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Teufel

Teil 2

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Eine halbe Stunde war seither vergangen und Rey lief im Zimmer auf und ab wie ein gefangener Tiger im Käfig. Meine Zeit vertrieb ich mir, indem ich jeden seiner Schritte mit den Augen verfolgte. Am liebsten hätte ich ihn ein wenig ausgefragt, was er so für Hobbys hatte, was er für Musik hörte und ob er nicht mal fünf Minuten ruhig stehen bleiben könnte. Das hin und her Gerenne machte mich noch ganz kirre.

„Könntest du das bitte lassen?!“, blaffte er mich mit einem Mal an.

„Was hab ich denn nun schon wieder gemacht?“ Etwas genervt schaute ich zu ihm auf, direkt in seine tiefblauen Augen.

„Genau das. Du starrst mich die ganze Zeit an. Hab ich irgendwas Interessantes im Gesicht oder an meinen Sachen, oder was?“ Kurz verweilte mein Blick auf seinem Hintern, bevor ich ihn wieder ansah und antwortete.

„Außer, dass auf deiner Stirn ‚Arsch vom Dienst‘ tätowiert ist?“

Mittlerweile hatte ich es mir zum Spaß gemacht zu testen, wie weit ich gehen konnte, bis Rey richtig austickte. Ich genoss es regelrecht, ihn bis aufs Letzte zu reizen, denn selbst wütend sah der kleine noch richtig niedlich aus. Wenn er mich mit aufeinander gepressten Lippen anblitzte, seine dunkelblauen, unergründlichen Augen zu schmalen Schlitzen verengte. Wenn er seine Zähne so fest zusammen biss, dass der Muskel an seiner Wange sich unablässig bewegte… Dass er mich von Minute zu Minute mehr interessierte, hatte ich mir selbst schon kopfschüttelnd eingestanden. Davon mal abgesehen war das die einzige Chance, damit er überhaupt Notiz von mir nahm und mit mir redete, auch wenn er mich bisher nur anschnauzte.

„Mann, hier hinten gibt es nicht viel zu sehen. Da bist du noch das Interessanteste. Du hast nicht rein zufällig nen Handy oder iPod dabei?“ Unschuldig schaute ich ihn fragend an und sah vergnügt, wie Rey seine Hände fest zur Faust ballte um ruhig zu bleiben. „Nicht? Mist. Meins liegt ausgeschaltet oben im Nachtschrank.“

Mein Gegenüber holte hörbar tief Luft, fixierte mich dabei mordlustig, drehte sich dann aber um und ließ seine ganze Wut am Regal neben sich aus, indem er mit voller Wucht dagegen trat. Dieses schwankte gefährlich hin und her und ich hörte einige Gläser aneinander klirren. Meinen Zimmergenossen beeindruckte dies aber relativ wenig, denn er fing wieder an, im Raum auf und ab zu tigern, das wackelnde Holzregal neben sich nicht beachtend.

„Wieso bist du eigentlich hier?“, versuchte ich nach einer Weile ein Gespräch anzufangen.

„Das geht dich nen Scheiß an.“

Täuschte ich mich, oder wurde sein Gang schneller? Als hätte ich seine Antwort nicht gehört, redete ich vergnügt weiter.

„Weißt du, bei mir war es echt ein dummes Ding. Eigentlich wollte ich doch nur meine Ruhe haben, aber Dank meines total beknackten Chemie-Lehrers hatten diese Typen einen üblen Hass auf mich. Und irgendwann kam es soweit, dass…“

„Halt deine Klappe! Kannst du nicht mal für eine Minute dein übergroßes Maul halten? Mich interessiert es einen Dreck warum du hier bist. Das einzige, was für mich von Interesse ist, ist wie ich hier am schnellsten rauskomme. Denn jede Sekunde, die ich mit dir eingesperrt bin, zehrt unwahrscheinlich an meinen Nerven.“, unterbrach mich Rey und mit jedem Wort wurde seine Stimme bedrohlicher.

„Komm schon, so schlimm bin ich nun auch wieder nicht.“, meinte ich gespielt eingeschnappt, was für ihn wohl der letzte Tropfen in dem vollen Wasserfass war. Krachend zerschmetterte mein Gegenüber den Holzsockel des Regals mit einem Fußtritt, stellte sich seitlich in die Mitte davor hin und funkelte mich hasserfüllt an.

„Ich schwöre dir, wenn noch ein einziges Wort über deine verkackten Lippen kommt, schlage ich dir deine Zähne einzeln aus deinem Bubigesicht raus. Hast du verstanden?!“ Eigentlich sollte ich mich freuen, dass ich ihn in so kurzer Zeit soweit hatte, wie ich wollte. Nur beschäftigte mich das hölzerne Gestell, das beunruhigend vor und zurück wippte.

„Ähm, Rey. Ich weiß ja, dass du gerade total stinkig bist, aber…“, setzte ich zu einer Warnung an und fixierte mit einem unguten Gefühl das Regal. Doch mein Zimmergenosse ließ mich gar nicht erst ausreden.

„Ich bin nicht stinkig. Ich habe von dir und deinem dauerfröhlichen ironischen Gehabe die Nase gestrichen voll. Es kotzt mich an, wie, beziehungsweise dass du überhaupt atmest!“

Seine Hasstirade ging noch ein ganzes Stück weiter, nur hörte ich kaum zu. Rey hatte vorhin den linken Sockel vorne komplett zertreten, wodurch das Regal nur noch auf drei Füßen stand. Dazu kam nun, dass der vorne rechts am Zusammenbrechen war, weil mein Gegenüber diesen bei seinem ersten Wutausbruch schon zermürbt hatte.

„Rey, hör mal.“, begann ich besorgt und richtete mich langsam auf. Aber wieder wurde ich von ihm unterbrochen.

„Nein, du hörst mal! Ich habe absolut keinen Bock auf…“

Weiter kam diesmal auch er nicht. Ich vernahm nur noch das unheilvolle Knacken und Zersplittern von Holz und sah, wie das Regal in Zeitlupe auf meinen Mitbewohner zu kippte. Ohne weiter drüber nachzudenken sprang ich nach vorne und stieß Rey an die Wand, außer Reichweite der Gefahr. Das Gestell krachte laut gegen die von mir links liegende Mauer und noch bevor ich mich selbst in Sicherheit bringen konnte, fielen die Blechdosen und schweren Kisten, die darauf gelagert waren, auf mich hinab. Ich hörte wie knapp neben mir Glas zersprang, dann traf mich etwas Hartes am Hinterkopf und mich umfing tiefe Dunkelheit.


Stöhnend öffnete ich langsam meine Augen und blickte in sattes Blau.

„Na, wieder wach?“, hörte ich den Besitzer dieser strahlenden Diamanten leise fragen.

„Bin mir nicht ganz sicher. Vielleicht träume ich gerade. Wenn ja, dann will ich nicht aufgeweckt werden.“, faselte ich schlaftrunken und streckte meine Hand nach dem Gesicht des Redners aus, welches ich bisher nur schwach erkennen konnte. Leicht zuckte er zusammen, als ich sanft seine Wange berührte.

„Der Schlag auf den Hinterkopf hat deine wenigen Gehirnzellen wohl mehr durcheinander gebracht, als ich dachte, Vollidiot.“

Mit einem Mal war ich hellwach und erkannte erschrocken, dass ich mit meinem Kopf auf Reys Schoß lag, ich ihn streichelte und er mich aus zusammengekniffenen Augen fixierte. Klopfenden Herzens richtete ich mich ruckartig auf und starrte mein Gegenüber besorgt an.

„Rey! Alles mit dir in Ordnung?“

„Im Gegensatz zu dir schon, du Oberhirni! Was sollte diese total bescheuerte Aktion überhaupt? Wolltest du dir den Rest deines mickrig vorhandenen Gehirns zerquetschen lassen?“, blaffte mein Zimmergenosse mich an, nur sah ich, wie sich ernst gemeinte Sorge in seinem Gesicht widerspiegelte.

„Ich hatte Angst, dass dir was passiert.“, antwortete ich kleinlaut. Mein Herzschlag hatte sich um ein vielfaches erhöht und auf meinen Wangen begann es warm zu kribbeln. Am liebsten hätte ich ihn einfach nur fest in meine Arme geschlossen, erleichtert, dass ihm nichts weiter geschehen war und erfreut darüber, dass er sich auch Gedanken über mich machte.

„Weißt du eigentlich, wie gefährlich das war? Das Ganze hätte böse enden können und nicht nur mit einer Beule an deinem riesigen Dickschädel.“, meckerte Rey weiter und klopfte mir leicht gegen meine Stirn. Explosionsartig breitete sich Schmerz in meinem Kopf aus, der mich vor Intensität laut aufstöhnen ließ.

„Argh. Wenn du weißt, wie es um meinen Schädel gerade steht, wieso musst du unbedingt noch drauf hauen?“

„Wenn du nicht den Helden gespielt hättest, würde das jetzt auch nicht wehtun.“

„Wenn du nicht das Regal zum Umkippen gebracht hättest, hätte ich nicht den Helden spielen müssen.“ Trotzig blickten wir uns beide an.

„Wenn du mich nicht zur Weißglut gebracht hättest – und ich weiß, dass du das mit Absicht gemacht hast - hätte ich nicht gegen das Regal getreten und es wäre nicht umgekippt.“

„Hättest du dich mal fünf Minuten hingesetzt, um dich mit mir normal zu unterhalten, wäre es mir nicht so langweilig geworden und ich hätte eine andere Beschäftigung gehabt, als dich zur Weißglut zu treiben.“

„Wenn du nicht so blöd gewesen wärst und den Türstopper nicht zur Seite geschoben hättest, würden wir hier gar nicht drin festsitzen und du hättest keine Langeweile bekommen.“

„Wenn du nicht so faul gewesen wärst und den Schlüssel von außen abgezogen hättest, würden wir nicht hier drin festsitzen.“

„Und wenn du nicht so ein übler Vollidiot wärst…“ Grinsend schüttelte Rey seinen Kopf, lehnte sich an die Wand und blickte nach oben. „Du bist wirklich der dümmste Blödmann, dem ich je begegnet bin.“

„Ich bin auch einzigartig.“, sagte ich von mir sehr überzeugt.

„Das hoffe ich von ganzem Herzen. Noch so einen Idioten wie dich überlebt die Welt nicht.“, lachte mein Gegenüber und schloss die Augen.

Ich konnte nicht anders, als ihn unentwegt anzustarren. Er sah lächelnd noch viel besser aus, als ich dachte. Alles in mir drängte danach, sein Gesicht wieder zu berühren, mit meinen Fingerspitzen die Konturen nachzuzeichnen und mit den Lippen seine zarten Wangen zu liebkosen.

„Du tust es schon wieder.“, holte mich mein Mitbewohner aus meinen Gedanken.

„Hm?“, fragte ich verwirrt.

„Du beobachtest mich.“, meinte er ruhig.

„Tschuldige, aber ich hab dich noch nie fröhlich gesehen. Immer nur mit ner grimmigen Grimasse.“, erklärte ich kleinlaut.

„Du redest, als ob wir uns schon Jahre kennen würden.“

Leider wusste ich, dass er eigentlich Recht hatte, aber sollte ich ihm wirklich sagen, dass ich ihn näher kennenlernen wollte? Dass ich mich über jede Kleinigkeit freute, was ich neu an ihm entdeckte und mich dies glauben ließ, tiefer ein Loch in die Mauer gebohrt zu haben, die ihn umgab? Unsicher schaute ich nach unten. Ein dunkler Fleck rechts neben Rey zog meine Aufmerksamkeit auf sich.

„Was ist denn das?“, fragte ich verwundert, beugte mich nach vorn und berührte leicht seinen Arm. Er zuckte etwas zusammen und fuhr mit dem Kopf zu mir herum. Kurz musterte er meine Entdeckung, dann mich.

„Nichts weiter.“, antwortete er nur und entzog sich mir wieder. Aus seiner Bewegung heraus konnte ich erkennen, woher das dunkle Zeug kam. Reys kompletter Arm war getränkt von seinem eigenen Blut, welches aus einer langen, schmalen Wunde hinten am Oberarm langsam nach unten lief.

„Scheiße.“, entfuhr es mir. „Aber wie…?“ Verwirrt blickte ich auf den Fleck, dann erinnerte ich mich an das Geräusch von splitterndem Glas kurz bevor ich ohnmächtig wurde. Suchend drehte ich mich nach rechts und betrachtete das Regal, welches noch immer an der Wand lehnte. Darunter lagen Dosen und Kisten, die samt ihrem Inhalt auf dem Boden verstreut waren. Scherben glitzerten aus diesem Durcheinander hervor. Ich schaute an mir herab, konnte außer ein paar Kratzern und kaputten Klamotten aber nichts Schlimmeres feststellen.

„Warum?“, fing ich wieder an, doch Rey verdrehte nur seine Augen.

„Hätte ich dich dort etwa liegen lassen sollen? Ich war halt etwas unvorsichtig, als ich dich unter dem Schrott vorzog und hab mich geschnitten.“ Genervt schüttelte er seinen Kopf, stellte die Füße an und zupfte am Saum seines Shirts.

Ich allerdings zog mir mein Oberteil aus, zerriss es zu einigen akzeptablen Fetzen und verband damit die Wunde meines Mitbewohners. Zuerst versuchte er sich zu wehren und seinen Arm zurückzuziehen, aber diesmal war ich es, der den anderen wütend anfunkelte. Einen verwunderten Blick auf mich werfend gab er schließlich nach und ließ mich in Ruhe meiner Arbeit nachgehen.

