zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Maxis Flo(h)

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

 

06:42 Uhr.

Der Wecker klingelt. Dieses laute, penetrante Geräusch, das einem so auf die Nerven geht, dass man sich, sobald man es ausgestellt hat, ohne zu zögern gleich aufsetzt, beide Arme von sich streckt, ein lautloses Gähnen von sich gibt und den Tag mit einem breiten Grinsen begrüßt. Okay, ich bin mir nicht sicher, ob man einem neuen Tag auf diese Art begegnet, ich jedenfalls tue es. Seit zwölf Jahren, jeden Morgen, unter der Woche und am Wochenende, bei Wind und Regen, Eis und Schnee, bei strahlendem Sonnenschein.

Heute, am vorletzten Tag meines alten Lebens, scheint die Sonne bereits zu dieser frühen Stunde mit einer solchen Intensität, dass ich durch die geschlossenen Vorhänge spüre, wie sie die Haut auf meinem Arm kitzelt. Die goldenen Härchen richten sich auf, als würden sie von ihr magnetisch angezogen. Während ich mit kindlichem Spieltrieb über meinen Unterarm puste, zeichnet meine andere Hand die unsichtbaren Kurven ihres Körpers nach, zieht meine Nase ihren unverkennbaren Geruch ein, der mir zusammen mit der Erinnerung an letzte Nacht ein Lächeln auf die Lippen zaubert. Sex ist was Wunderbares. Der Sex mit Kate noch viel mehr. Großartig, spitze, irre – oh, Kate!

Außer man spricht ihren Namen falsch aus, grinse ich in mich hinein, als ich aufstehe und mich in Richtung Badezimmer aufmache, exakt zwei Sekunden bevor mein Gesicht sich zu einer Grimasse verzieht, denn genau dort, wo meine Augen auf ihren Gegenpart im Spiegel treffen sollten, klebt ein verdammter gelber Post-It, auf dem in Lippenstiftrot die drei Worte stehen, die diesen herrlichen Morgen gründlich ruinieren.

Ich.

FUCK!

Liebe.

FUCK!!

Dich.

FUCK!!!

06:44 Uhr.

„Da sieht aber jemand gar nicht glücklich aus“, meint Dad, sobald ich die Küche betrete. „Habt ihr euch gestritten?“

„Neh!“, kommt es geistreich und gewitzt von mir, bevor ich ihm eine kleine gelbe Kugel zuwerfe, die er kurzerhand auseinanderfaltet und glattstreicht.

„Oh!“, ist alles, was ihm dazu einfällt.

„Ich mach nachher mit ihr Schluss“, erkläre ich mürrisch und setze mich mit einem Becher Kaffee zu ihm.

„Ja“, nickt er. „Verständlich. Geliebt zu werden ist … schrecklich.“

„Dad!“

„Schon gut. Du hast ja Recht. Wenn da nichts ist, dann ist es besser, wenn du ihr reinen Wein einschenkst.“

„Danke.“

„Das dritte Mal, hm?“

„Yep.“

Dad beschmiert zwei Brote mit Butter und Himbeermarmelade und schiebt mir den Teller rüber.

„Eines Tages, Max“, sagt er, „eines Tages findest du jemanden, dem du es auch sagen kannst.“

Klar weiß ich, dass er Recht hat. Mal davon abgesehen, dass ich mit meinen achtzehn Jahren noch genug Zeit habe, den- oder diejenige zu finden. Jemanden wie … „Tobi …“, murmele ich leise in den Kaffeebecher, als sein Bild plötzlich vor meinem inneren Auge erscheint. Seine dunklen, tiefen Augen, sein Lächeln, das ihn immer und überallhin begleitet, seine Stimme, die in mir stets ein Gefühl von Geborgenheit auslöst …

Ausgelöst hat. Ihm habe ich es gesagt. Ihm konnte ich es sagen. Weil es stimmte …

„Ja, Tobias ist ein toller Junge, Max.“ Er hat es gehört, mein Gemurmel.

„Und das zwischen uns ...“, erinnere ich mich und fühle mich einen Augenblick lang, als würde mich eine riesige, beschützende Blase umgeben, wie damals, als Tobias und ich noch ein Paar waren.

„... ist vorbei, mein Kleiner“, lässt Dad die Blase platzen.

„Wieso?“

„Das musst du ihn selbst fragen, Max“, antwortet er, obwohl wir beide die Antwort kennen, die Gründe … „Ich muss jetzt los, Schatz“, sagt er und steht wieder auf, küsst mich auf den Kopf und legt mir eine weiße, A6 große Karte hin, bevor er seine Schlüssel holt und die Haustür hinter sich zuzieht.

06:51 Uhr.

Sobald ich die Karte gelesen habe, auf der mein bester Freund Florian in seiner krakeligen Druckbuchstabenschrift lediglich den für Außenstehende unverständlichen Code 20/3/? (was so viel wie zwanzig Buchstaben, drei Leer- und ein Fragezeichen bedeutet) sowie eine Adresse und eine Uhrzeit aufgeschrieben hat, geht es mir wieder gut. Ich spüre die Energie, die mich durchströmt, mich stärkt, mich bereit macht für das nächste Spiel. Noch zweiunddreißig Minuten, dann geht es los. Noch zweiunddreißig Minuten, um zu Ende zu frühstücken, zu duschen, meinen Rucksack zu packen und mit dem Fahrrad ein paar Straßen weiter zu fahren zu meinem ersten Ziel.

07:22 Uhr.

Zeit ist kostbar bei diesem Spiel. Sie ist oft knapp bemessen, nur selten gönnt mir Florian mehr als ein paar Minuten Atempause zwischen den einzelnen Aufgaben. Dementsprechend hoch ist die Geschwindigkeit, mit der ich oft von einem Ziel zum nächsten brause. Dass dabei die Sicherheit nicht zu kurz kommen darf, das mussten sowohl ich als auch Florian unseren Eltern versprechen, bevor sie vor mehr als drei Jahren ihr Okay zu unserem ersten Spiel gegeben haben. Sie verdonnerten uns beide dazu, mehrere Sicherheitstrainings im örtlichen Radfahrerclub zu absolvieren und uns eine komplette Ausrüstung inklusive Knie- und Ellbogenschoner sowie Helm zuzulegen. Auch Florian, obwohl der nur passiv am Spiel teilnimmt und es sich meistens in irgendeinem Café oder an einem anderen Ort, an dem es vor Menschen wimmelt, gut gehen lässt, während er meine Fortschritte per GPS-Signal auf seinem Handy verfolgt. Wo er sich wohl heute mit seinem Buch in aller Öffentlichkeit versteckt?

Ich erreiche das Ziel eine Minute vor der vorgegebenen Zeit, schließe mein Rad ab und öffne den Verschluss meines Fahrradhelms, als ich an die riesige Fensterscheibe unserer örtlichen Buchhandlung klopfe, durch die man einen guten Blick auf die mehr schlecht als recht beleuchteten Bücherregale werfen kann, die immer so vollgestopft sind, dass ich, wenn ich mich da überhaupt mal alleine reintraue, was bisher höchstens zu Beginn eines neuen Schuljahres passiert ist, stets das Gefühl habe, die Regale könnten mitsamt ihres tonnenschweren Inhalts über mir zusammenkrachen und mich für immer und ewig unter sich begraben. Dass ich mich darin trotzdem gut auskenne, habe ich allein Florian zu verdanken – der Typ ist eine absolute Leseratte.

„Ah, auf die Minute genau“, nickt Herr Braun anerkennend, als er die Tür öffnet, um sie hinter mir gleich wieder abzuschließen. „Genau wie dein Freund es vorhergesagt hat. Bist du bereit?“

Ich nicke wortlos und wende meinen Blick von ihm ab, als ich aus den Augenwinkeln seine Frau auf uns zukommen sehe. Wie ihr Mann auch, ist sie in ihren Siebzigern und hat unglaublich weißes Haar. Anders als er, der seine jüngere Kundschaft zuweilen mürrisch begrüßt, ist sie immer fröhlich und nett, so wie ich mir die ideale Großmutter vorstelle. Da ich meine eigenen Großeltern nie kennengelernt habe, weil alle noch vor meiner Geburt gestorben sind, träume ich manchmal gern davon, Frau Braun zu adoptieren. Dann wären auch wir eine einigermaßen normale Familie.

„Guten Morgen, mein Lieber“, begrüßt sie mich herzlich und legt ihre Hand auf meinen Arm. „Es ist wunderbar, dass du heute hier bist.“ „Auch Ihnen einen guten Morgen, Frau Braun“, antworte ich. Als ich Herrn Brauns Blick treffe, füge ich rasch hinzu: „Ihnen beiden einen guten Morgen.“ „Du wunderst dich sicherlich, was dich hier erwartet, nicht?“, fragt sie.

„Ich bin ziemlich aufgekratzt“, gebe ich zu. „Neugierig.“

„Gut, dann wollen wir dich nicht länger auf die Folter spannen“, mischt sich ihr Mann mit übertriebener Freundlichkeit ein. Er verlässt uns kurz, um aus einem Regal gezielt ein Buch herauszuziehen, das er mir gleich in die Hand drückt. „Wir wissen, dass du kein großer Bücherfreund bist, aber dieses Buch hier, vielleicht ändert es deine Meinung.“

„Keiner von uns kann was damit anfangen“, sagt meine Traumgroßmutter, „Science Fiction. Nicht unsere Generation, fürchte ich. Aber dir könnte es gefallen.“ „Florian hat es ausgesucht.“

„Okay, ähm, ich soll es lesen?“

„Ja. Nein. Ja. Ja, sollst du. Nicht das ganze Buch natürlich, dafür reicht die Zeit nicht. Aber so weit du kommst.“

„Und dann …?“ „Ja, der Buchstabe“, erinnert er sich. „Die Karte.“

„Und die Bedingung“, wirft sie geheimnisvoll ein.

„Natürlich, die Bedingung.“ Die beiden wirken sehr aufgeregt, als würde ihnen das Spiel ebenso viel Spaß machen wie mir. Herr Braun wendet sich wieder mir zu. „Also, du hast eine Dreiviertelstunde Zeit, dir das Buch anzuschauen. Du kannst lesen, wo du willst, den Anfang, das Ende, mittendrin. Egal wo. Wir hoffen, dass es dich interessieren ...“

„Dass du es mögen wirst. Dann kannst du es mit nach Hause nehmen. Umsonst natürlich, ohne Geld.“

„Ich kann es bezahlen, kein Problem“, versichere ich ihnen.

„Sicher, das wissen wir. Dein Vater …“ „Aber darum geht’s uns nicht, Maximilian. Wir brauchen nicht dein Geld oder das deines Vaters.“

„Nicht dein Geld“, bestätigt Herr Braun die Worte seiner Frau. „Wir hätten gern deine Zeit.“

„Meine …? Meine Zeit?“ „Sieh mal, wir würden uns freuen, wenn du diesen Sommer einen Monat … Ein Monat hat Florian gesagt, nicht?“, fragt er seine Frau. Sie nickt und lächelt mich an.

„Ich soll einen Monat …?“

„Einen Monat lang bei uns arbeiten.“

Haben die beiden nicht gerade noch von einer Bedingung gesprochen? Das soll sie sein? Was hat Florian sich nur dabei gedacht? Die Auswirkungen des Spiels waren immer unmittelbar und kurzfristig, sieht man mal von den gelegentlichen Verletzungen ab, die manchmal Wochen brauchten, um zu verheilen. Jedes Spiel war bisher innerhalb eines Tages zu Ende, mit allem Drum und Dran. Und jetzt soll ich meinen Sommer damit zubringen, hier im Laden zu stehen, anstatt den lieben langen Tag am Strand zu liegen?

„Das ist die Bedingung?“ Ich kann die aufkommende Panik in meiner Stimme nicht ganz verbergen. „Wenn ich Nein sage, dann kann ich die Karte vergessen? Das ganze heutige Spiel?“

Die Karten enthalten das jeweils nächste Ziel. Bekomme ich eine nicht, ist das Spiel zu Ende. Für heute würde es bedeuten, dass ich gleich zu Anfang versagt habe. Und in all den Jahren habe ich noch bei keinem Spiel versagt.

„Spiel?“, fragt Frau Braun sichtlich gekränkt. „Für euch ist das alles nur ein Spiel?“ „Nein, nein, nein!“, versuche ich den Schaden wieder gutzumachen. „Ja. Doch. Aber es ist ein ernstes Spiel. Mit Konsequenzen.“ Manchmal geht es um Leben und Tod. Und jetzt gerade, in diesem Moment, wäre mir eine solche Situation, wie der Sprung von der Klippe beim vorletzten Mal, tausend Mal lieber. „Was, wenn ich Nein sage?“

„Dann bekommst du die Karte trotzdem.“

„Was ist dann der Sinn des Ganzen? Wozu soll ich das Buch lesen?“

„Weil wir möchten, dass du dich dafür entscheidest. Freiwillig.“

„Sie könnten mich zwingen. Wenn ich nicht zusage, dann gibt’s keine Karte.“

Herr Braun sieht seine Frau fragend an, doch sie schüttelt traurig den Kopf. „Das machen wir nicht. Deine Karte bekommst du auf jeden Fall. Doch wenn du uns einen Monat schenkst, dann wirst du noch viel mehr bekommen. Florian und du, ihr werdet etwas erhalten, was euer Leben für immer verändern wird. Und nun mach es dir irgendwo bequem und lies in das Buch rein, wenn du möchtest. Wir werden dich nicht weiter stören.“

Ich sehe Frau Braun zu, wie sie auf einem Hocker neben der Kasse Platz nimmt und Herrn Braun, wie er sich zu ihr stellt und ihren Kopf liebevoll an seine Brust drückt. Beschämt drehe ich mich weg und suche mir eine Ecke, von wo aus ich die beiden nicht sehen kann, setze mich auf den Boden und schlage das Buch auf. Noch während ich darüber nachgrübele, was mein Freund sich dabei gedacht haben mag, mit den beiden eine solche Vereinbarung zu treffen, die ich natürlich akzeptieren muss, sonst bekäme ich zwar die Karte, würde jedoch das Gefühl, versagt zu haben, nie mehr los … Während ich also über Florians Gründe sinniere, beginne ich das Buch zu lesen, das, wenn ich die Jahreszahlen richtig interpretiere, um einiges älter ist als ich und merke, dass die Geschichte dieses Jungen, der von den Militärs auserwählt wurde, um die Welt vor außerirdischen Invasoren zu retten, mich immer mehr in ihren Bann zieht.

