zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Steinernes Herz

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

 

Sie musste mich durch das Küchenfenster gesehen haben, womöglich hatte sie sogar auf mich gewartet, gehofft, dass ich kommen würde. Sie musste gewusst haben, dass ich nirgendwo sonst hätte hingehen können und auf gar keinen Fall allein sein wollte, denn sie öffnete die Tür, noch bevor ich die Gelegenheit hatte anzuklopfen. Ein trauriges Lächeln lag auf ihrem Gesicht, als sie die Arme ausbreitete und sie um mich schlang, sobald ich ihren zierlichen Körper an mich gedrückt hatte.

Eine ganze Weile standen wir so in der offenen Tür, teilten denselben Schmerz, spürten den Verlust eines geliebten Menschen, in dessen Leben kein Platz mehr für uns war. Wir waren die Ausgestoßenen, die Zurückgelassenen, bezahlten den Preis für etwas, das viel größer war als wir, die ihm nur eines geboten hatten: unsere Liebe.

Sie ließ von mir ab und tätschelte liebevoll meinen Arm, dann zog sie mich langsamen Schrittes hinter sich her in die Stube, wo auf der Couch ein aufgeschlagenes Fotoalbum lag, ihre Brille obenauf. Ich wollte sie fragen, ob das nicht zu früh sei, er hatte uns ja erst vor einigen Stunden verlassen, doch diese kurze Zeit fühlte sich bereits wie eine Ewigkeit an, denn die Wahrscheinlichkeit, dass er allzu bald wieder in unser Leben zurückkehren würde, war verschwindend gering, nicht der Rede wert. Und so trugen die wenigen Stunden, seit er diese Stadt – und uns – hinter sich gelassen hatte, das Gewicht der Zukunft mit, jener Zeit, die uns noch bevor stand, die wir von nun an ohne ihn verbringen mussten.

Wie lange würde der Schmerz des Verlassenwerdens anhalten? Bis an unser Lebensende? Ewig, auch noch über unseren Tod hinaus? Oder würden wir uns eines Tages an ein Leben ohne ihn gewöhnt haben? Würde sich nach und nach der Alltag einschleichen und würden unsere Gedanken an ihn von Geldsorgen, einer kaputten Waschmaschine oder dem nächsten Lebensmittelskandal verdrängt werden?

„Er hat sich entschieden“, sagte sie leise und setzte sich auf das Sofa.

Den Blick auf ein Foto geheftet, das noch kein Jahr alt war und Kevin und mich bei einer Wanderung in den Bergen zeigte, nahm ich auf der anderen Seite des Albums Platz. „Er hat sich entschieden“, bestätigte ich ebenso leise.

„Ihr wart ein wunderbares Paar zusammen“, sagte sie nach einer Weile und strich voller Zärtlichkeit über ein anderes Foto, auf dem Kevin mir mit einem Kuss zum Geburtstag gratulierte. „So glücklich seht ihr hier aus. Als würde die ganze Welt euch gehören. Die Ewigkeit … Nichts konnte euch auseinanderbringen.“

„Das dachten wir“, flüsterte ich mit zitternder Stimme. Ich schloss die Augen, in der Hoffnung, die aufkommenden Tränen damit zurückhalten zu können, doch sie verrieten mich und bahnten sich einen Weg die Wangen hinunter. Verschwommen nahm ich wahr, wie sie mich anschaute, ihre Hand auf meine legte, sie drückte, als wollte sie sagen, dass nicht nur ich meinen Liebhaber, sondern auch sie ihren Enkel verloren hatte.

„Träume“, philosophierte sie, „manche von ihnen sind stärker als andere. Sie beeinflussen uns. Lassen uns nicht los, bis wir sie verwirklicht haben. Du hättest mitgehen sollen.“

„Das wollte ich. Ich hätte ihn gern begleitet, hier …“ Hält mich nichts, wollte ich sagen, doch hätten meine Worte sie verletzt. „Aber er wollte nicht. Er wollte einen klaren Schnitt, alles hinter sich lassen. Neu anfangen.“

