auf die Wange und drückt mich fest an sich. Dabei flüstert sie, dass es ihr schrecklich leid tut, dass sie mich nicht vom Flughafen abholen konnte. Ich glaube ihr.

„Ich will die Babies sehen!“, verkündet sie.

Nachdem sie die beiden ausreichend bewundert hat und sie dabei auch munter geworden sind, füttere ich die Babies und Nina und David kümmern sich um Abendessen für die Erwachsenen. Nina erzählt von ihrer Stelle im Konsulat, von Kerlen und dem Leben halt. Bald geht es darum, wo die Zwillinge und ich weiter bleiben. Nachdem David mir ja angeboten hat, weiter bei ihm zu wohnen, nehme ich das an, denn mit den Kindern in Ninas kleiner Wohnung mitten in der Stadt würde es sicher etwas eng werden. Nina muss schon bald wieder los, versichert aber, am Freitag wiederzukommen.

Die Nacht verbringen die Zwillinge und ich wieder bei David. Ich weiß eigentlich selbst nicht genau warum, es ergibt sich einfach so. Auf die Art können wir uns mit den Kleinen abwechseln und David tut es auch gut, nicht alleine zu sein. Im Dunkeln erzählt er mir die ganze Geschichte mit Max ausführlich. Er liebt ihn, daran besteht kein Zweifel. Aber ich glaube, David opfert zu viel für seinen Freund. Das kann auf Dauer nicht gut gehen. Doch David sieht das anders und ich hoffe wirklich, dass er recht behalten wird.

Für ein paar Tage verdrängen wir beide unsere Probleme und machen einen auf „Happy Family“. David ist schon verdammt toll, Max kann sich sehr glücklich schätzen. Allerdings erfüllt David wohl eher meine Erwartungen an einen Partner als die von Max. Er ist fürsorglich und anhänglich und sensitiv und ehrlich, kann toll mit Jake und April umgehen und hat auch sichtlich Freude dran.

Am Freitag kommt Nina wie versprochen zurück, für das ganze Wochenende. Wir kochen, reden, spielen, reden noch mehr, flirten ein wenig, aber nicht ernsthaft, so was würde mir jetzt gerade noch fehlen. Sie hat ein bisschen … Respekt vor den Zwillingen, weiß nicht so richtig was mit ihnen anzufangen. Das übernimmt aber zum Glück David, sodass Nina und ich genug Zeit haben, einander detailliert von den letzten paar Jahren zu berichten. Natürlich fragt sie mich auch nach meinen Verletzungen und ist sehr skeptisch, als ich ihr versichere, dass alles halb so wild war. Sie gibt erst Ruhe, als ich ihr erzähle, was der Grund für den Streit gewesen ist.

„Genau deshalb gründe ich keine Familie. Mir würde so ein Scheiß vermutlich noch früher als nach drei Ehejahren passieren …“

Nina schaut ein wenig seltsam, als sie mitbekommt, dass ich bei David im Bett schlafe, lässt sich aber vorerst nichts anmerken. Am Samstagmorgen komme ich allerdings dazu, als die beiden in der Küche darüber reden. Auf Deutsch natürlich, aber ein paar Brocken verstehe ich inzwischen und Ninas Tonfall ist recht besserwisserisch. David wirkt eher genervt von der Einmischung. Zu recht natürlich, aber Nina meint es bestimmt nur gut.

„Guten Morgen.“

„Oh, guten Morgen.“

„Hey.“

Stille.

„Also David … weißt du zufällig noch, wo du letzte Nacht meine Unterhose hingepfeffert hast?“, frage ich so wenig grinsend wie möglich.

Ninas Augen treten aus ihren Höhlen, David grinst.

„Ich nehme an, sie liegt neben dem Schreibtisch, weit hab ich sie jedenfalls nicht geworfen, nachdem ich sie dir ausgezogen hatte.“

Wir prusten gleichzeitig los. Nina findet es scheinbar nicht witzig.

„Lacht nur. Ihr seid echt doof!“

„Komm schon, glaubst du wirklich, dass wir so dumm wären? Wir haben beide derzeit schon genug am Hals“, gebe ich zu bedenken.

„Männer haben schon dümmere Sachen getan …“

„Ach bitte …“, will ich mich gerade rechtfertigen, als ich Davids Blick bemerke.

Er wendet sich zwar sofort ab, aber ich beschließe, in der nächsten Nacht lieber nicht mehr bei ihm zu schlafen. Sicherheitshalber.

Mein Plan wird durchkreuzt. Am Nachmittag bekommt David einen Anruf von seiner Schwester. Sie sei zurück in Deutschland, ein paar Monate zu früh, und müsse vom Flughafen abgeholt werden.