Er ist gerade in seiner neuen Schule angekommen, als mich Herr Braun am Arm schüttelt und aus der Zukunft zurück in die Vergangenheit zerrt. Stumm folge ich ihm nach vorne zu seiner Frau, die ihren Schock überwunden zu haben scheint, denn sie lächelt mich großmütterlich an und erkundigt sich danach, wie ich das Buch finde. „Ich würde es gerne mitnehmen und weiterlesen, um zu erfahren, was mit dem Kleinen passiert, ob er es schafft, die Menschen zu retten oder an den Demütigungen zerbricht.“ Meine Antwort scheint sie beide zufriedenzustellen, die Miene ihres Mannes hellt sich bei meinen Worten auf. „Und was den einen Monat angeht: Ich denke, es ist eine fantastische Chance, einen Einblick in die Arbeitswelt zu erhalten.“

Frau Braun kann sich vor Freude nicht mehr halten. Sie klatscht und gibt ein seltsames Geräusch von sich, das ein Glucksen oder ein Quieken sein könnte, kommt auf mich zu und umarmt mich. „Das wird Florian sicher freuen, dann ist er hier nicht allein mit uns alten Griesgrämen.“

„Flo...rian wird den Monat auch hier verbringen?“ Hätten sie das nicht gleich sagen können?

„Ja, ja, natürlich, deswegen hat er das Ganze ja überhaupt vorgeschlagen. Martha, das haben wir ihm doch gesagt, oder?“

Nein, das haben Sie nicht, will ich ihn korrigieren, denn sonst hätte ich gleich zugesagt! Stattdessen lächele ich ihn nur selig an und mache innerlich einen Freudensprung, weil das Universum (in diesem Fall mit Florian als Stellvertreter) doch nicht so grausam ist, wie ich befürchtet habe.

„Sehr schön, mein Junge“, sagt Herr Braun nun und reicht mir die nächste Karte. „Du wirst es nicht bereuen.“

„Nein, ganz gewiss nicht“, fügt seine Frau hinzu, die mittlerweile wieder losgelassen hat. „Und nun wünschen wir dir noch viel Spaß bei deinem Spiel.“

08:27 Uhr.

Vier Minuten nachdem die Brauns mich verabschiedet haben, erreiche ich die nächste Station, das Reisebüro Fernweh, das erst in drei Minuten öffnet. Durch die Schaufenster spähe ich schon mal hinein, kann aber noch keine Menschenseele erkennen. Was genau ich hier machen soll, ist mir schleierhaft.

Außer … Nein, nicht schon wieder! Die Aufgabe hatte ich schon einmal: eine Reise buchen, um sie kurz vor Feierabend wieder zu stornieren. Zum Glück musste ich damals die Nummer nicht in diesem Reisebüro abziehen, sonst würden sie mich heute wahrscheinlich gar nicht erst reinlassen.

Nur um ganz sicher zu gehen, für den Fall, dass Florian es diesmal ernst meint, schaue ich in mein Portemonnaie, ob die Kreditkarte, die mein Vater mir für die Spiele gegeben hat, drin steckt.

Noch eine Minute, 60 Sekunden. 59 … 58 …

Wie schlägt man eine Minute tot? Ich könnte weiterlesen, aber kaum, dass ich das Buch herausgenommen hätte, müsste ich es wieder einstecken. Die Straße ist leer, kein einziger Passant, mit dem ich mich unterhalten könnte. Die Häuser, langweilig, kenne ich, seit ich denken kann. Nichts Neues, Besonderes, was meine Aufmerksamkeit erregt. Noch zwanzig Sekunden. Mein Handy – keine neuen Nachrichten, was auch kein Wunder ist, weil Florian sich während des Spiels grundsätzlich nicht meldet und Kate bereits mit der Arbeit angefangen hat. Und was die anderen angeht, die schlafen um diese Uhrzeit noch.

Zehn Sekunden. Neun. Acht. Sieben.

Die Sekunden herunterzählen zu müssen, ist echt erbärmlich. Als ob ich nichts Besseres mit meiner Zeit anzufangen hätte! Endlich kommt jemand, um aufzuschließen. Zu meinem Erstaunen werde ich von einem recht jungen Mann begrüßt, viel älter als ich dürfte er nicht sein, Anfang zwanzig wahrscheinlich. Er sieht unverschämt gut aus mit seiner sonnengebräunten Haut und dem durchtrainierten Körper, der von auffällig wenig Stoff bedeckt ist, seinen blaugrünen Augen und dem verspielten Blick darin – als wäre er dem Werbeclip eines Reiseanbieters entsprungen oder würde sich normalerweise als Animateur von den Blicken junggebliebener Damen ausziehen lassen.

„Guten Morgen“, sagt er mit einem leichten Akzent, den ich nicht zuordnen kann. „Sie sind Herr Jansen, nehme ich an?“

„Ja. Ja, hallo, guten Morgen“, stammele ich. „Max Jansen, Herr ...“ Seinen Namen kann ich leider nicht lesen, denn dazu müsste ich meinen Blick von seinem Gesicht lösen und, so sehr ich es auch versuche, ich schaffe es nicht. „Nennen Sie mich bitte Ruben.“ „Ruben.“

„Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee oder Tee anbieten, Herr Jansen? Oder eine Erfrischung?“

Ich schüttele eifrig den Kopf, sage aber im gleichen Moment: „Ein Glas Wasser wäre nett.“ Woraufhin er verschwindet, um kurz darauf mit einem Wasserglas wiederzukommen.

„Bitte, nehmen Sie Platz“, sagt er und setzt sich mir gegenüber vor den PC. Ich gehorche, ohne meine Augen von ihm zu nehmen. „Wenn ich Ihren Freund …“ „Sagen Sie, Ruben“, platzt es aus mir heraus, „sind Sie neu hier?“ Die Frage ist nicht ganz unberechtigt, denn ich bilde mir ein, so ziemlich jeden in unserer 3000-Seelen-Weltstadt zu kennen und ihn habe ich noch nie zuvor gesehen.

„Nicht neu“, antwortet er freundlich, „vertretungsweise. Eine Woche zu Besuch sozusagen, weil meine Kolleginnen …“

„Frau May und Frau Yildirim“, unterbreche ich ihn unfreiwillig, weil ich zu aufgeregt bin, um meine Klappe zu halten.

„Genau. Frau May ist krank und Frau Yildirims Schicht beginnt um zwölf. Aber, um auf Ihre Reise zurückzukommen …“

„Ich verreise?“

„Deshalb sind Sie hier, oder?“, fragt er verunsichert. „Ihr Freund, Herr …“, er schaut auf seine Notizen, „Herr Warte hat soweit schon alles geregelt, er sagte aber, Sie würden es noch einmal mit mir durchgehen wollen und eventuell noch was ändern.“

„Das hat Herr Warte gesagt?“ Also doch eine Reise. Schade, bei diesem netten Gegenüber hätte ich gegen ein Date nichts einzuwenden gehabt. „Und wohin geht es?“

„Nach … nach Amsterdam.“ Der arme Ruben tut mir leid, wird ihm sicher zum ersten Mal passieren, dass zwei Leute verreisen wollen und so einen Aufstand deswegen machen. „Für acht Tage. Kommenden Montag fliegen Sie morgens um acht los, kommen kurz nach neun am Flughafen Schiphol an. Ein Shuttle bringt Sie von dort in Ihr Hotel. Vier Sterne, Doppelzimmer mit Doppelbett, inklusive Frühstück. Herr Warte meinte, Vollpension wäre überflüssig.“

Nachdem er die Einzelheiten runtergeleiert hat, wartet er eine Weile und fährt erst fort, als ich nicke. „Im Preis inbegriffen sind City Cards für die Dauer Ihres Aufenthalts für öffentliche Verkehrsmittel, mit kostenlosem Eintritt zu vielen Museen sowie weiteren Vergünstigungen. Weitere Informationen dazu finden Sie hier“, sagt er und legt einen roten Flyer auf den Tisch. „Dazu Mietfahrräder für drei Stunden täglich, ein Mietroller für einen Tag für die Erkundung des Umlandes und … falls Sie zusätzliche Wünsche haben oder etwas ändern möchten …“

„Nein, nein, danke“, segne ich alles ab und vernehme ein erleichtertes Ausatmen. „Was kostet der Spaß?“

„Herr Warte hat einen Großteil des Betrages bereits beglichen …“ Das hat er? Dann meint er es dieses Mal wohl ernst mit der Reise. „Der noch offene Betrag liegt bei 647 Euro.“ Ein merkwürdig krummer Betrag und noch dazu ein recht hoher, bedenkt man, dass Florian schon eine Anzahlung geleistet hat. Oder war das etwa nur ein symbolischer Euro? „Wie viel hat mein Freund bezahlt?“

„1000 Euro.“ Damit hat er das Limit seiner Kreditkarte voll ausgeschöpft. Ist er total übergeschnappt?!

„Die Reise kostet 1647 Euro?! Für acht Tage?!“ „Für zwei Personen. Inklusive Reiserücktrittsversicherung“, versucht er mir den Preis schmackhafter zu machen. „Okay“, gebe ich kampflos nach und erwürge Florian mental, bevor ich diesem Typen meine Karte hinhalte, dessen Aussehen angesichts dessen, dass er mich gleich um so viel Geld erleichtern wird, deutlich an Schönheit einbüßt. Dass mein Vater die Kartenabrechnungen begleicht, macht es auch nicht besser, denn ich muss zwar nicht für die ausgegebene Summe aufkommen, darf mir bei einem so hohen Betrag jedoch bestimmt eine Standpauke anhören. Ein Vergnügen, das ich gerne mit Florian teilen werde! Plötzlich verspüre ich den Drang, den Laden und Ruben, Herrn Weiß, wie ich mittlerweile herausgefunden habe, zu verlassen. Sobald ich die Kreditkarte, die jetzt eine Tonne zu wiegen scheint, in mein Portemonnaie und das Portemonnaie in meine Hosentasche gesteckt habe, nehme ich noch meinen Preis entgegen, die Spielkarte mit dem nächsten Buchstaben und dem nächsten Ziel und verabschiede mich, nicht jedoch ohne Ruben einen letzten Blick und ein anzügliches Grinsen zuzuwerfen.

09:30 Uhr.

Meine nächste Aufgabe wartet auf mich auf dem leeren Marktplatz direkt vor dem Gemeindehaus, wo ein Tisch, wie man ihn aus der Schule kennt, mit einem Plakat dekoriert wurde, der jedem, der mir fünf Euro gibt, einen Wangenkuss von mir verspricht. Das hier ist mir so peinlich, dass ich es am liebsten überspringen würde, was die Spielregeln selbstverständlich verbieten. Also setze ich mich seufzend auf den Tisch und harre tapfer der Dinge oder vielmehr der Menschen, die da kommen werden. Kaum habe ich den Gedanken zu Ende gedacht, sehe ich schon eine Gruppe von fünf Mädchen, die zielstrebig auf mich zukommen – alle aus meinem Jahrgang. Die erste ist eine blonde Zicke, die, glaubt man den Gerüchten, die hinter ihrem Rücken verbreitet werden, der brünetten Anführerin der Wir sind Gottes Geschenk an die Männer-Clique nur deshalb folgt, weil sie total in sie verschossen ist – und das seit der siebten Klasse! –, sonst hätte sie längst ihre eigene Mobbing-Gang gegründet, mit der sie das gewöhnliche Fußvolk terrorisiert hätte.

Sobald sie ihren Kuss bekommen hat und ich mein Geld und meine Karte, nickt sie ihrer Nachfolgerin zu, die mich bis eben noch skeptisch beäugt hat und sie nun fragend anblickt, der Göttin höchstpersönlich. Was an ihr so schön sein soll, habe ich noch nie verstanden. Ihre lockigen Haare sind viel zu wild für meinen Geschmack, ihre Augen sind winzig im Vergleich zu ihrer Nase, ihr …

Oh je, da kommt sie …

„Wir tun das nur, weil dein dämlicher Freund uns dafür bezahlt hat, ist das klar?“, deklariert sie und erntet Ja!s und Genau!s von ihren Rudelfreundinnen. „Selbstverständlich“, antworte ich.

„Schweig, du wertloses Stück …“

„Denk an deinen Blutdruck, Cleo“, ermahnt die Blonde sie, woraufhin Cleo ihre Augen schließt, ihre Hände meditationsmäßig gerade von sich streckt und langsam, wirklich ganz langsam, tief einatmet. Beim Ausatmen senkt sie ihre Hände wieder, um sie im nächsten Moment beim Einatmen wieder zu heben. Diese Übung macht sie ungefähr zwei Minuten lang, dann kommt sie die letzten Schritte auf mich zu, haucht mir einen Luftkuss auf jede Wange, legt den Schein und die Karte auf den Tisch und gesellt sich zu ihrer wartenden Komplizin.

