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Der dämonische Pianist

Teil 2

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Vorwort

So Ihr lieben, hier ist nun der zweite und damit auch letzte Teil vom Pianisten. Vielleicht ist mir dieser Teil etwas zu dramatisch oder schmalzig gelungen, aber einmal muss das auch mal sein. ^^ Vielen Dank für die Feedbacks, die ich von Euch für den ersten Teil bekommen habe. Sowas schmeichelt nicht nur dem Ego, sondern spornt auch ungemein an, weiter zu schreiben. Ich weiß, dass am Ende der Story noch Fragen offen bleiben, aber wie ich Euch kenne, wisst Ihr schon, wie Ihr sie Euch beantworten könnt. Genug der Vorrede. Viel Spaß bei meiner Story. Liebe Grüße… Hyen

 

„Aber… warum?“

„Ich habe es eingesehen. Ich wünschte, zwischen uns wäre mehr, aber es war wohl doch nur Schwärmerei. Tut mir leid, dass ich dich soweit bedrängt habe, mit mir auszugehen.“ Mein Schatz trocknete sein Gesicht ab und blickte dann gefasst zu mir.

„Wie meinst du das? Das ist nicht nur eine Schwärmerei. Ich… ich liebe dich doch.“ Zitternd ging ich auf ihn zu, wollte ihn berühren, doch er machte zwei Schritte rückwärts und hob abwehrend seine Hände.

„Lass gut sein. Es ist besser, wenn du jetzt gehst.“

Ungläubig schaute ich zu ihm hinüber. Man sah deutlich, dass auch er mit sich zu kämpfen hatte, aber wenn ihm das so schwer fiel, wieso wollte er dann mit mir Schluss machen? Nur weil ich eifersüchtig gewesen war?

„Bitte Lys, sag das nicht. Es tut mir leid, dass ich so überreagiert habe. Dich in den Armen eines Anderen zu sehen, hat mich halb wahnsinnig gemacht. Du gingst so locker und selbstverständlich mit ihm um“, versuchte ich mich zu erklären. Ich wollte meinen Liebsten wegen so einer dummen Aktion von mir nicht verlieren!

„Genau das ist es“, meinte er traurig. „Ich würde auch mit dir so umgehen wollen, aber du schreckst vor jeder Berührung zurück. Ein einziges Mal hast du mich aus Eigeninitiative geküsst – einmal seit über zwei Wochen! Am Wochenende willst du nicht bei mir übernachten und in der Woche hast du abends immer was vor oder musst noch etwas für die Uni machen. Du bekommst ja schon Panik, allein wenn ich dir ans T-Shirt gehe! Es liegt nicht daran, dass ich unbedingt mit dir schlafen will. Du hättest bei mir alle Zeit der Welt. Mir kommt es eher so vor, als wolltest du vor mir flüchten, mich überhaupt nicht näher bei dir haben.“

Einzelne Tränen kullerten über seine Wangen, die er energisch wegwischte. Scheiße, was hatte ich da nur angestellt? Nie hätte ich gedacht, dass ich ihn damit so sehr verletzen würde. Natürlich wusste ich, was er meinte. Aber der Grund, warum ich so auf Abstand ging, war ein komplett anderer. Das Einzige, was ich wollte seit ich Lys kannte, war, ihm so nahe wie nur möglich zu sein. Allerdings brachte mich das, was in mir dabei vorging in Verlegenheit, je geringer der Abstand zwischen uns wurde. Es war mir viel zu peinlich Lys darauf anzusprechen. Ich hatte Angst, er würde mich auslachen, schließlich war ich vier Jahre älter.

„Das ist nicht wahr“, begann ich mit brüchiger Stimme zu erzählen und lehnte mich mit dem Rücken an den Türrahmen. „Es liegt an mir. Ich… Du weißt, wie ich auf deine Berührungen reagiere. Je länger wir zusammen waren, desto heftiger wurden die Reaktionen. Mir war nicht mehr nur so, als würde ich ohnmächtig, sondern als würde ich… als würde ich jeden Augenblick gleich kommen.“ Mein ganzes Blut sammelte sich mit einem mal in meinem Kopf, weswegen ich locker einer Tomate Konkurrenz hätte machen können.

„Wa… warte mal. Du lässt mich die ganze Zeit nicht an dich ran, weil ich dich geil mache???“ Ungläubig kam Lys auf mich zu. Mein roter Kopf war ihm wohl Antwort genug. „Das glaub ich jetzt einfach nicht.“ Langsam wurde er wütend, was mich trotzig reagieren ließ.

„War mir klar, dass du das lächerlich findest. Aber was würdest du denn machen, wenn du sofort abspritzt, nur weil dich einer berührt hat?!“

„Thilo, denkst du etwa wirklich, dass der Tag abrupt endet, sobald du gekommen bist? Du willst wissen, was ich machen würde? Mal davon abgesehen, dass ich mich mehr als nur geschmeichelt fühle, wie heftig du auf mich reagierst, würde ich dir eine viertel Stunde geben, damit du dich beruhigst, um dann über dich herzufallen, das Ganze solange wiederholend, bist du komplett leer wärst.“

„Und wer sagt dir, dass ich überhaupt so lange durchhalte? Vielleicht penn ich gleich danach sofort ein.“

„Das können wir nur in der Praxis rausfinden. Thilo, du hast Recht. Ich finde das wirklich total lächerlich. Und traurig. Weißt du, für mich ist die Grundlage einer Beziehung Vertrauen. Das wiederum baut sich nur auf, wenn man über alles redet. Und zwar über wirklich alles. Woher soll ich denn wissen was in dir vorgeht, wenn du es mir nicht sagst?“

Lys war ganz dicht an mich herangetreten und hatte meinen Kopf in beide Hände genommen. Salziges Nass benetzte meine Wangen, was ich nicht mehr verhindern konnte. Ich kam mir einfach saubescheuert vor.

„Ich will dich nicht enttäuschen, will nicht, dass du über mich lachst“, gestand ich schniefend.

„Weder das eine noch das andere wird je geschehen. Dafür liebe ich dich viel zu sehr.“ Lys küsste mich sanft und ließ damit meinen Tränenfluss erstarren.

„Obwohl ich ein Trottel bin?“

„Du bist kein Trottel. Eher ein kleiner Tollpatsch.“

Gut, damit konnte ich leben, schließlich hatte er ja Recht. Nur weil ich es nicht geschafft hatte, meinen Mund aufzumachen, hätte ich fast das Wichtigste verloren, was ich zurzeit ‚mein‘ nennen durfte: Lys. Mein Schatz nahm mich fest in seine Arme und ich drückte ihn nicht weniger heftig an mich. Wir waren wohl beide ziemlich froh, dass das geklärt war.

Lys suchte wieder nach meinen Lippen und als er sie fand, entbrannte ein Kuss voller Leidenschaft, der selbst eine Supernova dagegen hätte kalt aussehen lassen. Mein Blut floss sofort aus meinen Kopf und sammelte sich in meiner unteren Hüftgegend. Dass mein Liebster sein Becken aufreizend an meines drängte, verschärfte die ganze Situation nur noch. Mir wurde schwindelig, weswegen ich unseren Kuss löste und mich schwer atmend an meinen Schatz klammerte.

„Lys, das geht alles viel zu schnell. Es ist zu heftig.“

„Nein, das ist genau das richtige Tempo. Du musst dich nur fallen lassen. Vertrau mir.“

Verführerisch drang seine Stimme, der ich nicht länger widerstehen konnte, in mein Ohr. Unter etlichen Küssen wurde ich aus dem Bad in Lys’ Zimmer geführt, zu seinem Bett. Mein T-Shirt hatten wir schon längst achtlos irgendwo beiseite geworfen, Socken und Hose folgten. Eng umschlungen und nur noch mit Retros bekleidet, lagen wir auf dem weichen Futon.

Lys’ Hände gingen auf Wanderschaft. Seine Fingerspitzen streiften meinen Hals hinab, über meine Schulter bis hin zur Brust. Spielerisch umkreiste er meine Brustwarze und zwickte leicht hinein. Ein wohliger Schauder durchfuhr meinen gesamten Körper und ließ mich aufstöhnen. Für den ersten Moment war mir das megapeinlich. Als ich damals mit meiner Freundin schlief, empfand ich diese Laute an mir zu animalisch, vor allem auch, weil sich meine Freundin davor erschreckte. Wir waren halt beide ziemlich jung und unerfahren gewesen. Mein Liebster merkte, dass ich anfing mich zu verkrampfen, und hielt kurz inne.

„Hey, hör auf dir deine Lippe blutig zu beißen!“, sagte Lys etwas erschrocken. Ich hatte mich anscheinend dermaßen darauf konzentriert, nicht laut zu werden, dass ich gar nicht bemerkte, wie sehr ich zugebissen hatte. Ein leichter, kupferner Geschmack breitete sich auf meiner Zunge aus und ließ mich nervös werden.

„Thilo, entspann dich“, säuselte mir mein Liebster ins Ohr, nur um noch viel verführerischer fortzusetzen. „Ich will dich hören. Zeig mir, was dir gefällt!“

Allein die Worte machten mich fast schon schmerzhaft steif. Ein paar Mal spielte er noch mit meiner Brustwarze und entlockte mir wohlige Töne, bis seine Hand weiter hinunter rutschte, direkt auf mein bestes Stück. Zwar trennte dünner Stoff noch immer Finger und pure Haut, aber trotzdem empfand ich es als so intensiv, dass ich kam.

Das Zucken, welches meinen Körper durchfuhr, war unübersehbar, mal von der Feuchtigkeit, die durch meine Hose drang, ganz abgesehen. Ängstlich schloss ich meine Augen und hätte mich am liebsten tief unter der Decke verkrochen. Doch Lys nahm mich in seine Arme und küsste solange mein Gesicht, bis ich mich endlich getraute ihn anzuschauen.

„Weißt du eigentlich wie geil du aussiehst, wenn du so in Ekstase bist?“, schnurrte mein Schatz.

Er war mir also wirklich nicht böse, auch nicht enttäuscht. Ganz im Gegensatz zu meinen Befürchtungen funkelten mich zwei türkisfarbene Diamanten wild an und verlangten nach mehr. Küssend beugte sich Lys ein wenig über mich und zog mir das letzte Stück Stoff vom Leib. Er benutzte dies gleich, um die Reste meines Lustausbruches zu beseitigen und warf dann meine Retroshorts achtlos beiseite. Allein diese sachten Berührungen ließen mich wieder halb steif werden.

„So viel zu diesem Thema“, grinste mich mein Liebster verschmitzt an.

Schüchtern lächelte ich zurück und rutschte mit meinem Körper dicht an seinen. Es tat so unheimlich gut, ihn bei mir zu haben, ihn zu spüren. Ich glaubte vor Glück zu schweben. Umso mehr drängte es mich, auch etwas für ihn tun zu wollen. Meine Zunge spielte eine Weile an seinem Brustpiercing, was mein Schatz hörbar genoss. Keine Ahnung warum ich damals solche Töne als obszön empfand, denn bei Lys klangen sie einfach nur geil. Meine Küsse gingen langsam tiefer, bis ich am Bund seiner Shorts angelangte.

„Warte“, hielt mich mein Liebster kurz davor auf. „Du musst das nicht tun. Wir haben schließlich alle Zeit der Welt“, meinte er sanft.

„Ich weiß“, lächelte ich zurück und setzte dann einen diabolischen Blick auf.

Schnell fiel auch seine letzte Hülle und ich hörte, wie Lys tief Luft holte, als ich begann, ihn mit meinen Lippen und meiner Zunge zu verwöhnen. Keine Ahnung, ob ich das alles so richtig machte, aber die lustvollen Laute, die mein Schatz von sich gab, bestätigten mir meinen Erfolg. Es war einfach nur Wahnsinn, wie er sich unter mir wand. Ich hätte ihn gern noch länger so ‚gequält‘, doch mein Liebster zog mich nach einer Weile sanft aber bestimmend zu sich hoch. Etwas irritiert sah ich ihn an, wie er schwer atmend neben mir lag.

„Gott, du bist einfach der Hammer. Und du hast es wirklich noch nie vorher mit einem Mann probiert?“

„Du bist der erste“, antwortete ich verlegen. Wow, es hatte ihm echt gefallen. Langsam wurde ich mutiger, weswegen ich begann, ihn am Ohrläppchen zu knabbern und ihm leise etwas anbot. „Wenn du willst, mach ich weiter. Bis zum Schluss.“

Überrascht blickte er mir in die Augen, dann, ganz zaghaft, begann er zu lächeln. Er strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, küsste meine Wange, meine Nase, meine Lippen.

„Schlaf mit mir“, flüsterte er.