Beim Abendessen erzählt Klara - freundlicherweise auf Englisch - dass sie sich mit ihrem australischen Freund gestritten hat und deshalb von da weg wollte. David scheint irgendwie genervt von ihren Allüren, aber ich kenne die Vorgeschichte ja nicht. Jedenfalls sind wir jetzt eben zu sechst. Klara braucht ihr Bett wieder selbst, Nina schläft im Elternschlafzimmer und mir bleibt die Wahl zwischen der Couch und Davids Bett. Ach was soll’s? Wir sind ja wohl beide erwachsen und wissen, was wir tun, also lege ich die Zwillinge in Davids Zimmer und stoße wieder zu den anderen, die im Wohnzimmer gerade die Playstation anschließen. Wir hängen rum, ich muss mich bei Singstar beweisen, Klara und David ignorieren sich weitestgehend, Nina wird dank ihres Rotweins immer redseliger und anhänglicher, die Babies schlafen bis kurz vor Mitternacht, alles ist entspannt und bleibt es auch die nächsten Tage.

Natürlich denke ich oft an Dylan und an die Zentrumswiedereröffnung. Aber von hier aus kann ich sowieso nichts für ihn tun. Ich weiß, dass alle meine Kinder aus der Schusslinie sind und ich weiß, dass Dylan auf sich aufpassen kann. Deshalb versuche ich, mich zu entspannen und mit Jake und April ein paar schöne Tage zu verbringen, die, wie üblich, viel zu schnell vorbei sind.

Nach beinahe zwei Wochen ruft Dylan endlich an, um Entwarnung zu geben. Die Eröffnungsfeier ist vorbei und die Polizei konnte drei Männer verhaften, die illegale explosive Substanzen bei sich gehabt haben. Es ist jetzt sicher, ich kann wieder nach Hause kommen. Die Fäden sind mittlerweile draußen und an meiner Hand ist nur eine noch leicht krustige Narbe geblieben. Mein Fuß steckt inzwischen in einer Art Gehgips, ich bin also nicht mehr wirklich auf fremde Hilfe beim Fliegen angewiesen. David verabschiedet sich schweren Herzens von den Zwillingen. Ich nehme an, wenn er erst in Kalifornien lebt, werden wir ihn öfter zu Gesicht bekommen.

Am Montag landen die Zwillinge und ich wieder in L.A.. Dylan holt uns ab. Er sieht müde aus, aber entspannt. So herzlich er die Zwillinge begrüßt, so kalt ist sein Verhalten mir gegenüber nach wie vor.

„Wo soll ich bleiben, Dylan?“

„Du kannst Joshs Zimmer haben. Er und Kate kommen erst morgen zurück.“

„Und danach?“

„Sehen wir weiter.“

Mehr kann ich gerade wohl nicht verlangen.

Wir machen noch einen kurzen Abstecher bei Nikki und Gwen, dann fahren wir nach Hause. Dylan trägt die Kinder, ich schleppe das Gepäck. Irgendwie wirkt alles was er tut oder nicht tut für mich wie ein Schlag in die Fresse. Ich brauche Harmonie! Ich brauche ein Zuhause. Mein Mann kümmert sich zwar um was zu essen, redet aber nicht mit mir, sieht mich noch nicht mal an. Ich gehe erst mal duschen und auspacken.

Dylan hat Eintopf gemacht. Mit Fleisch drin. Ich werde jetzt nicht anfangen, das Zeug aus meinem Essen zu pulen, sondern schmiere mir ein Frischkäsebrot. Dylan beobachtet das missmutig. Soll ich ihn vielleicht um Erlaubnis bitten, mir was aus meinem eigenen Kühlschrank zu holen?! Die Kinder wollen versorgt werden. Mir ist der Appetit sowieso vergangen. Ich merke, dass meine Hände zittern, als ich die Windeln wechsle. Mir ist auch ziemlich kalt. Ich kann ja wohl nicht schon wieder eine Grippe bekommen, oder? Mein Bein tut weh, mein Kopf auch. Normalerweise würde ich mich jetzt zu Dylan auf die Couch legen, er würde mir eine Wärmflasche machen und meinen Kopf kraulen, während er noch am Notebook arbeitet. Ich würde langsam eindösen und morgen früh wäre die Welt wieder in Ordnung.