Die nächsten beiden sind schnell abgehakt, das letzte Mädchen jedoch kommt nur zögerlich auf mich zu, mit errötenden Wangen, leicht gesenktem Blick und einem ganz feinen, schüchternen Lächeln auf ihren Lippen. Sie ist Cleos Schwester, der unerwünschte Zwilling, das Übriggebliebene, nachdem die selbsternannte Königin ihr neun Monate lang geteiltes Zuhause verlassen und die Welt um sich herum zu ihrem neuen Spielplatz auserkoren hat. Sie ist die Güte in Person, die Schönheit auf Erden, alles, was ihre wenige Minuten ältere Schwester nicht ist. Und sie ist verflucht, denn niemand traut sich an sie heran – und sie traut sich nicht, dem Teufel auch nur eine Sekunde lang von der Seite zu weichen. Zu schade …

„Nun mach schon, Clara!“, befiehlt ihre Schwester ihr. „Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.“

„Mach schon“, ruft Blondie, „es ist doch nur ein blöder Kuss!“ Doch in Claras Augen sehe ich, dass es nicht nur irgendein Kuss ist, es ist ein besonderer, wahrscheinlich ihr erster. Also tue ich das, was ich sonst nie tun würde: Ich breche die Regeln – und küsse sie nicht auf die Wange, sondern auf die Lippen. Ganz leicht und sachte, so wie ein erster Kuss sein sollte – magisch … Ein Schmetterling kommt angeflogen und setzt sich auf ihre Nase und ihr Lächeln wird größer, zauberhafter, unendlich schön. Sie schaut mir in die Augen, dann schiebt sie mir das Geld sowie eine Karte in die Hand und ist weg, den anderen hinterher. Eine ganze Weile sehe ich ihr nach und bedanke mich bei Florian für die kurze Zeit mit ihr, auch wenn es nur ein paar Sekunden waren und ich ihr nie wieder so nah kommen werde. Erst dann werfe ich einen Blick auf die Karte in meiner Hand. Wieder ein neuer Buchstabe, wieder kein neues Ziel – meine Gästeliste wird also länger werden.

Den Jungen, der jetzt vor mir steht, kenne ich nur vom Sehen her. Ein Neuntklässler, einer von mehreren, die sich im letzten Schuljahr geoutet haben und die mich danach jeden Tag, bei jedem noch so zufälligen Blickkontakt, mit einem Nicken gegrüßt haben. Er sieht total süß aus, wie er mich verlegen und zugleich voller Respekt anguckt, wie man jemanden ansieht, den man bewundert, von dem man aber nie gehofft hat, ihm jemals persönlich zu begegnen, geschweige denn ihn zu küssen. Zögerlich presst er seine Lippen auf meine Wange, dann schlingt er seine Arme um mich und flüstert mir ein Danke ins Ohr. Anschließend bin ich um fünf Euro und eine Karte reicher und er ist weg.

Der Grund für das Danke des Kleinen nähert sich mir mit offenen Armen, drückt mich an sich und lacht: „Alter, wir haben's geschafft!“

Paul Wabe, bullig und, trotz meiner Einsdreiundneunzig, ein Stück größer als ich, hat mir bereits vor meinem Coming Out das Leben zur Hölle gemacht. Ein einziger Blick von mir in seine Richtung genügte, um ihn auf Hundertachtzig zu bringen, mehr als einmal landete seine Faust in meinem Magen oder Gesicht, bis es eines Tages während des Unterrichts zum Showdown kam, der für mich im Krankenhaus endete und für Paul, sobald der Notarzt sein Okay gegeben hatte, auf dem Revier. Als er einige Tage später wieder zur Schule ging, machten alle einen großen Bogen um ihn, was er nicht länger als zwei Stunden aushielt. Er ließ die Schule hinter sich und lief den ganzen Weg zum Krankenhaus, setzte sich zu mir ans Bett und fing an zu flennen, bestimmt eine halbe Stunde lang. Dann entschuldigte er sich bei mir, sagte, es täte ihm leid und er sei in mich verliebt. Da ich darauf keine Antwort wusste, ließ er mich allein, besuchte mich jedoch am nächsten Tag wieder, ebenso wie die Tage darauf, bis ich nach Hause durfte. An meinem ersten Schultag nach dem Zwischenfall kam er auf mich zu, was mich immer noch instinktiv zurückweichen ließ und folgte mir wortlos überall hin. Er wurde von da an zu meinem Schatten. Meinem Bodyguard. Und ich zu einer unfreiwilligen Legende und einem Helden für alle, die sich nicht getraut hatten, sich zu outen. Mein Argwohn nahm mit der Zeit ab, ich fing an, mit ihm zu reden, dann zu lachen, später mich auch mal nach der Schule mit ihm zu treffen. Er brachte mir bei, mich zu verteidigen und wir wurden Freunde. Nicht beste Freunde, aber eben Freunde. Und das sind wir noch.

Sobald er der Meinung ist, genug Luft aus mir herausgepresst zu haben, lässt er mich los, erledigt seinen Job (Kuss, Geld, Karte) und lässt mich versprechen, ihm morgen auf dem Abiball einen Tanz zu reservieren, um seinen Freund ein wenig eifersüchtig zu machen.

Nach Paul kommt er: Sean McArthur, der genialste Typ, der sich je Lehrer schimpfen durfte. Und der erste Mann, der erste Mensch, in den ich mich verknallt habe. Ich war vierzehn, er kam gerade frisch von der Uni und hatte diese ganzen verrückten Ideen, mit denen er nicht nur mein Gehirn eroberte, sondern auch mein Herz und die Herzen meiner Mitschüler. Doch heute steht er allein vor mir und grinst.

„Da ich jetzt nicht mehr dein Lehrer bin, Max, wie wäre es mit einer schönen Tasse Tee?“

„Ihr Briten und euer Tee!“, lache ich und er stimmt mit ein. „Oder ist das ein Euphemismus?“ Eines der vielen Wörter, die er uns beigebracht hat.

„Du darfst es dir aussuchen.“

„Dann Tee.“

„Sicher? Ich dachte, du möchtest mehr.“

„Die Zeiten sind vorbei, Sean.“

„Ja? Sie haben Recht, weißt du?“

„Wer hat Recht?“

„Deine Mitschüler. Sie sagen, du seist ein Player, ein Herzensbrecher.“

„Nicht wirklich, Mr. McArthur. Ich bin älter geworden, reifer hoffentlich …“

„Könnte sein. Dann also Tee, meine Nummer hast du sicher noch“, sagt er und legt seine Hände um meinen Nacken, zieht meinen Kopf zu sich herunter und küsst … meine Stirn!

„Sean!“, protestiere ich.

Er grinst nur und sagt: „Ich wünsche dir noch viel Erfolg heute. Bis morgen!“

„Bis morgen!“, rufe ich ihm zu, doch er ist außer Sicht, noch bevor ich die Worte ausgesprochen habe.

Nach Sean passiert eine ganze Weile nichts. Rein gar nichts. Obwohl ich mit meinem Tisch vor dem Gemeindehaus stehe und man annehmen könnte, Unmengen von Leuten würden hineingehen und wieder herauskommen, lässt sich kein Mensch blicken. Hätte ich nicht Seans Karte, die mir eindeutig sagt, dass ich hier warten muss, dass meine Mich-Abknutschen-Lassen-Aufgabe noch nicht abgeschlossen ist, wäre ich längst verduftet. So aber hole ich das Buch heraus und fange an zu lesen, aus den Augenwinkeln immer wieder die Umgebung absuchend.

Der Junge, der trotz oder gerade wegen seiner hohen Intelligenz, auch in seiner neuen Schule immer mehr zum Außenseiter wird, ruft in mir einen Großer-Bruder-Beschützerinstinkt hervor, etwas, was ich bisher so nicht gekannt habe, da ich weder eine Schwester noch einen Bruder habe. Früher, wenn ich mit Tobias in der Stadt unterwegs war und wir von irgendwelchen Typen blöd angemacht wurden, stellte ich mich ohne nachzudenken vor ihn, weil ich genau wusste, dass er sich nicht wehren würde, weder mit Worten noch mit den Fäusten. Und später, als das mit Kate anfing und Tobias und ich uns aus dem Weg zu gehen begannen, hatte ich von Weitem stets ein Auge auf ihn und beauftragte meine Freunde damit, das Gleiche zu tun, weil meine Gefühle für ihn sich nicht geändert haben und es wohl auch nie tun werden. Er wird immer mein Freund bleiben, ob wir miteinander reden oder nicht und ich werde immer versuchen, ihn zu beschützen.

Ein Pusten im Nacken lenkt meine Aufmerksamkeit wieder auf die Gegenwart und das laufende Spiel. Ich drehe mich um, doch hinter mir ist keiner zu sehen. Dafür steht jetzt jemand vor mir. Jemand mit einer Kapuze und einem unechten Schnurrbart und einer Maske, so einer, wie man sie von Maskenbällen in alten Kostümfilmen kennt – wer trägt denn heute noch so eine Maske? Gibt es diese Bälle überhaupt noch? Romeo und Julia fällt mir dazu ein, der Film mit Leo und Claire Danes, großartiges Kino …

„Wer bist du?“ Obwohl wir weit und breit die Einzigen sind, flüstere ich. Eine Antwort bleibt mir verwehrt. Stattdessen führt er, oder sie – nicht einmal das kann ich mit Sicherheit sagen –, seinen/ihren Finger zu meinen Lippen und bringt mich damit zum Schweigen. Dann liebkost er/sie mit dem Daumen der gleichen Hand meine Wange, eine Berührung so sanft, so zärtlich, wie ich sie noch nie zuvor gespürt habe. In diesem Moment beschließe ich, dass mein Gegenüber weiblich sein muss, denn kein Mann, den ich kenne, hat eine so weiche und zarte Haut. Und ich beschließe außerdem, dass ich sie kennenlernen muss. Einladen. Ausführen. Umgarnen.

Ihr den Hof machen, um schließlich um ihre Hand anzuhalten.

Wie eine einzige Berührung die ganze Welt auf den Kopf stellen kann! Noch vor wenigen Stunden befürchtete ich, nie wieder jemanden wie … wie …

Sie sieht mich an, so kurz, dass ich glaube, es mir lediglich eingebildet zu haben, dann schaut sie wieder weg. Lächelnd. Sie flirtet mit mir. Gibt es ein schöneres Spiel, als von Aphrodite auserwählt worden zu sein? Ihr Diener, Ihr Liebhaber zu sein?

„Verrate mir Deinen Namen“, flehe ich Sie an. Erneut strahlt Sie mit der Sonne um die Wette, doch Ihren Namen gibt Sie nicht preis. Ich erwische mich dabei, wie ich Ihren Duft einatme, in der Hoffnung, ihn wiederzuerkennen, aber nicht einmal dies gelingt mir. Ihre Hand immer noch auf meiner Wange, nähern unsere Gesichter einander, ich schließe die Augen, kann mein Glück nicht fassen, als Ihre Lippen endlich auf meine treffen. Um mich herum, in mir drin, lauter kleine Explosionen: ein kunterbuntes Feuerwerk, das Herzen in den Himmel zeichnet, Herzluftballons, Luftschlangen, Schmetterlinge … Es ist, als hätte das Universum beschlossen, Geburtstag und Weihnachten und Silvester und den Valentinstag zu einem einzigen Tag zu verschmelzen, zu einem einzigen Moment, einem Kuss, diesem einen Kuss!

Als unsere Lippen sich trennen, wünsche ich mir nichts sehnlicher, als Sie erneut zu küssen. Für immer. Und ewig. „Heirate mich“, wispere ich, bevor ich die Augen öffne und gerade noch mitbekomme, wie Sie um eine Ecke verschwindet. „Ich werde dich finden! Eines Tages!“, rufe ich aus voller Kehle. Dann fange ich an zu lachen, weil ich mich noch nie so großartig gefühlt habe. Liebe ist was Wunderbares!

10:29 Uhr.

Meiner Schönen immer noch hinterherschauend, wähle ich Florians Nummer und hoffe inständig, dass er mich nicht ignorieren wird, schließlich könnte dies eine Notsituation sein. Nein, dies ist eine Notsituation! Es klingelt … klingelt … klingelt … zum tausendsten Mal. Geh ran, Flo! Antworte!

Er klingt gelangweilt, als er endlich abnimmt, doch das interessiert mich nicht, ich komme gleich auf den Punkt: „Wer ist Sie? Ich muss Sie kennenlernen! Sie ist die Liebe meines Lebens, die Mutter meiner ungewollten Kinder, die Schönheit in Person, die Göttin …“

„Komm runter, Mann! Entspann dich! Von wem redest du?“

„Von dem Mädchen, das eben hier war.“

„Die Kuss-Aufgabe?“

„Ja, die Kuss-Aufgabe. Wer ist Sie? Ich muss Sie wiedersehen!“

„Sie? Da musst du schon genauer werden. Welche von den Personen meinst du?“

„Flo!“, schreie ich ihn an, dann wird mir aber klar, dass er nicht wissen kann, wen ich meine. „Die mit der Maske.“

„Ah!“, kichert er. Er kichert?! Was weiß er, was ich nicht … Okay, er weiß so einiges über Sie, was ich nicht weiß, denn ich weiß ja überhaupt nichts, wenn man es genau nimmt. Außer, dass ich Sie will. Und ich will, dass Sie mich auch will.

„Also?“

„Chillax, Maxi. Du wirst sie heute noch wiedersehen und kannst sie selbst fragen.“

„Echt jetzt?“

„Versprochen.“

Ein Hochgefühl nimmt von mir Besitz und ich bin mir sicher, würde er jetzt neben mir stehen, würde ich ihn abknutschen, obwohl er so gar nicht auf Kerle steht, und er würde mir sagen, ich solle mir das für Sie aufheben.

„Wie heißt Sie?“

„Max, gedulde dich! Es sei denn, du möchtest das Spiel abbrechen.“

Das Spiel abbrechen? Auf gar keinen Fall! Ich sehe Sie sowieso später wieder, nachher, noch heute …

„Ich mache weiter. Wo muss ich hin? Oder kommt hier noch jemand her?“

„Diese Fragen wirst du selbst beantworten können, sie hat dir die nächste Karte auf den Tisch gelegt. Viel Glück, Maxi. Und denk daran, du kannst jederzeit aufhören, wenn es dir zu viel wird.“

Dann ist die Leitung tot, er hat aufgelegt, ohne eine Erwiderung oder eine Bestätigung meinerseits abzuwarten. Sein letzter Satz hallt in meinem Kopf wider, doch erst als ich mein nächstes Ziel, meinen nächsten Auftrag finde, verstehe ich, weshalb er ihn gesagt hat.