Mitten in der Bewegung hielt ich inne. Mein Herz klopfte so dermaßen wild gegen meine Brust, dass es schon fast schmerzhaft war. Keine Ahnung, ob es an der Aufregung lag oder an der aufkeimenden Panik. Ich sah wohl ziemlich erschrocken aus, denn mein Schatz rückte etwas von mir ab, um mich besser anschauen zu können.

„Du brauchst keine Angst zu haben. Ich bin ganz sanft, versprochen. Lass dich einfach fallen und treiben. Überlass mir den Rest.“

Wieso glaubte ich ihm auf Anhieb jedes Wort? Unter seinen verliebt funkelnden Augen entspannte ich mich wieder und begann ihn auffordernd zu küssen. Natürlich hatte ich noch immer ein wenig Angst, vor allem da ich nun wusste, welche Rolle zumindest heute mir zu Teil wurde. Aber meine Panik war verschwunden.

Lys war einfach unglaublich. Zwar tat es am Anfang doch ziemlich weh, aber mein Schatz wusste genau, was zu tun war, damit ich mich wieder entspannte. Der Schmerz wurde übertüncht von einem dermaßen geilen Gefühl, was ich einfach nicht in Worte fassen konnte. Komplett von Raum und Zeit entrückt schwebte ich in einer anderen Dimension umgeben von absoluter Ekstase, bis ein starker Sog an meinem Körper zerrte, ihn zum erbeben brachte und dann alles um mich herum explodierte.

Meine Finger hatten sich tief in das Bettlaken unter mir gegraben und nur langsam löste sich meine Starre auf. Immer noch keuchend, aber überglücklich lag mein Schatz auf mir. Sein zarter, verschwitzter Körper glänzte im Mondlicht, was ihn wie ein Wesen aus einer anderen Welt aussehen ließ. Ich schloss meine Augen, um alles bis aufs Letzte zu genießen. Noch nie in meinem Leben hatte ich solch einen Orgasmus, der noch gut fünf Minuten nachklang.

Lys richtete sich etwas auf, wischte die Spuren unseres nächtlichen Treibens mit Tüchern weg, die er im Nachtschrank deponiert hatte, und kuschelte sich dann wieder ganz dicht an mich heran.

„Thilo?“

„Hm?“ Müde blickte ich zu ihm, wie er kurz vor dem Einschlafen halb auf mir drauf lag und meine Brust kraulte.

„Ich liebe dich.“

„Ich dich noch viel mehr“, antwortete ich schmunzelnd. Dann nickten wir beide ein und schliefen glücklich bis zum nächsten Morgen durch.


Die nächsten Wochen flogen nur so dahin. Lys und ich sahen uns fast jeden Tag. Er nahm mich sogar ständig zu seinen Proben mit, und langsam hörte ich auch richtig zu und schmachtete nicht nur die ganze Zeit meinen Schatz an. Mathe übten wir trotzdem weiter, allerdings hatte sich die Art der Bezahlung geändert. Ich führte einfach ein Belohnungssystem ein. Wenn mein Liebster eine Aufgabe richtig löste, bekam er von mir einen Kuss. Wenn zwei hintereinander korrekt waren, schenkte ich ihm einen Zungenkuss. Sobald er drei richtig hatte, durfte er mich beim Küssen berühren… usw. Wenn er allerdings einen Fehler machte, fiel er wieder zurück und die Prozedur begann von vorn.

Ihr könnt euch bestimmt vorstellen, dass Lys sich deswegen mehr als nur ins Zeug legte. Für mich war es Lohn genug, seine heißen Lippen auf meinen spüren zu dürfen. Zwar beschwerte sich mein Schatz hinterher, weil er in der Prüfung ständig schmutzige Gedanken gehabt hatte, aber im Endeffekt bestand er diese mit einer guten Zwei.

Sabine war komplett aus dem Häuschen und schmiss kurzerhand nach der Zeugnisausgabe eine Party für ihren Sohn und dessen Freunde. Ja, ich durfte meine Chemieprofessorin neuerdings duzen – zumindest privat. Als Lys das hörte, wäre er fast aus den Latschen gekippt, aber mit Biene verstand ich mich einfach richtig gut. Sie war es auch, die Micha und mich hinter die Bühne im kleinen Opernhaus schmuggelte, als der Vorentscheid zur Talentsuche von jungen Pianisten stattfand.

Ich versuchte wirklich gelassen zu bleiben, wollte unbedingt für Lys ein Ruhepol sein. Doch leider war ich so aufgeregt, dass ich auf dem schmalen Gang hinter der Bühne wie wild auf- und abtigerte. Micha war lustigerweise nicht viel besser. Sie saß die ganze Zeit auf dem Boden, die Beine angestellt. Nervös knabberte die Kleine an ihren Fingernägeln und wippte apathisch mit ihren Füßen vor und zurück. Der einzige, der alles relativ cool nahm, war Lys. Dieser kam gerade auf uns zu geschlendert, die Hände locker in den Hosentaschen vergraben.

Zum ersten Mal sah ich ihn im Anzug aus der Nähe. Es war ungewohnt, ihn so zu sehen, in schicken Klamotten, ohne das Piercing in der Lippe, die Haare streng nach hinten gegelt. Das alles machte ihn beängstigend erwachsen.

„Du starrst mich schon wieder mit offenem Mund an. Man könnte meinen, du siehst mich zum ersten Mal“, scherzte mein Schatz, drückte mir einen Kuss auf die Lippen und verschlang die Finger seiner beiden Hände in meine.

„Du schaust seltsam in diesem Outfit aus“, erklärte ich verwirrt.

„Oh, danke für das Kompliment. Ich bevorzuge auch lieber nen Shirt, lockere Hose und Rangers, aber ich glaube, die Talentsucher fänden das nicht sehr anregend.“

„Ich mein ja nur, dass es ungewohnt für mich ist. Außerdem ist es egal welche Sachen du anhast. Die Juroren werden so oder so von dir mehr als nur begeistert sein, sobald du anfängst zu spielen. Genauso wie ich.“ Tief sah ich meinem Liebsten in die Augen und lächelte ihn an, was er nicht weniger verliebt erwiderte.

„Kleiner Schmeichler“, meinte er sanft.

„Das hab ich nicht nötig“, antwortete ich selbstsicher und beugte meinen Kopf etwas zu ihm hinab.

„Du bist ja sehr von dir überzeugt“, kicherte mein Schatz, worauf ich meine Lippen fordernd auf seine presste und wir in einen nicht enden wollenden, leidenschaftlichen Kuss verfielen.

„Lys, die kündigen dich gerade an“, unterbrach uns Micha aufgeregt.

„Na dann“, seufzte mein Schatz und wollte sich irgendwie überhaupt nicht von mir lösen. Erst als ich ihn ein wenig von mir weg geschoben hatte, ging er murrend zum Aufgang der Bühne.

„Viel Glück“, rief ich ihm noch hinterher, was Lys mir mit einem absolut genialen Lächeln dankte.

Gott, am liebsten hätte ich ihn mir einfach geschnappt, ihn aus diesem blöden, viel zu gut besuchten Haus geschliffen, in sein Zimmer gezerrt, ihm seine Klamotten vom Leib gerissen und wäre hemmungslos über ihn hergefallen. Keine Ahnung was dieser kleine Dämon mit mir gemacht hatte, als wir das erste Mal miteinander schliefen. Ich wusste nur, dass ich seitdem regelrecht süchtig nach ihm war. Keinen Tag hielt ich es mehr ohne ihn aus.

Sanfte Töne drangen zu uns, als Lys begann zu spielen. Micha und ich lehnten gemeinsam an der Wand und lauschten diesen wunderschönen Klängen, welche mir genauso leidenschaftlich schienen, wie der Pianist selbst, der sie hervorrief. Die Kleine neben mir spielte die ganze Zeit nervös an ihrem Armband, was mich neugierig werden ließ.

„Sieht schick aus, was du da hast“, sprach ich sie an, vielleicht auch, um mich selbst ein wenig abzulenken.

„Danke. Ich habe es von Cat geschenkt bekommen. Ist aber leider kaputt.“

Sie hielt mir das aus Leder bestehende Schmuckstück hin, damit ich es näher betrachten konnte. Es war recht schlicht gehalten. Das kleine Stück war höchstens zwei Zentimeter breit und umfasste ein längliches Tribal. Am Ende zusammengehalten wurde es von 4 dünnen Lederschnüren. Allerdings konnte ich nicht erkennen, was daran kaputt sein sollte.

„Du magst Cat sehr, oder?“

Micha bekam einen verträumten Gesichtsausdruck.

„Ja. Sie ist für mich wie eine große Schwester, die ich nie hatte. Die Farben des Tribals sind die ihrer Augen. Schön, was?“

Ich nickte. Die Kleine stemmte sich von der Wand ab und lief ein wenig auf und nieder.

„Eigentlich wollte Cat schon längst wieder hier sein. Sie meinte, dass es nicht lange dauert, ein neues Armband zu besorgen“, sagte Micha beunruhigt.

„Hey, es ist Freitag und früher Nachmittag. Weißt du, was da in der Stadt los ist? Außerdem sieht doch dein Schmuckstück überhaupt nicht kaputt aus.“

„Du solltest nicht alles nur von außen betrachten. Schließlich ist es das Innere, was zählt.“

„Sehr tiefsinnig“, schmunzelte ich.

„Ist so ein Spruch von Cat.“

Wir unterhielten uns noch eine ganze Weile, bis das Spiel des Klaviers endete. Sofort horchten Micha und ich auf und stimmten wenige Sekunden später in das wilde Jubelgeschrei und den Applaus des Publikums ein. Bei keinem der Teilnehmer waren die Zurufe so laut und heftig gewesen. Locker und lässig erschien Lys hinter der Bühne, als würde der Lärm überhaupt nicht ihm gelten. Micha rannte sofort auf meinen Schatz zu und sprang ihm um den Hals.

„Du warst echt der Wahnsinn. Hörst du das? Die sind total begeistert von dir!“, plapperte die Kleine wild drauf los.

„Das Stück war recht einfach, was ich spielen sollte“, winkte Lys unbeeindruckt ab.

„Ich fand, es war eines der Schönsten, die du bisher gespielt hast“, gab ich meinen Kommentar sanft hinzu, worauf mein Liebster mich schüchtern anlächelte.

„Meinst du?“

„Weiß ich.“ Ich ging auf ihn zu und drückte meinem Schatz einen Kuss auf die Stirn, da Micha noch immer an ihm hing.

Es war schon seltsam, mit was für Kleinigkeiten ich Lys aus der Bahn werfen konnte, schließlich war er sonst immer so tough drauf. Doch jetzt sah er verklärt zu mir auf, keine Spur von Lockerheit und Coolness. Nur widerlich süße Verliebtheit.

„Ah, hier bist du. Hätte ich mir eigentlich auch denken können“, unterbrach uns Sabine und steuerte auf ihren Sohn zu. „Die Juroren waren wirklich hin und weg von dir. Zwar müssen die sich noch die restlichen Teilnehmer anhören, aber du zählst schon jetzt zu ihren Favoriten. Ich bin so stolz auf dich, mein Schatz“, quasselte Biene begeistert, zog ihren Sprössling aus Michas Armen und knuddelte ihn richtig durch.

„Mooom! Ich bekomm kaum noch Luft“, protestierte Lys genervt, freute sich aber doch sehr über das Lob seiner Mutter, schließlich verteilte sie so etwas nur mit Bedacht und entsprechend selten.

„Ist ja gut. Also, die offizielle Bekanntgabe der Gewinner erfolgt per Post in einer Woche. Heute Abend findet noch eine kleine Gala statt für die gesamten Teilnehmer. Sei also bitte spätestens 18 Uhr zu Hause. Ansonsten hast du jetzt frei.“

„Das ist doch mal ein Wort. Ich geh mich umziehen“, sprachs, schenkte mir einen flüchtigen Kuss auf die Lippen und war dann schon mit seiner Mutter Richtung Umkleide verschwunden.

„Wow. Das wäre ja echt der Hammer, wenn Lys den Vorentscheid gewinnt. Wusstest du, dass die drei Erstplatzierten zum Finale nach Zürich fliegen?“, begann Micha begeistert zu erzählen.

„Ehrlich jetzt? Davon hat er mir gar nichts erzählt.“

„Mir auch nicht. Lys spricht nicht gern über sein Talent. Er spielt zwar gerne Klavier, hängt es aber nicht an die große Glocke. Ich hab mit seiner Mom gesprochen, und die hat das so nebenher ausgeplaudert.“

Mir wurde es ein wenig mulmig in der Magengegend. Zürich war ganz schön weit weg, und das sollte nur der Anfang sein. Wenn schon ein Vorentscheid in einem anderen Land ausgetragen werden sollte, wo findet dann erst das Finale statt? In Sydney? Wenn er Erfolg haben würde – was sehr wahrscheinlich war – würde er dann die ganze Zeit um die halbe Welt reisen? Vielleicht klang das egoistisch, doch ich wollte meinen Schatz nicht hergeben. Jedes Mal länger von ihm getrennt zu sein, konnte ich mir schon jetzt kaum vorstellen. Aber er hatte so viel Talent. Wollte ich wirklich, dass er dies wegen mir vergeudete?