Als ich fertig war, setzte ich mich in die gleiche Position wie er, lehnte den Kopf an die Wand und schloss meine Augen. Keine Ahnung wie lange wir so schweigend dasaßen, ich glaube, ich war sogar kurz eingenickt. Doch eine Weile später merkte ich, wie Rey langsam zur Seite kippte. Zuerst bekam ich etwas Panik, ob der fortwährende Blutverlust die Ursache dafür war. Aber dann hörte ich sein verärgertes Grummeln, als ich leise seinen Namen rief und ihn ein wenig schüttelte.

Erleichtert stellte ich fest, dass er nur eingeschlafen war, bettete sanft seinen Kopf in meinem Schoß und lauschte seinen regelmäßigen Atemzügen. Er sah richtig friedlich und entspannt aus, wie er so da lag und bei jeder auch noch so kleinen Bewegung ein verschlafenes Schmatzen von sich gab. Zärtlich streichelte ich ihm über seine Wange bis hinunter zum Hals und bekam eine kribbelnde Gänsehaut, als er etwas zu schnurren begann.

„Hallo? Seid ihr hier drin?“, hörte ich auf einmal jemanden rufen.

„Wir sind hier.“, antwortete ich zögernd, nicht sicher, ob ich mir die Stimme nur eingebildet hätte. Rey allerdings begann sich zu regen und öffnete, gestört von dem Krach, stöhnend seine Augen. Wie ich zuvor schaute er mich verwirrt an, blieb aber noch einige Sekunden lang liegen, meine Hand weiterhin auf seinem Hals ruhend.

„Uns hat jemand gefunden. Das bedeutet, dass wir hier endlich rauskommen und du von mir Labertasche erlöst bist.“ Fast traurig blickte ich auf ihn hinab.

„Vollidiot.“, meinte er nur sanft und setzte sich auf.

Sophia war auf der Suche nach uns gewesen und hatte sich gewundert, warum überall noch Licht brannte, aber niemand zu sehen war. Beide wurden wir von ihr trotz Protest ins Krankenzimmer geschleift, wo ein Arzt uns grob unter die Lupe nahm und hinterher beschloss, dass wir sicherheitshalber in die ambulante Notaufnahme mussten. Mein Kopf wurde geröntgt und Reys Wunde genäht. Da wir beide keine weiteren Beschwerden hatten – mal abgesehen von meinem Brummschädel – durften wir nach einer Stunde gehen und waren gegen halb neun abends wieder im Heim.

Nun standen mein Leidensgenosse und ich im Büro der Direktorin und hörten uns schon seit einer Viertelstunde eine Moralpredigt an, wie man sich zu verhalten hatte, warum man was machte und was nicht, auf was man zu achten hatte und und und. Ich hatte nach einer halben Minute auf Durchzug geschalten und gab nur in regelmäßigen Abständen ein bereuend klingendes ‚Hm‘ von mir. Kurz vor einundzwanzig Uhr wurden wir dann endlich erlöst, aber auch nur mit der Begründung, dass wir die Kids ins Bett bringen müssten. Auf dem Weg zu unserem Zimmer, der überwiegend schweigend verlief, trafen wir auf eine junge, kleine, zornig aussehende Frau, die mit vor der Brust verschränkten Armen wartete.

„Sag mal, kann man dich nicht mal eine Sekunde aus den Augen lassen, ohne dass du gleich wieder Blödsinn machst?“, begrüßte sie Rey ärgerlich. Fragend wendete sich Cat besorgt an mich: „Bei dir alles in Ordnung, Tomas?“

„Außer dass ein Presslufthammer in meinem Schädel zu Besuch ist und Überstunden macht, ist alles klar.“, grinste ich tapfer. Sie lächelte mir kurz zu, wandte sich aber gleich wieder an meinen Nachbarn. Zögernd hob sie ihre Hand und berührte leicht den Verband an seinem Arm.

„Du musst lernen, besser auf dich aufzupassen.“, warf Cat ihm sanft vor.

„Ich dachte, dafür wärst du hier.“

„Als ob ich immer überall sein könnte oder du jemals auf mich hören würdest.“

Irgendwie verstand ich gar nichts mehr. Nachdem die Beiden mit diesem Liebesgeflüster angefangen hatten, verschwand ich mit einer genuschelten Entschuldigung. Ich glaubte weniger, dass denen meine Abwesenheit überhaupt auffiel. Rasch hatte ich mich umgezogen und verfrachtete meine Schützlinge in ihre Betten. Die Direktorin hatte uns zur Strafe und Marcos Entlastung alle seine sechzehn Jungs in Obhut gegeben. Somit unterstanden eigentlich jedem von uns zwei Zimmer, die wir betreuen mussten. Allerdings hatte ich die Befürchtung, dass an diesem Abend die ganze Arbeit an mir hängen blieb.

Ich betrat also den ersten Raum und sorgte dort für Ruhe. Das Geschehene hatte schnell die Runde gemacht, wodurch ich mit einigen Gerüchten erstmal aufräumen musste. Nach einer kurzen Unterhaltung und ein paar Zeilen aus Harry Potter schliefen die Kleinen wie Engelchen. Mit den restlichen zwölf Jungs verlief es nicht viel anders. Josch war wieder einigermaßen gut drauf, weswegen ich ihm sogar ein paar Details beim Eincremen verriet. Ich erzählte, dass Rey wegen mir ausgetickt war und deswegen das Regal umstürzte, aber dass ich das Gefühl hatte, als hätte ihn vorher schon schwer was beschäftigt. Josch wurde mit der Zeit immer ruhiger und wirkte nachdenklich. Das auf die Müdigkeit schiebend stand ich auf und wünschte meinem Schützling eine gute Nacht.

Nach einer erneuten Dusche warf ich mich müde in mein Bett, kuschelte mich ins Kopfkissen und zog die Decke bis zum Kinn. Kurz dachte ich an Marco, fragte mich, ob er sich wohl Sorgen gemacht hatte und versuchte das Bild wie Rey Cat im Arm hielt zu verdrängen. Die Medikamente hatten eine hervorragende Wirkung und ließen mich endlich schmerzfrei in die Welt der Träume gleiten.


Ein unnachgiebiges Rütteln an meiner Schulter holte mich am nächsten Morgen aus meiner wohlverdienten Nachtruhe.

„Komm schon, wach auf du Schlafmütze, sonst verpasst du noch das Frühstück.“

Grummelnd schälte ich mich aus der Decke und setzte mich im Bett auf. Mein ‚Wecker‘ stand vor dem Schrank und suchte sich gerade ein paar Klamotten heraus. ‚Täusch ich mich, oder trägt er noch die gleichen Sachen wie gestern?‘, fragte ich mich verwundert, bis ein paar dunkle Flecken an seiner Hose meine Vermutung bestätigten. Er musste wohl gerade eben erst von Cat wiedergekommen sein, denn selbst sein Bett sah unbenutzt aus.

Als mein Zimmergenosse wieder aus dem Bad kam stand ich mit hämmernden Kopfschmerzen auf, und ging selbst hinein. Irgendwie fühlte ich mich elend. Die Gewissheit, dass ich Rey nach der ganzen Aktion etwas für mich gewonnen zu haben glaubte und ich ihn kurze Zeit später jedoch wieder verlor, machte mich krank. Total neben mir schlurfte ich fertig angezogen aus dem Zimmer. Mein Mitbewohner hatte es schon längst ohne was zu sagen verlassen und ich wusste nicht, ob mir dies gefiel oder nicht. Auf der einen Seite mochte ich seine Gegenwart, war fast abhängig davon, aber auf der anderen wiederum ertrug ich es nicht, ihn auch nur in meiner Nähe zu ahnen mit der Gewissheit, ihn nie richtig berühren, geschweige denn mein Eigen nennen zu dürfen. Vertieft in diese Gedanken trat ich also auf den Flur und prallte dank meiner Unachtsamkeit mit jemandem zusammen.

„Na Kleiner, immer noch so stürmisch unterwegs?“, fragte Marco lächelnd und schob mich an den Schultern haltend etwas von sich, um mich direkt anschauen zu können. „Hey, was ist denn mit dir los? Du siehst aus, als wenn jemand gestorben wäre. War wohl gestern doch etwas heftiger gewesen.“ Besorgt wurde ich von ihm gemustert, was mein Herz etwas schneller schlagen und mich verwirrt zu ihm aufschauen ließ.

„Weiß nicht. Mein Kopf hämmert wie verrückt, aber sonst geht es, glaube ich.“, antwortete ich matt.

„Glaubst du. Klingt ja wenig überzeugend. Nimm eine Aspirin mit viel Wasser. Falls deine alle sind, ich habe immer welche auf Lager. Oder willst du einfach mal den Vormittag frei haben? Mit der Direktorin bekomm ich das schon geregelt.“

„Danke, aber es geht schon irgendwie, ehrlich. Mach dir mal wegen mir keine Umstände.“, meinte ich leise. Mein Betreuer strich mir liebevoll eine Haarsträhne aus dem Gesicht, fuhr mit seinen Fingerspitzen sanft über meine Wange und hob dann mein Kinn leicht an.

„Wenn irgendwas sein sollte – egal was – du weißt, wo du mich findest.“

Tief sah mir Marco mit seinen rehbraunen, alles durchdringenden Augen in meine und beugte sich langsam zu mir runter. Doch je näher er meinen Lippen kam, desto mehr verstärkte sich der Schmerz hinter meiner Stirn, bis ich fast glaubte, er würde jeden Augenblick aus mir heraus brechen. Ich legte meine Hände vorn auf seine Brust und schob ihn sanft aber bestimmend von mir weg.

„Sorry. Irgendwie schein ich doch nicht ganz so fit zu sein. Das Angebot mit dem freien Vormittag klang eigentlich nicht übel.“ Aufgewühlt wich ich Marcos’ Blick aus, krallte mich aber an ihm fest, als mir kurz schwindlig wurde.

„Tomas!“, erschrocken hielt mich mein Betreuer fest, ging mit mir im Arm in mein Zimmer und verfrachtete mich ins Bett. Kopfkissen und Decke hatte er aufeinander gestapelt und unter meine Beine gelegt, damit diese etwas höher als der Rest von mir lagen.

„Tut mir Leid.“, nuschelte ich, als Marco an meiner Stirn nach Fieber suchte und mit der anderen Hand meinen Puls maß.

„Dummerchen. Dir braucht nun wirklich nichts leid zu tun. Ruh dich erstmal aus. Den Rest werde ich für dich wegen heute regeln, okay?“ Behutsam streichelten seine Finger mein Gesicht, während er mich besorgt anlächelte. Ich gab mit einem Nicken mein Einverständnis. Dann beugte er sich über mich und hauchte mir einen Kuss auf die Stirn, bevor er aus dem Zimmer verschwand.

Es war erleichternd wieder allein zu sein, selbst meine Kopfschmerzen ließen etwas nach. Eine Weile später zog ich mich bis auf Boxer und Shirt aus und kuschelte mich richtig in Kissen und Decke ein. Die Schmerztabletten, zu deren Einnahme mich Marco gezwungen hatte, begannen zu wirken und gaben mir zum Glück nicht die Gelegenheit, über irgendwas nachzudenken. Sie zogen mich immer weiter hinab in dunkle, erholsame Schwärze.

Erst viel später erwachte ich wieder durch ein fast schüchternes Klopfen an der Tür. Langsam ging diese auf und Cat trat hindurch, ein Tablett mit einem Teller und nem Glas vor sich her balancierend.

„Hey.“, begrüßte sie mich grinsend und stellte ihr Mitbringsel auf dem Nachttisch ab.

„Hey.“, antwortete ich weniger begeistert und setzte mich im Bett halb auf.

„Na du klingst ja nicht besonders fröhlich. Dein Kopf hat auch gestern ganz schön gelitten, was. Hier, iss erstmal. Die Küchenchefin hat mich geschickt um dafür zu sorgen, dass du uns nicht verhungerst. Ist wirklich absolut lecker.“, meinte Cat freudig und ließ sich auf mein Bettende fallen.

„Dann iss du es doch!“, zickte ich schwach, was mir nur eine geklaute Decke bescherte.

„Hier wird nicht rumgemotzt. Hast dir in den paar Stunden mit Rey wohl von ihm was abgeschaut, hä? Wenn du genauso miesmuschlig werden solltest wie er, gibt’s Hacksweety, klar?!“

Ihre vom Trotz vorgeschobene Unterlippe zauberte mir ein unwilliges Grinsen auf das Gesicht. Auch wenn Rey nun mal mit ihr zusammen war, konnte ich ihr nicht böse sein – nicht mehr. Schließlich konnten die Beiden doch nichts dafür, was ich fühlte. Es wäre mies, sie für meinen Fehler zur Verantwortung zu ziehen. Trotz dieser Erkenntnis ging es mir beschissen.

Ich setzte mich im Schneidersitz hin, legte das Kissen auf meine Beine und stelle das Tablett darauf. Das Glas hatte ich natürlich zwecks Umsturzgefahr auf dem Nachttisch stehen gelassen. Ich schlürfte genüsslich meine Suppe und biss gierig von der Butterschnitte ab. Erst jetzt merkte ich, wie hungrig ich wirklich war. Gestern fehlte die Zeit für das Abendbrot und heute hatte ich das Frühstück verschlafen. Cat erzählte mir, dass Rey meine Aufgaben übernommen hatte, da ich sogar den ganzen Tag von der Direktorin frei geschrieben worden war. Im Stillen dankte ich Marco für seinen Einsatz und nahm mir vor, mich demnächst bei ihm zu revanchieren.