„Das wünscht sich wohl jeder irgendwann. So geht das aber nicht zu im Leben.“ Sie beugte sich zu mir herüber, wischte mir die Tränen aus dem Gesicht, dann stand sie auf, schlurfte zur Vitrine, wo sie eine Schwarz-weiß-Fotografie herausholte und sich einige Sekunden lang abstützte, um wieder zu Atem zu kommen. „Die Geister der Vergangenheit lassen dich nicht so einfach los“, erklärte sie nachdenklich, als sie sich wieder zu mir setzte und mir das Foto reichte. „Bald vierzig Jahre ist es her, dass Kevins Großvater, Gott hab ihn selig, von uns gegangen ist, da war ich selbst noch keine Vierzig. Eine Witwe mit drei wilden Jungen, die einen Vater dringend nötig gehabt hätten. Und ich selbst einen Mann. Hast du einmal von der süßen Frucht der Zweisamkeit gekostet, willst du sie nie wieder missen. Glaube mir, es hat mir nicht an Versuchen gemangelt. Oder an Verehrern. Doch letzten Endes konnte keiner mit meinem geliebten Ferdinand konkurrieren, sein Geist war zu stark.“

„Kevin lebt ja noch, Oma“, beschwichtigte ich sie. „Er ist nur … weg.“

„Und du nimmst das so hin, dass er dich aus seinem neuen Leben wirft? Ich bin seine Großmutter, mir schuldet er nichts. Aber dir … Du liebst ihn. Das tust du doch, oder?“

„Natürlich. Aber …“

„Glaubst du, er hat aufgehört, dich zu lieben?“, fragte sie unnachgiebig.

Hatte er das nicht? Weshalb sonst wollte er nicht, dass ich ihn begleitete? Warum sonst hatte er mich von sich gestoßen, als ich ihn anflehte, mit ihm gehen zu dürfen?

„Vielleicht“, antwortete ich.

Sie nahm meine Hand in ihre und durchbohrte mich mit ihrem Blick. „Du möchtest also aufgeben? Ihn aufgeben? Euch?“

„Habe ich eine Wahl?“

„Die hat man immer, auch wenn einem selten alle Möglichkeiten gefallen und man das Gefühl hat, das Schicksal oder Gott hätten bereits eine Entscheidung getroffen.“

Ihre Worte trafen mich, gaben sie doch indirekt mir die Schuld. Woran auch immer.

„Nicht Gott!“, bellte ich, überrascht, wie sehr mich ihre Worte getroffen hatten. „Nicht das Schicksal! Die Entscheidung hat Kevin getroffen. Er hat sich entschieden, das hast du selbst gesagt.“

„Jede Entscheidung kann revidiert werden, sie ist erst endgültig, wenn man sie akzeptiert hat“, warf sie mir entgegen.

„Das heißt? Soll ich zu ihm fahren und ihm das Leben zur Hölle machen, bis er nachgibt und wir wieder zusammen sind? Und damit den Funken Liebe, den er vielleicht noch für mich empfindet, zu einem riesigen Ball aus Hass wachsen lassen?“

„Nein, nicht doch“, erwiderte sie. „Zeit. Lass dir Zeit. Euch beiden. Ihm, dich zu vermissen, und dir, um herauszufinden, was du fühlst.“

„Da gibt es nichts herauszufinden“, antwortete ich automatisch.

„Menschen ändern sich, Gefühle ändern sich. Gefühle für einen selbst und für andere auch. Ständig. Immerzu. Nutze die Zeit, um zu sehen, ob du ohne ihn leben kannst. Ist das der Fall, dann … wirst du ihn mit der Zeit vergessen und eines Tages eine neue, stärkere Liebe finden können. Wenn aber nicht, dann folge deinem Herzen und gehe zu ihm, konfrontiere ihn mit seinen Gefühlen für dich, überzeuge ihn. Liebt er dich, dann werdet ihr wieder zusammenfinden.“

„Wenn nicht? Wenn er – wenn wir feststellen, dass er mich tatsächlich nicht mehr liebt?“

Ohne zu antworten, stand sie auf und stellte das Bild ihres Mannes zurück in die Vitrine, dann kehrte sie zurück, nahm das Album, klappte es zu, legte es auf den Tisch. Sie trat auf mich zu, lächelte mich an und presste ihre Lippen auf meine Stirn, bevor sie sich auf die Couch legte, mit dem Kopf auf das Kissen und ihren Füßen auf meinen Beinen und, immer noch lächelnd, die Augenlider schloss.

Stunden mussten vergangen sein, in denen sie friedlich vor sich hin schlummerte und ich mich nicht zu bewegen wagte, immer wieder selbst einnickte, um kurze Zeit später erschrocken hochzufahren, in dem Glauben, der Hoffnung, dem Wunsch, Kevins Abschied sei nur ein Traum gewesen. Als ich wieder einmal hochschreckte, gab sie mir ein paar Sekunden, um mich zu sammeln, dann forderte sie mich wortlos auf, ihr in die Küche zu folgen.