Aber das Wohnzimmer ist leer, als ich wieder hinunterkomme. Die Lichter sind aus, das Haus wirkt verlassen. Im Schlafzimmer war Dylan nicht, da habe ich die Babies gerade hingelegt. Vermutlich sitzt er in seinem kleinen Büro oder er ist in der Garage beim Gewichtestemmen. Ich lege mich auf die Couch. Die Dunkelheit ist angenehm, zumindest am Anfang. Aber bald schon habe ich das Gefühl, in einem riesigen, leeren Raum zu sein, ganz allein. Oben höre ich Schritte, vom Büro hoch ins Schlafzimmer. Dylan geht ins Bett. In unser Bett. Ich will dorthin zurück, will seine Wärme spüren, will gehalten werden. Ich sitze aufrecht auf der Couch, zittere, verwehre mir selbst aber den Komfort einer Decke, habe das nicht verdient. Meine Zähne klappern, kalter Schweiß steht mir auf der Stirn. Meine Beine schlafen ein, meine Arme nach und nach ebenfalls. Ich weiß nicht, ob ich weine, ich spüre meinen Körper kaum noch, spüre nur die Leere, die überall ist. Um mich und in mir. Niemand ist da, um mich aufzufangen, niemand hält mich fest, erinnert mich, dass ich nicht alleine bin. Die Welt löst sich auf, ich denke an … an einen Schuss. An das Gefühl der Nadel, die die Haut durchdringt. An den Druck im Arm, an die Wärme, die Ekstase.

Panik erfasst mich, das blanke Entsetzen über mich selbst. Wie kann ich nur?! Wie ist es soweit gekommen? Zittere ich wirklich, weil mir kalt ist?

„Jordan?“

Zuerst meine ich, mir die Stimme nur eingebildet zu haben. Doch dann durchdringen Schritte die Stille. Ein Lichtschein, viel zu grell, fällt auf mich. Ich kneife die Augen zusammen, bedecke sie mit einer Hand. Die andere wird berührt. Warme Haut, lange Finger. Dylan.

„Ganz ruhig. Ist schon gut. Ist ja gut, ich hab dich.“

Mein Gesicht drückt sich gegen seine Schulter, das Zittern ist jetzt nicht mehr kontrollierbar. Ich sauge Dylans Geruch ein, als wäre er meine Droge.

„Ich brauche dich, Dylan. Ich kann nicht ohne dich leben. Bitte verlass mich nicht. Ich sterbe ohne dich. Nichts macht mehr Sinn, ohne dich bin ich nichts, ich …“

Sein Kuss unterbricht mich. Er ist nicht gierig, sondern gebend. Er zeigt mir, dass er mich immer noch liebt, dass er uns noch nicht aufgegeben hat. Wir halten uns fest, er küsst mein Gesicht, meinen Hals. Mein Herz schlägt rasend schnell, aber seines genauso.

„Ich liebe dich, Dylan. So sehr.“

„Und ich dich. Das wird sich niemals ändern.“

„Schlaf mit mir.“

„Oben. Komm.“

Wir ziehen einander aus, legen uns auf’s Bett, halten uns, drücken uns fest aneinander. Da löst sich Dylan kurz, greift in die Nachttischschublade und holt ein Kondom hervor. Ich bin total vor den Kopf gestoßen. Seit wann haben wir die Dinger eigentlich wieder im Haus? Und warum will er … oh. Jetzt wird es mir klar. Es geht um Xander. Mein Mann hat Angst, sich bei mir was einzufangen. Es ist dunkel, ich sehe seinen Blick dabei nicht, als er sich den Gummi überstreift, aber ich komme mir irgendwie plötzlich so … dreckig vor. So beschmutzt. Mein Mann hat Angst davor, mit mir zu schlafen.

Aber soll ich ihm jetzt sagen, dass Xander und ich uns geschützt haben? Wird er mir überhaupt glauben? Sein Vertrauen in mich ist zerstört. Er dreht mich auf den Bauch, kommt behutsam in mich. Ich liege einfach so da, unfähig, mich zu bewegen. Xanders weiche Umarmung kommt mir in den Sinn. Mit ihm war es so anders, so rein und intensiv. Wie er mich dabei angesehen hat … und Dylan? Seinen Blick könnte ich in der Dunkelheit kaum erkennen, selbst wenn mein Gesicht nicht in die Bettdecke gepresst wäre.

Ich wache auf aus einem tiefen, traumlosen Schlaf. Ein paar Muskeln tun mir weh und ich fühle mich immer noch erschöpft, obwohl der Wecker fast zehn anzeigt. Dylan liegt nicht neben mir, die Zwillinge sind auch nicht in ihren Bettchen. Warum habe ich sie heute Nacht nicht schreien gehört? Ich humple ins Badezimmer und dann in die Küche.