„Mann, bin ich fertig.“, gähnte mein Gegenüber, schlang sich die Bettdecke um Schulter und Kopf und lehnte sich an die Wand.

„Ist wohl gestern ganz schön spät oder eher früh geworden?“, meinte ich, stellte das Tablett auf den Boden und drückte das Kissen an meine Brust.

„Ich bin jedes Mal zwischendrin leicht weggenickt, aber Rey musste mich ja immer wieder durch sein bescheuertes Gerüttel wecken.“, ningelte Cat und nahm einen tiefen Schluck aus meinem Glas, welches ich in der Hand gehalten hatte. „Eigentlich wollte ich nur noch schlafen, aber er fummelte weiter an…“

„Oh bitte Cat, keine Details. Ich bin echt nicht näher an eurem Sexleben interessiert.“, unterbrach ich sie halb erschrocken, halb angewidert. Man musste nicht alles über seine Freunde wissen. Cat allerdings verschluckte sich heftig an der Limo und fing stark an zu husten. Tränen glitzerten in ihren Augen, während sie gequält nach Luft schnappte. Ich konnte ihr nur schnell das Glas abnehmen und ihr leicht auf den Rücken klopfen.

„Was? Sag mal spinnst du? Ich steh nicht auf Jungs, wie oft denn nun noch. Rey ist zwar knappe neunzehn, aber ich brauch nen ordentlichen Mann und keinen Bengel. Außerdem habe ich schon einen Freund. Wie kommst du bloß darauf, dass ich und Rey was miteinander hätten?!“ Immer noch schwer atmend blickte Cat mich auffordernd an.

„Naja.“, druckste ich. „Als wir vom Krankenhaus wiederkamen und wir dich im Flur antrafen, schienst du übel besorgt gewesen zu sein und… ach scheiße.“

„Nur weil ich besorgt bin, bildest du dir gleich sonst was ein? Er ist für mich wie ein Schützling, klar mach ich mir da Gedanken, wenn ich höre, dass er ins Krankenhaus musste.“

„Aber du sahst irgendwie… Als du seinen Verband gesehen hast, da war… fuck.“, stotterte ich unaufhaltsam und massierte mit beiden Händen meine Schläfen.

„Du klingst ja fast so, als wärst du in einen von uns beiden verknallt.“, kicherte sie, stand auf und stellte das Glas auf dem Nachttisch ab. Ich starrte nur verlegen auf den Boden vor mir und merkte, wie meine Wangen rot aufbrannten. „Oh nein, das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?“ Ungläubig starrte die Kleine mich an, dann kniete sie sich mir gegenüber vor dem Bett hin. „Wenn ich das letztens richtig gedeutet habe, darf ich mich aus deinem Beuteschema ausschließen, richtig?“ Ich konnte nur als Antwort nicken. „Shit.“ Cat verlagerte ihr Gewicht nach hinten auf ihre Hacken und ließ die Schultern hängen. Nervös kaute sie auf ihrer Lippe und suchte hilflos wirkend die Wand hinter mir nach was auch immer ab.

„Cat, ich weiß auch nicht wieso. Ich kann mir selbst nicht erklären, warum mir gerade in seiner Gegenwart so komisch zumute ist. Aber… ach Scheiße. Weißt du ob… Ich meine ob er…?“

„Tomas, diese Frage kann nur er dir beantworten. Ich kenne ihn zwar länger als du, aber nicht viel besser. Dennoch ist er mir als Freund in der kurzen Zeit sehr wichtig geworden. Pass auf. Ich gebe dir in dieser Sache nur einen einzigen Hinweis und wehe er erfährt, dass du diese Information von mir hast. Gib ihm Zeit und schenke ihm etwas Geduld sowie Vertrauen. Er wurde erst vor kurzem ziemlich enttäuscht. Ehrlich gesagt bin ich froh, dass es ihm langsam wieder besser zu gehen scheint. Bleib einfach ihm und auch dir gegenüber immer bei der Wahrheit. Ich habe keine Lust, ihn wieder so niedergeschlagen und deprimiert zu erleben.“

Eindringlich blickte Cat mir in die Augen. Rey schien ihr wirklich am Herzen zu liegen, so ernst wie sie ausschaute.

„Okay, das sollte für mich das kleinste Problem sein.“, antwortete ich genauso ernst mit fester Stimme und sah, dass sich mein Gegenüber wieder etwas entspannte. „Aber sag mal, weißt du wirklich nicht, ob er auf…“

„Selbst wenn ich es wüsste, würde ich es dir nicht verraten. Ich sagte doch schon, dass nur er dir diese Frage beantworten kann.“, unterbrach sie mich gutmütig lächelnd und stand auf. Sie stellte das Glas zum Teller zurück auf das Tablett und nahm es in die Hand. „So, ich glaube, du hast fürs erste genug Stoff zum Nachdenken und auch die Zeit dazu. Also nutze sie. Wir sehen uns beim Abendbrot.“, verabschiedete sich Cat und ging auf die Tür zu.

„Danke.“ Zuerst war ich richtig sauer gewesen, dass gerade sie es war, die mir was zu essen brachte und ich auch noch Hunger hatte. Aber jetzt war ich nur erleichtert. Erleichtert darüber, dass ich wirklich eine gute Freundin gefunden zu haben schien und dass ich vielleicht doch bei Rey Chancen haben könnte. Bevor Cat aus dem Zimmer verschwand, schenkte sie mir noch ein breites Lächeln, dann war ich wieder alleine.

Ich kramte mein Handy aus dem Nachtschrank und schaltete es ein. Meine Mutter hatte versucht mich zu erreichen, aber das interessierte mich wenig. Ich suchte einen ordentlichen Klingelton als Weckruf heraus und stellte die Zeit auf halb drei. Wenn ich schon den ganzen Vormittag im Bett rumlag, wollte ich wenigstens zum Nachmittag meine Arbeit machen. Auf dem Rücken liegend, die Arme hinter dem Kopf verschränkt starrte ich die Decke an und dachte über Cats Worte nach. Rey war also verletzt worden und angeblich langsam drüber hinweg. Wieso aber hatte er gestern dann am Fenster geweint? Beunruhigt drehte ich mich auf die Seite und kuschelte mich ins Kissen.


Das Lied ‚Tyrann‘ von Schandmaul weckte mich zur besagten Zeit und zum ersten Mal, seitdem ich hier war, erwachte ich mit einem klaren Kopf ohne Schmerzen. Dadurch ermutigt, schwang ich mich aus dem Bett und machte mich im Bad frisch. Zwar fühlte ich mich immer noch etwas matt, aber im Gegensatz zum Morgen viel besser. Gemütlich zog ich mich an und verließ das Zimmer Richtung Sekretariat. Dani begrüßte mich knapp und reichte mir dann auf mein Verlagen hin das Klassenbuch meiner Schützlinge. Schnell hatte ich die Aufgaben der Kids überflogen und verschwand rasch wieder. Viel Lust darauf, den Drachen zu treffen, hatte ich nämlich nicht.

Im Aufenthaltsraum angekommen, empfingen mich meine Jungs mit einem fröhlichen ‚Hallo‘. Sie fragten nach meinem Befinden, weil ich am Morgen nicht da gewesen war und ich antwortete, dass es mir wieder ganz gut ging. Kurz überflog ich ihre Arbeiten, die sie schon längst fertig hatten und wurde im Anschluss abermals zu einem Brettspiel gezwungen, bei dem ich dank der sich ständig wechselnden Regeln haushoch verlor.

„Sagt mal, wann kommt eigentlich Rey? Er müsste doch schon längst in der Küche Feierabend haben.“, wunderte ich mich nach über einer Stunde.

„Der kommt nie her.“, sagte einer der Kleinen und die anderen stimmten ihm zu. Sie fingen ein wenig an, sich über ihn lustig zu machen und zu meckern.

Bevor er so missgelaunt aus dem Urlaub zurückkam, war er immer sehr ruhig und zurückhaltend gewesen. Nie hatte er bisher mit den Kids was unternommen, geschweige denn gespielt, dabei war er schon ein gutes halbes Jahr hier. Ein Junge begann Witze über Rey zu reißen, was ich mahnend unterbrach. Der einzige, der die ganze Zeit über still blieb, war Josch. Weder gab er einen Kommentar zu dem Gesagten, noch lachte er über die Albernheiten seiner Mitschüler.

Eine weitere Stunde später verabschiedeten sich die Kinder, da sie von einer anderen Betreuerin – ich glaube Tina war ihr Name – an die frische, langsam an Wärme gewinnende Frühlingsluft gejagt wurden. Mit ihr räumte ich den Aufenthaltsraum auf und hörte mir ihre lustigen Anekdoten an. Sie unterrichtete Wirtschaft und Zeichnen und ließ sich ein wenig über ihre Schützlinge aus, die in der Stunde nicht aufgepasst hatten. Nach einer Weile kam eine zweite Betreuerin hinzu und das Getratsche nahm seinen Lauf. Wir waren sozusagen alleine zu dritt im Raum, als die beiden Frauen richtig in Fahrt kamen.

Die Direktorin hatte sich wohl wieder einmal irgendwo eingemischt, was eigentlich Sache des Erziehers gewesen wäre, wodurch sie erstmal kräftig verflucht wurde. Der Drache war überall unbeliebt. Deshalb konnte keiner verstehen, warum der alte Besitzer des Heimes die Verwaltung des Hauses in die Hände dieser Frau gelegt hatte. Von einem Tag auf den anderen hatte er verkündet, dass er auf unbestimmte Zeit nach England zu seinem Sohn reisen würde, um sich endlich um seine Enkelkinder kümmern zu können. Derweil würde die jetzige Direktorin, die bisher nie jemand gesehen hatte, an seiner statt alles regeln. Jeder glaubte bis dato, dass Marco den Posten bekam, wenn dem alten Herren was passieren würde, da die beiden sehr gut miteinander befreundet waren.

Langsam bekam ich Hunger, weswegen mich mein nächster Gang in die Küche führte. Cat hatte eben Feierabend und zog sich gerade ihre Jacke über, als ich hinten in dem kleinen Zimmer erschien. Wir quatschten noch ein wenig, während ich mir nebenbei ein Wurstbrot schmierte. Sie warnte mich noch, dass ich jetzt nicht zu viel essen sollte, da es bald Abendbrot gab und verschwand dann in Richtung Heimat. Ich trabte indes die schmale Treppe neben der Turnhalle hinauf und öffnete die Tür meines Zimmers. Verwundert registrierte ich, dass mein Mitbewohner bäuchlings auf seinem Bett lag und was las.

„Hey.“, begrüßte ich ihn, worauf er nur mit einem ‚Hm‘ antwortete.

Ich schmiss die Schuhe in die Ecke und pflanzte mich auf meine Matratze. Meinen mp3-Player suchend wollte ich es Rey gleich tun, nur war die Schublade leer, wo sich gestern noch mein Buch befunden hatte. Kurz überlegte ich, wo es hätte sein können, bis mir einfiel, dass ich es gestern in der Turnhalle einfach auf eine Bank beiseite gelegt hatte, um beim Bühnenaufbau zu helfen. Fluchend stand ich auf und griff nach meinen Schuhen, schließlich musste es noch unten sein, es sei denn Marco hatte es weggeräumt. Ich wollte mich in meine Fußbekleidung quälen, als ich nebenher neugierig zu meinem Zimmergenossen rüberschielte. Dieser blätterte eben eine Seite um, wodurch ich einen Blick auf das Cover seiner Lektüre werfen konnte. Überrascht ließ ich von meinen Tretern ab und ging auf mein Gegenüber zu.

„Ich glaube, das ist mein Buch, was du da gerade liest.“, setzte ich vorsichtig an. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals und ich betete inbrünstig, dass er noch nicht an der expliziten Stelle angekommen war. Ich meine, so viel Erotik brachte Justin C. Skylark in seinem Roman ‚Szandor’s Erbe‘ nun auch wieder nicht rein – im Gegensatz zu manch anderen Storys auf bestimmten Websites – aber doch beschrieb er die Gefühle seines Hauptcharakters zu seinem neuen Mitbewohner recht eindeutig.

„Wer’s findet, dem gehört’s.“, meinte Rey tonlos und schien tief in seiner Literatur vertieft zu sein.

Ungeduldig atmete ich aus, kniete mich vors Bett und beugte mich etwas über ihn, damit ich ein paar Sätze lesen und somit überprüfen konnte, an welcher Stelle er sich gerade befand. Wenn ich ihm das Buch einfach aus den Händen reißen würde, wäre er erstens stutzig und zweitens sauer. Beides wollte ich im Moment vermeiden. Rey hatte außerdem schon ein ganzes Stück gelesen und war sicherlich über die eine oder andere Andeutung gestolpert. Ich glaubte nicht, dass er sich auch nur einen Satz weiter durchlesen würde, wenn er sowas abstoßend fand.

Ein Weilchen kniete ich so vor ihm um der Geschichte zu folgen, da der Absatz wo ich aufgehört hatte nur zwei Seiten weiter lag. Auf einmal drehte sich mein Gegenüber genervt zu mir um und blickte mir aus zusammengekniffenen Augen entgegen. Ich sah kurz auf, schaute ihn trotzig an und tat dann so, als ob ich weiter schmökern würde. In Wahrheit raste eine warme, fast heiße Welle durch meinen Körper, die mich hätte taumeln lassen, wenn ich nicht auf dem Boden gehockt hätte. Stöhnend richtete sich Rey im Bett auf, lehnte sich an die Wand und begann erneut zu lesen. Ich starrte ihn ärgerlich mit gerunzelter Stirn an und wollte gerade darauf etwas erwidern, als mein Mitbewohner mir zuvorkam.