Ich habe drei Minuten Zeit für zwei Kilometer – zum ersten Mal werde ich zu spät kommen. Und zum ersten Mal bei einem Spiel jemanden verlieren.

10:34 Uhr.

Dies ist das sechste Mal, dass ich die Hand an die Klingel hebe, zögere und sie wieder zurückziehe. Vor wenigen Stunden noch kam es mir so leicht vor, doch jetzt, da Florian mein Vorhaben zu einem Teil des Spiels gemacht hat, kommt mir mein Plan, mit Kate Schluss zu machen, verwerflich vor. Eine Beziehung zu jemandem beenden zu wollen, der einem gerade, zum dritten Mal!, seine Liebe gestanden hat, ist brutal. Oder?

Oder nicht?

„Komm rein“, höre ich auf einmal Kates Stimme und schaue vom Boden hoch.

„Hast … hast du auf mich gewartet? Und wieso bist du überhaupt zu Hause?“

„Ich habe gekündigt. Und was deine erste Frage angeht: Ja und nein. Ich bin dein Zehn-dreiunddreißig-Termin, ich wusste also, dass du herkommen würdest. Aber ich habe nicht die ganze Zeit hinter der Tür gestanden.“

„Ich habe nicht geklingelt“, stelle ich ihre Aussage in Frage.

„Nein …“, sie zieht das Wort in die Länge, als hätte sie es mit einem Begriffsstutzigen zu tun. „Aber mit dem Kopf gegen die Tür zu hämmern, ist mindestens genauso wirkungsvoll.“

„Ich habe … was?“ Nein, das kann nicht sein. „Das habe ich nicht!“

„Mhm“, nickt sie und mir fällt auf, dass wir unser Begrüßungsritual, den vierfachen Kuss (Lippen, linke Wange, rechte Wange, Lippen), ausgelassen haben. „Komm“, sagt sie erneut und zieht mich durch den Flur in ihr Zimmer. Sie schließt die Tür hinter uns und lehnt sich dagegen. Sie sieht mich traurig an, schließt die Augen, schaut kurz weg und blickt dann wieder zu mir rüber. Ihre Augen drücken mich nach hinten, bis ich ihren Lesesessel erreiche und hineinfalle.

„Wir …“ Ich schlucke schwer. Wie soll ich es tun? Wie …? Wieso kann sie nicht einfach nur ein Flirt sein, ein One-Night-Stand? Ich kann sie nicht ansehen, stehe auf und zwinge meine bleiernen Füße dazu, mich zum Fenster zu bringen, wo ich auf den weitläufigen Garten hinausschaue, in dem ich einen guten Teil meiner Kindheit verbracht habe. Damals war alles noch so einfach, so kindlich unbeschwert. Wir drei waren unzertrennlich, Kate, Tobias und ich. Tobias und ich ganz besonders. Der Garten war unser Reich, er kam uns unendlich vor. Wir liefen stundenlang zwischen den Bäumen herum, spielten Verstecken, schrien vor Freude – das Paradies auf Erden. Voller Erinnerungen. Mein erster Kuss – von Tobias, unter dem Apfelbaum rechts von Kates Fenster. Mein zweiter Kuss – von Kate, nur wenige Sekunden später. Momente, die wir so sehr herbeigesehnt hatten, um uns dann, als sie vorbei waren, zu fragen, ob es das schon gewesen sei. Da waren wir acht. Unsere erste richtige Party zu Tobias' vierzehntem Geburtstag fand genau vor diesem Fenster statt. Dann, eine gute Woche später in einer warmen Sommernacht, mein erstes Mal – unser erstes Mal – am anderen Ende des Gartens, ein Geschenk von mir für ihn und zugleich von ihm für mich.

Und damit fing es wohl an. Er wollte mich, ich wollte ein Mädchen ...

„Die Aufgabe“, krächze ich und blicke zu Kate, die nun neben mir steht.

Ihre Augen blitzen mich an, als hätte ich was Falsches gesagt. „Dieses elende Spiel … Wenn ich dich bitten würde, für mich zu sterben, würdest du es tun?“

„Was?“, frage ich entsetzt.

„Du hast mich genau verstanden.“

„Wieso solltest du so was wollen? Hasst du mich? So sehr, dass du dir wünschst … Ich dachte …“

„Dass ich dich liebe?“

„Mhm.“ Mehr bringe ich nicht zustande.

„Nicht mehr als du mich.“

Ich versuche nicht, ihr irgendwas vorzuspielen, dazu mag ich sie zu sehr. „Dann ist es jetzt also so weit. Wieso dann der Post-it? Wieso die drei Worte, dreimal? Wieso hast du dich überhaupt darauf eingelassen? Zugelassen, dass ich deinem Bruder wehtue, um jetzt mit mir Schluss zu machen? Oder ist das so ein Gesetz in eurer Familie, dass ihr mir reihum den Laufpass gebt?“

Sie setzt sich auf die Fensterbank und nimmt meine Hand in ihre.

„Ich … mag dich. Das war am Anfang noch nicht der Fall, aber jetzt fange ich an, mich in dich zu verlieben. Und das darf ich nicht. Darf ich nicht, wenn ich nicht so enden will wie Tobi damals.“

So wie sie das sagt, klingt das, als wäre ich ein Ungeheuer.

„Enden wie … Wie, wie Tobi? Was ist mit ihm los?“

„Du musst mir versprechen, es ihm nicht zu sagen. Du darfst es ihm nie verraten, sonst wird er mir das nie verzeihen.“

„Wovon redest du, Kate? Außerdem … Außerdem machst du gerade mit mir Schluss und dann soll ich dir hoch und heilig schwören, dass … Was, Kate?“

„Ich habe es für ihn getan. Konnte nicht mehr mit ansehen, wie es ihn fertig macht, ihn auffrisst.“

„Wer macht ihn fertig? Sag endlich, was mit Tobi los ist!“

„Nichts ist mit ihm los, es geht ihm wieder besser. Vor vier Monaten aber hat das alles noch ganz anders ausgesehen.“

Was redet sie da? Tobias ging es toll, bis ich mich in seine Schwester verguckt habe und er davon erfahren hat. Und wenn hier überhaupt jemand ihren Bruder fertig gemacht hat, dann war das nicht nur ich, sondern auch sie, schließlich gehören immer zwei zu einer Beziehung.

„Wir wussten, dass wir ihm wehtun würden, sollten wir uns weiter sehen“, erinnere ich sie, „aber wir haben uns dennoch dafür entschieden. Wie wird jetzt das Ganze zu einer Tobi-Sache?“

„Weil ich es für ihn getan habe.“

„Du … hast ihm wehgetan, weil du ihm was Gutes tun wolltest?“ Und ich dachte immer, ich sei seltsam!

„Du kapierst aber auch gar nichts, wie? Ich habe mich auf dich eingelassen, mich um dich bemüht, um ihn zu retten. Vielleicht um sein Leben zu retten. Erinnerst du dich, wie abgemagert er ausgesehen hat? Wie müde er war? Ausgelaugt?“

„Er hat die Nächte damit zugebracht, fürs Abi zu lernen, das haben wir alle. Ich habe ihm oft genug gesagt, dass er nicht nur von Kaffee und Luft leben kann, aber er hat nicht auf mich gehört.“

„Er hat auf dich gehört!“, schreit sie mich an, bevor ihre Stimme von den aufkommenden Tränen fortgetragen wird. „Er war krank, Max. Er war krank vor Sorge um dich. Jedes Mal, wenn du sein Bett verlassen und dich ins nächste Spiel gestürzt hast, ist er liegengeblieben und hat gezittert – aus Angst, dich vielleicht nur noch als Leiche wiederzusehen. Du und deine dämlichen Mutproben!“

Nicht heute, denn für heute scheint Florian sich ein Psychospiel für mich ausgedacht zu haben.

„Wenn du jemanden liebst, Max, dann bringst du dich nicht unnötig in Gefahr! Denn damit tust du ihm mehr weh als dir selbst, verstehst du?! Daher meine Frage vorhin: Würdest du für mich sterben?“

„Nein“, sage ich entschieden.

„Für meinen Bruder?“

Auch bei dieser Antwort zögere ich kein bisschen: „Wenn ich ihn damit retten kann …“

„Dann tu es.“ Ihre Stimme ist leise, ihr Blick flehend. „Gib ihn frei. Lass ihn gehen. Bitte. Stirb – und rette ihn.“

11:13 Uhr.

Als ich Kates Tür hinter mir schließe, begegnet mein Blick ihrem Bruder, der mir gegenüber steht, lässig am Türrahmen gelehnt. „Was grinst du so dämlich?“, fahre ich Tobias an, was sein bescheuertes Grinsen nur noch breiter werden lässt. „Du wusstest es, du wusstest, dass sie mich in die Wüste schicken würde“, macht es bei mir Klick. Natürlich wusste er es! „War das deine Idee?“

Er zuckt gleichgültig mit der Schulter. „Ich dachte mir, ich tu euch beiden einen Gefallen.“

„Dachtest du so, wie?“ Im gleichen Moment, in dem ich diese Worte ausspreche, spüre ich, wie meine Wut verfliegt und von etwas ersetzt wird, das ich schon lange nicht mehr gespürt habe. Nicht so … intim und intensiv. Ich kann nicht anders, als ihn anzulächeln, denn jetzt, mit ihm, fühle ich mich zu Hause. Manchmal frage ich mich, ob wir vielleicht Brüder sind. Zwillinge. Dass Kate sein Zwilling sein soll, ist ein Versehen, sie und ich wurden vertauscht und in Wirklichkeit gehören Tobias und ich zusammen. Ja, so muss es sein.

„Hast du die nächste Karte?“, frage ich ihn. „Oder muss ich hier auf deine Eltern warten?“

„Meine Oma hat sie.“ „Deine …? Sie ist hier? Kate hat nicht erwähnt, dass sie hier wäre.“

„Sie erzählt dir vieles nicht.“

„Ist mir schon aufgefallen. Ok, wo ist deine …? Warte, welche von ihnen ist es? Die Back-Oma oder die Blabla-Oma?“

„Die …“ Er lacht. Wenn es einen Menschen gibt, dem Gott sein Lachen geschenkt hat, dann ist es Tobias. „Komm mit“, sagt er und winkt mich in sein Zimmer. „Wollte dich nur ein bisschen aufziehen.“

„Ich bin doch kein Aufziehmännchen!“, protestiere ich wenig überzeugend, als ich ihm in sein Reich folge. „So …“ Ich lasse mich aufs Bett sinken, stütze mich auf die Ellbogen und sehe ihn fragend an. „Was ist meine Aufgabe? Was soll ich tun, um mir den nächsten Buchstaben zu verdienen?“

Tobias nimmt auf dem Schreibtischstuhl Platz und rollt zu mir rüber. „Du sollst die nächste Stunde mit mir verbringen. Du darfst das Zimmer nicht vor …“, ein Blick auf die Wanduhr, die zwischen den beiden deckenhohen Fenstern hängt, „Viertel nach zwölf verlassen.“

„Hat Flo sich das ausgedacht oder du? Worin besteht die Herausforderung? Was ist daran so … besonders?“

„Ich natürlich!“, spielt Tobias den Empörten. „Wenn man bedenkt, wie wir uns getrennt haben und dass wir uns seitdem erst dreimal gesehen haben, wobei gesehen etwas übertrieben ist, weil wir hauptsächlich damit beschäftigt waren, uns nicht zu sehen …“

„Verstehe … Wir könnten uns die ganze Stunde anschweigen. Einander ignorieren.“

„Ja, das können wir. Oder du denkst dir was aus, was du gern mit mir machen möchtest.“

„So was wie Tanzen gehen?“, schlage ich vor.

„Nein, hier und jetzt. Schon vergessen? Verlässt du das Zimmer, ist die Karte futsch. Und du erfährst nie, was am Ende auf dich wartet.“

„Dann also was ausdenken. Egal was?“

„Egal was. Ich wäre dir allerdings sehr dankbar, wenn du mir dabei nicht wehtun würdest. Zumal ich dann dir wehtun müsste und das wollen wir beide nicht.“ „Egal was?“, frage ich wieder, um ganz sicher zu gehen.

Tobias nickt.

Ich gebe ihm noch eine Sekunde, eine Chance, seine Antwort zu überdenken, dann stehe ich auf und ziehe mir das T-Shirt über den Kopf, verharre mit hochgestreckten Armen, warte, dass mein Ex-Freund es mir gleichtut. Er zögert, sieht mich leicht verunsichert an, murmelt ein Was soll's und wirft sein T-Shirt zu Boden. Keine Minute später stehen wir splitterfasernackt voreinander, unsere Blicke treffen sich, halten sich, mein Unterbewusstsein unterhält sich mit seinem über Dinge, von denen wohl keiner von uns je was erfahren wird. Er kommt einen Schritt auf mich zu, ich mache den nächsten, bis meine Zehen auf seine treffen. Schließlich wende ich meinen Blick von ihm ab, schließe meine Augen und lege meinen Kopf auf seine Schulter, so, dass ich mit jedem Atemzug den Duft seiner Haut und seiner Haare in mich aufnehmen kann. Der exotische Duft von Guave und Mango, der Duft, der mich damals schon verrückt gemacht hat.

Tobias' winzige Bartstoppeln kratzen kaum merklich über meine Wange, seine Finger wandern durch meine blonden Haare, seine Hand streicht sanft über meinen Rücken, jede seiner Berührungen bringt mein Herz dazu, noch schneller zu schlagen. Minutenlang stehen wir da, streicheln einander, spüren einander, atmen einander, ohne dass sich unsere Lippen näher kommen, ohne dass es zu einer körperlichen Reaktion kommt. Voller Leichtigkeit und Unbeschwertheit, als würden wir auf einer Wolke schweben, als wären wir selbst Wolken. Ohne ein Wort zu sagen, nimmt Tobias meine Hand und führt mich zu seinem Bett, schlägt die Decke zurück und folgt mir hinein. Wieder treffen sich unsere Blicke, für kurze Zeit nur diesmal, während Tobias in einer seiner Nachttischschubladen nach etwas kramt. Er lächelt, als er mich aufs Kissen drückt, meine Augen schließt und zu lesen beginnt.