Im Gegensatz zum Rest des Hauses roch es in der Küche selten nach Alter und Salben und dem unsichtbaren Staub eines jahrzehntealten Gemäuers. Hier hatte es schon immer nach Frischgebackenem geduftet, das einen stets dazu verführte, ein Stück zu probieren. Käsekuchen, Apfelkuchen, Schokotorte, egal was, Oma hatte es immer noch drauf, sie schaffte es, dass einem jeder Bissen auf der Zunge zerging, eine Wohltat für den Gaumen – und die Seele.

Vor uns auf dem Tisch lag ein noch leicht dampfender Käsekuchen mit Mandarinen garniert. Sie schenkte mir ein warmes Lächeln, als sie sich mir gegenüber hinsetzte.

„An dem Tag“, begann sie, „an dem Kevin dich zum ersten Mal mit nach Hause gebracht hat, wusste ich sofort, dass du eine Naschkatze bist, wie er. Dass du hier richtig bist, hierher gehörst, zu unserer kleinen Familie. Das hat sich bis heute nicht geändert und das wird es auch nicht, jetzt, da Kevin weggegangen ist. Früher, wenn befreundete Paare auseinander gingen, fand ich es schrecklich, mich für sie oder für ihn entscheiden zu müssen, um nicht als Spielball zu enden, der hin und her geworfen wird und nirgendwo richtig dazugehört. So schwer es mir fällt, dass er nicht mehr bei mir ist, so froh bin ich aber, dass ich nicht zwischen euch wählen muss.“

Von so viel Liebe überwältigt, streckte ich meine Arme über den Tisch und nahm ihre Hände in meine, drückte sie und gab ihr ein unausgesprochenes Versprechen, das Versprechen, bei ihr zu bleiben, sie, meine einzige Familie, nicht fallen zu lassen, wie Kevin es mit uns getan hatte. Ein Versprechen, an das ich mich bis zu ihrem Lebensende hielt.


Etwa ein Jahr später

Trotz der vielen Menschen, die gekommen waren, um Oma die letzte Ehre zu erweisen, war es ein Leichtes, Kevin unter ihnen auszumachen. Seine Statur und sein markantes Gesicht stachen hervor aus der Menge, ebenso wie die dunkle Sonnenbrille, die er aufgesetzt hatte, obwohl die Tränen des mit uns trauernden Himmels unablässig auf uns herabregneten.

Ich hatte ihn angerufen, als die Ärzte sagten, ihre Tage seien gezählt, und erneut, als sie schließlich den Kampf aufgegeben hatte, doch beide Male war es lediglich sein Anrufbeantworter, dem ich mein Herz ausschütten konnte. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er tatsächlich auftauchen würde, doch in diesem Moment war ich mehr als froh, ihn zu sehen, denn es bedeutete, so bildete ich es mir ein, dass sein Herz wohl doch nicht zu Stein erstarrt war, als er sie sich selbst überlassen hatte.

Immer wieder tauchte er in der Menschenmasse unter und wieder auf, ich suchte jedes Mal seinen Blick, doch er wich mir gekonnt aus. Erst am Abend, als die meisten Trauergäste gegangen waren und sich allmählich Stille über das Haus seiner Großmutter legte, als er und ich allein in der großen Stube übrigblieben, nahm er die Brille ab und sah mich endlich an.

Für eine Sekunde fühlte ich mich in die Vergangenheit zurückgeschleudert, zu jenem Abend vor sechs Jahren, als wir uns kennengelernt hatten. Beide hatten wir im gleichen Kinosaal gesessen, hatten uns den gleichen Film angesehen, ohne die Existenz des jeweils anderen auch nur zu erahnen. Doch dann, auf dem Weg hinaus in die kühle Nachtluft des späten Novembers, berührte ich unabsichtlich die Hand meines Vordermanns und ein kurzer elektrischer Schlag traf mich. Uns beide wohl, denn der Mann vor mir drehte sich zu mir um und ich erblickte die schönsten braunen Augen, die ich je gesehen hatte. Irgendetwas an mir muss ihm auf Anhieb gefallen haben, denn wir verabredeten uns für den nächsten Abend – um gemeinsam ins Kino zu gehen …

Ich schüttelte die Erinnerung fort und kehrte zurück in die Gegenwart. Kevin hatte auf einem der vielen leeren Stühle Platz genommen und öffnete mehrmals den Mund, doch die Worte fanden ihren Weg nicht heraus.