„Was ist? Ich denke du willst lesen? Also beweg endlich deinen Hintern und setz dich neben mich. Wenn du magst können wir zusammen schmökern. Bis ich das Buch nicht zu Ende gelesen habe, rück ich es eh nicht so raus.“, forderte er mich bestimmend auf und ließ meine Augen groß werden.

Das Ganze für einen dummen Scherz haltend, stand ich nur langsam auf und kroch mit wackeligen Gliedern neben Rey. Zuerst wollte ich einen halben Meter Abstand lassen, da ich nicht wusste, wie nah ich ihm kommen durfte. Aber er rückte gleich nachdem ich saß an mich heran, sodass sich unsere Schultern berührten. Mein Atem ging immer schneller, als ich seinen Körper spürte und bekam halbe Schweißausbrüche, als mir sein Duft vermischt mit Shampoo in die Nase stieg. Mit aller Gewalt versuchte ich mich auf den Roman zu konzentrieren, was mir erstaunlicherweise wenig später gelang. Die Geschichte war einfach richtig gut und spannend geschrieben. Das Dumme war nur, dass wir nach ein paar Seiten auf einen Absatz stießen, bei dem es zwischen den beiden Hauptcharakteren heiß her ging.

Mit jedem Wort das ich las wurde es mir immer wärmer, bis ich glaubte zu kochen. Rey schien das alles irgendwie kalt zu lassen, denn er verfolgte ohne auch nur eine Miene zu verziehen weiter die Story. Er wollte auf die nächste Seite blättern, doch ich war mit dieser noch nicht ganz fertig. Rasch hob ich meine Hand um das Papier festzuhalten, aber anstatt der Seite fühlte ich Reys Finger unter meinen. Die Berührung ließ einen wohlig prickelnden Schauer durch meinen Körper fahren und ich blickte erschrocken auf. Mein Mitbewohner sah mich mit seinen tiefblauen Augen fragend an und ohne weiter drüber nachzudenken, beugte ich mich, aufgewühlt von der Geschichte, zu ihm rüber und gab ihm einen sanften Kuss. Warm spürte ich seine Lippen auf meinen und hörte mein Herz laut gegen die Brust pochen. Einige Sekunden später löste ich mich von Rey und schaute ihn unsicher an. Reglos erwiderte er meinen Blick, ohne auch nur zu blinzeln.

„Mach das noch einmal und du bist tot.“, sagte er dann tonlos, legte das Buch beiseite und stand auf. „Komm schon, beweg dich du Vollidiot. Es gibt seit einer Viertelstunde Abendbrot.“, meinte mein Mitbewohner etwas herablassend und streckte sich, dass man seine Knochen knacken hörte. Dann ging er aus dem Zimmer und ließ mich verdattert auf dem Bett sitzend zurück.


Das Essen verlief recht ruhig, wenn man von dem lauten Geschnatter der Kids um einen herum absah. Weder Marco noch Rey waren in der Mensa, weswegen ich schweigend mein Brot aß und mich seltsam allein fühlte, trotz der anderen Betreuer, die mit bei mir am Tisch saßen. Nach einer Weile gesellte sich Dani zu uns und bat die Erzieher, ihre Gruppen zusammenzurufen und noch im Speisesaal zur warten, da die Direktorin eine Ankündigung zu verlauten hatte. Wir scharten also unsere Schützlinge um uns und harrten der Dinge, die da kamen.

Ich ließ meinen Blick gelangweilt über die Menge schweifen, als sich meine Aufmerksamkeit auf die beiden Neuankömmlinge richtete, welche gerade den Essensraum betraten. Marco stampfte mit einem angespannten Gesichtsausdruck durch die Menge, Rey im Schlepptau, der eindringlich auf ihn einzureden schien. Mit einem Mal packte mein Mitbewohner seinen Vordermann am Arm und ich konnte deutlich von seinen Lippen ablesen, dass er den Namen meines Betreuers rief. Dieser drehte sich tief Luft holend um und griff dem Kleineren mit beiden Händen an die Schulter. Kurz schien Marco was klarzustellen, dann schubste er Rey leicht von sich und ging weiter zu seiner Gruppe, die er von dem kranken Lehrer übernommen hatte.

Mein Zimmergenosse stolperte einen Schritt nach hinten und schaute mit großen Augen dem Lehrer hinterher. Es müssen wohl harte Worte gewesen sein, die er gesagt bekommen hatte, denn sein Atem ging schnell und er sah verwirrt, enttäuscht, wütend und traurig zugleich aus. Doch dann bemerkte ich, wie sich zumindest äußerlich das Wechselbad der Gefühle legte und sein Gesicht sich zu einer zornigen Grimasse verzog. Ruckartig drehte er sich um und steuerte auf den Ausgang zu. Dort prallte er allerdings mit der Direktorin zusammen, die eben die Mensa betrat. Erst wollte der Drache Rey nicht gehen lassen, aber nach einer kurzen Diskussion durfte er dann doch den Speisesaal verlassen. Verwundert saß ich da und ließ die Szene wieder und wieder in meinem Kopf Revue passieren. Was war zwischen Marco und Rey vorgefallen, was beide so heftig hatte reagieren lassen?

Der Lärm um mich herum ebnete nach und nach ab und holte mich aus meinen Gedanken. Erst als vollkommene Stille herrschte, wandte sich die Direktorin an alle Anwesenden.

„Die Winterferien sind seit längerem vorbei und mit ihnen die Ausgabe der Halbjahreszeugnisse. Eure Noten waren damals alles andere als akzeptabel. Um euch ein wenig anzuspornen versprach ich, dass die Klassen, deren Notendurchschnitt bis Ende März/Anfang April auf mindestens zwei und höher steigt, einen Tag völlig kostenfrei in einem Vergnügungspark verbringen dürfen.“

Ein Raunen ging durch die Reihen, welches aber sofort stoppte, als die Direktorin weitersprach.

„Nicht wenigen Klassen ist es gelungen, dieses Ziel zu erreichen. Andere aber hielten das wohl für einen dummen Scherz und beließen es bei ihren miserablen Leistungen. Wie dem auch sei. Ich werde nun die Namen der Betreuer aufrufen, deren Gruppe morgen anstatt des Unterrichtes sich im Park vergnügen darf. Die Liste hängt später mit dem vorgesehenen Tagesablauf zur Einsicht am schwarzen Brett. Die Schüler, deren Gruppe nicht aufgerufen wird, haben morgen Unterricht im Freien. Im Schulgarten gibt es eine Menge Arbeit und die Holztische und Stühle draußen müssten auch mal wieder frisch gestrichen werden. Also: Müller, Sommer, Wittig…“

Sobald ein Name gefallen war, brach die betreffende Gruppe in laute Jubelrufe aus und nur schwer schafften es die Erzieher, sie wieder zu beruhigen. Auch meine Schützlinge sprangen vor Freude auf und klatschten sich in die Hände. ‚Einen ganzen Tag kostenlos in nem Vergnügungspark. Ob ich da überhaupt mit darf?‘ Nachdem der Drache wieder verschwunden war, schlenderte ich nachdenklich zu Marco rüber. Er stand vor einem Tisch, an dem einige niedergeschlagen ausschauende Kids saßen.

„Hey.“, begrüßte ich ihn und blickte, kurz auf die Jungs deutend, fragend zu ihm auf.

„Hey Tomas.“, lächelte er mich an, verabschiedete sich von den jüngeren und bedeutete mir, ihm zu folgen.

Als wir die Mensa verlassen hatten, erklärte er, dass die Gruppe, die er vorübergehend mit betreute, leider zu schlecht abgeschnitten hatte und deswegen für sie morgen der Ausflug ins Wasser fiel. Dummerweise musste Marco auch mit im Heim bleiben.

„Aber was wird aus meinen Schützlingen?“, fragte ich entrüstet und blieb stehen. Unbewusst waren wir Richtung Sporthalle gelaufen. Mein Betreuer sah mich schmunzelnd an und kam wieder ein Stück näher, sodass er nur noch wenige Zentimeter vor mir stand.

„Du sorgst dich ja ganz schön um die Kleinen.“ Ich zuckte mit den Schultern und wich seinem Blick aus, der mich nervös werden ließ. „Also gut, pass auf.“, sprach er nach einer Weile weiter. „Mit der Direktorin konnte ich es so aushandeln, dass meine Gruppe auch ohne mich mitfahren darf. Unter der Bedingung, dass sich beide Tauschpapas bereit erklären, meine Aufsicht dort zu übernehmen.“

„Rey wird nie da zusagen.“, stöhnte ich hoffnungslos.

„Die Direktorin meinte, er sei einverstanden. Es hängt jetzt eigentlich nur von dir ab.“ Überrascht schaute ich auf und blickte in das amüsierte Gesicht meines Betreuers.

„Also an mir soll’s nicht liegen. Das hätte ich echt nicht erwartet. Ich meine, sonst ist er doch…“, plapperte ich vor Freude überschäumend drauf los.

Wenn es um einen Vergnügungspark geht, verwandele ich mich wieder in ein kleines Kind zurück. Marco unterbrach mich jedoch abrupt, indem er einen Finger auf meine Lippen legte und mich sachte, seine Hand auf meinem Rücken kurz über den Po liegend, zu sich zog. Geschickt glitt er unter mein Shirt und streichelte zärtlich über die Mitte meines Beckens. Mein Herzschlag ging schneller, als er sich langsam zu mir herab beugte und immer fordernder über meine nackte Haut strich. Doch aus einem mir unerfindlichen Grund drehte ich meinen Kopf weg und hinderte ihn damit, mich zu küssen.

„Sorry, ich… ich mag dich wirklich sehr, aber irgendwie… ich weiß auch nicht.“, stotterte ich hilflos und versuchte in meinem Inneren zu erkunden, was mit mir gerade los war. Marco hob sanft aber bestimmend mein Kinn, damit ich ihn anschauen musste. Forschend sah er mich aus zusammengekniffenen Augen an und strich mir dann bedauernd eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Nur zwei Tage hat er diesmal gebraucht.“, seufzte mein Betreuer und gab mir doch noch einen Kuss auf die Lippen, als ich etwas erwidern wollte. „Pass einfach auf dich auf, Tomas. Versprich mir das. Rey hat einen ungewöhnlichen Charakter und seltsame Eigenschaften, aber solange du damit klar kommst und glücklich bist, ist alles in Ordnung. Wenn jedoch irgendwas ein sollte – egal was – wenn du jemanden zum quatschen oder zuhören brauchst, meine Tür steht jederzeit für dich offen.“

Überwältigt von dem Angebot und dass er besser Bescheid zu wissen schien, wie es gerade in mir ausschaute als ich, brachte ich nur ein schüchternes ‚Danke‘ zustande.

„Für dich gerne.“, sagte er leise und hauchte mir einen Kuss auf die Wange. „Bis später.“

Ich stand noch einige Minuten wie festgewurzelt da und blickte Marco hinterher, der auf der schmalen Treppe verschwunden war. Irgendwie fühlte ich mich erleichtert. Von der Erkenntnis beschwingt, endlich zu wissen was ich wollte, ging ich auf mein Zimmer, welches natürlich leer war. Bis einundzwanzig Uhr waren es noch gut zwei Stunden, weswegen ich mich auf mein Bett schmiss, mir die Kopfhörer meines mp3-Players in die Ohren stopfte und noch ein wenig in dem Buch von vorhin schmökerte. Kurz fragte ich mich, wo Rey gerade steckte und was er mit Marco zu diskutieren hatte. Eigentlich hätte ich vorhin selbst meinen Betreuer darauf ansprechen können. Meine Neugierde auf später verschiebend, ließ ich mich vorerst von dem Roman ablenken, der mich zu einer anderen Zeit an einen anderen Ort versetzte und mich die Geschehnisse nicht nur als Leser, sondern eher als Beobachter miterleben ließ.

Zum Glück hatte ich meinen Wecker auf dreiviertel Neun gestellt, denn ich merkte nicht, wie schnell die Zeit vergangen war. Wehmütig legte ich das Buch beiseite und schaltete das nervige Gedudel meines Handys aus. Nachdem ich mich im Bad rasch frisch gemacht hatte, lief ich gemütlich die Treppen hinab auf dem Weg zu meinen Schützlingen. Ich ließ gerade die letzte Stufe hinter mir, als sich ein paar Meter weiter vor mir die schwere Tür der Turnhalle öffnete und Josch heraus gehumpelt kam. Mit gerunzelter Stirn beobachtete ich, wie Rey hinter dem Jungen her kam, zu ihm irgendwas sagte, worauf der Kleine ängstlich nickte und dann schnell davonlief.

„Was war denn los?“ Fragend gesellte ich mich zu meinem Mitbewohner, der noch immer Josch mit aufeinander gepressten Lippen nachschaute.

„Nichts. Er ist beim Üben der Aufführung gestolpert. Ich hab ihm geraten sein Schienbein zu kühlen.“

„Achso. Du, wir müssen die Jungs ins Bett bringen.“

„Hm, ich komme gleich nach. Kannst ruhig schon mal vorgehen.“

„Klar. Ich nehm die letzten beiden Zimmer.“

„Okay.“

Rey ging zu der Treppe und war wenige Augenblicke später aus meinem Sichtfeld verschwunden. Lächelnd spazierte ich den Gang entlang und freute mich, dass dies das erste Gespräch zwischen Rey und mir war, was nicht mit einem ‚Vollidiot‘ seinerseits endete.