Fürs Erste kam ich nicht dazu, mir weiter Gedanken darüber zu machen, denn neben mir begann es laut zu poltern. Jemand war buchstäblich durch die Tür hinter der Bühne, welche nach draußen zum Hintereingang führte, gestolpert und quälte sich leise stöhnend halb auf. Ich wollte schon hingehen um zu helfen, doch Micha kam mir zuvor.

„Cat!“

Laut rufend lief sie auf die junge Frau zu und half ihr sich so weit hochzustemmen, bis sie mit wackeligen Beinen schwer schnaufend an der Wand lehnte. Sie hielt eine Hand fest auf ihre Seite, kurz über der Hüfte, gepresst, aus der stetig Blut hervorquoll. Augenblicklich begann Micha am ganzen Körper zu zittern und Tränen rannen über ihre Wangen hinab.

„Du… musst sofort… von hier verschwinden. Raus… aus der Stadt. Sie haben… uns gefunden. Ein Spion… aus den eigenen… Reihen hat uns… verraten. Sie wissen… wo du gerade bist. Die… Polizei… steckt mit drin… wurden bestochen. Nimm das… und geh. Fliehe… Vertraue nur… Flo. Niemand anderem. Versprich… mir das!“

Nur stockend brachte Cat diese Worte über ihre Lippen. Schwach drückte sie Micha eine Plastikkarte in die Hand und sah sie fest an. Doch die Kleine schüttelte nur wild mit ihrem Kopf.

„Nein! Ich lass dich hier nicht zurück. Die töten dich!“

„Ich dulde… keine Widerworte! Allein komm ich eh… viel besser klar!“ Cat löste sich von der Wand und schubste Micha ein Stück von sich weg. „Geh endlich!“, schrie sie, worauf ihre kleine Freundin zusammenzuckte.

Deren Atem ging immer schneller und sie blickte panisch zwischen Tür und ihrer Fastschwester hin und her.

„Verdammt noch mal, verschwinde!“, rief Cat wütend und brach im nächsten Moment zusammen.

Nur Micha war es zu verdanken, dass sie nicht mit voller Wucht auf den Boden aufschlug, sondern sanft niederglitt. Erst da löste sich meine Erstarrung. Schnell hatte ich mir mein Handy aus der Hosentasche geangelt und wählte die Nummer des Notrufes. Doch ehe ich mich versah, stand Micha vor mir, riss das Handy aus meiner Hand und warf es kräftig auf den Boden.

„Bist du wahnsinnig? Hast du Cat eben nicht richtig zugehört??? Die Polizei ist an ihrem Zustand schuld. Wenn du jetzt einen Notarzt rufst, wissen die sofort, wo wir sind. Da kannst du uns auch gleich hier umbringen!“

Wutentbrannt sah mich die Kleine mit tränenverschmiertem Gesicht an. Fassungslos blickte ich ihr in die Augen. Mal davon abgesehen, dass sie mir mein neues Handy zerstört hatte, verstand ich hier gar nichts.

„Micha, sie verblutet, wenn wir nichts unternehmen!“

„Sie wird aber auch sterben, wenn wir sie ins Krankenhaus bringen!“, schrie Michaela verzweifelt und begann, hemmungslos zu weinen.

„Was ist denn hier los?“, hörten wir Lysander sich nähern. „Ach du scheiße.“

Als mein Schatz gewahrte, was hier los war, zückte er sofort sein Kommunikationshelfer, den ich ihm geistesgegenwärtig gleich wieder abnahm. Verwundert schaut er zwischen mir und seiner Freundin hin und her.

„Könntet ihr mir bitte erklären, was hier los ist?“, forderte Lys uns auf.

„Diese Frage kann nur Micha beantworten“, sagte ich und sah die Kleine auffordernd an.

„Ich erzähl euch alles. Versprochen. Aber erst müssen wir hier weg. Wenn Cat Recht behält, sind wir hier nicht mehr sicher. Bitte, ihr müsst mir vertrauen!“, flehte sie regelrecht.

Nach einem knappen, bestätigenden Nicken von Lys fasste ich einen Entschluss.

„Also gut, verschwinden wir erstmal. Ich kenne da jemanden, der uns helfen könnte. Versprechen tu ich allerdings nichts.“

Ich ging zu Cat und nahm sie auf meine Arme. Sie war so leicht, dass ich Angst bekam, nur noch eine leere Hülle in den Händen zu halten. Wir gelangten durch die Hintertür nach draußen in eine Gasse. Ein paar Schritte weiter weg stand ein herrenloser, mattschwarzer Transporter, in dessen Zündschloss sogar die Schlüssel steckten. Wir nahmen erst an, dass es der von Cat war, doch drinnen fanden wir kein Blut. Beide Frauen verstauten wir nach hinten auf die Ladefläche, während ich mich hinters Steuer setzte, meinen Schatz neben mich.

„Ich wusste gar nicht, dass du Auto fahren kannst“, meine Lys verwundert.

„Kann ich auch nicht, zumindest nicht offiziell. Hab mal in nem großem Autohaus aushilfsweise gearbeitet. Fahrzeuge waschen und so.“

„Hoffentlich werden wir nicht angehalten“, sagte darauf mein Schatz und krallte sich am Sitz fest, als ich den Motor startete.

Beim Anfahren holperte der Wagen zwar kurz, doch dann bog ich geschmeidig auf die Hauptstraße. Es war klar, dass ich zu Maike wollte. Nur schwer fand ich mich auf den Straßen zurecht. War halt doch anders, als mit dem Fahrrad unterwegs zu sein. Nach zehn Minuten kamen wir endlich bei dem Haus meiner Freundin an. Ich parkte halb auf dem Fußweg, direkt davor. Das war vielleicht auffällig, aber nicht ganz so schlimm, wie eine stark blutende Frau durch die Gegend zu schleppen. Im zweiten Stock angekommen, betätigte Lys so lange die Türklingel, bis die Wohnungstür vor Wut regelrecht aufgerissen wurde.

Maike wollte gerade zu einem verärgerten Gezeter ansetzen, als ihr die Worte im Munde stecken blieben. Mit immer größer werdenden Augen starrte meine Freundin erst die Frau in meinen Armen, dann Michaela ungläubig an.

„Dürfen wir reinkommen?“, fragte ich vorsichtig.

Ehrlich gesagt war ich mir nicht sicher, wie Maike reagieren würde. Zwischen Hysterie und vollkommener Gelassenheit hatte ich mir alles ausgemalt. Doch dann fasste sie sich und trat beiseite.

„Klar. Geht ins Esszimmer, die zweite Tür rechts. Ich räume nur den Tisch ab.“

Schnell hatte sie die Wohnungstür hinter uns geschlossen, war an mir vorbei geeilt und nahm Kerzenständer und Blumen von der langen Tafel ab. Meine Freundin verschwand in ein anderes Zimmer und kam Sekunden später mit einer Rolle weißer Papiertischdecke wieder, die Lys mit ihr auf den Tisch ausbreitete. Dann konnte ich Cat endlich niederlegen. Vielleicht war die Kleine nur eine halbe Portion, doch mit der Zeit wurde sie immer schwerer.

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich fragen soll, was passiert ist“, meinte Maike, als sie neben Cat ihr ‚Werkzeug‘ zusammen suchte.

„Ehrlich gesagt wissen wir das auch nicht. Cat ist uns regelrecht vor die Füße gefallen“, versuchte ich zu erklären.

„Ihr kennt sie?“, hakte sie fast zu beiläufig nach.

„Na ja, nicht wirklich. Nur vom sehen her. Sie ist Michas große Schwester. Cat wurde angegriffen, sagte uns aber nicht von wem, sondern nur, dass sie nicht zur Polizei will. Ich dachte, du könntest ihr helfen.“

„Das kann ich auch. Siehst du, es ist nur ein Streifschuss, mehr nicht. Allerdings hat sie sehr viel Blut verloren. Selbst wenn ich die Wunde reinige und nähe, bräuchte sie immer noch eine Transfusion. Ihr wisst nicht rein zufällig ihre Blutgruppe?“

„Cat hat meine. Ich wurde… ich hatte mal einen Unfall“, stotterte Micha. „Damals half sie mir aus.“

„Oh, sehr gut. Nimm dir einen Stuhl und setz dich neben deine Schwester. Ich werde alles Nötige vorbereiten. Ihr habt wirklich Glück, dass ich alle Utensilien soweit im Haus habe. Wollte eigentlich einen Vortrag drüber schreiben, weswegen ich mir einiges aus der Klinik ausleihen durfte. Thilo, wasch dir bitte deine Hände und zieh dir Handschuhe drüber. Du musst mir hier helfen.“

Ich tat wie geheißen und half Maike die nächste Zeit, Cats Wunde zu verarzten. Als wir fertig waren, legte sie noch die Transfusion und atmete dann tief durch.

„Jetzt hängt es nur noch von ihr ab. Sie scheint zäh zu sein, also können wir hoffen.“ Aufmunternd lächelte meine Freundin Micha an, die es schwach erwiderte.

„Du Thilo. Wir müssen noch den Wagen vorm Haus wegfahren. Nicht dass der noch jemandem auffällt“, meldete sich Lys zu Wort, der die ganze Zeit neben seiner Bandkameradin gestanden und ihre Hand gehalten hatte.

„Macht das mal ganz schnell. Die alten Damen im Haus sind echt penetrant. Danach will ich allerdings eine Erklärung haben“, forderte Maike und reichte mir ein Hemd ihres Freundes. Mein Shirt, was über und über mit Blut besudelt war, wäre doch zu auffällig gewesen.

„Nicht nur du, glaub mir.“

Wir verabschiedeten uns knapp, und Minuten später saßen mein Schatz und ich wieder in dem mattschwarzen Transporter und fuhren durch die Gegend. In irgendeiner verlassenen Straße stellten wir ihn ab, versuchten unsere Fingerabdrücke und Spuren so gut wie nur möglich zu verwischen und verschwanden Richtung Maike. Auf dem Weg dorthin spielte ich unentwegt mit dem ledernen Armband, welches ich Cat abgenommen hatte, als ich meiner Freundin half sie zu verarzten. Lys fiel es auf und klaubte es sich sanft aus meinen Fingern.

„Woher hast du denn das?“, fragte er und musterte das Schmuckstück interessiert.

„Von Cat. Sie trug es um ihr Handgelenk. Ich musste es wegen der Transfusion abmachen. Weißt du, was mir wieder einfällt? Micha hat genau das Gleiche, nur dass bei ihr die Farbe des Tribals anders ist. Als ich mich mit ihr hinter der Bühne im kleinen Opernhaus darüber unterhielt, meinte sie, es sei kaputt und Cat sei gerade dabei, ihr ein neues zu besorgen. Dabei war das Armband ganz, als ich es mir anschaute. Ihr schien das übel wichtig zu sein. Hast du ne Ahnung warum?“

„Keine. Aber ich wüsste vielleicht jemanden, der uns mehr darüber sagen könnte.“ Lys beschleunigte seine Schritte. „Micha hat dieses Teil immer getragen. Ein einziges Mal – sie war erst neu in der Stadt – legte sie es ab. An dem Tag war es schweinewarm und wir alle zusammen baden. Sie wollte es im Wasser nicht verlieren und versteckte das Armband in ihrem Rucksack. Es dauerte keine fünf Minuten, da stand schon Cat auf der Matte und fauchte Micha übel an, dass sie es ja nie wieder abmachen solle.“

„Seltsam. Sonst ist sie doch immer mit ihrer kleinen so lieb. Und woher wusste sie davon? Hat das Teil etwa nen Pulsmessgerät integriert?“

Eigentlich war das als Scherz gemeint, aber momentan schien mir nichts mehr abwegig. Meinem Schatz ging es wohl genauso, denn er sah mich vielsagend an. Nach gut fünfzehn Minuten bemerkte ich ein größeres Gebäude rechts von mir. Wir liefen an einem zwei Meter hohen, steinernen Zaun vorbei, durch dessen Lücken ich besagtes Haus sehen konnte.

Es schien eine Turnhalle zu sein, denn auf dem Gelände davor erkannte ich einen Basketball- und Tennisplatz. Einige Kids kamen gerade durch das Eingangstor auf den Fußweg mit großen Sporttaschen in den Händen und schauten mal mehr, mal weniger geschafft aus. Lys’ Schritte wurden immer energischer, als würde er jeden Moment anfangen zu rennen. Doch gerade als er stürmisch in den Eingang einbog, knallte er volle Wucht mit jemandem zusammen.