„Es waren einmal“, höre ich die Stimme eines Engels sagen, „zwei Jungen, die seit ihrer Kindheit befreundet gewesen waren, mal mehr und mal weniger. Sie spielten und tobten miteinander, sie lachten und rauften und stritten sich, doch nach einiger Zeit fanden sie stets einen Grund, sich wieder zusammen zu tun und ihre Freundschaft aufs Neue mit einem Handschlag, einer Umarmung oder einem Lachen zu besiegeln. So vergingen die Jahre und die Jungen wurden älter, doch an ihrer Freundschaft und dem Auf und Ab änderte sich nichts, nicht einmal, als der eine Junge sein Interesse für Mädchen entdeckte und seinem Freund etwa zur gleichen Zeit klar wurde, dass er dieses Interesse nicht teilte. Doch eines Tages, lange nachdem der erste Flaum in ihren Gesichtern von Bartstoppeln verdrängt wurde, merkte der erste Junge, dass er für seinen Freund plötzlich mehr empfand als früher und so wurden sie ein Paar, so glücklich und unzertrennlich, wie man es sich nur vorstellen kann …“ Er wird doch jetzt nicht aufhören, oder? Unsere Geschichte geht erst richtig los! Die schönste Zeit unseres Lebens, er kann sie nicht einfach so weglassen! Ich öffne die Augen und will gerade einen Streit vom Zaun brechen, als ich die Tränen auf seinem Gesicht bemerke.

„Es tut mir leid“, sagt er. „Das hätte nicht passieren sollen. Ich wollte nicht anfangen zu heulen.“

Ganz automatisch legen sich meine Arme um ihn und ziehen ihn zu mir. „Schhhh … Wieso hast du dich von Florian überhaupt dazu breitschlagen lassen? Sonst warst du immer dagegen, wenn es um die Spiele ging.“

Er schnieft und wischt sich mit dem Handgelenk die Tränen aus den Augen. „Weil ich mit dir allein sein wollte …“

„Ein Tanz auf dem Abiball morgen hätte es auch getan, oder?“

Energisch schüttelt er den Kopf. „Nein, zu spät. Ich wollte mich richtig von dir verabschieden. Heute.“

„Tobi, nach Berlin ist es doch keine Weltreise!“

Er drückt mich ein Stück von sich, um mir fest in die Augen sehen zu können. „Von Australien aus schon.“

„Von Australien? Klasse! Wieso hast du nichts gesagt, ich wäre mitgekommen. Urlaub in Australien! Wann fliegst du?“

„Morgen früh.“ Seine Stimme ist nicht mehr als ein Flüstern. „Als Au-pair. Für ein Jahr.“

Als hätte mich ein Skorpion gestochen, springe ich aus dem Bett und knalle dabei mit dem Kopf gegen die Schranktür. „Verdammt!“, fluche ich und reibe mir die Stelle am Hinterkopf. „Ein ganzes Jahr? Spinnst du? Was soll das? Wieso …? Wieso?! Was ist aus Hamburg geworden?“

„Das war …“ Er atmet tief durch. „Das war … bevor …“

„Du gehst wegen mir?“

„Du schmeichelst dir.“ Sein Lachen klingt gekünstelt, unecht. „Ich dachte nicht, dass es dir was ausmacht, wir haben seitdem … in letzter Zeit kaum noch was miteinander zu tun gehabt.“

„Weil du mit mir Schluss gemacht hast.“

„Du hast dich in meine Schwester verliebt!“

„Ja, aber ...“

„Aber was, Max? Eine Ménage-à-trois? Bruder, Schwester und Maximilian, der sich nicht für einen der Zwillinge entscheiden kann? Ich musste diese Entscheidung treffen! Die einzig mögliche oder hätte ich dir verbieten sollen, meine Schwester wiederzusehen?“

„Ich habe dich geliebt! Und ich habe sie geliebt.“

„So sehr, dass du es ihr kein einziges Mal gesagt hast. Dreimal hat sie die Zauberworte gesagt, ohne eine Reaktion von dir. Weil du wusstest, dass es gelogen wäre. Dass du keinen von uns genug liebst, um damit aufzuhören. Du kannst nicht damit aufhören, für niemanden. Das ist es, wieso auch sie mit dir Schluss gemacht hat. Wieso wir gehen. Hier hält uns nichts mehr, Max. Nicht einmal du.“

Zu viel Wahrheit steckt in seinen Worten, als dass ich ihm widersprechen könnte. Es ist, als hätte er mich damit meiner Kräfte beraubt, ich fühle mich schwach, ausgelaugt, müde.

„Kate geht auch?“

„Ja, nach China.“

„China?“, frage ich und wundere mich zugleich, wie ich so blind gewesen sein kann. Erinnerungen an Nachmittage, Abende und Nächte drängen sich wieder in mein Gedächtnis, Zeiten, die sie am Schreibtisch verbrachte, mit hohen Stapeln von Büchern über die chinesische Sprache und Kultur neben sich, die Zeichen mit solch einer Hingabe aufs Papier brachte, dass ich stundenlang neben ihr sitzen und ihr dabei zuschauen konnte. „China … So weit weg von mi – hier“, verbessere ich mich, „wie nur möglich. Und eure Eltern?“

„Sie haben uns so großgezogen, haben uns ihre Liebe zu fremden Kulturen vererbt. Sie finden es großartig.“

„Australien … China … Wieso bist du nicht einfach gegangen? Einfach so, ohne es mir zu sagen? Wieso seid ihr nicht einfach abgehauen?!“ Ich sehe mich im Zimmer um, suche nach etwas, was ich kurz und klein schlagen kann, doch diese Genugtuung bleibt mir verwehrt, daher tue ich das Nächstbeste und hämmere mit aller Kraft auf die Schreibtischplatte ein. Ohne Erfolg, denn der Zorn in mir denkt nicht einmal daran, kleiner zu werden.

„Weil ich dich trotz allem liebe.“

Das Schlimmste ist, dass ich ihm glaube. Obwohl ich im gleichen Moment die Worte meines Vaters vernehme, seinen kläglichen Versuch, mich zu trösten, als Tobias mich verlassen hat: Liebe heißt vieles, Maxi, einander achten, Kompromisse eingehen, füreinander da sein, aber niemals, dich selbst aufzugeben, deine Träume wegzuwerfen, deine Wünsche immer hinten anzustellen.

Und trotzdem glaube ich Tobias. Weil ich weiß, dass es stimmt. Weil auch ich ihn liebe. Doch es stimmt auch, dass das nun mal nicht reicht, weil es etwas gibt, was ich noch viel mehr liebe: die Aufregung, dieses Spiel zu spielen, den Nervenkitzel, wenn man etwas Neues erlebt. Wie eben von jemandem verlassen zu werden, der einem was bedeutet. Viel bedeutet. Sehr viel bedeutet.

Kates Flehen bahnt sich einen Weg zurück in mein Gedächtnis und ich schenke ihm das wärmste Lächeln, zu dem ich fähig bin, so schmerzhaft es für mich auch ist. „Australien, China … Ich wünsche euch beiden viel Spaß und eine tolle Zeit. Lasst von euch hören, ja?“ Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass in zwei Minuten meine Zeit vorbei ist. Ein letztes Mal umarme ich ihn und sauge seinen Duft ein, will ihn nie vergessen, den Duft nicht, Tobias nicht. Dann ziehe ich mich an, nehme die Karte, die er mir entgegenhält und öffne die Tür. „Ich werde dich vermissen, Tobi“, rufe ich ihm zu, bevor ich lachend sein Zimmer und schließlich das Haus der Erinnerungen verlasse, ohne mich noch einmal umzuschauen.

Gleich hinter der nächsten Kreuzung steht eine Ruine, ein Haus, das nie über den Rohbau hinausgekommen ist. Ich schlüpfe durch die Türöffnung hinein, schließe hinter mir die nicht vorhandene Tür, lehne meinen Rücken gegen den grauen kalten Stein, schließe die Lider, lasse mich zu Boden sinken und meinen Tränen freien Lauf.

12:17 Uhr.

Was stimmt nicht mit mir? Wieso mache ich den ganzen Mist mit? Was kann ich tun, um nicht mehr so … abhängig davon zu sein? Abhängig, wie ein Junkie. Nicht wie ein Junkie, ich bin einer.

Ich schaue auf die Uhr, dann auf die Karte. Noch drei Minuten bis zur nächsten Aufgabe. Bis zum nächsten Treffpunkt.

Tobias.

Wer wartet dort auf mich? Wo ist das überhaupt?

Ich könnte zurücklaufen, ihn um Hilfe bitten, ihn anflehen, mir noch eine Chance zu geben.

Dies ist die richtige Straße. Die Nummer? Das Haus, die Ruine hat keine Nummer. Ich laufe zum nächsten Haus. Nummer 24.

Er liebt mich. Trotz allem, hat er gesagt. Er würde mir bestimmt helfen. Ganz bestimmt.

Ziel: Blumenweg, zwischen Hausnummer 24 und 26. Das ist die Ruine. Neunzehn nach. Ist da gerade jemand reingehuscht? Wieder zurück. Ich bin pünktlich, werde jedoch bereits erwartet. Mein Herz macht einen Sprung, als ich im Halbdunkel die hellen Bermudas und das orangefarbene T-Shirt erkenne, die Sachen, die Tobias vorhin ausgezogen hat. Er dreht sich um, kommt näher, das Gesicht wird immer deutlicher …

„Hallo Maximilian“, sagt eine weibliche Stimme, was in mir zugleich Enttäuschung und steigendes Interesse hervorruft. „Mein Name ist Adame, ich bin deine Kristallkugel.“

„Kristallkugel? Bist du Teil des Spiels?“

Sie nickt, dann setzt sie sich auf den kalten, nackten Boden und bedeutet mir, es mir ihr gegenüber unbequem zu machen.

„Meine Kristallkugel?“, wiederhole ich die Frage. „Was genau heißt das? Dass du meine Zukunft voraussagen kannst?“

„Die Zukunft“, nickt sie, „die Vergangenheit, die Gegenwart ...“

„Danke, aber an die letzten beiden kann ich mich gut genug erinnern, schließlich habe ich mich höchstpersönlich in diese Lage gebracht.“

„Welche Lage?“ „Ich dachte, als Orakel ...“

„Kristallkugel“, korrigiert sie mich.

„Als Kristallkugel, stelle ich mir vor, solltest du Fragen beantworten, nicht noch mehr aufwerfen.“

„Sicher, das ist meine Aufgabe, sofern du Fragen hast. Aber manchmal ist eine Frage die Antwort. Oder zumindest ein Schritt in die richtige Richtung.“

„So was wie Der Weg ist das Ziel?“

„So ungefähr. Aber du hast Recht, fangen wir damit an, dass ich dir ein paar Fragen beantworte. Schieß los!“, fordert sie mich auf.

Ich komme dem nicht gleich nach, lasse mir Zeit, um sie eingehender zu betrachten. Denkt man an eine Wahrsagerin, dann stellt man sich eine ältere Frau mit langen, quirligen Haaren und vielen bunten Kleidern vor, die nach Kräutern riecht und etwas von einer Hexe hat. Meine Kristallkugel jedoch ist jung, vergleichsweise zumindest – ich schätze sie auf Mitte dreißig. Sie hat eine kurze, modische Frisur, als knabenhaft würden manche sie bezeichnen, die perfekt zu ihrer Kleidung passt, von der ich immer noch überzeugt bin, dass sie Tobias gehört. Ihre Augen sind … blau, lebendig, ihr Gesicht ist von einer solch schlichten Schönheit, dass sie mühelos in einer Menge verschwinden könnte, das Lächeln, das sie mir gerade entgegenbringt, würde hingegen aus jedem noch so großen Menschenwirrwarr strahlend hervorstechen. Ob sie vielleicht die Frau mit der Maske ist?

„Bin ich nicht“, scheint sie meine Gedanken gelesen zu haben, „aber vielen Dank für das Kompliment.“

Ich starre sie eine Weile ungläubig an, schließlich fange ich mich und frage sie: „Wieso? Wieso sollte ich mich mit dir unterhalten? Mit einer Fremden?“ „Weil ich dir helfen kann.“

Es gefällt mir, dass sie nicht sagt, dass ich es tun muss, weil das Spiel es verlangt.

„Kann ich dir vertrauen?“

„Du meinst, ob ich dir die Wahrheit sagen werde?“, hakt sie nach.

„Mhm.“ „Dir ist klar, dass niemand eine solche Frage zufriedenstellend beantworten kann? Wenn ich Ja sage und dabei lüge, wirst du mir glauben oder jedes meiner Worte anzweifeln? Und wenn ich ehrlich bin und nein sage, was tust du dann?“

„Verzweifeln?“, antworte ich mit einem schiefen Lächeln.

„Genau. Manche Fragen sollte man also besser nicht stellen. Denke nach und stelle die richtigen Fragen, dann bekommst du auch die Antworten, die du suchst.“ „Okay. Du sagtest, du könntest mir helfen?“

„Deswegen bin ich hier. Florian hat sich für heute einige besonders schwierige Aufgaben ausgedacht, wie ich finde, Aufgaben, die nicht nur Auswirkungen auf dein eigenes Leben haben, sondern auch auf das deiner Freunde, Familie, in mancherlei Hinsicht auf die ganze Gemeinschaft hier in eurem kleinen Ort.“

„Haben nicht alle Aufgaben Auswirkungen auf andere Menschen? Jede Entscheidung, die man trifft?“

Sie lächelt, als hätte ich mit meiner Frage ein wichtiges Rätsel gelöst. „Das ist es, was dir zu schaffen macht, nicht? Dass du anderen damit wehtust. Ohne es zu wissen, ohne es zu merken, hast du Tobias wehgetan, obwohl du ihn immer nur beschützen wolltest. Und dann stellt sich heraus, dass du selbst ihm mehr Schmerzen zugefügt hast als sonst jemand.“

Ich spüre, wie mir Tränen in die Augen schießen, versuche sie wegzublinzeln, verliere den Kampf …

„Woher …?“, schniefe ich und wische mir die Tränen aus dem Gesicht.