Die Jungs waren mehr als nur aufgeregt und ich hatte sichtlich meine Mühe, sie zu bändigen. Ich erklärte ihnen, dass es morgen, laut der Liste am schwarzen Brett, schon viertel Acht aufstehen hieß. Halb Acht war Frühstück angesetzt, damit alle gegen Acht fertig waren, da dann die Busse kamen, die sie zum Freizeitpark brachten. Außerdem drohte ich den Kids, dass, wenn sie nicht in drei Sekunden in ihren eigenen Betten lagen, ich einfach vergaß, sie am nächsten Tag zu wecken. Wenig später herrschte wunderbare Ruhe. Eigentlich war es ja fies Kinder zu erpressen, aber es half ungemein. Dass trotzdem nach einer zwanzigminütigen Vorlesung keiner schlief, war für mich dennoch verständlich. Schließlich war ich genauso aufgeregt wie sie. Ich meinte nur, dass sie sich ganz leise noch ein wenig unterhalten durften, solange es kein anderer Betreuer mitbekam.

Nach einer gewünschten guten Nacht verließ ich das Zimmer und betrat das zweite. Dort verlief es nicht viel anders, nur dass ich Josch unter einem Vorwand in den Waschraum lockte, um ihn unbemerkt von den anderen in Ruhe eincremen zu können. Beruhigt stellte ich fest, dass seine Wunden auf dem Rücken langsam aber sicher verheilten. Mir fiel wieder auf, dass der Kleine humpelte, schmierte auch die Stelle am Bein ein und fragte im Scherz, wie er das nur wieder angestellt hatte.

„Ist beim Spielen passiert.“

„Beim Spielen?“ Verwundert schaute ich auf.

„Ja. Ich hab mit den Jungs draußen Fußball gespielt und bin über ne Holzbank gestolpert.“

Ich war mir nicht ganz sicher, was ich von dieser Lüge halten sollte, nahm mir aber vor, mit Rey später darüber zu sprechen. Jetzt schaffte ich erstmal meinen Schützling wieder zurück und verfrachtete ihn ins Bett. Vorsichtig öffnete ich die Tür des anderen Zimmers, um zu schauen, wie weit Rey mit den Kids dort war. Er saß inmitten des Raumes und las mit einer sanft klingenden Stimme den Kleinen die Geschichte vor. Nur dass diese schon längst schliefen, mein Mitbewohner das aber nicht mitbekam, so vertieft wie er selbst in dem Buch war. Er bemerkte noch nicht einmal, dass ich näher kam, mich neben ihm hinhockte und zu ihm aufschaute. Erst als ich mit einem ‚Hey‘ seine Schulter berührte, zuckte er erschrocken zusammen und sah mich an.

Seine dunkelblauen Augen trafen mich wie ein Blitz, drangen tief in mich ein und ließen meinen ganzen Körper wie unter Strom leicht vibrieren. Ich hielt den Atem an und versuchte so lange wie nur möglich seinen Blick festzuhalten, fast geneigt dazu, die Hände auf seine Wangen zu legen, ihn sachte zu mir zu ziehen und meine verlangenden Lippen auf seine zu pressen. Als hätte er gemerkt, was gerade in mir vorging, schlug Rey ein wenig zu heftig das Buch zu und stand hastig auf.

„Wir sehen uns dann morgen.“, sagte mein Mitbewohner etwas nervös, legte die Lektüre auf den Tisch und verließ das Zimmer.

Eine Sekunde betrachtete ich noch die Tür, bis ich gequält die Augen schloss und ausatmete. Mich selber einen Vollidioten schimpfend stellte ich das Buch ins Regal, schob den Stuhl an den Tisch und knipste das Licht aus. Die Kids hatten zwar vorhin bei dem lauten Knall gegrummelt, waren aber trotzdem nicht aufgewacht. Leise schlich ich mich aus dem Raum und begab mich auf mein Zimmer. Wieder lag es leer da, nicht mal im Bad war eine Spur von Rey zu sehen.

Nachdenklich krabbelte ich auf mein Bett, verstöpselte mich mit meinen mp3-Player und ließ mich genüsslich mit Beseech und ‚Inner Lane‘ zudröhnen. Nach Schlafen war mir überhaupt nicht zumute, schließlich hatte ich das den ganzen Tag über getan. Außerdem war ich viel zu aufgeregt. Erstens ging es morgen in einen hoffentlich absolut geilen Vergnügungspark und zweitens war Rey mit von der Partie. Ich wusste ja, dass er gesagt hatte, er würde mich killen, sobald ich ihn noch einmal küssen sollte, aber irgendwie wollte ich die Hoffnung nicht aufgeben.

Zum einen hatte es mir Cat nicht von Anfang an ausgeredet, als sie mitbekam, dass ich mich in Rey verguckt hatte. Denn ich glaubte schon, dass die beiden sich soweit kannten und sie genau wusste, auf was mein Mitbewohner zumindest vom Geschlecht her stand. Wäre er hundert pro hetero gewesen, hätte Cat es mir sicher gesagt, davon war ich überzeugt. Zum anderen war Reys Verhalten mir gegenüber seltsam. Es gab schon einige Situationen, wo wir uns näher als normale Freunde kamen und er sich nicht dagegen gewehrt hatte oder dem einfach ausgewichen war. Freunde… Waren wir das überhaupt? Durch die ganzen Bücher die ich immer las, hatte ich eine verklärte Vorstellung was das betraf. Vielleicht hatte ich deswegen kaum welche. Ich erwartete von einem guten Freund sehr viel, gab dies aber auch zweihundertprozentig zurück.

Was mir gerade auch noch in den Sinn kam, waren Marcos Worte. „Nur zwei Tage hat er diesmal gebraucht.“ Diesmal… In dieses kleine Wörtchen konnte man so viel reininterpretieren. In diesen Gedanken versunken nickte ich ein und wachte viel später durch ein lästiges Drücken an meiner Wange wieder auf. Ein Ohrstöpsel meines mp3-Players bohrte sich fast schmerzhaft in meine Haut und zwang mich, etwas dagegen zu unternehmen. Stöhnend richtete ich mich auf, da ich halb auf dem Kabel der Kopfhörer lag und deponierte alles auf den Nachttisch. Mein Blick fiel dabei auf das Bett von Rey, welches noch immer leer war.

‚Übernachtet er etwa immer bei Cat?‘ Kurz überlegte ich, bei ihr durchzuklingeln, entschied mich aber dagegen, als meine Uhr auf dem Handy kurz vor eins anzeigte. Außerdem hatte ich noch nicht mal ihre Nummer. Genervt legte ich den kleinen Kommunikationshelfer beiseite und stand auf. Meine Klamotten waren total zerknittert, da ich vergessen hatte sie auszuziehen bevor ich ins Bett gekrochen war. Ich streckte mich gähnend und wollte mich gerade aus meinem Shirt schälen, als ich einen dumpfen Aufprall hörte.

Erst glaubte ich, mir das Ganze eingebildet zu haben, sah dann aber rüber zu der leeren Matratze meines Mitbewohners. Von Neugierde getrieben ging ich aus dem Zimmer und wollte mich erst Marcos Wohnung zuwenden, lief einer Eingebung folgend aber doch die Treppe hinab Richtung Turnhalle. Der kalte Boden unter meinen Füßen ließ mich trotz Socken frösteln, aber ich dachte nicht im Geringsten daran, mir meine Schuhe zu holen. Ich tapste also auf die zwei großen Türen zu und spähte dort angekommen durch die kleinen Fenster. Viel konnte ich leider nicht erkennen, weswegen ich so leise wie möglich die Klinke nach unten drückte und mich ins Innere stahl.

Was ich dort sah verschlug mir fast die Sprache. Rey war inmitten der Sporthalle, hielt einen langen Stab in der Hand und vollführte einige kompliziert ausschauende Bewegungen, die mich stark an gleich mehrere Karatefilme erinnerten. Langsam ging ich näher und sah, dass er dies alles mit geschlossenen Augen machte, was wohl erklärte, warum er mich bisher noch nicht bemerkt hatte. Fasziniert starrte ich ihn an, wie er sich mit freiem Oberkörper scheinbar zu einem bestimmten Rhythmus bewegte, sah das Spiel der Muskeln auf seinen Bauch und den Armen. Ich merkte, wie er immer schneller und die Attacken gegen den imaginären Gegner kraftvoller und präziser wurden.

Bevor ich mich versah, stand er nur noch wenige Meter vor mir und ließ den Stab gezielt auf meinen Kopf nieder sausen. Erschrocken riss ich meinen rechten Arm zu einem Block nach oben und spürte hart das Holz aufschlagen. Dennoch bekam ich sehr wohl mit, dass mein Gegenüber einen Großteil seiner Kraft vorher aus dem Schlag raus genommen hatte.

„Wenn du das auch nur einer Menschenseele verrätst, bist du so gut wie tot.“, funkelte Rey mich zornig an.

„Gibt es denn überhaupt irgendetwas, was ich tun kann, ohne dass du mich gleich tötest?“, fragte ich ruhig.

„Deine Klappe halten zum Beispiel.“, erwiderte er und setzte an, sich von mir zu entfernen.

Doch ich riss ihm seinen Stab aus der Hand, schubste ihn leicht und ließ ihn zwei Schritte nach hinten taumeln. Überrascht sah er mich an, drehte sich dann abrupt um und ging auf eine Bank zu. Sein Shirt lag dort, was er nun nahm, sich damit das Gesicht abtupfte und dann auf den Ausgang zusteuerte. Ich schaute ihm nur mit klopfendem Herzen nach, sah, wie ein einzelner Schweißtropfen sein Rückgrat hinab floss und in Richtung des Steißes verschwand, als er an mir vorbei lief. Irgendwie musste ich ihn aufhalten, wollte ihn endlich zur Rede stellen, was für ein verdammtes Problem er hatte!

„Übrigens war deine Stellung mehr als nur mies. Deine Füße waren fast auf einer Linie. Dich hätte man nur anhauchen brauchen und du wärst zur Seite gekippt. Weißt du nicht, dass der Abstand ungefähr so breit wie deine Hüfte sein sollte?“, rief ich ihm provokativ hinterher und merkte triumphierend, wie er im Schritt inne hielt, sich umdrehte und wütend auf mich zu stapfte.

„Du weißt es natürlich wieder einmal besser. Hast immer ne tolle Antwort auf jede x-beliebige Frage und nen Dauergrinsen im Gesicht. Ist es nicht anstrengend, dauernd das Sonnenscheinchen spielen zu müssen?“, fragte Rey eisig und blitzte mich aus zusammengekniffenen Augen an. Er versuchte, mir seinen Stab aus den Händen zu reißen, doch ich hielt ihn mit versteinertem Griff fest.

„Im Gegensatz zu dir spiel ich gar nichts.“, sagte ich sanft und blickte ihn ernst an, damit er merkte, dass ich aufrichtig war. Auf einmal sah er unheimlich traurig aus, ließ den Stab los und wollte sich abwenden, doch ich hielt ihn am Arm fest.

„Was weißt du schon.“, meinte er mit zitternder Stimme und versuchte sich loszureißen. Aber ich ließ nicht locker, sondern packte ihn am anderen Arm und drehte Rey wieder zu mir um.

Er hielt seinen Kopf gesenkt, damit ich ihm nicht ins Gesicht blicken konnte, seine Hände waren Abstand haltend auf meine Brust gestützt. Dennoch sah ich die Tränen, welche im schwachen Mondschein glitzerten und lautlos zu Boden tropften. Sanft aber bestimmend drückte ich Rey an mich, der nach wenigen Augenblicken aufgehört hatte, sich zu wehren. Leise schluchzend grub er seinen Kopf in meine Schulter und ich konnte nichts weiter machen, als seinen bebenden Körper festzuhalten.

„Sorry.“, flüstere Rey ein paar Minuten später.

„Kein Problem.“, erwiderte ich leise und wollte mich ein wenig von ihm lösen, um ihm deutlich zu machen, dass ich die Situation nicht ausnutzte, doch klammerte er sich auf einmal fester an mich.

„Können wir noch eine Sekunde so bleiben? Du bist so schön warm.“, fragte Rey leise.

Verwirrt kam ich seinem Wunsch nach und legte meine Wange auf seine weichen Haare. Ich genoss seinen Duft, der mir warm in die Nase stieg, spürte seine zarte Haut unter meinen Fingern und glaubte fast, sein Herz zu hören, welches genauso heftig pochte wie das meine.

„Scheiße.“, meinte Rey nach einer Weile, löste sich schniefend von mir und zog sich sein Shirt über. Unschlüssig stand ich da und beobachtete meinen Mitbewohner. „Lass uns ins Bett gehen. Es ist schon verdammt spät und wir müssen morgen früh raus.“, sagte er und blickte mich auffordernd an, ihm zu folgen.

Gemeinsam gingen wir auf unser Zimmer, wo Rey sofort im Bad verschwand, um zu duschen. Ich zog meine Klamotten aus und mein Schlafzeug über, setzte mich auf meine Matratze und nahm mein Buch zur Hand. Wirklich lesen konnte ich allerdings nicht, da die Erinnerung an Reys warmen, zitternden Körper noch viel zu frisch war. Ich schaute auf, als die Badezimmertür klapperte und sah, wie mein Mitbewohner in frischen Shorts und Shirt bekleidet auf mich zukam.