„Lys!“ Erschrocken kniete ich mich neben meinen Schatz nieder. „Alles okay bei dir?“, fragte ich und streichelte ihn besorgt über die Wange.

„Ich glaube schon. Diese dumme Angewohnheit hat der Typ sich über die Jahre echt nicht abgewöhnen können“, knurrte er spöttisch und schaute, sich seine Stirn reibend, zu dem Jungen rüber, mit dem er zusammengestoßen war. Bei den Worten blickte dieser augenblicklich auf und starrte meinen Liebsten ungläubig an.

„Lysander?“ Mit Hilfe eines anderen Jungen war er aufgestanden und schien nicht wirklich was mit der Anwesenheit meines Schatzes anzufangen.

„Du schon wieder. Sag mal, war ich das letzte Mal nicht deutlich genug oder was willst du hier?“ Der Dritte mit den braunen Haaren kam bedrohlich auf Lys zu, wurde aber gleich von eben jenem unterbrochen.

„Ob du’s glaubst oder nicht, Keyl“, begann mein Schatz locker und stand auf. „Aber ich brauche eine Auskunft. Von euch beiden.“

„Warte mal Lys. Du kannst hier nicht nach nem halben Jahr auftauchen und ein wenig Smalltalk führen, nach der Show, die du an Silvester abgezogen hast.“ Der Schwarzhaarige, mit dem mein Liebster kollidiert war, trat zu diesem Keyl und klammerte sich an dessen Arm und Hand fest. Beide waren wohl ein Paar, denn diese Geste sprach Bände.

„Silvester war ein dummes Ding. Zu viel Alk und Frust. Tut mir wirklich leid.“ Lys schob die Hände in seine Hosentaschen und schaute bedröppelt zu Boden. Die Jungs sahen sich nur verblüfft an und dann zu meinem Schatz. Damit hatten sie wohl nicht gerechnet.

„So eine ernst gemeinte Entschuldigung höre ich seit zehn Jahren zum ersten Mal“, meinte das Schwarzhaar erstaunt.

„Liegt vielleicht an dem guten Einfluss“, grinste nun Lys, hakte sich bei mir ein und lächelte mich liebevoll an. Die anderen Beiden bekamen noch größere Augen – wenn das denn ginge – und Keyls Freund klappte regelrecht der Unterkiefer runter.

„Wow… also… ähm… das hätte ich nun nicht erwartet. Aber freut mich wirklich sehr“, stotterte er.

„Ich weiß, dass die Sache von damals damit nicht behoben ist, aber ich hab mich verändert, Alex. Vielleicht kannst du mir ja… könnt IHR mir irgendwann verzeihen.“

Alex? Moment mal. War das wirklich DER Alex??? Die erste große Liebe von Lys? Es schien so. Mir wurde seltsam mulmig zumute. Obwohl sich mein Schatz gerade an mich drängte, hatte ich trotzdem Angst, ihn verlieren zu können.

„Es ist viel passiert Lys. Viel zu viel. Ich kann nichts versprechen. Aber ich würde es sehr gerne versuchen.“

Der Atem meines Schatzes wurde immer schneller und die Freude stand ihm buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Fast sah es so aus, als wolle er sich von mir lösen um auf Alex zuzustürmen. Doch er zuckte im letzten Moment zurück und klammerte sich noch heftiger an mich.

„Nun komm schon endlich her, du Vollidiot!“, forderte Alex und kam mit offenen Armen auf meinen Schatz zu. Beide drückten sich sehr fest und deutlich konnte ich Tränen in ihren Augen glitzern sehen.

Ich wollte mich freuen, dass die zwei Freunde aus dem Sandkasten sich wieder vertragen hatten, ehrlich. Aber ich konnte nicht. Es war mehr als nur Eifersucht, was meinen Magen zum Rebellieren brachte. Es war Angst, denjenigen verlieren zu können, den ich so sehr zu lieben gelernt hatte. Sie klammerten noch immer aneinander und flüsterten sich leise Worte ins Ohr, als Keyl zu mir trat. Er folgte meinem Blick.

„Guck nicht so besorgt drein. Die beiden kennen sich schon ihr ganzes Leben, weswegen alles ziemlich heftig für sie war. Das Gute wie das Schlechte. Auch wenn es mir nicht ganz passt, aber es ist gut, dass sie wieder Freunde sind. Gute Freunde, nicht mehr, nicht weniger. Für ersteres wird mein Schatz auf jeden Fall sorgen.“

‚Toll, sollte mich das etwa beruhigen? Wieso lasse ich mich überhaupt von einem Kind – was auf Garantie nicht älter als 17 Jahre ist – von der Seite zulabern? Macht der sich etwa überhaupt keine Gedanken?!‘

„Ähm. Ich will zwar dieses junge Glück nicht stören, aber wieso seid ihr hier?“, fragte Keyl, wonach die Jungs sich verlegen voneinander lösten.

„Wegen dem hier“, antwortete Lys und hielt das Handgelenk von Alex hoch, an dem das gleiche Armband hing, was ich in den Fingern hielt.

Alex wurde ernst und blickte zu seinem Schatz.

„Was ist damit?“ Die Frage, die dieser stellte, sollte wohl beiläufig klingen, doch ich erkannte seine aufkommende Unruhe.

„Och, ich hab es bei euch entdeckt und es gefiel mir. Wir wollen uns vielleicht auch solche herstellen lassen. Könnt ihr uns sagen, wo man die kaufen kann?“, meinte Lys locker und setzte eine unverschämte Unschuldsmiene auf. Zumindest fand ich sie gekonnt.

„Du warst schon immer ein miserabler Lügner“, schüttelte Alex seinen Kopf.

„Nur bei dir“, seufzte mein Schatz. Mich kotzte schon jetzt an, wie vertraut sie einander waren.

„Ich kann es nicht fassen, dass du unsere Freundschaft mit einer Lüge wieder beginnen willst.“

„Tut mit leid. Ich kann dir aber nicht mehr erzählen. Das ist alles ein wenig heikel, weswegen ich dich nicht mit hineinziehen will“, versuchte Lys sich zu erklären.

„Er hat es von mir zu Weihnachten geschenkt bekommen“, mischte sich Keyl ein. „Das ist eine Sonderanfertigung. Sehr teuer und rar.“

„So rar anscheinend nun auch wieder nicht“, sagte ich und hielt dem Jungen Cats Armband unter die Nase. Kaum hatte dieser es gesehen, riss er mir es schon aus der Hand. Nach kurzer aber intensiver Untersuchung, kniff Keyl seine Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und funkelte mich bedrohlich an.

„Woher hast du das?“, blaffte er.

„Gefund…“, setzte ich zu einer Antwort an, wurde aber gleich unterbrochen.

„Lüge!“, schrie fast der Junge, wobei ich mich tierisch zusammen reißen musste, um nicht zusammenzuzucken.

„Hey, ich sagte schon, dass wir nicht alles erzählen können. Wir wollen euch da auf keinen Fall mit reinziehen“, verteidigte mich mein Liebster.

„Wir stecken viel tiefer drin, als ihr ahnt. Ich wiederhole mich also kein zweites Mal“, zischte Keyl und kam einen Schritt auf mich zu. Ich baute mich ein wenig vor ihm auf, schließlich war ich nicht nur älter, sondern auch einen Kopf größer als dieser Wicht.

„Wenn du mir sagst, was es mit diesem Teil hier auf sich hat, dann erzähle ich dir, wo ich dieses Exemplar her habe“, bot ich ihm an.

„Da ich mich klar und deutlich ausgedrückt hatte, scheint ihr mich einfach nur zu unterschätzen. Leider ist das ein sehr großer Fehler!“

Kaum hatte Keyl ausgesprochen, wurde ich schon von ihm am Hemdkragen gepackt und herumgeschleudert, sodass ich schmerzhaft an einen der Zaunpfähle landete. Keyls Hände hatten sich fest um den Kragen geschlossen und seine Fäuste bohrten sich in meinen Hals, sodass ich kaum noch Luft bekam.

„Sag mir wo Cathrina ist, sofort!“, zischte mein Gegner aggressiv. Wo nahm dieser Winzling nur seine Kraft her?

„Schatz, hör auf! Er wird dir deine Fragen beantworten, auch ohne dass du ihn erwürgst“, mischte sich Alex ein und legte beschwichtigend seine Hände auf Keyls Arme.

„Jetzt schon“, meinte dieser kalt und ließ mich los.

Diese vor Wut verzerrte Grimasse passte irgendwie überhaupt nicht zu Keyls fast engelhaftem Gesicht, mit den hellbraunen, fast sandfarben wirkenden Augen. Lys war zu mir gelaufen und stand mit seinem Ex neben mir.

„Ich hatte deinen Macker ruhiger in Erinnerung“, spottete mein Schatz und fixierte wütend den vor uns auf- und ablaufenden Jungen.

„Hör auf, Lys. Dieses Armband bedeutet viel mehr als ihr denkt“, sagte Alex.

„Dann klär uns endlich auf!“, forderte mein Liebster.

„Das können wir nicht. Es ist verboten… geheim.“ Verzweifelt blickten sich die beiden Freunde an.

„Es gehört meiner Cousine.“ Keyl war zu uns getreten und hatte sich soweit wieder beruhigt. Nur noch seinen Augen war die Nervosität anzusehen. „Sie ist sowas wie ne Agentin.“

„Schatz!“, unterbrach ihn Alex. „Deine Mom bringt uns um, wenn sie erfährt, dass wir Außenstehenden was erzählt haben“, gab er zu bedenken.

„Ich weiß. Aber ich muss Cathrina finden. Sie ist meine Cousine!“ Um Bestätigung flehend blickte Keyl seinen Freund an und nahm dessen Hand. Dann nickte dieser.

„Dieses Armband ist viel mehr als nur Zierde für das Handgelenk“, begann der Junge zu erklären.

Er schob sein Hosenbein ein Stück hoch und holte ein kleines, schmales Messer hervor, das in einer Hülle am Knöchel befestigt war. Winzige Edelsteine zierten das Heft und funkelten bedrohlich in der Sonne. Mit der Spitze der Klinge hebelte Keyl das Tribal aus dem Leder und zum Vorschein kam winzige Minielektronik.

„Also ist es doch sowas wie ein Pulsmesser?“, entwich es mir erstaunt, worauf der Junge vor mir schmunzelte.

„Dieses Schmuckstück kann mehr als du denkst. Aber du hast nicht ganz Unrecht. Neben einem Peilsender ist auch sowas ähnliches mit integriert. Dieses Exemplar hier ist total durchgeschmort. Seht ihr. Alles sieht wie rußgeschwärzt aus. Als hätte man meiner Cousine einen Elektroschocker direkt ans Handgelenk gepresst. Das kann nur jemand getan haben, der über dieses Erkennungszeichen Bescheid wusste. Einer aus den eigenen Reihen.“ Keyls Blick verdunkelte sich und starrte angestrengt auf das Schmuckstück.

„Der Meinung war auch Cat“, sagte ich. „Wir waren im kleinen Opernhaus, weil Lys dort am Piano aufgetreten ist. Kurz nach der Vorführung kam Cat durch den Hintereingang gestolpert und faselte, dass die Polizei bestochen worden war und auch von einem Verräter.“

Keyl wurde immer blasser.

„So ernst ist es schon…“, sagte er leise, wie zu sich selbst. Dann sah er zu mir auf. „Wo ist ihr Schützling? Das Mädchen mit den schwarzen Haaren und roten Strähnen?“

„Micha ist bei Cat. Ihr geht es gut“, antwortete Lys.

„Und Cathrina? Was ist mit ihr? Freiwillig würde sie ihr Armband nie ablegen.“

„Sie wurde angeschossen.“ Ich berichtete knapp, was geschehen war, als die junge Frau hinter der Bühne auftauchte, was sie erzählt hatte und wo wir sie hinbrachten.

„Bitte bringt mich zu ihr. Wir haben eigene Krankenhäuser. Bestimmt konnte deine Freundin sie vorerst versorgen, aber Cathrina braucht professionelle Hilfe.“

Lys vertraute Alex und dieser wiederum Keyl. Also musste ich ihm wohl Glauben schenken. Ich verriet ihm die Adresse von Maike, wonach der Junge sofort sein Handy zückte. Er war ein paar Schritte von uns weggelaufen, weswegen ich nicht hören konnte, was er sagte. Dann kam er wieder näher.

„Ich gehe zu ihr, ob dir das passt oder nicht!“, schrie Keyl fast ins Handy und legte wutentbrannt auf.

„Flo war nicht begeistert, oder?“, grinste Alex.