„Kristallkugel“, sagt sie nur und sieht mich mitleidig an.

„Was soll ich tun? Ich habe ihn für immer verloren.“

„Unsinn!“, sagt sie mit scharfer Stimme. „Es ist ja nur für ein Jahr. Ein Jahr, das euch beiden gut tun wird. Etwas Abstand wird eurer Freundschaft helfen.“ „Freundschaft? Und unsere … Können zwei Menschen, die einander … viel bedeuten, wieder zusammen finden, auch wenn der eine dem anderen so richtig wehgetan hat?“

„Indem er zum Beispiel etwas mit der Schwester anfängt?“

„Woher weißt du das alles?“, wiederhole ich meine Frage, doch Adame denkt nicht mal daran, darauf einzugehen.

„Warum hast du dich auf Kate eingelassen? Und warum hat er mit dir Schluss gemacht? Was sagt das über deine und Tobias' Beziehung aus?“

„Ist doch klar, wieso er mich in die Wüste geschickt hat, das hätte jeder getan!“, verteidige ich meinen Freund.

„Du hältst ihn immer noch für deinen Freund“, erwidert sie, doch dieses Mal wird meine Überraschung von aufkommender Wut im Keim erstickt.

„Was denn sonst? Mein ehemaliger Freund? Mein Ex-bester-Freund? Mein Freind?“

„Wo hast du den Ausdruck denn her?“, lacht sie und ich kann nicht anders, als mit einzustimmen.

„Keine Ahnung, irgendwo aufschnappt. Wir waren schon immer Freunde und das werden wir auch immer bleiben. Ungeachtet dessen, wie weit wir uns voneinander entfernen, wir finden immer wieder zusammen.“

„So ist es. Als Freunde.“

„Ja“, seufze ich. „Als Freunde.“

„Sieh mal, Max. Du und Tobias, ihr habt eine wunderbare Freundschaft, stark, verlässlich, aufregend. Aber die wenigsten Freundschaften entwickeln sich zu einer dauerhaften und stabilen Beziehung, weil eine Beziehung ein ständiger Kampf ist. Und keiner von euch hat auch nur daran gedacht, um den anderen zu kämpfen, als es darauf ankam. Oder?“

„Und … wieso haben wir das nicht?“

„Vielleicht habt ihr gefühlsmäßig gewusst, dass es so sein muss. Es gibt so viele verschiedene Arten von Liebe, Freundschaft ist nur eine davon. Oft verwechseln wir die beiden miteinander, aber irgendwann stellen wir fest, dass wir entweder das eine oder das andere haben möchten.“

„Beides …“

„So sehr wir uns das auch wünschen“, meint sie, „das klappt nicht, nicht auf Dauer. Irgendwann kriselt es in jeder noch so festen Beziehung und spätestens dann braucht man jemanden, mit dem man reden kann, dem man all das anvertrauen kann, womit man beim Partner auf Unverständnis stößt, einen besten Freund eben.“ „Das klingt alles plausibel“, gebe ich zu, „prima, aber es erklärt nicht, warum wir unsere Beziehung aufgegeben und uns so sehr voneinander entfernt haben, dass sogar unsere Freundschaft zeitweise zu einer Kühlkammer wurde.“

„Die Antwort darauf kennst du bereits. Die Antwort bist du. Und Tobias. Und ich. Dieses Haus hier, Florian, dein Vater, jeder, den du kennst und der akzeptiert, womit Tobias nicht umgehen kann.“

Ich nicke. „Das Spiel.“

„Das Spiel. Zumindest seit du Florian kennst. Aber auch davor hattest du schon einen Hang dazu, verrückte Sachen auszuprobieren. Dich in Gefahr zu bringen. Schon mal darüber nachgedacht, wieso?“

„Liegt das nicht auf der Hand? Manche sammeln Star Wars-Karten oder Bücher oder DVDs, ich sammle Abenteuerpunkte. Das Leben ist zu kurz, um es nicht zu leben.“

„Sagt wer? Du könntest hundert Jahre alt werden …“

„Oder mit Einunddreißig sterben, weil ich zur falschen Zeit am falschen Ort bin“, beende ich schroff ihren Satz. „Unsere Unterhaltung ist hiermit beendet“, sage ich kühl und blicke sie auffordernd an.

„Ja“, nickt sie mitfühlend, dann steht sie auf und händigt mir die nächste Aufgabe aus. „Du kannst jederzeit abbrechen“, fügt sie leise hinzu, bevor sie mich mit meinem Schmerz allein lässt.

Wenige Minuten später.

Die Tränen laufen ungehindert über mein Gesicht, die Welt um mich herum geht unter in den Bächen, die aus meinen Augen quellen. Alles ist verschwommen, meine Sicht, meine Gedanken, meine Erinnerungen. Unklar, undeutlich, nicht voneinander zu unterscheiden, Fantasie und Realität vermischen sich. Ich stehe auf einem Podest, umkreist von Menschen, die stellvertretend für die gesamte Menschheit stehen und schaue jedem von ihnen in die Augen, während ich sie verfluche. Ich verfluche Flo für die heutigen Aufgaben. Kate, weil sie meine Spiele nicht ausstehen kann, aber keine Skrupel hat, selbst ihre Spielchen zu spielen. Tobias, meinen liebsten Tobias, weil er mich nicht genug liebt, um mich so zu akzeptieren, wie ich bin. Ich verfluche meinen Vater, weil er sie nicht gerettet hat. Den Bankräuber, weil er sie getötet hat. Meine Mutter, weil ich sie so sehr vermisse.

Ich verfluche mich selbst auf dem Weg zurück zu Tobias' Haus, wo ich in meiner Hast mein Fahrrad vergessen habe, verfluche mich, als ich ihn durch das Küchenfenster erblicke, weil ich für ihn einfach nicht genug bin, verfluche mich immer noch, während ich die drei Kilometer zum Friedhof zurücklege und zwischen all den Steinen und Fotos und Blumen und Kerzen umherirre, bis ich mein Ziel erreiche. Ich wische mir die Tränen aus den Augen, berühre mit den feuchten Fingern ihr Gesicht, kann sie spüren, um mich herum, ihre Präsenz, überall, sie ist bei mir, hier, in diesem Moment.

Ich vermisse dich. Ich liebe dich.

Ich bin müde von all dem Weinen, lege mich ins Blütenmeer und schließe meine Augen.

Ich liebe dich. Gute Nacht.

Viel später.

Ich wache auf von einer Berührung so zärtlich, wie ich sie vor wenigen Stunden erst erlebt habe. Sie ist wieder da, meine Göttin, wage ich zu hoffen, als ich die Augen öffne und in den klaren Himmel über mir blicke, aus Angst, das Gefühl auf meiner Wange könnte sich als trügerisches Überbleibsel aus meinem Traum herausstellen. Doch die Berührung ist echt, Sie ist echt, ich kann Sie spüren neben mir, Ihren Atem fühlen, Ihren Herzschlag hören, und als ich mich endlich auf die Seite drehe, kann ich Sie auch sehen. Ihr Gesicht ist immer noch hinter der Maske versteckt, doch Ihr Lächeln ist unübersehbar. Und es gilt mir.

Meine Hand findet einen Weg zu Ihrer Wange, streicht über die weiche, zarte Haut, und während wir so daliegen und uns anschauen, kommen sich unsere Gesichter näher. Ist sie meine Rettung?, schießt es mir durch den Kopf. Wird sie meine Schmerzen lindern können? Wird sie mich so mögen, wie ich bin? Wird sie mich lieben trotz meiner Fehler, bedingungslos, und im Gegenzug meine ewige Liebe erdulden?

Ihre Lippen sagen Ja, Ihre Finger sagen Ja, Ihre Augen sagen Ja, bevor Sie sie schließt und unsere Lippen wieder zueinander finden. Doch der Kuss dauert nicht ewig, viel zu schnell trennen wir uns und Aphrodite lässt sich auf den Rücken fallen, schaut weg von mir, hinauf in die Unendlichkeit des Himmels. Ich nehme Ihre Hand in meine und lasse meinen Blick dem Ihren folgen, entdecke dort oben das schönste Blau, das ich je gesehen habe, ein Blau, das die Welt um uns herum erobert, uns selbst auch, bis alles in diesem glücklich machenden Blau erstrahlt, das einfach zauberhaft und göttlich und wunderschön ist. Fast so schön wie meine Göttin.

„Wer bist Du?“, höre ich irgendwann meine Stimme und bin überrascht, als Sie sich aufsetzt und mich ansieht. Die Freude in Ihren Augen ist einer tiefen Traurigkeit gewichen, vielleicht sogar Angst.

„Es tut mir leid“, reagiere ich, so schnell ich nur kann, „ich wollte Dir nicht zu nahe treten. Es ist nur, dass ich mich noch nie so wohl gefühlt habe mit jemandem, wie jetzt hier mit Dir. Und ich fände es großartig, wenn wir uns öfter treffen könnten. Vielleicht mal richtig ausgehen. Ohne Maske?“

Sie nickt zögerlich, lässt meine Hand los und führt Ihre zur Maske, zögert erneut. Sie schließt Ihre Augen und Ihre Stirn kräuselt sich, als bereite es Ihr große Schmerzen, die Maske abzunehmen. Mit einem Ruck zieht Sie sie über den Kopf, die Augen immer noch geschlossen, während ich meine ungläubig aufreiße.

„Du!“, stoße ich erzürnt hervor und springe hoch, werfe mich mit all meiner Kraft auf ihn, denn Sie ist keine Sie, sondern ein Er. Ein Er, der … „Mein bester Freund?“, schreie ich ihn an, als meine Faust seinen Magen trifft. „Du willst mein bester Freund sein?“ Die zweite Faust erreicht ihr Ziel, der dritte Schlag trifft sein Kinn, im gleichen Moment entweicht die ganze Luft aus meinen Lungen, ich stolpere zurück, schnappe nach Atem und nach Florian, verliere mein Gleichgewicht und lande unsanft auf meinem Hintern. Einen Augenblick später wird mein ganzer Körper zu Boden geworfen, er setzt sich auf meinen Bauch und drückt meine Hände in die weiche Erde.

„Beruhige dich!“, sagt er leise. „Hör auf zu zappeln, dann kann ich dir alles erklären.“

Obwohl ich mich innerlich immer noch gegen ihn wehre, spüre ich meine Kräfte schwinden, als wäre ich eine aufblasbare Puppe, deren Luft aus unzähligen Löchern entweicht.

„Ich verstehe jetzt, wieso Tobi nicht mit mir zusammen sein kann“, flüstere ich mit letzter Kraft, „sogar warum Kate mit mir gespielt hat, aber du? Was habe ich dir angetan, dass du mich dazu bringst, mich in dich zu verlieben, obwohl eine Beziehung zwischen uns keine Chance hätte? Hat es dir Spaß gemacht, mich an der Nase herumzuführen? Ist das deine Art, dir deinen Kick zu holen? In den ganzen Jahren, seit ich deine Spiele spiele, habe ich keinem Menschen wissentlich wehgetan, und doch willst du dich für irgendwas an mir rächen. Was ist der Grund dafür?“

Florian lässt kopfschüttelnd von mir los und lässt sich neben mich fallen.

„Nichts, Maxi, nichts. Ich will mich nicht rächen.“ Er atmet tief ein, dann sagt er weiter: „Der ganze heutige Tag ist so … falsch. So vieles ist schiefgelaufen. Du solltest mit Tobi Frieden schließen, nicht mit gespielter Freude rausrennen, um bei der nächsten Gelegenheit wie ein Baby zu weinen anzufangen. Mit Kate wolltest du sowieso schon seit Wochen Schluss machen, aber dass sie sich nur wegen Tobi auf dich eingelassen hat, das konnte ich nicht ahnen. Ich … kontrolliere nicht jeden Aspekt des Spiels, schon gar nicht, wenn andere Menschen involviert sind, wie heute. Wenn das heutige Spiel eine Überschrift bekommen hätte, so wäre sie Liebe gewesen. Stattdessen lautet sie Schmerz. Es tut mir leid, du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr. Ich wollte, dass heute der glücklichste Tag deines Lebens wird, dass du das Spiel zu Ende spielst, die Frage herausfindest und sie mit Ja beantwortest.“ Er dreht den Kopf zu mir und sieht mich an. „Ich wollte, dass du glücklich wirst, mehr nicht.“

Eine Zeitlang liegen wir wortlos nebeneinander und ich wünsche mir, meine Mutter würde sich bemerkbar machen und mir sagen, was ich tun soll, was ich fühlen, sagen, schreien, wie ich reagieren soll.

„Dann erklär mir, was die Aufgaben deiner Meinung, deinem Plan nach bewirken sollten“, fordere ich ihn schließlich auf.

Er räuspert sich, dann antwortet er: „Was es mit Tobi und Kate auf sich hatte, weißt du ja jetzt.“ Ich nicke und bedeute ihm fortzufahren. „Die Buchhandlung und das Buch, bei beiden geht es um die Liebe. Niemand liebt Bücher mehr als die Brauns. Und sie lieben einander. Das Buch, nun, der Junge rettet die Welt, aber er tut es nicht, weil er ein Held sein will, er tut es aus Liebe, aus Liebe zu seiner Schwester.“

„Er rettet die Menschheit also?“, frage ich nach.

„Ja, aber das war eigentlich klar, oder? Sein Weg dahin, das ist es, was die Geschichte ausmacht, also kannst du ruhig weiterlesen. Okay, weiter geht’s mit dem Reisebüro. Du hast dich nicht mit dem Typen verabredet, das hat mich schon etwas überrascht, aber zugleich meine Hoffnung bestärkt, dass deine Zeit der unbedeutenden Flirts allmählich vorbei ist. Was Amsterdam angeht, ich hoffe, dass wir dort eine tolle Woche zusammen verbringen werden.“

„Du willst da wirklich hin? Für 1600 Euro?“

„Wenn du mitkommst … Betrachte es als Geschenk.“

„Wofür?“, hake ich nach. „Mein Geburtstag ist noch lange hin.“

„Dazu kommen wir noch. Gehen wir erstmal zurück zum Marktplatz.“

„Die Kuss-Aufgabe“, nicke ich.