„Sag mal, hast du eine Kopfschmerztablette für mich? Das ist das erste Mal seit Jahren, dass ich angefangen hab, zu flennen. Mir platzt gleich der Schädel.“

„Kein Problem. Hier.“ Ich reichte ihm die Tablette und er lief zurück ins Bad um sie mit viel Wasser einzunehmen. Dann kroch er total erschöpft ins Bett.

„Wie lange braucht denn überhaupt das Zeug bis es anfängt zu wirken?“

„Zehn bis fünfzehn Minuten.“

„So lange?“, grummelte Rey. Ich legte mein Buch beiseite, lief ins Bad und kam mit einem feuchten Waschlappen wieder, den ich meinem Zimmergenossen auf die Stirn legte.

„Vorübergehend hilft auch das ein wenig.“, sagte ich, setzte mich neben dem Bett hin und lehnte mich an den Nachtschrank. Länger in sein süßes Gesicht zu schauen ohne es berühren zu dürfen hielt ich einfach nicht aus. Dennoch wollte ich ihm zeigen, dass ich ganz in seiner Nähe war, weswegen ich mich nicht gleich wieder unter meiner Decke verkroch.

„Mmm schön kühl. Danke.“, schnurrte Rey und jagte damit erneut einen wohlig warmen Schauer durch meinen Körper.

Ich schloss meine Augen und atmete ein paar Mal tief ein und aus. Er sollte mir nicht unbedingt jetzt ansehen, wie heiß ich eigentlich auf ihn war. Eine ganze Weile saß ich noch so da, bis ich hörte, dass die Atemzüge meines Mitbewohners immer regelmäßiger wurden. Erst dann kletterte ich in mein Bett und war eingeschlafen, noch ehe mein Kopf das Kissen berührte.


Am nächsten Morgen wachte ich auf noch bevor der Wecker klingelte. Ein paar Mal wälzte ich mich im Bett herum, bis ich dann doch leise fluchend aufstand und ins Bad schlich. Auf dem Weg dorthin fiel mein Blick auf meinen Mitbewohner, der friedlich auf dem Rücken liegend schlief. Kurz blieb ich an der Tür stehen und betrachtete sein niedliches Gesicht, zwang mich dann aber weiterzugehen. Es machte mir schon fast selber Angst, wie sehr der Kleine mich verwirrte. Schnell brachte ich die allmorgendliche Prozedur im Bad hinter mich und betrat wenige Minuten später wieder das Zimmer.

Erneut schweiften meine Augen zu Rey und musterten ihn. Der Waschlappen, den ich ihm am Abend auf die Stirn gelegt hatte, lag neben seinem Gesicht auf dem Kopfkissen. Langsam ging ich auf ihn zu mit dem Vorsatz, den Lappen im Bad auszuwaschen und zum Trocknen aufzuhängen. Doch gerade als ich diesen nehmen wollte, fing mein Mitbewohner an zu grummeln, drehte sich zu mir auf die Seite und kuschelte sich tiefer ins Kissen und Decke. Das Problem war nun, dass meine Hand sich halb unter seiner Wange befand. Ganz sachte versuchte ich sie da vorzuziehen, allerdings griff Rey nach meinen Fingern und kuschelte sich zufrieden schmatzend daran, als wären sie ein Plüschtier.

Warm spürte ich seinen Atem auf meiner Haut, was meine Beine wackeliger als Gelee werden ließ. Langsam setzte ich mich auf den Boden, legte meinen freien Arm aufs Bett und stützte darauf mein Kinn. Nur wenige Zentimeter war ich von seinen verführerischen Lippen entfernt, fühlte die Hitze, die von seinem schlafenden Körper ausging. Zögerlich hob ich meine freie Hand und streichelte Rey sanft über die Stirn. Er fing an etwas zu schnurren, schlief aber dennoch ruhig weiter. Ich bettete meinen Kopf halb auf die Matratze, halb auf den gefangenen Arm und begann dann, meinen Mitbewohner am Hals, kurz hinter dem Ohrläppchen zu kraulen. Rey reckte ein wenig seinen Kopf und schmiegte sich noch mehr an meine Finger. Sein Atem blieb weiterhin regelmäßig und seine Augen geschlossen, wodurch ich annahm, dass er bisher noch nicht wirklich was mitbekam.

Seufzend betrachtete ich sein Gesicht, fuhr mit meinen Augen die Konturen seiner niedlichen Stupsnase nach und versuchte, jede auch noch so winzige Kleinigkeit aufzusaugen, die ich an ihm entdeckte. Irgendwie musste ich dabei wohl eingeschlafen sein, denn ein lautes Geräusch ließ mich mit einem Mal hochschrecken. Mein Handy hatte angefangen seinen Weckruf laut durch die Gegend zu dröhnen und mir damit einen halben Herzinfarkt beschert. Ich saß noch immer auf dem Boden vor dem Bett meines Zimmergenossen, nur war von ihm weit und breit nichts zu sehen. Gequält schloss ich die Augen und schlug meinen Kopf ein paar Mal auf die Matratze.

„Ich Blödmann. Ich bin echt der größte Vollidiot, den die Welt je gesehen hat.“, fluchte ich laut und wurde gleich von einer vor Hohn sprühenden Stimme bestätigt.

„Eigentlich sollte ja Einsicht der erste Weg zur Besserung sein. Aber irgendwie bezweifle ich, dass dies auf dich zutrifft.“

Verwundert schaute ich auf und blickte mit großen Augen Rey an, der im Rahmen der Badezimmertür gelehnt, spöttisch auf mich hinab blickte.

„Ehm…“, war das einzige, was ich darauf erwidern konnte und sprang erschrocken auf, als ich realisierte, dass ich noch immer vor seinem Bett kniete. In diesen Moment bemerkte ich die Decke, die auf meinen Schultern gelegen hatte und nun zu Boden glitt. Mit gerunzelter Stirn hob ich diese auf und schaute fragend meinen Mitbewohner an.

„Du hast gefroren.“, meinte er darauf patzig, riss mir die Decke aus der Hand, legte sie auf seinem Bett ordentlich zusammen und musterte mich dabei einige Male nervös aus dem Augenwinkel. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals und ich konnte es nicht verhindern, dass sich ein kleines Lächeln auf meine Lippen verirrte.

‚Er hat sich doch wirklich Sorgen um mich gemacht.‘ Ich wandte mich meinem Bett zu, stellte endlich den Wecker aus, schmiss mein Schlafshirt auf die Matratze und zog mir Socken und meine schwarze Hose über. Im Schrank suchte ich noch nach einem frischen T-Shirt und Pullover. Rey versuchte indessen krampfhaft das Lacken seines Bettes zurecht zu zupfen, doch ich merkte sehr wohl, wie er ab und an zu mir rüber schielte.

„Bist du fertig? Wenn wir noch etwas in Ruhe frühstücken wollen, müssen wir uns langsam sputen.“, fragte ich meinen Mitbewohner diesmal sogar richtig nett.

„Klar, von mir aus können wir los.“, antwortete dieser und gemeinsam gingen wir zur Tür. Doch als ich sie öffnete, stand Marco genau davor und sah so aus, als wollte er gerade anklopfen.

„Oh, das nennt man wohl Gedankenübertragung.“, lachte mich mein Betreuer fröhlich an, wurde jedoch gleich wieder ernst, als er Rey hinter mir entdeckte. Mein Zimmergenosse starrte ihn nur an, dann ging er zwei Schritte zurück, drehte sich ruckartig um und verschwand im Bad.

„Rey?!“ Total durcheinander wollte ich ihm folgen, wurde aber von Marco davon abgehalten, indem er mich am Arm packte, aus dem Raum zog und die Tür hinter mir schloss. Ärgerlich riss ich mich los und blickte verständnislos zu ihm auf.

„Tut mir leid.“, setzte mein Betreuer an und fuhr sich nervös durch seine vollen Haare.

„Kannst du mir mal bitte sagen, was hier los ist?“ Fordernd schaute ich ihn an.

„Das Ganze ist nicht so leicht zu erklären.“, druckste Marco rum und sah traurig zu Boden.

„Versuchs einfach.“

„Okay Tomas. Um es grob zu sagen, ich kam mit seinem sprunghaften Charakter nicht zurecht und hab mit ihm Schluss gemacht. Es wollte zwischen uns einfach nicht funktionieren. Dass ich ihn damit verletzte weiß ich und es tut mir auch wirklich leid. Langsam ist er wohl drüber hinweg, denn er hat sehr lange nicht mehr versucht mich umzustimmen, ob wir es noch einmal miteinander probieren. Jetzt scheint er mich eher zu hassen, weil ich mit allen Leuten hier so gut klar komme und er nicht.“

In der Zeit wo Marco sprach, waren wir langsam Richtung Mensa gelaufen. Eigentlich wollte ich lieber auf Rey warten, wollte ihn selbst fragen was mit ihm los war. Doch die Neugierde auf das, was mein Betreuer zu sagen hatte, überwog, weswegen ich ihm nach kurzem Zögern folgte. Unschlüssig standen wir vor dem Speisesaal. Viel zu viele Gedanken schwirrten mir durcheinander im Kopf herum und mehr und mehr Fragen taten sich auf, die nur mein Mitbewohner mir beantworten konnte. Hatte ich zum Beispiel überhaupt eine Chance bei ihm, wenn er die ganze Zeit noch an Marco hing? War er deswegen immer so patzig zu mir, weil er viel lieber von jemand ganz anderem angebaggert werden wollte, als von mir bzw. dass derjenige, für den er vielleicht noch etwas empfand sich mit mir prima verstand? Aber wir waren uns näher gekommen, definitiv! Vielleicht musste ich Rey nur klar machen, dass ich die bessere Partie war.

‚Okay, gegen Marco anzukommen wird verdammt schwierig werden, aber da dieser ja nichts mehr von meinem Mitbewohner wollte, müsste es doch zu schaffen sein.‘

„Hey, das wird schon irgendwie. Besonders bei dem Sexappeal, den du ausstrahlst.“, versuchte mein Betreuer mich aufzumuntern, kam mir dabei ein ganzes Stück näher und beugte sich leicht zu mir runter. Fast sah es so aus, als wollte er mir einen Kuss geben, doch kurz bevor sich unsere Lippen berührten hielt er inne und atmete geräuschvoll aus. Seine rehbraunen Augen bohrten sich tief in meine und ließen keine Bewegung meinerseits zu.

„Es ist seltsam, wie warm mir allein bei deiner puren Anwesenheit wird.“, schnurrte er leise und streichelte mir sanft über die Wange. Mein Herz klopfte wild gegen meine Brust und mir fiel es immer schwerer, mich gegen Marcos Aufwartungen zu wehren.

„Marco…“, setzte ich bittend an und nahm seine Hand, die meine Haut berührte, in die eigene.

„Tschuldige. Es ging wohl ein wenig mit mir durch. Du siehst einfach zu niedlich aus, wenn du verwirrt bist. Verzeih mir.“, entschuldigte sich mein Betreuer und fuhr sich durch seine Haare.

„Du bist unverbesserlich.“, erwiderte ich leise. Bei dem süßen Dackelblick, den er aufgesetzt hatte, konnte ich ihm nichts übel nehmen. „Lass uns frühstücken.“

Zusammen betraten wir die Mensa und gesellten uns zu den anderen Lehrern. Es herrschte eine ausgelassene, fröhliche Stimmung. So wie ich mitbekam, hatten die Erzieher, die mit in den Park fuhren, an diesem Tag nicht viel zu tun. Alle Kinder ab neun Jahren durften sich im Park die ganze Zeit frei und ohne Aufsicht ihres Betreuers bewegen. An jedem Karussell oder Attraktion würden ein bis zwei Aufseher stehen, die schon drauf aufpassten, dass die Kids keine Dummheiten machten. Zum Schluss müssten nur alle pünktlich am Treffpunkt erscheinen. Das war die einzige Regel. Also konnte ich mich mit Rey dort frei austoben.

Rey… Nun wusste ich ja, warum er so impulsiv reagiert hatte, als er Marco sah. Irgendwie verstehen tat ich ihn auch, nur fand ich es schade, dass wir nicht miteinander frühstückten. Am liebsten hätte ich mir ein paar belegte Brötchen geschnappt und wäre rauf aufs Zimmer gegangen. Ich sehnte mich regelrecht nach seiner Nähe. Aber wenn er noch an Marco hing, wollte ich ihn auch zu nichts drängen. Er sollte von selbst darauf kommen, dass er mich mögen könnte, dass ich vielleicht besser für ihn war, als der Betreuer. Meinen Standpunkt hatte ich Rey ja klar gemacht als ich ihn küsste.

Ich weiß auch nicht, warum ich so versessen darauf war, Rey zu beweisen, wie sehr ich ihn mochte, oder weshalb ich besessen davon war, ihn als meinen Freund zu gewinnen. Okay, sehr viel hatte ich bisher nicht gerade dazu beigetragen, damit er mich mochte. Ich hatte ihn – wenn auch unabsichtlich – mit mir eingesperrt, ihn gefoppt, zur Weißglut getrieben, ihn indirekt verletzt, als er mich unter dem umgestürzten Regal vorzog, ihn ungefragt geküsst und beleidigt, nur damit er mit mir sprach. Aber er war ja auch mehr als nur seltsam. In der einen Minute attackierte er mich noch mit einem Stock, in der anderen schmiegte er seinen warmen, leicht durchgeschwitzten Körper fest an meinen und ließ mich minutenlang nicht mehr los. Vielleicht war es gerade das, was mich an ihm so faszinierte. Er war anders als alle anderen, denen ich bisher begegnet war, so unnahbar, seine Seele so unergründlich. Rey schien mir verboten wie der Apfel von Eden, dem ich aber trotzdem, oder gerade deswegen nicht widerstehen konnte.