„Wenn der denkt, dass ich mich aus allem raushalten werde, still bleibe und Däumchen drehe, während meine Cousine Hilfe braucht, hat er sich aber ganz schön tief geschnitten!“

„Er ist nur besorgt um deine Sicherheit.“

„Manchmal geht mir das aber tierisch auf den Wecker.“

„Ich weiß.“ Beruhigend nahm Alex seinen Freund in den Arm und küsste ihn auf die Stirn. Dann sah er auffordernd zu uns. „Gehen wir?“

Lys und ich nickten und wollten gerade losmarschieren, als Keyl das Lederband von Alex und sich löste und in den nächsten Abfalleimer warf.

„Wenn es wirklich einen Verräter gibt, kann er uns darüber prima aufspüren. Michas Armband war nicht einfach so kaputt gegangen. Das passiert nicht so schnell. Cathrina hat es auf Garantie manipuliert, wenn nicht sogar ihr eigenes gleich mit“, erklärte Keyl, während wir auf dem Weg zu Maike waren. „Flo weiß, wo wir sind. Das reicht.“

Erst eine gute dreiviertel Stunde später standen wir vor der Wohnungstür meiner Freundin.

„Da seid ihr ja endlich wieder. Ich habe mir schon Sorgen gemacht“, tadelte sie, machte ihre Tür aber nicht weiter auf, als sie die anderen zwei Jungs hinter mir entdeckte.

„Das sind Freunde von Cat. Sie werden uns helfen“, beruhigte ich sie.

„Kann ich sonst noch mit jemandem Fremden rechnen, der unerwartet vor meiner Tür steht? Versteh mich nicht falsch, aber langsam macht mich das echt nervös.“

„Erstmal nicht“, antwortete ich, worauf Maike uns endlich in ihre Wohnung ließ.

Wir schritten durch den länglichen Gang, und erst jetzt hatte ich die Gelegenheit, mich gründlicher umzusehen. Bisher hatte mich meine Freundin noch nie zu sich mit eingeladen. Meist trafen wir uns in unserem Lieblingscafe oder an der Uni. Zwar waren wir gute Freunde, aber ein DVD-Abend bei einem von uns zu Hause stand bisher noch nie zur Diskussion.

Allein ihr Flur war recht breit, und da sie ein extra Esszimmer hatte, schloss ich mindestens auf zwei weitere Zimmer – also Stube und eines zum Schlafen. Welcher Student konnte sich so eine große Wohnung leisten? Genügend Geld hatte sie doch bisher noch nie, und viel Lohn warf ihr kleiner Nebenjob als Empfangsdame auch wieder nicht ab. Von reichen Eltern oder einem Erbe hatte Maike bisher nichts erzählt.

Gedankenverloren betrat ich mit den anderen das Esszimmer. Im gleichen Moment fiel Keyl neben mir bewusstlos zu Boden. Verwirrt drehte ich mich um und sah gerade noch mit an, wie Maike mit etwas in Alex’ Nacken hieb, der sich besorgt über seinen Freund gebeugt hatte. Ich war viel zu perplex um zu reagieren. Doch was ich nicht tat, tat mein Schatz umso mehr. Brüllend warf sich Lys auf meine Freundin, aber diese wich geschickt aus und verpasste ihm einen derben Faustschlag ins Gesicht. Noch ehe sich mein Liebster wieder fangen konnte, hielt Maike ihm den Lauf einer Pistole zwischen die Augen.

„Schluss mit den Spielchen. Schafft die Beiden hier rüber. Na los!“, befahl sie uns und deutete mit ihrer Waffe in eine Ecke des Zimmers. In dieser saß leider schon Micha mit vom Weinen verquollenen Augen, gefesselt und geknebelt. Maike warf uns stärkere Kabelstrapse zu, und unter ihrer Anweisung banden wir Hände und Füße unserer Freunde zusammen.

„Wieso machst du das?“, fragte ich verbittert, während ich Lys Beine fixierte.

„Wegen des Geldes, wieso auch sonst. Dachtest du wirklich, ich sei nur eine einfache Medizinstudentin? Meine Auftraggeber haben mich in diese Stadt geschickt, um eine unerwünschte Zeugin aus dem Weg zu räumen. Leider stand sie unter dem Schutz der Organisation, also musste ich zuerst ihren Aufpasser ausschalten um an sie ran zu kommen. Aber dass ihr sie mir lebendig auf dem silbernen Tablett liefert und dann noch den Hoheprinzen persönlich… Ha, mit so viel Erfolg hatte ich nicht gerechnet. Tot ist auf ihre Köpfe schon eine Menge Geld ausgesetzt, aber lebendig…“

Wild lachte meine Freundin auf und ich erkannte sie kaum wieder. Sie war doch sonst immer so lieb und friedlich gewesen. Jetzt glich sie eher einer verrückt gewordenen Furie.

„Lass uns gehen, Maike. Noch ist es nicht zu spät.“

„Komm, hör auf, Thilo. Jetzt fehlt nur noch, dass du mir sagst, ihr würdet mich nicht verraten und gehen lassen. Denkst du wirklich, ich sei so naiv? Außerdem ist dir nicht im Geringsten bewusst, wie viel diese drei hier wert sind. Setz dich neben dein Schätzchen und binde deine Beine fest. Na los.“

Traurig tat ich wie geheißen und kaum dass meine Füße mit den Kabelstrapsen fixiert waren und ich wieder zu Maike aufschauen wollte, traf mich etwas Hartes im Genick und ich fiel in dunkle Schwärze. Keine Ahnung wie lange ich ohnmächtig war, aber irgendwann erwachte ich durch ein sanftes Rütteln an meiner Schulter.

„Thilo? Schatz? Bitte wach wieder auf!“, hörte ich die besorgte Stimme meines Liebsten.

Stöhnend zwang ich mich, meine Augen zu öffnen. Wir saßen alle aneinandergereiht auf dem Boden, links vor uns stand der lange Esstisch. Keyl wurde gerade wie ich von seinem Schatz geweckt und zappelte genauso ungelenk wie meiner einer rum, als er merkte, dass er gefesselt war. ‚Hm, wieso hatte Lys Alex eher geweckt als mich? Wie lange hatten die Beiden ihre Freunde bewusstlos gelassen um miteinander ungestört sein zu können? Wurde ich jetzt komplett paranoid oder war meine Eifersucht begründet?‘

„Thilo? Alles klar bei dir?“, holte mich mein Schatz aus meinen Gedanken und ließ mich zu ihm aufschauen. Ich sah wohl so ziemlich verwirrt aus, denn Lys blickte mich mitleidig an und rückte so weit es ging an mich ran, küsste meine Wange, Nase und Mund und schmiegte dann sein Gesicht an meinen Hals.

„Wir kommen hier wieder raus. Das schaffen wir, keine Sorge“, redete er sanft auf mich ein. Allerdings machte ich mir weniger einen Kopf, ob wir hier unversehrt wieder rauskommen werden, als um meine Beziehung. ‚Scheiße, sowas hatte hier jetzt echt keinen Platz. Später ist noch genug Zeit dafür.‘ Wenige Sekunden später stand Keyl vor mir und befreite meinen Schatz und mich von unseren Fesseln.

„Deine Freundin ist ein Stümper. Sie hat uns ohne uns zu durchsuchen einfach allein gelassen“, spottete er.

„Jetzt weißt du, warum du deinen Dolch immer bei dir führen sollst“, hörten wir alle eine schwache Stimme.

„Cat!“, kam es aus Keyls und Michas Mund gleichzeitig und beide rannten sie zu ihrer Freundin.

„Wie geht es dir? Hast du Schmerzen? Kannst du aufstehen?“ Beide überrumpelten sie mit ihren Fragen, worauf die junge Frau nur stockend antwortete. Sie hatte sich etwas aufgerichtet, das Bettlaken, welches als Decke diente, dicht an ihren nackten Körper gepresst.

„Geht so, glaube nicht, bin mir nicht sicher.“

„Was hat sie dir nur angetan“, meinte Keyl bitter und umarmte seine Cousine.

„Ob ihr es glaubt oder nicht, sie hat mich gerettet. Hätte sie nicht die entsprechenden Maßnahmen ergriffen, wäre ich jetzt tot. Aber ich sollte mir nicht so viel drauf einbilden, schließlich tat sie das nur wegen des Geldes.“

„Kennst du sie?“, wollte Alex wissen.

„Nein. Kurz nachdem die Beiden hier weg waren, wachte ich auf. Micha hatte sie betäubt, und für mich bereitete sie gerade eine Spritze vor. Wir unterhielten uns etwas. Die Kleine war sich ihrer ganz schön sicher. Sie ist nur eine Gehilfin, zuständig für die Gebrechen ihrer Leute. Nebenher spürt sie Leute auf Anweisung auf, sowas wie bei uns der Sucher. Ihre Auftraggeber werden jeden Augenblick hier auftauchen. Wir müssen sofort hier weg“, erklärte Cat uns und versuchte aufzustehen. Doch ihre Beine gaben nach und sie wäre fast zu Boden gefallen, hätte ich sie nicht aufgefangen. Ich wickelte das Betttuch um ihren schlanken Leib und nahm sie dann auf meine Arme.

„Danke“, hauchte sie schwach, worauf ich nur müde lächelte.

„Okay, kommen wir zur Sache. Alex, du bleibst bei Cat und Thilo. Lys, kümmere dich um Micha. Ich werde mal draußen die Gegend abchecken“, befahl Keyl herrisch, drehte das Messer einmal in der Hand und machte sich dann an dem Türschloss zu schaffen.

Doch noch ehe ich fragen konnte, was er genau vorhatte, bewegte sich die Türklinke von außen. Der Junge schlich ein paar Schritte zurück und bedeutete uns mit ein paar hastigen Bewegungen in Deckung zu gehen. Nur Alex blieb unaufgefordert bei ihm vorne, schnappte sich leise einen Stuhl und postierte sich hinter der Tür. Mit einem Knarren ging diese langsam auf und noch ehe der Mensch, der da gerade rein kam wusste, was ihm geschah, hatte Keyl ihn am Kragen gepackt und mit voller Wucht nach vorne auf den Boden geworfen.

Leider reagierte der Neuankömmling ausgesprochen schnell, rollte sich ab und riss, kaum dass er wieder stand, Alex den Stuhl aus der Hand. Es war einfach Wahnsinn, wie schnell dieser Typ war. Man sah nur wehendes, schwarzes Haar und einen langen Mantel, mehr nicht. Ehe die beiden Jungs begriffen, was passierte, landete eine schallende Ohrfeige auf ihre Wangen.

„Flo?“ Micha war aufgestanden und ging langsam auf den großen Kerl zu. Als dieser seinen Namen hörte und sein Gesicht zu uns drehte, verschlug es mir die Sprache. Solch tiefe, dunkelgrün leuchtende Augen hatte ich bisher noch nie gesehen.

„Michaela.“

„Flo!“ Vor Erleichterung weinend lief das Mädchen auf ihn zu und umklammerte ihn schluchzend. Er hingegen tat nichts. Außer dass er sie festhielt, sagte er kein tröstendes Wort.

„Florian.“ Cat begann sich in meinen Armen zu regen, was das Grünauge veranlasste, zu mir zu blicken. Kurz drehte er sich zu den beiden Jungs neben sich.

„Wir sprechen später darüber“, meinte er kalt, ließ die Kleine sanft los und kam auf mich zu. Ich sah noch, wie Keyl und Alex sich ängstlich anschauten und schwer schluckten, dann kniete sich der junge Mann vor mich hin und lächelte Cat liebevoll an.

„Du kleine Närrin musstest auch wieder alles auf eigene Faust ganz alleine durchziehen“, ertönte seine atemberaubende Stimme.

„Du kennst mich doch.“

Flo schüttelte nur sacht mit seinem Kopf, streichelte ihr durchs Haar, beugte sich dann hinab und hauchte ihr einen Kuss auf die Lippen. Auf einmal sah er mich abrupt an. Meine Wangen färbten sich spontan in ein zartes rosa. Hatte er etwa meine Gedanken gelesen, dass ich mir wünschte, an Cats Stelle zu sein?

„Kannst du sie bis runter tragen?“, fragte er mich sanft.

„Ja… ich denke schon.“ Gott, was blieb mir auch sonst für eine Antwort übrig bei diesem Blick.

„Gut. Dann komm.“ Er half mir auf und wandte sich dann der Tür zu. Durch diese schritt gerade ein weiterer Typ, diesmal mit hellbraunen Haaren.

„Der Rest der Wohnung ist gesichert. Wir sollten machen, dass wir hier wegkommen“, meinte dieser und steckte eine Pistole wieder in den Halfter. Dann sah er Alex und Keyl dicht beieinander stehen. Er ging zu ihnen und sah sich ihre Gesichter genauer an.