„Du hast es geschafft“, sagte ich schließlich, um die unangenehme Stille zwischen uns zu brechen. „Du bist jetzt ein Star.“

„Ja“, schnaubte er, „ich bin ein Star. Der Gedanke …“ Er machte eine längere Pause, bevor er fortfuhr: „Ich wollte es ihr sagen, ich wollte, dass sie auf mich stolz ist, weil ich mir endlich meinen Traum erfüllt habe, aber die Vorstellung, ihr unter die Augen zu treten nach all der Zeit … Ich konnte es nicht ertragen, deswegen habe ich nicht zurückgerufen. Bis ich heute Morgen ins Flugzeug gestiegen bin, war ich hin- und hergerissen, ob ich herkommen sollte. Aber ich musste. Ich musste versuchen, es wiedergutzumachen, zumindest ein kleines bisschen. Wenn schon nicht zu ihren Lebzeiten, so wenigstens jetzt.“

Mit Tränen in den Augen stand er auf und kam auf mich zu. „Ich habe sie verloren und dich von mir gestoßen. Und dich so sehr vermisst. Du kannst es dir nicht vorstellen“, sagte er und ich wollte ihn anschreien, dass ich es nur deswegen nicht wusste, weil er nie auf meine Anrufe, SMS oder Emails reagiert hatte. Hatte er auch nur die leiseste Ahnung, wie sehr ich unter unserer Trennung gelitten hatte?

Doch stattdessen sagte ich stockend: „Sie hat dich geliebt. Dich über alles geliebt. Und sie war stolz auf dich. Sie hat jeden Abend deine Serie geguckt und war jedes Mal begeistert, wenn sie dich in einem Werbespot bewundern durfte. Sie war so stolz auf dich …“

„Sie hat auch dich geliebt“, sagte er und strich mit einem Finger über meine Wange, ein Gefühl, das ich so lange vermisst hatte, das jetzt aber heiß wie ein Feuer brannte, unangenehm und schmerzhaft. „So wie ich dich immer noch liebe“, hauchte er leise.

Ich legte meine Hand auf seine und während sich sein Gesicht meinem näherte, zog ich seine Hand herunter, weil ich den Schmerz nicht länger ertragen konnte. Nicht so sehr, wie du dich selbst liebst, wollte ich entgegnen, doch heraus kam: „Das alles war mal, Kevin. Wir haben uns verändert, uns voneinander entfernt, leben jetzt eigene Leben …“ Ich ließ seine Hand los, trat einen Schritt zurück, brachte etwas Distanz zwischen uns.

„Das muss nicht sein“, versuchte er, mich umzustimmen. „Komm mit mir mit, wir beide, wie früher. Wir schaffen es, da bin ich mir ganz sicher.“

„Jetzt ist es zu spät, viel zu spät. Du wolltest mich aus deinem Leben raus haben, jetzt ist in meinem kein Platz mehr für dich.“

Sprachlos sah er mich an, als aus dem Flur ein schwarz gekleideter Mann auf mich zukam und mir den Mantel entgegenhielt.

„Warten Sie“, wandte Kevin sich an den Mann, dann erneut an mich: „Geh noch nicht, lass uns darüber sprechen. Ich habe einen Fehler gemacht!“

„Verzeihen Sie, ich denke …“, mischte sich der Mann ein.

„Halten Sie sich hier gefälligst raus!“, fuhr Kevin ihn an, bevor er mich flehend ansah: „Bitte!“

„Mein Fehler. Darf ich vorstellen“, sagte ich kühl, obwohl ich nichts anderes wollte, als mit ihm zu gehen und die Ewigkeit an seiner Seite zu verbringen. Ich zeigte zuerst auf Kevin, dann auf den anderen Mann. „Kevin – Mark, mein Freund. Mark – Kevin, mein Ex.“ Ich steckte in dieses Ex die ganze Bitterkeit und den Schmerz des letzten Jahres, vielleicht sogar eine Spur Gift. „Wie gesagt, Kevin, nicht nur dein Leben ist weitergelaufen.“

Auf eine perverse, selbstzerstörerische und zugleich heilende Art genoss ich es, ihm zuzusehen, wie sein Blick hektisch und allmählich begreifend zwischen Mark und mir wechselte, während ich mir in aller Ruhe den Mantel anzog, um mich schließlich mit einem ‚Mach’s gut!‘ von Kevin zu verabschieden und ihn und unsere gemeinsame Vergangenheit endgültig hinter mich zu lassen. Arm in Arm mit Mark verließ ich ohne zurückzublicken Omas Haus, die Tür fiel hinter uns leise ins Schloss.

Wortlos entfernten wir uns immer mehr von dem sprachlos Zurückgelassenen, bis Mark stehen blieb, mich ansah und fragte:

„Wirst du ihm jemals verraten, dass wir nicht mehr sind als Freunde?“

Lesemodus deaktivieren (?)