„…mas? Hey Tomas? Wenn du noch langsamer isst, läuft die Zeit rückwärts.“

Nur schwer fand ich wieder in die Wirklichkeit zurück und schaute verwirrt auf. Dani stand seitlich hinter mir und musterte mich abschätzend mit aufeinander gepressten Lippen. Dann warf sie mir einen Briefumschlag zu, der klirrend neben meinem Teller landete. Ich musste wohl ziemlich ahnungslos ausgeschaut haben, da sie genervt ausatmete und mir – wie sie extra betonte, nochmals – erklärte, dass jeder der Kinder ein Taschengeld von vier Euro bekam und es nach dem Frühstück ausgeteilt werden sollte. Ich nickte knapp, sprang aber sogleich auf, als mir eine andere Idee kam. Schnell schnappte ich mir zwei Brötchen, belegte eines mit Käse, das andere mit Nutella, holte aus der Küche Alufolie und nen kleinen Frühstücksbeutel, packte alles zusammen und lief auf mein Zimmer. Den Briefumschlag mit dem Geld hatte ich in einer der Seitentaschen meiner Hose verstaut.

Oben angekommen stieß ich fast euphorisch die Tür auf und betrat nach Rey rufend den Raum. Doch dieser war leer. Nachdem ich selbst im Bad nachgeschaut hatte, fläzte ich mich ein wenig enttäuscht auf mein Bett und überlegte, wo er nun schon wieder stecken könnte. Leider kam ich irgendwie auf kein brauchbares Ergebnis. Ich kannte das Grundstück einfach zu wenig. Mit dem Vorsatz, wenigstens letzteres demnächst zu ändern, stand ich auf, holte meinen Armeerucksack raus und verstaute darin die Brötchen.

‚Spätestens im Bus werde ich wieder auf ihn treffen und dann kann ich ihm allemal noch sein Frühstück servieren.‘ Ich schwang mir den Rucksack auf meine rechte Schulter, schnappte mir meinen langen Stoffmantel und machte mich auf den Weg zu meinen Schützlingen.

Diesmal brauchte ich sie nicht groß aus den Betten zu jagen, denn so aufgeregt wie sie waren, schwirrte schon die Hälfte der Kids im Flur herum. Ich warf in jedes Zimmer einen prüfenden Blick, ordnete hier und da noch eine Decke und wartete dann auf dem Flur, bis alle soweit fertig waren. Danach ließ ich sie zum Frühstück abtreten und ging hinaus zu den Bussen, die vor dem Haupteingang des Heimes aneinandergereiht auf ihre Mitfahrer warteten.

Bei einem der Fahrzeuge stand Marco und unterhielt sich rauchend mit dem Fahrer. Als er mich entdeckte, verabschiedete er sich sofort von seinem Gesprächspartner und kam auf mich zu.

„Na, aufgeregt?“, begrüßte er mich.

„Kein Stück.“, erwiderte ich ironisch und blickte voller Vorfreude auf den Bus vor mir.

„Klar.“, meinte mein Betreuer grinsend, genau wissend, dass ich das Gegenteil meinte.

„Hey, bringst du mir was mit?“

Fragend schaute ich auf.

„Was denn? Vielleicht was Spannendes, was zum Spielen und Schokolade?“

„Nein. Das wären ja drei Wünsche auf einmal, das geht nun wirklich nicht. Ein kleines Lebkuchenherz würde mir schon genügen.“

„Kein Thema. Willst du, dass was besonders drauf steht?“

„Eigentlich schon, aber… ach, egal. Bring mir irgendeins mit.“

„Okay mach ich.“

„Na dann, viel Spaß. Ich muss zu meiner Klasse.“

„Danke, dir auch.“, sagte ich mitleidig.

„Den werd ich haben.“, meinte Marco genervt. „Pass auf dich auf.“, fügte er noch hinzu, streichelte mir flüchtig über die Wange und verschwand im Inneren des Gebäudes.

Zwar wunderte ich mich ein wenig über seine letzten Worte, kam aber nicht weiter dazu, drüber nachzudenken da die anderen Lehrer und auch ein paar Kids ins Freie traten. Mit ihnen zusammen gingen wir kurz den Tagesablauf durch, welche Gruppe wo im Bus saß und und und. Nach und nach füllte sich der Platz vor dem Heim und jeder Erzieher rief seine Schützlinge zu sich. Rey war bisher noch nicht erschienen, weswegen ich mir schon langsam Gedanken machte.

Als alle Kinder in die Fahrzeugen aufgeteilt waren und nach dem x-ten-Mal durchzählen auch wirklich alle da waren, stieg jeder Betreuer in seinen Bus damit es endlich losgehen konnte. Kurz bevor sich die Türen des Transportmittels schlossen, schlüpfte Rey ins Innere und setzte sich wortlos ans Fenster neben meinen Platz, den er wohl an meinem Mantel erkannt hatte, den ich über die Lehne gelegt hatte.

Ich ließ noch einen letzten prüfenden Blick über meine Kids schweifen und lümmelte mich danach auf meinen Sitz. Wir hatten direkt hinter dem Fahrer einen Platz als Ablage freigehalten, wo ich noch fix meinen Mantel hin verfrachtete. Mein Mitbewohner schaute die ganze Zeit aus dem Fenster und sah irgendwie depri aus. Ich musterte ihn kurz traurig und ärgerte mich über mich selbst, dass ich nicht fähig war, ihn aufzumuntern. Da Rey nicht gerade redwillig ausschaute, was mir nicht nur sein Gesichtsausdruck verriet, sondern auch die Kopfhörer, die er sich in die Ohren gestöpselt hatte, langte ich nach vorne und suchte in meinem Rucksack nach dem mp3-Player. Leider fand ich den nirgends. Genervt lehnte ich mich zurück und überlegte angestrengt, wo ich ihn liegen gelassen haben könnte.

‚Gestern Abend hab ich ihn auf den Nachtschrank gelegt, aber als ich heut morgen mein Zeug geholt hatte, war er nicht mehr da. Ich war mir sicher, dass ich ihn schon mit eingepackt hatte. Mist‘

Leise fluchend warf ich den Rucksack verärgert zurück auf den vorderen Sitz. Mit verschränkten Armen lehnte ich mich wieder nach hinten und starrte trotzig vor mich hin. Ich hasste längere Touren ohne Musik, wo ich mir die ganze Zeit das dumme Gequatsche der anderen anhören durfte. Ich merkte, wie mein Mitbewohner mich seltsam von der Seite beäugte, weswegen ich mich zu ihm drehte und seinen Blick erwiderte.

Kurz schauten wir uns tief in die Augen, was mich meine Sorgen fast vergessen ließ. Rey schien irgendetwas in den meinen zu suchen, legte seinen Kopf leicht schief und sah mich mit gerunzelter Stirn an. Ich wurde immer nervöser, mein Herz klopfte mir bis zum Hals und das Kribbeln in meinem Bauch wurde immer intensiver. Abrupt wandte sich mein Gegenüber von mir ab, zog sich die Kopfhörer aus den Ohren und reichte mir das kleine Gerät. Verwundert blickte ich zu ihm rüber und nahm nach kurzem Zögern seinen mp3-Player an. Ich fragte mich schon, woher er wusste, was ich gesucht hatte, als ich das Geschenk näher betrachtete. Das war meiner! Das, was ich von meinem Mitbewohner bekommen hatte, war mein mp3-Player!

„Ich war neugierig und es war gute Musik drauf, tschuldige.“, meinte Rey, als er bemerkte, dass ich mein Eigentum erkannte.

Fast im gleichen Augenblick begann es köstlich nach Kaffee zu duften. Nicht das ich Kaffee gerne trank, aber den Geruch fand ich unwiderstehlich. Auch mein Sitznachbar hatte es mitbekommen und atmete tief ein. Dann knurrte sein Magen so laut, dass ich nicht anders konnte, als ihn breit anzugrinsen. Er lief nur puterrot im Gesicht an, presste die Lippen fest aufeinander, schlang seine Arme um den Bauch und sah starr aus dem Fenster.

‚Mal schauen, ob du mir diesmal widerstehen kannst.‘, dachte ich boshaft grinsend, holte die Brötchen hervor und packte das mit Nutella belegte aus. Mit einem ‚Ta-Ta-Lächeln‘ präsentierte ich Rey die Semmel. Unsicher blickte er mich an.

„Ich hab auch eins mit Käse da.“, sagte ich schnell, worauf er ungläubig schmunzelte und mir mit einem verwunderten ‚Danke‘ das Brötchen abnahm. Ich organisierte ihm sogar noch einen Becher mit Kaffee, den ich ihm nebst Zucker und einer kleinen Ein-Portion-Milchdose reichte.

„Du bist echt ne Wucht.“, meinte mein Mitbewohner kopfschüttelnd und genoss das zweite Brötchen.

„Ich sag doch, ich bin einzigartig.“

„Wohl wahr.“

Der Rest der Fahrt verlief relativ ruhig. Nachdem Rey mit frühstücken fertig war, hatte ich ihm einen Ohrstöpsel meines Players gereicht. Zusammen lauschten wir den sanften Klängen von My Chemical Romance und hingen unseren eigenen Gedanken nach. Gut zwei Stunden später waren wir am Ziel und alle stürmten aus den Bussen. An der frischen Luft streckte ich mich wohlig seufzend und scharte meine Schützlinge um Rey und mich.

„Also, hört gut zu! Auf dem Parkgelände dürft ihr euch frei bewegen aber keiner wird es verlassen, klar! Besser ist es, wenn ihr euch benehmt, sonst kann es passieren, dass euch einer der Aufseher beiseite nimmt und ihr den Rest des Tages in nem muffigen Büro verbringen dürft. Deswegen: Müll gehört in den Abfalleimer, es wird nicht gedrängelt oder geschubst. Wenn irgendwas ist, Rey und ich sind immer in der Nähe. Geht zu nem Aufseher und lasst uns ausrufen. 17:30 Uhr treffen wir uns wieder, genau hier. Pünktlich! Jeder holt sich noch von mir sein Taschengeld ab und danach könnt ihr euch verkrümeln.“

Freudig schreiend kamen die Kids auf mich zugestürmt und ich hatte sichtlich meine Mühe, nicht von den Jungs umgerannt zu werden.

„Du siehst ziemlich zerrupft aus.“, meinte mein Mitbewohner grinsend, als sich unsere Schützlinge verdünnisiert hatten.

„Du hättest mir ja auch mal helfen können.“, erwiderte ich etwas vorwurfsvoll.

„Das hätte ich tun können.“

„Nen toller Freund bist du, echt.“, meckerte ich freundschaftlich, worauf Rey ein wenig seltsam schaute. Aber ich bemerkte es kaum, da ich viel zu aufgeregt war. „Komm schon, lass uns endlich reingehen.“, sagte ich euphorisch und durchschritt fröhlich die Tore des Vergnügungsparks, meinen Mitbewohner hinter mir her zerrend.

Hatte ich schon erwähnt, dass ich den Rummel liebe? Gleich nach dem Eingang sprang mir in einigen Metern Entfernung eine Gruppe Greifer in mein Blickfeld. Ein megahohes Riesenrad konnte man von hier auch erkennen und das Rattern der Räder auf der Achterbahn war lautstark samt dem Gebrüll der Mitfahrenden zu hören. Hach, das Leben kann ja so schöööööön sein.

„Tomas? Mann, du bist ja komplett weggetreten.“ Irgendjemand rüttelte an meinem Arm und störte mich bei meinem absoluten Glück. Verdattert blickte ich zur Seite und schaute in die dunkelblauen Augen meines Mitbewohners, der keine zehn Zentimeter von mir entfernt dastand. Absolutes Glück… Ich atmete tief ein um wieder ein wenig zur Besinnung zu kommen, packte dann die Hand meines Gegenübers und zerrte ihn zur ersten Attraktion. Leider ließ sich Rey zu absolut gar nichts hinreißen.

„Komm schon Rey, du kannst mir nicht weis machen, dass dich hier alles vollkommen kalt lässt.“, jammerte ich, nachdem wir das fünfte Karussell hinter uns gelassen hatten.

„Das vielleicht nicht, aber ich mag keine Sachen, die ich nicht selbst steuern kann.“

„Hm, da lässt sich was machen.“, überlegte ich laut und schaute mich suchend um. Als ich das Entsprechende fand, nahm ich meinen Mitbewohner wieder an die Hand und schleifte ihn hinter mir her. Seltsamerweise hatte er sich bisher jede meiner Berührungen gefallen lassen.

Nun standen wir vor einer dieser typischen Schießbuden und ich beäugte neugierig die Trophäen, die angeboten wurden. Ein Tierchen sprang mir sofort ins Auge und ich war vom ersten Blick an verliebt. An der Seite, ein wenig verdeckt von den anderen Stofftieren stand eine kleine Fledermaus. So eine ähnliche hatte ich glaube ich mal bei Ikea gesehen. Sie war nicht größer als zwanzig Zentimeter, hatte silberne Augen und Nase und total knuffige Ohren. Zwar hatte sie viel zu große Füße und ihre Flügel glichen eher denen von Batman, trotzdem musste ich sie aber unbedingt haben.

Da man bei diesen Gewinnständen selbst bezahlen musste, tauschte ich ein wenig Bargeld gegen Munition, legte das Gewehr an und versuchte mein Glück. Leider versagte ich auf der ganzen Linie. Grummelnd setzte ich das Gewehr ab und wollte mir schon Nachschub kaufen, als Rey neben mir anlegte und so schnell alle Schuss abfeuerte und nachlud, dass ich kaum glauben konnte, dass nicht einer daneben gegangen war.