„Das hätte echt nicht sein müssen“, meinte er dann und sah strafend zu Flo.

„Das brauchen wir hier jetzt nicht zu diskutieren, Chris“, sagte der Angesprochene schnippisch und lief zur Tür. Das Braunhaar verzog nur seinen Mund und schüttelte den Kopf.

„Gut. Ich geh vor und sichere das Treppenhaus, falls sie kommen. Keyl, Alex, ihr folgt mir in etwas Abstand, danach kommt Micha mit Lysander. Denen folgen dann Cat und du“, verkündete Flo und wartete zum Schluss mein Nicken ab. „Du deckst uns den Rücken, Chris. Soweit für alle verständlich?“ Ein kollektives ‚ja‘ folgte.

Flo hatte Keyl eine zweite Pistole gegeben und Alex nahm den Dolch seines Freundes. Professionell wurde der gesamte Weg bis ins Treppenhaus gesichert und in Gänsemarsch folgten wir alle unserem Vordermann. Doch als wir gerade auf dem Treppenabsatz ankamen, begann es mit einem Schlag um uns herum zu toben. Ich hörte Flo über den Krach hinweg ‚zurück‘ schreien und wir begannen uns wieder Richtung Wohnungstür zu bewegen.

Aber nun wurden wir nicht nur aus der unteren, sondern auch aus der oberen Etage angegriffen. Chris stieß mich grob beiseite an die Wand, außer Reichweite der wild umher fliegenden Kugeln. Micha kreischte wie verrückt und klammerte sich wimmernd an Lys, der nur noch mit großer Mühe eine Panikattacke unterdrücken konnte. Keyl, Flo und Chris versuchten uns so gut wie möglich zu verteidigen, selbst Alex wehrte jeden Typen ab, der um die drei herum kam, aber dennoch saßen wir in der Falle. Wir standen mitten auf einer Treppe, und von beiden Seiten wurden wir bedrängt. Scheiße, ich glaube, ich hatte noch nie so viel Angst in meinem Leben.

Mit einmal begann sich alles zuzuspitzen. Drei Leute drangen gleichzeitig auf Alex ein, der sich einen Schlag nach dem anderen einfing. Vor Wut brüllend sprang Lys auf und warf sich den Männern entgegen. Doch weder war er besonders stark, noch beherrschte mein Schatz irgendeine Kampfsportart wie die anderen. Ein Angreifer holte nur einmal aus und verpasste ihm einen Faustschlag ins Gesicht, der Lys mit dem Kopf heftig gegen das Geländer prallen ließ. Lys ging bewusstlos zu Boden.

Wie in Zeitlupe sah ich sein Gesicht auf den Treppen aufkommen, sah, wie Blut aus seiner Stirn quoll, sah das widerliche Grinsen des Typen, als hätte er sich eine lästige Fliege vom Hals geschafft. Ich spürte, wie ich aus voller Kehle brüllte, hörte mich aber nur gedämpft, wie alles um mich herum. Ich versuchte aufzustehen, versuchte mich von Cat zu lösen um zu meinen Liebsten zu gelangen. Doch sie und Micha hielten mich wild durcheinanderschreiend auf.

Dann war es mit einem Schlag vorbei. Menschen mit Schutzwesten, schwarzen Wollmasken und schweren Waffen tauchten plötzlich überall auf und umringten uns. Chris hatte sich vor Lys hingekniet, untersuchte seine Wunden und maß den Puls.

„Er lebt.“

Tränen der Erleichterung liefen meine Wangen hinab. Ich war genauso fertig wie alle aussahen. Um uns herum könnte man glauben, hier wären gleich mehrere Splittergranaten hochgegangen. Alle waren wir über und über mit Staub bedeckt von den Wänden. Alex hatte es heftig erwischt. Er blutete aus Lippe und Nase, und seine Augen waren geschwollen, als hätte ihn jemand als Sandsack benutzt, was wohl auch der Wahrheit entsprach. Chris’, Flos und Keyls Klamotten waren aufgerissen, genau wie deren Haut darunter.

Ich bekam nur dumpf mit, wie mir Cat aus den Händen genommen wurde und Micha mit ihr verschwand. Ich wurde erst wach, als Lys auf einer Trage festgeschnürt wurde und man ihn weg bringen wollte. Wie von der Tarantel gebissen sprang ich auf und ging auf die Leute los. Lys gehörte zu mir. Keiner durfte ihn mir einfach so wegnehmen! Man zerrte mich an den Armen zur Seite und irgend so ein Arzt jagte mir eine Spritze in die Vene. Ich hörte nur noch jemanden von einem Schock reden, dann wurde alles schwarz vor meinen Augen.

Irgendwann später wachte ich wieder auf. Ein Rufen hatte mich aus der Dunkelheit geholt, doch es galt nicht mir. Ich hielt meine Augen geschlossen und lauschte dem leisen Gespräch zweier Frauenstimmen.

„Du bist ja wieder auf den Beinen.“

„Klar. Du weißt, Micha, mich bekommt man nicht so schnell unter.“

„Ich freu mich so.“

„Ich mich auch. Wie geht es den dreien hier?“

„Soweit ganz gut. Thilo hat eine Beruhigungsspritze bekommen. Er stand ganz schön unter Schock. Lys hatte nur eine leichte Gehirnerschütterung. Die Platzwunde an seinem Kopf wurde genäht. Beide müssten eigentlich laut Arzt langsam wieder zu sich kommen. Und Alex’ Nase ist gebrochen, zwei, drei Rippen geprellt, aber er ist stark. Die ganze Zeit schon sitzt er vor Lys’ Bett. Er macht sich total viele Vorwürfe, dass er an allem Schuld sei, dabei bin ich es doch.“

„Hey kleines, nicht weinen. Niemand von euch trägt die Schuld. Nur diese Verbrecher, die deine Eltern auf dem Gewissen haben, sind die Übeltäter. Und ich schwör dir, Micha, ich werde dafür sorgen, dass sie eine Ewigkeit in der Hölle schmoren.“

„Danke, Cat.“

„Nicht für das, Kleines, nicht für das.“

„Wo ist Keyl?“

„Der darf sich gerade eine Standpauke abholen, genau wie Flo und Chris. Aber ihnen geht es gut.“

„Das ist schön zu hören, also dass es ihnen gut geht.“

„Wenn man Alex so dasitzen sieht, könnte man glatt denken, er wäre mit Lys zusammen und nicht mit Keyl.“

„Stimmt. Die Beiden mögen sich sehr. Ich hoffe, dass Lys mir nicht all zu böse ist. Wegen mir hat er die Party mit den Juroren verpasst.“

„Er braucht keine Party. Der Junge ist so gut genug.“

„Da hast du Recht. Stell dir vor, ihm ist der Sieg total egal. Selbst wenn er gewinnt, will er nicht mal zum Finale in die Schweiz fahren. Er will lieber hier bleiben, bei ihm.“

„Du meinst, er lässt lieber sein Talent hier verkümmern und verpasst die Chance seines Lebens? Aus Liebe? Ich wusste gar nicht, dass die Sache so ernst ist.“

„Das ahnte keiner.“

„Wow. So was hätte ich dem kleinen Giftzwerg nie zugetraut. Und du meinst, das geht gut?“

„Keine Ahnung.“

„Naja, wir werden sehen. Komm Kleines, lass uns etwas essen gehen. Nicht, dass wir die Jungs noch wecken.“

„Okay, Cat.“

Ich hörte, wie beide Frauen das Zimmer verließen und wollte mich gerade umdrehen um weiter zu schlafen, als plötzlich eine Welle von Bildern wie eine Sintflut über mich schwappte und mich mitriss. Ich sah Kugeln dicht neben meinen Kopf einschlagen, wie der feine Putz der Wand in meine Augen stieb und aufbrannte. Sah meinen Schatz brüllen vor Wut nach vorn stürmen, sah, wie er heftig getroffen wurde und zu Boden ging.

Von Angst erfüllt riss ich meine Augen auf und mein Oberkörper schnellte nach oben. Wild atmend versuchte ich diese schrecklichen Bilder aus meinen Kopf zu verbannen, aber es gelang mir nicht. Ich wäre fast an einem Herzinfarkt gestorben, als sich jemand in meiner Nähe regte. Neben mir saß ein Junge auf einem Stuhl, dessen Kopf auf ein anderes Bett niedergesunken war. Er murmelte irgendwas, kuschelte sich in seine Arme, die auf der Matratze lagen, und schlief weiter. Dann erinnerte ich mich wieder an das Gespräch zwischen den Frauen.

Meine Vermutungen waren also richtig gewesen. Lys liebte Alex noch immer, und das sogar so sehr, dass er seine Karriere für ihn aufgeben würde. Ich war nur der Trostpreis, das Alibi, damit Keyl nicht stutzig wurde. Wie konnte ich auch nur so blöd sein? Wie konnte ich mich von einem siebzehnjährigen Jungen so einwickeln lassen? Tränen kullerten meine Wangen hinab. Wieso war das alles nur passiert?

Hilfesuchend schaute ich mich um, fand aber nur ein paar Sachen rechts von mir auf einen Stuhl liegend. Mit wackligen Beinen stand ich auf, riss mir den Tropf vom Arm und kletterte in die schwarzen Sachen. Ich taumelte zur Tür und sah ein letztes Mal zu Lys hinüber. Er lag friedlich schlafend auf dem Bett und sah einfach nur atemberaubend süß aus. Mein Herz krampfte sich schmerzhaft in meiner Brust zusammen. Hektisch wischte ich mir meine Tränen aus dem Gesicht, drehte mich um und verließ das Zimmer.

Ich blickte nicht groß um mich, folgte nur den grünen Schildern, die mir den Ausgang wiesen. Fast alle liefen hier in den gleichen schwarzen Sachen umher, aber mir schenkte kaum jemand Beachtung, was wohl daran lang, dass ich dieselben Klamotten anhatte. Wankend stieg ich ein paar Treppen hinab, ging durch einige Flure und trat dann ins Freie. Ich schien mich mitten in der Stadt zu befinden.

‚Seit wann gab es denn hier ein Krankenhaus? Sollte mich das jetzt eigentlich noch wundern? Gott war mir schlecht‘

Um mich herum drehte sich alles, und nur schwer schaffte ich es, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Weder auf die Ampel oder Autos achtend, überquerte ich halb blind die Straße, was mir einige Verwünschungen und lautes Gehupe einbrachte. Ich wankte gerade um eine Ecke, da lief ich jemandem voll in die Arme.

„Oh, entschuldige. Ich war total in Gedanken“, meinte eine hübsche, junge Frau mit schwarzen, glatten langen Haaren.

„Kein Thema“, nuschelte ich und wollte mich eben an ihr vorbei schieben, als meine Beine nachgaben.

„Vorsicht“, sagte sie erschrocken und fing mich auf. „Meine Güte, du siehst gar nicht gut aus. Soll ich dich zu einem Arzt bringen?“

„Danke, aber nein. Es geht schon irgendwie. Bin nur noch etwas schwach, mehr nicht.“

„Ich lass dich auf keinen Fall allein auf der Straße rumlaufen. Komm, meine Wohnung ist nur einen Block entfernt. Da kannst du dich kurz ausruhen.“

Keine Kraft mehr um zu widersprechen, ließ ich mich in eine kleine Zwei-Raum-Wohnung abführen. Meine Wohltäterin stellte sich als Melanie vor und verfrachtete mich auf ihre Couch im Wohnzimmer, wo ich fast sofort wieder einschlief. Die Drogen, die mir zur Beruhigung verpasst worden waren, hauten voll rein. Am späten Abend wachte ich wieder auf. Es war dunkel draußen und das Zimmer nur schwach beleuchtet.

Mel saß auf einem Sessel, legte ihr Buch beiseite und begrüßte mich freundlich, als sie sah, dass ich aufgewacht war. Sie war die ganze Zeit sehr nett zu mir. Wir redeten viel miteinander, wobei ich aber das letzte halbe Jahr vorsätzlich vermied. Melanie war in meinem Alter und studierte Biologie an der Uni. Ein paar Male hatte sie mich dort schon gesehen, was der einzige Grund war, warum sie mich zu sich in die Wohnung gelassen hatte. Ich verbrachte noch eineinhalb Tage bei ihr, bis ich mich wieder nach Hause traute. Lys wollte ich einfach noch nicht begegnen.