„Die Kuss-Aufgabe“, bestätigt Florian. „Ja, ich wollte, dass du dich in mich verliebst, sonst hätte ich das ganze Theater vergessen können. Wenn du wüsstest, wie schwer es war, meine Hände so geschmeidig werden zu lassen, das ist eine Tortur, sage ich dir.“ Er lacht – und ich muss zugeben, dass es trotz dieser etwas verkrampften Situation schön ist, ihn lachen zu sehen.

„Wozu das Ganze, Flo? Du und ich, das kann doch gar nicht klappen. Oder hast du plötzlich die Seiten gewechselt? Weiß deine Freundin davon?“

„Ich hab mit Juli letzte Nacht Schluss gemacht.“

„Was?“ Ich muss mich verhört haben! „Was ist mit Nach der Uni werden wir heiraten und unsere eigene Baby-Fußballmannschaft gründen?“

„Vorbei, Max.“

„Sie war deine große Liebe!“, erwidere ich und sehe ihn verständnislos an.

„Das dachte ich, stimmt. Bis zu unserem letzten Streit.“

„Ihr habt euch gestritten? Wann?“

„Nein, nicht mit Juli. Du und ich“, sagt er und zeigt mit der Hand auf mich und dann auf sich selbst.

Bei dem Streit ging es darum, dass ich nicht auf den Abiball gehen wollte, weil Kate da nicht hinwollte. Den Grund dafür kenne ich ja jetzt. Florian hingegen wollte unbedingt, dass ich dabei bin, und hat sogar damit gedroht, unsere Freundschaft zu beenden, sollte ich es mir nicht anders überlegen. Daraufhin bat ich meine Cousine Alex, mich zu begleiten, weil die Mädchen aus unserem Jahrgang bereits seit Wochen einen Partner gefunden hatten.

„Was hat denn der Streit mit dem Spiel heute zu tun?“

„Alles, Maxi. Ich habe nächtelang wachgelegen und mir darüber den Kopf zerbrochen, warum es für mich so wichtig ist, dass du morgen zum Ball kommst. Als ich es kapiert hab, war es so glasklar, dass ich mich wunderte, wieso ich es nicht früher bemerkt habe.“ Er macht eine kurze Pause, atmet mehrmals ein und aus, dann fährt er fort: „Jedenfalls habe ich dann gleich mit der Vorbereitung der Aufgaben angefangen – und jetzt ist alles kaputt. Hätte Adame bloß nicht deine Mutter mit ins Spiel gebracht!“

„Schwachsinn, Flo! Du hast es ihr doch selbst erzählt und dann erwartest du von ihr, dass sie nicht alle Karten ausspielt, um … Was eigentlich? Welchen Sinn hatte das Treffen mit ihr?“

„Sie …“, beginnt er, „sollte dich aufbauen, nachdem du mit Kate Schluss gemacht hast …“

„Habe ich nicht“, unterbreche ich ihn. „Sie hat es getan.“

„Ja, hat Adame mir erzählt.“

„Trotzdem, wieso hast du ihr all die Dinge über mich verraten, Sachen, die sie nichts angehen?“

„Ich habe ihr gar nichts verraten“, antwortet Florian und wirft damit noch mehr Fragen auf. „Alles, was sie von mir bekommen hat, war die Aufgabe, dich dazu zu bringen, nicht aufzugeben. Was sie total vergeigt hat.“

„Und was sie wusste, hat sie aus ihrer Kristallkugel, was?“

„Sie glaubt daran und irgendwie weiß sie Dinge, keine Ahnung woher. Nicht von mir jedenfalls“, kontert er und ich kann in seinen Augen erkennen, dass er die Wahrheit spricht.

„So etwas gibt es doch gar nicht, Flo“, zweifle ich seinen Verstand an.

„Sicher? Es gibt Menschen, die glauben an Gott, an Wunder, weshalb also sollte sie nicht die Zukunft voraussagen können?“

„Du hast ihr wirklich nichts verraten?“

„Nein“, sagt er bestimmt.

Ein nervöses Lachen entfährt mir. „Was ist das bloß für ein Schlamassel, hm? Was sollte das Ganze heute? Was ist die Frage, die ich jetzt nicht mehr selbst herausfinden kann? Was war dein Ziel, Flo?“

„Ist jetzt nicht der richtige Augenblick dafür. Zu spät. Zu chaotisch. Alles ist … vorbei“, schüttelt er traurig den Kopf und steht auf, reicht mir die Hand, zieht mich zu sich hoch.

„Das kannst du nicht machen, nicht nach allem, was passiert ist! Bitte!“, flehe ich ihn an.

„Du wirst mich für verrückt halten.“

„Das tu ich, seit ich dich kennengelernt hab“, grinse ich und er grinst zurück. „Ebenso verrückt wie ich, nur anders.“

„Ja“, lacht er und sagt dann: „Das Grab deiner Mutter sieht schrecklich aus, wir müssen hier dringend aufräumen.“

„Wir?“

„Klar. Wir haben uns doch mal geschworen, dass wir immer zusammenhalten, oder?“

„Danke, Mann. Aber lenk nicht ab.“

„Einen Versuch war’s wert. Du musst mir aber vorher versprechen, dass du nicht wieder ausrastest und mich zusammenschlägst.“

„Du hast dich ganz gut gewehrt, so schlimm kann’s also nicht gewesen sein“, erwidere ich.

„Max!“

„Schon gut, ich verspreche es!“

„Okay. Die Frage“, er holt tief Luft. „Die Frage … lautet … Willst du mich heiraten?“

„Haha, total witzig“, sage ich mit gespielter Heiterkeit, doch sein ernster Blick verrät mir, dass er keinen Scherz macht.

„Ich sagte doch, dass du mich für verrückt halten würdest, aber ich meine es ernst. Mir ist klar, wie viel dagegen spricht: unser Alter, die unwichtige Tatsache, dass wir noch kein einziges Date hatten … Obwohl, wenn man es ins richtige Licht rückt, dann hatten wir schon einige Dates. Wir sind zusammen im Kino gewesen, nur wir beide, waren zu zweit essen, haben uns stundenlang unterhalten über Gott und die Welt und heute haben wir uns sogar geküsst. Und du hast gesagt, ich wäre die Liebe deines Lebens und die Mutter deiner ungewollten Kinder, was sich vielleicht als kleines, okay als ziemlich großes Problem herausstellen könnte, aber …“

Weiter kommt er nicht, denn irgendeine kosmische Macht, an die ich nicht glaube, treibt mich dazu, sein Gesicht in meine Hände zu nehmen und meine Lippen auf seine zu drücken. Ihn zu küssen, fühlt sich in diesem Moment an, als sei es das einzig Richtige, das einzig Wahre. Der Himmel auf Erden.

„Ist das ein Ja?“, fragt er, sobald er wieder zu Atem kommt.

„Du bist doch gar nicht schwul, Flo.“

„Du doch auch nicht.“

„Ich bin bi“, erinnere ich ihn.

„Und ich bin Max.“

„Häh?“

„Ich bin Maxsexuell“, klärt er mich nicht auf.

„Was bitte ist …“

„Ich mag auf Frauen stehen, Maxi. Aber noch mehr stehe ich auf dich. Keine Ahnung wieso, aber ich brauche dich. Und du brauchst mich. Und für mich ist das die perfekte Definition von Liebe.“

„Was ist mit der nicht ganz unwichtigen … körperlichen Komponente?“, frage ich nach, weil mir langsam die Argumente ausgehen und ich spüre, dass ich einer Beziehung mit ihm immer weniger abgeneigt bin.

Als Antwort nimmt er meine Hand und platziert sie direkt zwischen seine Beine.

„Das … das ist deine Reaktion auf den Kuss?“

Er nickt. „Hör zu, Max, gib uns einfach nur eine Chance.“

„Ich dachte, du willst mich heiraten.“

„Ja“, sagt er und seine Stimme bebt vor Aufregung. „Ich will an deiner Seite einschlafen und neben dir aufwachen, dafür sorgen, dass dein Hunger nach Abenteuern immer gestillt wird und dass du sie heil überstehst. Ich will dich glücklich machen, oder ist dir das zu kitschig, zu groschenromanmäßig? Lass es uns versuchen, wenn’s nicht klappt, dann eben nicht. Und wenn doch, dann ja, dann möchte ich dich eines Tages heiraten, wenn du es auch möchtest.“

„Lass uns aufräumen“, sage ich, weil ich die Zeit brauche, um all das zu verdauen, was er mir in der letzten Stunde oder so gestanden hat, und ignoriere die rastlose Erwartung, die sich hinter seinem Blick verbirgt.

16:47 Uhr.

Liebe hat für mich etwas mit Magie zu tun. Sie ist etwas Unerklärliches, Seltsames, Verrücktes. Zugegeben, ich habe in meinem Leben einige verrückte Dinge getan, aber nichts davon war für mich so normal und zugleich so verwunderlich wie meine Gefühle für Tobias, diese Verbindung, wie ein elastisches Band, das uns mal einander näherbrachte, mal voneinander entfernte. Mit seiner Schwester war das Band der Anziehung rein körperlich, sie ist gutaussehend und ich war neugierig, heiß auf eine neue Erfahrung, einen neuen Körper. Und das war okay, denn es war, was wir beide wollten: eine Sexbeziehung, ohne störende Gefühle.

Mit Florian wiederum hat mich, seit wir uns kennenlernten, stets eine tiefe Freundschaft verbunden. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, kommt sie mir etwas einseitig vor. Ich werde das Gefühl nicht los, dass er für mich immer da war, als Tobias mit mir Schluss machte oder als meine Mutter starb und mein Vater wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel und monatelang für niemanden zu erreichen war, nicht einmal für mich. Oder bei jedem Spiel, sei es, weil er sie sich ausdenkt und sie organisiert oder aber weil er im Grunde immer dabei ist, wenn auch nur aus der Ferne.

Und ich, was habe ich ihm bisher gegeben?

„Wieso bist du mein Freund?“, frage ich Florian deshalb, während ich die plattgelegenen Blumen mitsamt Wurzeln aus der aufgelockerten Erde ziehe, damit er die neuen Blumen einpflanzen kann, die wir aus dem nächstgelegenen Baumarkt geholt haben und die nun um das Grab herum verteilt sind. Er sieht mich mit seinen großen tiefblauen Augen an. „Wie bitte?“

„Ich meine, wieso bin ich dein Freund?“

„Ich kann mich nur wiederholen“, sagt er. „Was geht gerade in deinem Kopf vor?“

„Ich versuche zu verstehen, was passiert … ist. Was gerade passiert. Ich weiß nicht … Ich weiß, wieso du mein bester Freund bist. Weil du mir zuhörst, auch dann, wenn andere abschalten, weil sie der Meinung sind, dass ich nur Mist von mir gebe. Weil du Bücher liest und mir abstruse Geschichten erzählst und es manchmal schaffst, dass ich im gleichen Moment lache und weine. Weil du verstehst …“

„Versuchst du gerade zu ergründen, wie ich mich in dich verlieben konnte?“, unterbricht er mich mitten im Satz.

„Schätze schon.“

„Hmmm ... Einfach nur weil. Ich weiß es nicht. Oder doch. Weil ich dich verstehe. Ich verstehe, wieso es dir wehtut, an deine Mutter zu denken und du dennoch immer wieder an sie denkst. Ich verstehe, warum du die Spiele brauchst, die Gefahr suchst, das Abenteuer. Ich verstehe, weshalb du eine so große Angst vor dem Tod hast, dass du nicht genug vom Leben kriegen kannst. Und bevor du fragst, woher ich das alles weiß …“

Dieses Mal unterbreche ich ihn. „Weil du mir zuhörst.“ Er grinst, legt dann seine Hand, die vom Umgraben ganz schmutzig ist, auf meine Wange und küsst mich. Keine Schmetterlinge, kein Feuerwerk, lediglich eine wohlige Wärme, fast schon eine Hitze, doch immer noch äußerst angenehm, willkommen, liebevoll und zärtlich. Verliebe ich mich jetzt in ihn? In diesen durchgeknallten Typen, der meine Träume und manchmal auch meine Alpträume, wahr werden lässt? Der es sich zur Aufgabe gemacht hat, aus diesen Träumen ein unwiderstehliches Konstrukt, eine eigens für mich kreierte Sportart zu basteln, der ich mich schlicht und ergreifend nicht entziehen kann, nicht entziehen will?

Oder bin ich immer noch im Spiel? Ein neues Spiel – mit ganz neuen Regeln.

„Der Abiball“, frage ich ihn, „mit wem gehst du hin?“

„Mit dir hoffentlich“, antwortet er, ohne zu zögern, dennoch schaue ich ihn etwas skeptisch an, was ihm nicht entgeht. „Das heutige Spiel ist zu Ende, Max! Du weißt es, ich wäre sonst nicht hier. Ich würde dir nie wehtun, dir nie etwas vorlügen, dir nie etwas so Abscheuliches antun. Das hier ist real.“ Er legt seine Hand auf meine, eine Geste, die seine Worte unterstreicht. „Unsere Freundschaft war schon immer weit mehr als das Spiel, sie hat nicht erst damit angefangen. Und jetzt und hier würde ich sie gerne auf ein neues Level bringen. Hör auf zu zweifeln, gib mir die Gelegenheit, es dir zu beweisen.“

Welchen Beweis brauche ich noch? Er ist bei mir, gräbt mit seinen bloßen Händen in der Erde herum, obwohl er nichts mehr hasst als Gartenarbeit. Ist das nicht Beweis genug?