„Wie machst du das?“, fragte ich verwundert und schaute ihn mit großen Augen an.

Mein Mitbewohner schien etwas nervös zu werden, was unheimlich niedlich aussah. Er bezahlte eine komplette neue Ladung und reichte mir das Gewehr. Dann erklärte er mir wie ich es am besten anlegen sollte und wo ich am günstigsten hinzielte. Trotz der Anweisung ging der erste Schuss voll daneben.

„Mist. Ich hab doch genau das gemacht, was du gesagt hast.“, schimpfte ich. Rey blieb relativ ruhig, nahm mir die Waffe aus der Hand, legte an, schoss und traf. Ich stand nur da und schüttelte meinen Kopf.

„Irgendwie hab ich’s im Gefühl, wo die Teile hinzielen.“, sagte mein Zimmergenosse achselzuckend und reichte mir das Gewehr.

„Okay, noch mal. Also, so anlegen und dahin zielen.“ Ganz so schnell wollte ich nicht aufgeben, schließlich lächelte mich die kleine Fledermaus regelrecht an und rief meinen Namen.

„Nicht so verkrampft, bleib locker.“, meinte Rey, kam mit seinem Gesicht dem meinen ganz nah und überprüfte, wo ich hinzielte. „Noch ein Stück weiter runter und ein bisschen nach links. Jetzt nur noch ruhig halten.“

Ruhig halten. Der hatte vielleicht gut reden. Sein warmer Atem streichelte meine Wange bis hin zum Hals und hinterließ eine kribbelnde Gänsehaut. Auf meiner linken Schulter ruhte seine Hand und ein Teil seines Oberkörpers presste sich an meinen Rücken. Hatte er denn wirklich absolut keine Ahnung, was er mir gerade antat? Den Nerv, selbst abzudrücken, hatte ich in diesem Moment nicht. Weil ich zögerte, wanderte die rechte Hand meines Mitbewohners nach vorn, legte sich langsam auf meine und krümmte seinen Finger über meinen am Abzug.

„Wenn ich jetzt sage, dann schieß.“, forderte mich Rey flüsternd auf, was mir erneut einen wohligen Schauder durch den Körper jagte.

Gemeinsam zielten wir auf die blechernen Hasen, die noch fröhlich im Kreis an der Wand hoppelten. Das Kommando von Rey war wie ein Windhauch, sanft aber doch bestimmend. Zusammen drücken wir ab und der sorglose Hase kippte nach hinten um. Mit klopfendem Herzen schaute ich auf und blickte wie gebannt auf die Blechschilder.

„Los, probier’s noch mal.“, meinte mein Mitbewohner leise und ohne genau zu wissen warum legte ich ohne zu zögern wieder an. Diesmal überprüfte mein „Lehrmeister“ mit etwas mehr Abstand, ob ich richtig zielte, gab wieder Kommandos und ich traf. Beim dritten und vierten Mal ließ er selbst das weg und ich schoss nicht einmal daneben.

„Du lernst schnell.“, sagte Rey anerkennend und schaute abwechselnd zu den Blechasen, auf das Gewehr und zu mir.

„Du bist ein guter Lehrer.“, erwiderte ich schüchtern grinsend. ‚Konnte ich ihn doch ein wenig beeindrucken.‘, freute ich mich.

„Wenn dem wenigstens wirklich so wäre.“ Traurig blickte Rey zu Boden und vergrub seine Hände tief in die Jackentaschen. Ich legte das Gewehr weg, ging ein Stück auf ihn zu und berührte ihn sachte am Arm. Fragend schaute ich meinen Mitbewohner an. Er schien wieder irgendetwas in meinen Augen zu suchen und als er gerade zu einer Erklärung ansetzen wollte, kam uns dieser Vollidiot von Schießbudenbesitzer dazwischen.

„Glückwunsch.“, dröhnte seine Stimme laut durch die Gegend. „Ihr könnt euch raussuchen, was ihr wollt.“

Rey wandte sich sofort von mir ab und entfernte sich zwei, drei Schritte von dem Stand. Ich ließ mir fix meinen Gewinn geben und gesellte mich dann zu meinem Zimmergenossen, der mit dem Rücken zu mir gewandt auf mich wartete. Da er jetzt bestimmt eh mit mir darüber nicht reden würde, legte ich ihm freundschaftlich meinen linken Arm um seine Schulter und hielt ihm unsere Trophäe unter die Nase.

„Schau mal. Haben wir gewonnen.“

„Was ist denn das?“, fragte Rey grinsend, nahm mir das Tier aus der Hand und betrachtete es von allen Seiten als sei es ein Alien.

„Das ist ne Fledermaus.“, antwortete ich gespielt beleidigt, riss ihm unseren Gewinn wieder aus der Hand, bettete ihn in meinen Arm und streichelte ihn liebevoll.

„Das ist keine Fledermaus, das ist ein Wombats!“, lachte mein Mitbewohner und versuchte mir das Stofftier wieder wegzunehmen, vergeblich.

„Ein was?“

„Ein Wombats. Anders gesagt ein dicker Flughund. Guck doch mal, der ist so fett, der kann gar nicht fliegen.“

„Hör gar nicht erst hin, der redet nur Unsinn um dich zu ärgern.“ Ich hielt meinem neuen Schatz die Ohren zu, drehte mich von Rey weg und redete liebevoll auf die Fledermaus ein.

„Das ist ein Wombats. Gib mal her und ich beweis dir, dass das Vieh nicht fliegen kann!“

„Sie will aber lieber bei mir bleiben.“, sagte ich trotzig und versuchte, mich gegen meinen Mitbewohner zu wehren, der mir die ganze Zeit meinen Gewinn streitig machen wollte.

Wir alberten ein paar Minuten so rum und zum ersten Mal hörte ich Rey richtig lachen, bemerkte, wie unbeschwert er sich fühlte. Ich hielt die Fledermaus hoch, stand auf Zehenspitzen und mein Zimmergenosse stützte sich mit einer Hand auf meiner Schulter ab und langte mit der anderen nach dem Stofftier. Eigentlich brauchte ich bloß meinen Kopf leicht zu senken und schon würden sich unsere Lippen treffen. Doch eine klitzekleine Kleinigkeit lenkte mich ab.

Nämlich die Attraktion, die ich in diesem Moment hinter Rey entdeckte. Dieser hatte gerade die Fledermaus zu packen bekommen, heilt aber inne als er merkte, dass ich mich nicht mehr wehrte und an ihm vorbei schaute. Er musterte mich seltsam, was mich kurz blinzeln und zu ihm blicken ließ. Bei der kleinen Bewegung zur Seite streiften sich unsere Nasenspitzen, wodurch mein Herz gleich einen dreifachen Salto machte. Seine tiefblauen Augen bohrten sich in mein Innerstes und fast glaubte ich, er könnte darin lesen. Da sich Rey keinen Millimeter bewegte, wagte ich es und kam ihm vorsichtig näher. Fast sah es so aus, als würde er mir entgegen kommen, doch dann runzelte er die Stirn und drehte seinen Kopf zur Seite. Argwöhnisch musterte er die Geisterbahn, die sich so groß wie eine kleine Villa vor uns erstreckte.

„Sag mir jetzt bitte nicht, dass du da rein willst.“, fragte er nichts Gutes ahnend, bewegte sich aber kein Stück von mir weg. Ich atmete nur tief ein, langte wieder nach seiner Hand und zerrte ihn hinter mir her.

„Doch und zwar mit dir!“

„Oh nein, vergiss es.“ Rey wollte sich schon von mir losreißen, aber ich hielt ihn eisern fest.

„Komm schon. Erstens ist es eine zum Durchlaufen, also nichts was sich nicht steuern lässt. Zweitens macht es mega viel Spaß, falls du überhaupt weißt, was das ist und drittens bin ich doch bei dir wenn du Angst bekommst.“ Frech grinste ich mein Gegenüber an, der nur seine Augen zusammen kniff und abschätzend zu mir schaute.

„Erstens finde ich so was absolut albern, weil ich zweitens nicht mal weiß, wie Angst geschrieben wird. Drittens, ich bin der Typ, der das Wort Spaß erfunden hat. Wenn wir da wieder rauskommen, wirst du an mir kleben wir ein Kleinkind, das den Buh-Mann unter seinem Bett entdeckt hat.“

„Für so ein kleines Bürschlein schwingst du ganz schön große Töne.“

„Warts nur ab, Schätzchen.“

Diesmal war es Rey, der mir freundschaftlich seinen linken Arm um die Schulter legte und gemeinsam betraten wir die gruseligen Hallen. Am Anfang war alles so dermaßen dunkel, dass wir uns nur mit kleinen Schritten nach vorne wagten, beide Arme tastend ausgestreckt.

„Scheiße ist das finster.“, grummelte ich.

„Pass auf. Gleich kommt was extrem helles auf uns zugestürzt.“, mutmaßte mein Mitbewohner.

„Woher willst du denn das wissen?“

„Ist doch immer so. Die wollen, dass sich deine Augen erst an die Dunkelheit gewöhnen, damit du hinterher das grelle Monster nicht gleich als mit Lampen bespicktes Pappmaschee-Dings enttarnst.“

Kaum hatte er es ausgesprochen, kam schon besagtes auf uns zugeflogen. Erschrocken machte ich einen Satz nach hinten, stimmte aber Sekunden später in das Gelächter von Rey mit ein. Genauso verlief es den Großteil der Zeit, die wir in diesem Ding herumirrten. Meistens war ich es, der erschrocken zusammenzuckte, obwohl ich schon merkte, dass mein Mitbewohner hier und da auch ein wenig zurückschreckte. Bevor wir um die nächste Ecke gingen, fingen wir beide an zu raten, was dort wohl auf uns wartete. Es machte total viel Spaß, mit Rey rumzualbern und das Innere dieses „Höllengebäudes“ zu erforschen.

„Was soll denn das sein?“, fragte ich skeptisch und starrte auf das Schild vor mir.

„Labyrinth des Grauens.“, las mein Mitbewohner laut vor. Genervt schaute ich grinsend zu ihm rüber.

„Ach nee.“

„Lass uns weiter gehen.“

Dieser Aufforderung kam ich mehr als nur gerne nach. Schon allein deswegen, weil der Gang so schmal wurde, dass wir, wenn wir nebeneinander laufen wollten, dicht aneinander gedrängt wurden. Wir stolperten ein bisschen durch die Gegend, mussten ein paar Mal umdrehen weil wir in eine Sackgasse geraten waren, sonst passierte nicht viel Aufregendes.

„Labyrinth des Grauens… Wer’s glaubt.“, meinte ich spöttisch und schaute kurz über meine linke Schulter, da mein Zimmergenosse ein Stück hinter mir lief. Zumindest glaubte ich das, denn als ich zurückblickte, war er weg.

„Rey?“ Rufend ging ich ein paar Schritte vorwärts. „Komm schon, ich weiß, dass du dich versteckt hältst.“

Ruhe.

„Okay, ich hab ganz dolle mega Angst ohne dich. Zufrieden?“

Stille.

„Rey?“ Langsam wurde ich unruhig.

‚Was ist, wenn er sich was getan hat und irgendwo hilflos in diesem bekloppten Labyrinth liegt? Aber er hätte sich doch bemerkbar gemacht. Oder?‘ Zweifelnd biss ich auf meine untere Lippe. Mörder? Sexualverbrecher? Aliens? Dass gerade diese Worte in der Situation durch meinen Kopf schwirrten, bewies eindeutig, dass ich viel zu viel Fantasie besaß.

„Rey?“ Energischer rufend drehte ich mich ruckartig um und bekam fast einen Herzinfarkt.

„Buh.“ Rey stand keine Nasenbreite von mir entfernt und erschreckte mich dermaßen, dass ich mit wedelnden Armen polternd auf meinen Hintern flog.

„Alles okay bei dir?“ Lachend beugte sich mein Mitbewohner über mich und ich konnte ihm richtig ansehen, dass ihm das mehr als nur Spaß gemacht hatte, so wie seine Augen im Dunkeln glitzerten. Verärgert schnellte ich nach vorne und schubste ihn so hart an den Schultern, dass er auf dem Rücken landete und ich nun über ihm thronte.

„Bist du bescheuert? Ich hatte fast nen Herzkasper!“, schnauzte ich ihn an.

„Solange du dir nicht in die Hosen gemacht hast.“, foppte mich Rey weiter, doch irgendwie war mir nicht nach Witzen zumute.

„Scheiße, ich hab mir echt gerade richtig Sorgen gemacht. Ich meine das verdammt noch mal ernst!“, schrie ich fast, drückte ihn kräftig zu Boden, ließ dann aber von ihm ab, als ich merkte, dass ich übertrieb. „Shit.“

Fluchend setzte ich mich im Schneidersitz hin und vergrub das Gesicht in meinen Händen. Keine Ahnung warum ich so erschrocken war und dermaßen überreagierte. Aber der Moment, als ich nicht wusste, wo Rey war und das ihm vielleicht etwas zugestoßen sein konnte, brachte mich halb um den Verstand. Erst jetzt wurde mir richtig bewusst, wie wichtig mir mein Mitbewohner geworden war. Ich merkte, wie er sich vor mir hinkniete, wie er sanft durch meine Haare fuhr und mit einigen Strähnen zu spielen begann.

„Genau das befürchte ich ja.“

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