Beim Betreuer für das Wohnheim hatte man mir meine Sachen hinterlassen und eine Nachricht. Schon auf den ersten Blick sah ich, dass es gar nicht meine richtigen Klamotten waren, sondern komplett neue, die den Alten sehr ähnelten. Selbst ein ganzes Handy war mit dabei. Ich schaltete dies ein und empfing gleich mehrere SMS. Alle waren sie von Lys. Ich betätigte wieder den Ausknopf, schälte mich aus diesen Sachen und stieg unter die Dusche. Dort, wo mich keiner hören, keiner sehen konnte, wo ich ganz allein für mich war, brachen die Dämme. Heulend rutschte ich die nassen Fliesen hinab und kauerte mich laut schluchzend auf den Boden. Wie im Wahn wiegte ich mich immer hin und her und spürte nicht einen einzigen warmen Tropfen des Duschwassers auf meiner Haut.

Zwei weitere Tage verkroch ich mich auf meinem Zimmer, bis am späten Nachmittag jemand an meiner Tür klopfte. Augenblicklich blieb mein Herz stehen. Was, wenn Lysander plötzlich hier auftauchte?

„Thilo? Ich bin’s, Mel. Darf ich reinkommen?“

Erleichtert atmete ich aus.

„Klar“, rief ich und schwupps stand sie schon vor meinem Bett.

„Ich hab dich nicht an der Uni gesehen und mir Sorgen gemacht“, begrüßte sie mich.

„Das ist lieb von dir.“

„So bin ich halt“, lächelte die Freundin.

„Du, ich hab dich versucht auf dem Handy zu erreichen, hatte aber nur die Mailbox ständig dran.“

„Ja, das Ding hatte ich noch ausgeschaltet“, entschuldigte ich mich, kramte den kleinen Kommunikationshelfer hervor und schaltete ihn ein. Wieder überschlugen sich die Nachrichten.

„Wow, wie lange hattest du es denn aus?“, lachte Mel über die vielen SMS, welche laut fiepend angekündigt wurden.

„Ein paar Tage. Es geht nur um ein Projekt, an dem ich noch mit jemand anderem arbeite. Ich will da nicht mehr mitmachen. Ist mir zu doof geworden.“

„Hast du ihm das denn schon gesagt?“

„Hä?“

„Also wenn du schon keinen Bock mehr auf das Gemeinschaftsprojekt hast, dann musst du ihm wenigstens absagen. Das ist nur fair für beide Seiten.“

Ich schaute Mel total entgeistert an, als wäre sie ein Alien. Denn obwohl sie absolut nicht den blassesten Schimmer von allem hatte, sagte sie die Wahrheit. Sie hatte so recht. Ich sollte wirklich aufhören mich zu verstecken und reinen Tisch machen. Nur ob ich mich das auch getraute? Meine Freundin musste wohl den Zwiespalt in mir gemerkt haben.

„Wenn du magst, komme ich mit. So als moralische Unterstützung.“

„Das würdest du echt tun?“

„Klar, wieso nicht.“

Diese Frau war echt einmalig. Sie kannte mich eigentlich überhaupt nicht und half mir trotzdem. Okay, ich wollte sie vielleicht nicht ganz bis mit zu Lys schleppen, aber vor dem Haus warten würde mir schon genug Mut geben. Ich kontrollierte schnell die SMS. In einer stand, wo ich ihn heute den ganzen Tag antreffen würde, also zog ich mich um und lief mit Mel los. Vor den Stufen des kleinen Opernhauses bekam ich allerdings Muffensausen.

„Komm schon. Du schaffst das“, munterte mich meine Freundin auf und gemeinsam betraten wir das Gebäude.

Schon von weitem hörte ich die melodischen Klänge eines Klaviers und eine zarte Singstimme. Ich folgte diesen Tönen und musste bitter schlucken, als ich feststellte, dass sie genau aus jenem Raum kamen, wo ich Lysander das erste Mal begegnet war. Mel bat ich draußen zu warten, dann atmete ich noch einmal tief ein und betrat den kleinen Saal. Micha stand neben dem Klavier und sang, während ihr Bandkollege spielte. Doch ihre Stimme setzte sofort aus, als sie mich sah. Irritiert hörte Lys auf und folgte ihrem Blick.

„Thilo“, hauchte er ungläubig. „Bei den Göttern, Thilo!“ Der Kleine sprang auf, hüpfte die Bühne hinunter und lief freudestrahlend auf mich zu. Ich bekam noch nicht mal ein Lächeln zu Stande, wehrte ihn nur ab und ging ein paar Schritte zurück, als er mir um den Hals fallen wollte. Verwirrt schaute er zu mir auf.

„Die letzten Tage hatte ich genug Zeit zum Nachdenken. Ich kann so nicht mehr weiter machen wie bisher, nicht nachdem, was ich gesehen und gehört habe. Wir sind zu unterschiedlich, Lysander.“

„Nein, sag das nicht. Wir haben doch alles bisher gut gemeistert, zusammen“, ängstlich begann seine Stimme zu zittern, was mir in der Seele weh tat. Am liebsten hätte ich ihn einfach nur in meine Arme geschlossen und ganz fest an mich gedrückt. Aber ich riss mich zusammen. Ich wollte und konnte nicht mit einer Lüge leben. Zu wissen, dass er mich eigentlich nicht wirklich liebte, ertrug ich nicht.

„Wir haben uns gegenseitig nur was vorgemacht.“

„Nein, das ist nicht wahr. Glaub ja nicht, dass du so einfach davon kommst. Ich geb dich nicht auf und auch nie wieder her. Vergiss es Thilo.“

„Es ist aus.“

„Nein.“

„Akzeptier doch endlich, dass er keine Lust mehr hat, hm?!“, meinte Mel freundlich, kam näher und hakte sich in meinen rechten Arm ein. Gott, wenn sie wüsste worum es ging, hätte sie auf Garantie andere Worte gewählt.

„Was soll das?“, fragte Lys und deutete ärgerlich auf die Frau neben mir.

„Das ist Melanie. Ich war die letzten Tage bei ihr. Sie ist meine Freundin.“

Als ich das sagte, blickte ich zu ihr und sah ihr überraschtes, aber doch glückliches Lächeln. Das hatte sie sich wohl die ganze Zeit erhofft. Ich fühlte mich einfach nur beschissen. Ich drehte gerade wieder meinen Kopf zu Lysander, als ich gleich wieder Sterne sah. Der Kleine hatte mir mit voller Kraft seine Faust aufs Auge gedrückt.

„Hey, was soll der Scheiß?“, brüllte Mel und hielt mich am Arm fest. Ohne sie wäre ich wohl zu Boden gegangen.

„Eine Woche, Thilo. Ich geb dir genau eine Woche.“

Hasserfüllt trafen mich seine vor Wut blitzenden, türkisfarbenen Augen. Dann drehte er sich um und verschwand hinter der Bühne. Micha schaute mich nur traurig an, schüttelte ihren Kopf und lief dann Lys hinterher. Sollten sie mich doch alle für den Bösen halten, von mir aus. Für mich war es an der Zeit, einen neuen Weg einzuschlagen, einen normalen, ohne verräterische Freunde, ohne wilde Schießereien, ohne Männer…


Seit diesem Tag waren zwei Wochen vergangen. Gelangweilt lag ich an einem Samstag auf meinem Bett und warf einen kleinen Stoffball, der gerne zum Kicken benutzt wurde, in die Luft und fing ihn wieder auf. Das machte ich schon den ganzen Tag. Noch vor einem knappen Monat hatte ich mich nach etwas Ruhe und Zeit für mich gesehnt, jetzt kotzte diese mich nur noch an. Was passiert war? Ehrlich gesagt nicht viel. Außer, dass ich mich die erste Woche jeden Tag mit Mel traf, um mich krampfhaft von der gesetzten Frist abzulenken, war nichts Aufregendes geschehen. Wenn man vom Mittwoch absah.

An diesen Abend schleppte mich meine Freundin auf eine absolut geile Darkwave-Party. Wumpscut und Kiev spielte man auf und ab und ich genoss die coole Musik – leider auch ein paar Toxic Dreams zu viel. Mel hatte sich total schick aufgedonnert und sah in den kurzen, lockerfaltigen Rock und engem Oberteil absolut sexy aus. Ein paar Weingläser ihrerseits später landeten wir in ihrer Wohnung im Bett.

Mit zittrigen Händen hatte ich sie ausgezogen, saugte mit geschlossenen Augen an ihren steifen Nippeln und befingerte sie, was sie stöhnend genoss. Melanie hatte einen genialen Körper: einen süßen Bauch, lange Beine, knackigen Hintern und zwei wohlgeformte, nicht zu große oder zu kleine, feste Brüste, welche ich heftig dabei war zu kneten. Lange dauerte das Vorspiel nicht an. Unter etlichen heißen Küssen presste sie meinen Rücken auf die Matratze, setzte sich auf mich drauf, stülpte mir ein Kondom über und ließ mich in sie eindringen. Rhythmisch begann sie sich zu bewegen und stimmte in mein Stöhnen mit ein. Sekunden später kam ich schon, und nach dem Zittern meiner Freundin zu beurteilen sie wohl auch. Keuchend fiel sie auf mich hinab und küsste meinen Hals.

Ich schlug mir nur meine Hände vor die Augen und begann zu weinen. Irritiert und hilflos versuchte Mel mich zu beruhigen, doch dadurch schluchzte ich nur noch mehr. Ich erkannte was ich war – der letzte Dreck. Wie konnte ich diesen lieben Menschen nur so ausnutzen? Wie konnte ich das Mel nur antun? Heulend stellte ich fest, dass ich nicht viel besser war, als der, den ich versuchte zu vergessen. Die ganzen letzten Tage, die ich mit meiner Freundin verbrachte, all die Küsse die wir austauschten, die Berührungen der heißen Nacht, selbst als ich mit ihr schlief hatte ich nicht an sie gedacht. Noch nicht mal an eine Frau. Die ganze Zeit konnte ich nur an einen denken. Lysander.

Mit seinen Lippen hatte er mich gebrandmarkt, mit seinen Worten eingelullt, mit seinem Körper mich abhängig gemacht. Nie wieder könnte ich jemand anderes küssen, berühren oder mit jemandem schlafen, ohne ihn vor Augen zu haben. Ich liebte ihn mehr als mir lieb war. In derselben Nacht gestand ich Melanie alles. Zuerst war sie fix und fertig, glaubte mir kein Wort. Doch nachdem sie sich beruhigt und geduscht hatte, nahm sie mich einfach in den Arm.

Selbst danach trafen wir uns noch regelmäßig. Mel versuchte mich abzulenken, und mit ihrer natürlichen, fröhlichen Art schaffte sie das auch recht gut. Ich spürte schon, dass sie noch immer in mich verliebt war und nicht so leicht loslassen konnte. Aber sie versuchte mir eine gute Freundin zu sein, weswegen ich ihr sehr dankbar war.

Wenn ich allerdings mal alleine war, so wie jetzt, holten mich wieder düstere Gedanken ein. Ich zuckte erschrocken zusammen, als es plötzlich an meiner Tür klopfte. Melanie hatte wohl früher auf Arbeit Schluss gemacht, darum rief ich „Herein!“. Doch nicht die junge Frau betrat mein Zimmer, sondern zwei Jungs.

„Alex? Keyl? Was macht ihr denn hier?“, verwundert setzte ich mich auf.

„Die Frage sollte eher sein, was machst DU NOCH hier“, meinte Keyl, langte nach einem Stuhl und setzte sich mit der Rückenlehne zwischen den Beinen drauf.

„Wie meinst du das?“

„So, wie ich’s gesagt habe.“

Wieso sprach der nur in solchen Rätseln?

„Warum läufst du vor dir selbst davon?“, fragte mich Alex ernst. Der Kleine sah ein wenig mitgenommen aus und hatte tiefe, schwarze Ränder unter den Augen, als hätte er nächtelang nicht geschlafen.

„Ich weiß gar nicht was du von mir willst“, antwortete ich verärgert, legte mich wieder hin und begann erneut mit dem kleinen Ball zu spielen. Doch als ich ihn hoch warf, fing Alex diesen auf und schaute auf mich hinab.

„Du weißt genau, was los ist. Wie konntest du Lys nur so hängen lassen? Er hat dich gebraucht!“

„Wieso mich? Du warst doch da. Das reichte ihm, glaub mir.“ Verbittert wollte ich mich umdrehen, aber Alex warf mir den Ball an den Kopf, griff nach meinem Kissen und schlug wie wild damit auf mich ein.

„Du bist so ein Arsch, Thilo. Lys musste ohne dich im Krankenhaus aufwachen, durfte keinen Kontakt zu dir aufnehmen, bis die Organisation dich komplett überprüft hatte, schrieb dir etliche beschissene SMS, auf die du nie geantwortet hast und als du dann endlich bei ihm aufgetaucht bist, schleppst du ne Tussi mit und machst Schluss. Nur weil du Wichser eifersüchtig bist!“

Alex drosch wie wahnsinnig auf mich ein und schrie das halbe Zimmer zusammen, bis Keyl ihn endlich von mir weg ziehen konnte.