Da finde ich die Drei. Die Kinder liegen zufrieden in ihrem Laufstallbett, Dylan macht Pancakes. Der Tisch ist reich gedeckt, draußen zwitschern die Vögel, ein Glas Orangensaft wartet schon auf mich.

„Guten Morgen“, nuschle ich etwas überrascht.

Dylan wendet sich mir zu.

„Guten Morgen. Setz dich. Frühstück ist gleich fertig.“

„Öhm … okay.“

Er schiebt mir einen Stapel Pancakes auf den Teller, mit frischem Obst und Schokoladensoße und setzt sich zu mir.

„Lass es dir schmecken.“

Dass er so freundlich zu mir ist, wirkt fast verstörend. Andererseits hat er ja auch wieder mit mir geschlafen, also vielleicht hat er mir ja wirklich verziehen? Ich beschließe, nicht so misstrauisch zu sein und einfach erstmal das Frühstück zu genießen.

Dylan räumt die Teller ab, während ich nach den Kleinen sehe. Die schlafen inzwischen, also setze ich mich auf die Couch im Wohnzimmer. Dort besprechen Dylan und ich immer den Tagesablauf. Also normalerweise. Und ich habe das Gefühl, Dylan möchte, dass wieder alles normal abläuft …

Nach ein paar Minuten setzt er sich zu mir. Ganz nah, und legt seinen Arm um mich.

„Ich liebe dich, Jordan.“

„Ich di…“

Er deutet mir an, dass er noch etwas sagen möchte.

„Ich liebe dich und ich will, dass du glücklich bist. Letzte Nacht hat mir sehr deutlich gezeigt, dass wir uns nur etwas vormachen, wenn wir denken, wir könnten das hier noch irgendwie retten. Wir machen uns nur beide unglücklich.“

Mein Herzschlag erhöht sich, ich spüre einen plötzlichen Druck auf den Ohren.

„Aber ich will dich doch nicht verlieren“, stammle ich.

„Ich dich auch nicht. Aber als Paar klappt es einfach nicht mehr zwischen uns, Jordan. So leid mir das tut und so hart diese Entscheidung zu treffen ist, weiß ich, dass es das einzig Richtige ist, wenn wir uns trennen.“

„Was?! Dylan …“

„Bitte Jordan, glaub nicht, dass ich das aus Wut oder gekränktem Stolz oder Ähnlichem tue. Ich mache das, weil ich dich liebe und ich nicht dein Verderben sein will. Ich weiß, dass du noch Gefühle für Xander hast und …“

„Natürlich habe ich Gefühle für ihn! Genau wie für Sean, Vince, Scott, Tobey … Aber das bedeutet doch nicht, dass …“

„Jordan, du weißt, dass da mehr ist als das. Er hat dich verlassen und du hast damit nie abschließen können. Wenn es nach dir gegangen wäre, dann wärt ihr heute noch zusammen. Du würdest ihm alles verzeihen, weil du ihn liebst. Ich wünschte, ich könnte derjenige sein, für den du so empfindest.“

Er zieht mich dicht an sich. Wir halten uns fest.

Seine Stimme zittert, als er weiterspricht:

„Gott weiß, es gibt viel, für das du mir vergeben musstest. Ich verdanke dir so viel. Ohne dich hätte ich das Zentrum heute nicht, ohne dich hätte ich keine Kinder. Du hast mir ein neues Leben geschenkt und ich werde dir für diese Chance ewig dankbar sein. Du warst nach über vier Jahren der Erste, der mich berührt hat, ohne dass ich Angst haben musste. Du hast mich genommen, wie ich war. Das hat dich viel Kraft gekostet und jetzt geht es eben nicht mehr. Ich habe immer damit gerechnet, dass so etwas früher oder später passiert. Ich wusste, dass dieser Traum nicht für immer weitergehen kann. Ich wünsche dir wirklich, dass du bei Xander dein Glück findest. Auch wenn ich nicht daran glaube, aber ich hoffe es.“

„Ich kann nicht ohne dich“, schluchze ich.

„Das musst du auch nicht. Auch wenn wir kein Paar mehr sind, sind wir immer noch gemeinsam Eltern. Du wirst hier immer willkommen sein, Jordan. Wir sind eine Familie, das kann uns keiner nehmen. Aber du musst jetzt herausfinden, was du wirklich willst, was dich glücklich macht. Ich gebe dich frei.“

Er löst unsere Umarmung mit sanfter Gewalt. Ich fühle mich zwar alleine … aber zugleich irgendwie erleichtert. Xander. Meine Gedanken rasen in ganz neue Richtungen. Der Weg ist frei für Dinge, die ich lange verloren geglaubt habe, für Dinge, die ich mir wirklich wünsche. Für Xander.

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