Ich atme tief ein und mache weiter. Alle paar Minuten wandern meine Augen zu ihm und jedes Mal bewegen sich meine Mundwinkel unwillkürlich nach oben, denn jedes Mal sehe ich ihn mehr und mehr als potentiellen Lover, Partner, vielleicht sogar Ehemann. Und was ich sehe, gefällt mir. Und das, was ich hinter seinem Blick erkenne, ist nichts anderes als … Ich kenne es aus Tobias' Augen und den Augen meiner Mutter, manchmal finde ich es auch in denen meines Vaters wieder – es ist Liebe. Und noch etwas anderes versteckt sich in Florians Augen – die Angst, ich könnte ihn ablehnen, seine Gefühle nicht erwidern. Wie leicht das wäre, dieser Stimme in meinem Kopf nachzugeben und seine Befürchtung real werden zu lassen. „Es tut mir leid“, beginne ich, doch er lässt mich nicht ausreden und deutet meine Worte fehl.

„Oh, okay. Das ist … ähm … nicht das, was ich erwartet hatte“, stammelt er überrascht.

„Nein, nein! Du verstehst das völlig falsch!“, erwidere ich, bevor er noch mehr hineininterpretiert und sich in etwas hineinsteigert, wo ich ihn nur schwer wieder herausziehen könnte. „Ich meine, es tut mir leid, dass ich dich behandle, als würden wir uns erst kennenlernen, als würde ich dir nicht vertrauen können. Also … ich fände es klasse, dich morgen zum Abiball begleiten zu dürfen. Und ich würde gerne mit dir zusammen sein. Und einen Monat im Braunschen Buchladen stehen und Bücher verkaufen. Was hast du dir denn dabei bloß gedacht?“

Ich lache und er stimmt mit ein, Erleichterung macht sich auf seinem Gesicht breit.

„Sie finanzieren mir das Studium und möchten, dass ich dann den Laden übernehme, damit sie sich zur Ruhe setzen können“, erklärt er.

„Das hast du mir nie erzählt.“ „Tu ich hiermit, gehörte alles mit zum Spiel heute.“

„Noch irgendwas, was ich hätte herausfinden sollen?“, frage ich nach.

„Nein, aber … Kannst du dir das vorstellen? Nach dem Studium wieder hierher zurückzuziehen, meine ich. Dass ich im Laden arbeite und du in der Stadt. Es ist nur eine halbe Stunde mit dem Auto, du könntest pendeln.“ Die Begeisterung in seiner Stimme, in seinen Augen ist ansteckend.

„Wenn uns jemand zuhören würde, könnte er glatt meinen, wir wären ein altes Ehepaar.“ Bei der Vorstellung müssen wir beide lachen.

Das Herauszupfen endlich geschafft, stehe ich auf und halte ihm meine Hand entgegen, ziehe ihn zu mir hoch, sobald er sie genommen hat. Dann lege ich meinen Arm um seine Taille und schaue ihm tief in die Augen. „Bis heute habe ich mir nie erlaubt, dich richtig anzusehen, weil ich dachte, mehr als Freundschaft wäre utopisch, aber jetzt, jetzt erkenne ich, dass du nicht nur der beste Freund auf Erden bist, sondern auch noch hammermäßig aussiehst.“ Seine Wangen leuchten in einem hellen Rot auf. „Ich möchte mit dir zusammen sein, Flo. Ich möchte, dass wir alles Erdenkliche tun, damit es mit uns funktioniert. Nicht nur heute oder morgen oder die nächste Woche oder den nächsten Monat. Ich möchte, dass wir dem Und sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende eine neue Bedeutung geben, daraus ein reales Märchen zaubern.“

Florian fängt an zu lachen und für einen Moment beginne ich wieder zu befürchten, dass das Ganze doch ein einziger Spaß ist, den er sich ausgedacht hat, doch dann wischt er meine Zweifel beiseite: „Und ich hab mir Gedanken darüber gemacht, dass meine Worte wie aus einem Groschenroman klingen könnten. Aber, um auf deinen fast schon Heiratsantrag zurückzukommen, das möchte ich auch.“

19:12 Uhr.

„Das war ja ein langes Spiel heute“, begrüßt uns Dad, sobald wir die Haustür hinter uns geschlossen und unsere Schuhe im Flur ausgezogen haben. Seltsamerweise sieht er dabei nicht mich an, seinen Sohn, sondern meinen Freund. „Florian, du bist voller … Ist das Erde?“, fragt er verwundert.

„Ich bin auch voller Erde!“, sage ich und ziehe damit endlich seine Aufmerksamkeit auf mich.

„Das bist du nach jedem Spiel, Max. Aber Florian nicht. Ich kann mich nicht daran erinnern, dich jemals so schmutzig gesehen zu haben. Was ist passiert?“ „Wir waren bei Mom“, antworte ich knapp. „Können wir uns jetzt bitte ausziehen und duschen gehen, danach werden wir dir alles erzählen.“

„Natürlich. Kommt in die Küche, wenn ihr fertig seid, ich bereite schon mal das Abendessen vor.“

Nachdem wir unsere Kleidung in den Wäschekorb gestopft haben, rennen wir, nur noch in Shorts bekleidet, die Treppe hoch, am Badezimmer vorbei in mein Zimmer. Ich drücke die Tür hinter uns zu, schließe ab und lehne mich dagegen.

„Wir sind endlich allein“, stellt Florian mit einem verführerischen Unterton fest. „Und fast nackt.“

Der Stoff, der locker über meinem linken Oberschenkel hängt, hebt sich und gibt einen ersten Blick frei auf das, was er verdecken soll. Intuitiv lege ich meine Hände davor, doch Florian nimmt sie wieder weg, als er auf mich zukommt und seine Lippen meine finden. Dieser Kuss ist intensiver, dringender, voller Verlangen. Unsere Steifen reiben aneinander, unsere Körper tanzen im schnellen Takt einer nicht hörbaren Melodie, es dauert nicht lange, bis wir beide schwer atmend explodieren und uns erschöpft zu Boden fallen lassen.

„Wir müssen duschen“, sage ich tonlos. Meine Hand liegt noch immer auf seinem Rücken, ich möchte sie da nicht wegnehmen, weil die Berührung einer Sensation gleicht, als wäre seine Haut das Kostbarste, das ich je berührt habe.

„Oh ja“, keucht Florian und sieht mich mit hochroten Wangen an.

„Nacheinander“, füge ich hinzu.

„Was?!“

„Flo, ich habe Angst“, gebe ich zu.

„Du? Angst? Wovor?“

„Davor, dir weh zu tun. Ich meine, du hast noch nie mit einem …“

„… Mann Sex gehabt?“, vervollständigt er meine Frage und beantwortet sie auch gleich mit einem Kopfschütteln.

„Lass es uns langsam angehen“, bitte ich ihn, „wir haben alle Zeit der Welt.“

„Haben wir“, gibt er nach. „Aber hör bitte auf, dir Sorgen zu machen, das macht dich nur noch heißer und bringt mich dazu, dich noch mehr zu wollen.“ „Versprochen“, grinse ich und schicke ihn mit einem Kuss unter die Dusche.

Während ich für uns beide frische Kleidung aus meinem Schrank heraussuche, höre ich aus dem Bad sein fröhliches Pfeifen. Nur mit Mühe kann ich der Versuchung widerstehen, ihm hinterherzulaufen und dort weiterzumachen, wo wir aufgehört haben.

Wir würden es nie und nimmer rechtzeitig zum Abendessen schaffen, lache ich bei der Vorstellung in mich hinein.

Obwohl Dad schon vor fünf Minuten zu uns hoch gerufen hat, das Abendessen sei fertig, lassen wir uns Zeit, gehen die Treppe gemächlich hinunter. Nach jeder Stufe bleiben wir stehen und schauen uns grinsend an, wie zwei Teenies, die zum ersten Mal verliebt sind. Was gar nicht mal so weit hergeholt ist, denn auch wenn wir zahlenmäßig aus dem Teeniealter raus sind, für mich ist es erst das dritte Mal, dass ich mich so richtig verliebe und für Florian … für ihn gilt das gleiche. Abgesehen davon hat Mom mir damals, als es mich zum ersten Mal erwischte, verraten, dass es sich jedes Mal so anfühlen würde, als wäre es das erste Mal, ganz egal, wie viele Beziehungen man hinter sich hätte. Und Mom hatte die Angewohnheit, Recht zu behalten mit dem, was sie sagte.

Auf der viertletzten Stufe bleiben wir wieder stehen, doch dieses Mal bleibt es nicht beim Grinsen und Anschauen. Sanft drücke ich Florian gegen die Wand, nehme seine Hand in meine und setze meinen Kopf so auf seine Schulter, dass mein Mund nur wenige Zentimeter von seinem Ohr entfernt ist.

„Hat dir schon mal jemand gesagt“, flüstere ich so leise, dass nur er mich hören kann, „dass du unglaublich schöne Augen hast?“

Er schüttelt sachte den Kopf. „Ich wurde schon mit einigen Adjektiven bedacht, aber schön war bisher noch nicht darunter.“

„Ab jetzt schon“, erwidere ich und lege meine Arme um ihn. Er umarmt mich zurück und es fühlt sich unheimlich gut an.

„Weißt du“, meint er, „falls du auf ein Kompliment von mir wartest, dann … dauert das noch eine Weile.“ Die Art, wie er das sagt und das ernste Gesicht, das er nur mit sichtlicher Mühe aufrecht erhalten kann, bringen mich dazu loszuprusten. Was Florian allerdings nicht weiter stört. „Aber ich habe was Besseres als ein Kompliment.“

„Und das wäre?“

Seine Antwort ist wortlos, dafür umso erregender.

„Da seid ihr ja end... Oh!“ Dads Stimme zerstört unsere Zweisamkeit. Unsere Lippen trennen sich, als wir merken, dass er vor uns steht und uns mit hochgezogener Augenbraue ansieht. „Das … muss heute ein interessantes Spiel gewesen sein, ich bin gespannt“, sagt er dann belustigt und deutet mit der ausgestreckten Hand in Richtung Küche. „Wenn die Herren so weit sind …“

21:58 Uhr.

Wir liegen im Bett und halten uns an den Händen, streicheln und küssen uns. Und schauen uns dabei die ganze Zeit an, ich kann mich an ihm einfach nicht sattsehen, was verrückt ist, weil … Nicht dass ich ihn früher gar nicht angesehen hätte, er war und ist mein bester Freund, doch früher hatte es keine tiefere Bedeutung. Hier, jetzt, in diesem Moment ist es, als würde ich in seinem Gesicht, in seinen Augen eine völlig neue Welt entdecken. Eine Welt, jener nicht unähnlich, die ich eine Weile lang mit Tobias geteilt habe, nur neuer, geheimnisvoller, aufregender – anders … Die Stimme meines Vaters bohrt sich einen Weg in meine Gedanken, seine Worte gehen mir nicht aus dem Kopf.

„Bin ich ein Monster?“, schießt es aus mir heraus.

Florians Hand bleibt auf meiner Pobacke liegen, eine Zeit lang sagt er kein Wort. „Es ist wegen Kate“, schlussfolgert er dann, „wegen dem, was sie gesagt hat.“ „Tobi auch. Nicht so direkt wie seine Schwester, aber … Und mein Vater meinte vorhin, dass ich dir nicht das Herz brechen soll.“

„Das will ich aber auch hoffen“, lacht er, wird jedoch gleich wieder ernst.

„Was, wenn ich gar nicht in der Lage bin, dich zu lieben?“, spinne ich den Gedanken weiter.

„Dann hat es mit uns nicht sein sollen.“

„Nein, so meine ich das nicht. Wenn ich überhaupt nicht lieben kann?

Florian setzt sich auf und nimmt meine Hand und küsst sie. „Du verscheißerst mich, oder? Okay, offenbar doch nicht. Dann hör mir jetzt gut zu: 1. Diese Selbstzweifel passen nicht zu dir, aber ich kann nachvollziehen, dass man auf solche abwegigen Gedanken kommt, wenn man das Gefühl hat, die ganze Welt hätte sich gegen einen verschworen. Und 2. Allein schon, dass dich das so sehr beschäftigt, zeigt mir, dass du sehr wohl in der Lage bist zu lieben.“

„Das sagst du nicht nur so?“, kommt es von mir, denn auch wenn es kindisch klingt, in diesem Augenblick muss ich es hören – von ihm.

„Habe ich dich jemals angelogen?“, antwortet er mit einer Gegenfrage, die ich mit absoluter Bestimmtheit verneinen kann. Das war schon immer das Beste an unserer Freundschaft – dass ich mich hundertprozentig und in jeder Situation auf ihn verlassen konnte, dass er mich nie belogen oder etwas vor mir geheimgehalten oder die Wahrheit verdreht hat.

„Weißt du was“, sage ich lächelnd, „du hast Recht. Alles was zählt, ist, dass wir beide uns verstehen und miteinander glücklich sind. Also läuten wir hiermit die heißeste Nacht unseres bisherigen Lebens ein.“

„Die erste von vielen“, fügt Florian zwinkernd hinzu und legt sich so auf mich, dass unsere Finger miteinander verflochten sind, seine Zehenspitzen mit meinen rangeln, er mein Herz und ich seines schlagen spüren kann und unsere Lippen in perfekter Symmetrie zueinander finden.

06:40 Uhr.

Immer wieder wache ich auf, davon überzeugt, alles sei nur ein Traum gewesen, doch dann höre ich ihn leise neben mir schnarchen, erkenne sein unglaublich schönes Gesicht, das von den ersten Sonnenstrahlen erleuchtet wird, spüre unter meinen Fingern, wie sich sein Brustkorb hebt und senkt, rieche die letzten Überbleibsel seines verblassten Aftershaves, küsse seine roten Lippen, von denen ich einfach nicht genug bekommen kann.

Schalte zum ersten Mal den Wecker aus, damit er nicht in zwei Minuten klingelt und ihn weckt. Mit meinem Kopf auf seiner Brust vernehme ich das Schlagen seines Herzens, das mich mit seiner Regelmäßigkeit wieder müde werden lässt. Die Augen fallen mir zu, ich reiße sie wieder auf, sehe Florian an, grinse, schließe meine Lider, bin un...end...lich … glück...

Lesemodus deaktivieren (?)