„Beruhige dich, Schatz. Komm her.“

Der Junge nahm seinen Freund in die Arme und drückte ihn fest an sich. Dann fixierte er mich mit seinen sandig-braunen Augen.

„Thilo, ich hab dir das schon einmal versucht klar zu machen. Es stimmt, Lys und Alex mögen sich sehr. Sie haben einen Großteil ihres bisherigen Lebens miteinander verbracht. Aber sie lieben sich nicht. Nicht so wie du denkst. Die beiden sind nicht als Partner füreinander geschaffen, sondern lediglich als Freunde. Alex gehört zu mir, und Lys… er gehört zu dir. Auch wenn ich es selbst kaum fasse, dass ich diesen Typen hier in Schutz nehme, aber dieser kleine Giftpilz liebt dich. Nur dich. Weißt du, wie fertig er nach allem war? Du bist aus dem Krankenhaus abgehauen, darum dachte die Organisation, du hättest mit der ganzen Sache was zu tun. Keiner durfte mit dir Kontakt aufnehmen, und Lys wurde rund um die Uhr bewacht. Weißt du, wie viele Male meine Leute ihn aufhalten und einsperren mussten, damit er nicht hierher kommt? Er hätte dich verdammt noch mal gebraucht!“

Bedröppelt hatte ich mich aufgesetzt und starrte verlegen vor mich hin.

„Jetzt ist es eh zu spät. Der Flieger in die Schweiz ist längst weg.“

„Es ist nie zu spät. Komm, steh auf!“, forderte Keyl.

„Er will mich jetzt bestimmt eh nicht mehr sehen.“ Mann, ich wollte überhaupt nicht so weinerlich klingen. Warum mussten diese Typen hier auch auftauchen und mir vor Augen führen, was für ein Idiot ich war? Das wusste ich doch schon längst selbst.

„Hey Thilo. Lys hat bis zur letzten Minute am Flughafen auf dich gewartet. Sabine musste ihn regelrecht ins Flugzeug zerren, damit er endlich einstieg. Wann glaubst du uns endlich?“, bittend sah mich Alex an.

„Das Konzert fängt in zwei Stunden an und außerdem ist er gerade in der Schweiz. Momentan kann ich gar nichts tun“, spielte ich meinen letzten Trumpf aus. Die Jungs mussten das Ganze realistisch betrachten. Sobald Lys gewann, würde er sofort den Vertrag unterschreiben und quer durch die Welt gondeln, weit weg von mir. Und ich hatte absolut keine Möglichkeit ihn davon abzuhalten.

„Du nicht, aber wir. Los, schnapp dir deine Schuhe und steh endlich auf“, befahl Keyl.

„Das hat doch alles keinen Sinn“, sagte ich traurig und versuchte krampfhaft die aufkommenden Tränen zu unterdrücken. Alex kniete sich daraufhin vor mein Bett, nahm mein Gesicht in beide Hände und zwang mich, ihn anzuschauen.

„Liebst du ihn?“, fragte er mich sanft. Ich konnte nicht antworten, sondern nickte nur gequält. Bei der Bewegung löste sich eine Träne aus meinen Augen, die der Kleine zärtlich mit dem Daumen von meiner Wange wischte.

„Dann vertrau uns und komm mit.“

Ohne weitere Widerworte zog ich meine Schuhe an und folgte den Beiden nach unten auf die Straße. Dort wartete Cat vor einem mattschwarzen Van und kam uns lächelnd entgegen, als sie uns sah. Vielleicht einen Meter vor mir blieb sie stehen und musterte meine Wange. Ich wollte schon fragen was sie hat, als ihre flache Hand auch schon schallend in meinem Gesicht landete.

„Die war für deine grenzenlose Dummheit.“

Gleich danach bedeutete sie mir freundlich einzusteigen. Das sollte mal einer verstehen. Nach fünf Minuten Umhergefahre in der Stadt bog die junge Frau auf die Autobahn. Wollten die wirklich mit dem Van in die Schweiz? Zehn Minuten später erkannte ich, wo genau ich hingebracht wurde. Schon von weitem sah ich den großen Flughafen der Stadt. Wieder fragte ich mich, was das bringen sollte. Ich selbst hatte mich doch schon erkundigt, wie ich Lys kurzfristig nachreisen könnte. Von meiner Stadt gab es keinen Direktflug nach Zürich. Entweder landete man in Paris, London oder München zwischen, mit einem Aufenthalt von mindestens einer Stunde oder länger. Dass mussten sie doch wissen. Allerdings bekam ich große Augen, als wir nicht wie normal so üblich ins Parkdeck fuhren, sondern direkt auf die Rollbahn. Dort empfing uns eine kleine Privatmaschine und ein Helfer, der uns entgegen kam.

„Die Maschine ist voll aufgetankt und startbereit“, berichtete dieser, als wir vier ausstiegen. Cat warf ihm den Schlüssel des Wagens zu und bedankte sich.

„Na dann mal los“, sagte sie freudig und stieg die Treppen des Flugzeuges hinauf, ich ihr direkt hinterher.

Drinnen warteten schon zwei weitere Leute, die sich gerade aus einer Umarmung lösten.

„Da seid ihr ja endlich“, motzte Flo.

„Also fliegen kann ich noch nicht“, entgegnete Cat genervt.

„Aber ich. Dann werd ich mal die Motoren anlaufen lassen. Macht’s euch bequem“, sagte Chris freudig, drückte sich an uns vorbei und verschwand im Cockpit.

„Setzt euch und schnallt euch an“, befahl das Grünauge und verschloss, als alle im Flugzeug waren, die Tür.

Dann verdrückte er sich zu seinem Freund. Alles hier war zwar ein wenig eng, aber die hellen Ledersitze mit den breiten Armlehnen sehr bequem. Minuten später heulten die Motoren auf und der Flieger setzte sich in Bewegung. Den ganzen Flug über redeten wir kaum ein Wort. Jeder hing seinen eigenen Gedanken hinterher. Nach knapp zwei Stunden setzte der kleine Flieger zum Sinkflug an und mein Magen verkrampfte sich noch mehr.

Was, wenn ich zu spät käme? Jede Minute, die wir vergeudeten mit dem Ausrollen der Maschine, mit dem Warten auf den Wagen, regte mich unglaublich auf. Nun, da ich einen Entschluss gefasst hatte, da ich es endlich schaffte, mich aufzuraffen, zu meinen Gefühlen zu stehen und seine zu akzeptieren, wollte ich keine Zeit mehr verschwenden. Ich wollte nur noch zu Lys. Hektisch verabschiedeten wir uns von Flo und Chris und stiegen in den Van ein, als dieser endlich auftauchte. Souverän lenkte Cat den Wagen auf die Autobahn, wenig später befanden wir uns schon in der Stadt. Sie meinte, wir bräuchten maximal 16 Minuten bis zur Tonhalle, wo das Konzert im großen Saal stattfinden sollte. Eine viertel Stunde später kamen wir an dem besagten Gebäude an. Cat wollte das Auto woanders parken, also stiegen nur Alex, Keyl und ich aus und betraten fast rennend das Haus.

Das Konzert musste schon angefangen haben, denn im Eingang und Vorraum war kaum einer zu sehen. Und dann hörte ich die Klänge, die mir so vertraut waren. Mit klopfendem Herzen lauschte ich seinem Spiel, von dem ich angezogen wurde wie die Ratten aus Hameln vom Fänger. Ich weiß nicht mehr genau, wie ich den Weg fand, doch plötzlich stand ich im Backstage-Bereich neben der Bühne. Ich konnte genau auf das Podest blicken, auf den riesigen Flügel, der aufgebaut war. Und vor diesem saß Lys.

Ich sah nur seinen Rücken, ab und an die schmalen Finger, welche graziös über die Tasten huschten. Er spielte einmalig. Niemand beachtete mich im Geringsten, da sie alle verzaubert waren von diesem wunderschönen Lied, welches dieser junge Pianist spielte. Nein, ich konnte nicht zu ihm gehen. Er würde alles aufgeben, seine ganze Zukunft, nur für mich. Ich durfte ihm das nicht verbauen. Dafür liebte ich ihn viel zu sehr. Tränen huschten über meine Wange, als ich mich zittrig umdrehte, um zu gehen. Doch plötzlich, mitten im Spiel, hörte Lys auf. Es kam so abrupt und unerwartet, dass ich mich irritiert wieder zu ihm wandte. Die Verwunderungen der Zuschauer konnte ich bis hier her hören, als der Junge aufstand und starr auf das Klavier hinab schaute.

„Es tut mit leid, aber… ich kann nicht weiter spielen. Das alles hat keinen Sinn mehr“, sagte Lys stockend, aber laut genug, dass es auch jeder hörte.

„Junger Mann, wenn sie jetzt aufhören, sind sie disqualifiziert und scheiden aus dem Wettbewerb aus“, schimpfte ein älterer Herr aus den vordersten Reihen.

„Von mir aus“, schnaubte Lysander schwach. „Ich wollte eh komplett aufhören“, setzte er traurig nach, dass es kaum einer mitbekam.

„Das darfst du nicht“, rief ich geschockt und ging ein paar Schritte auf ihn zu. Er konnte seine Chance doch nicht einfach so wegwerfen! Erschrocken drehte der Kleine sich um und sah mich aus großen Augen an. Er sah so müde aus und total fertig. War ich daran etwa Schuld? Aber das war doch keine Absicht. Das Letzte was ich wollte war, ihm weh zu tun.

„Bitte, du darfst nicht aufhören zu spielen. Das Piano und die Musik ist dein Leben. Wirf es nicht so leichtfertig weg.“

„Du bist hier“, flüstere er, als hätten ihn meine letzten Worte gar nicht erreicht.

„Ich… ich wollte mich bei dir entschuldigen. Ich war nur so eifersüchtig, dass ich blind wurde und taub. Dabei liebe ich dich doch über alles.“

Zuerst stockte ich noch, aber dann sprudelte alles nur so aus mir heraus. Lys sah mich weiterhin einfach nur an und rührte sich kein Stück, als könne er nicht glauben, dass ich wirklich vor ihm stand.

„Lysander, ich liebe dich“, sagte ich noch mal und ging wieder zwei Schritte auf ihn zu.

Plötzlich schien er aus der Trance zu erwachen

„Thilo!“

Mit einem Satz war er bei mir und sprang mir um den Hals. Sein ganzer Körper bebte und ich hörte ihn leise schluchzen. Ich drückte ihn nur fest an mich, so fest wie ich konnte. Das Gefühl, ihn in meinen Armen zu halten, meine Nase in seine Haare zu graben und seine Wärme zu spüren, war überwältigend. Wie konnte ich das alles nur tun? Warum habe ich uns beiden nur so wehgetan? Tränen kullerten meine Wangen hinab, als ich leise zu flüstern begann:

„Es tut mir so leid, Lys. Mir tut alles so schrecklich leid. Kannst du mir jemals verzeihen?“

Schniefend sah mein Kleiner zu mir auf. Sein Gesicht war mit Tränen verschmiert, aber seine türkisfarbenen Augen leuchteten heller denn je. Er hob die rechte Hand, strich mir zärtlich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und begann etwas zu lächeln.

„Glaub mir ja nicht, dass du so einfach davon kommst. Aber ich kann eh nicht anders, als dir zu vergeben. Ich liebe dich einfach viel zu sehr.“

Nicht nur ein kleiner Stein, sondern eine ganze Lawine polterte von meinem Herzen, so erleichtert war ich über seine Antwort. Mir war egal, dass wir gerade auf der Bühne standen und über hundert Leute zusahen, wie zwei heulende Schwuppen sich ein Liebesgeständnis machten. Ich beugte mich leicht zu meinem Schatz hinab und endlich berührten sich unsere Lippen. Gott, wie hatte ich das alles vermisst. Waren wir am Anfang noch sehr zaghaft, als hätten wir Angst in einem Tagtraum zu leben und der Gegenüber würde jeden Augenblick verschwinden, wurden wir von Sekunde zu Sekunde immer gieriger und verschlagen uns halb.

Klar hatte ich noch so einige Fragen. Warum zum Beispiel wurde Micha verfolgt, und was hatte das mit ihren Eltern zu tun? Für welche Organisation arbeiteten Cat, Flo und Chris und was verband sie mit Keyl und Alex? Und wie verdammt noch mal konnten die sich einen Privatjet leisten? Aber ich verschob die Antworten auf später. Für mich war nur wichtig, dass ich Lys nicht verloren hatte und dass ich dies auch nie wollte. Selbst wenn er hier gewinnen sollte, ich würde ihm folgen, egal in welche Stadt, egal in welches Land. Ich brauchte seine Nähe, seine Wärme, wie die Luft zum Atmen. Niemals wieder würde ich ihn hergeben oder loslassen. Niemals wieder.

Ende

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