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its in his kiss

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Felix

Als alles anfing, kannten wir uns bereits ein gutes Jahr, vielleicht auch anderthalb. Unwichtig eigentlich, denn wichtig war nur, dass wir Freunde waren. Fynn war damals mein Nachhilfeschüler – so hatten wir uns überhaupt kennen gelernt, er hatte dringend Nachhilfe in Mathe und Englisch gebraucht und ich hatte nicht nur langjährige Erfahrung im Unterrichten, sondern auch einen guten Draht zu Jugendlichen. Wir waren uns auf Anhieb sympathisch, Fynn und ich, die Chemie zwischen uns stimmte, was wichtig ist im Nachhilfebereich – mit einer der wichtigsten Aspekte, wenn nicht der wichtigste überhaupt. Ist das nämlich nicht der Fall, dann kann der Lehrer noch so gut erklären und der Schüler noch so lerneifrig sein, wenn's nicht passt, dann passt's eben nicht.

Und zwischen uns passte es. Es war wie Liebe auf den ersten Blick, nur dass es keine Liebe war, sondern Freundschaft. Eine sicherlich ungewöhnliche Freundschaft, bedenkt man den hohen Altersunterschied, doch es gab nichts, was dagegen sprach. Im Gegenteil, meine Erfahrung hatte mich gelehrt, dass ich, indem ich eine eher freundschaftliche Beziehung auf gleicher Ebene zu meinen Schülern aufbaute, im Gegensatz zur, aus der Schule bestens bekannten, hierarchisch angeordneten Ordnung, besser zu ihnen durchdringen und sie motivieren konnte. So etwas setzt natürlich einen Luxus voraus, den Schullehrer sich nicht leisten können: Zeit.

Und die nahm ich mir – schweifte der Schüler ab, ließ sich ablenken oder war in dem Moment gedanklich einfach mit für ihn Wichtigerem beschäftigt, so ging ich darauf ein, hörte mir seine Probleme an, seine Gedanken, alles, was er zu sagen hatte. Solche Stunden waren fachlich meist nicht sehr produktiv, doch im großen Rahmen gesehen, halfen sie mir, den Schüler zu verstehen, zu lernen, wie er tickte und welche Knöpfe ich drücken musste, um ihn zum Mitarbeiten zu bewegen.

Es blieb natürlich nicht aus, dass ich auch von mir erzählen musste, nicht nur aus Höflichkeit, sondern auch weil eine Beziehung, jedweder Art, nicht nur aus Nehmen bestehen kann. Gerade bei Fynn fiel es mir leicht, aus mir heraus zu gehen, mit ihm Persönliches zu teilen, und ich muss sagen, dass er mir eine große Hilfe war, als meine damalige Freundin sich einige Monate später von mir trennte. Meinen Dank dafür winkte er mit einem Dafür sind Freunde doch da! ab.

Und so hatte ich kein Problem damit, Fynns Mutter zuzusagen, als sie mich vor einem halben Jahr anrief und bat, für ihren Sohn Krankenschwester zu spielen. Doch damit, ja, ich denke, an diesem Tag hat alles seinen Lauf genommen.

Fynn

Oh ja, an dem Tag, an dem Fix den Nachmittag und dann die Nacht, also fast einen ganzen Tag mit mir verbrachte, an dem Tag hat es begonnen. Der bis dahin schlimmste Tag meines Lebens, aber jetzt, im Nachhinein, der Beste.

Ich war nicht der kränkliche Typ, meine Mutter hat mir ihre Liebe zum Sport und zur Natur von klein auf … ja, vererbt. Aber an dem Tag, und an den darauffolgenden, ging's mir schlecht, so richtig schlecht. Ein Magen-Darm-Grippe-was-auch-immer-Virus hatte die meisten meiner Freunde und Mitschüler ans Bett gefesselt und schließlich auch mich erwischt und, da ich es nicht gewohnt war, wusste ich absolut nicht, wie ich damit umgehen sollte. Mit hohem Fieber, Husten, Hals- und Kopfschmerzen lag ich unter mehreren Decken im Bett, fror vor mich hin und übergab mich alle halbe Stunde oder so.

Meine Mutter musste arbeiten und da meine Oma zweihundert Kilometer weit weg bei meiner Tante wohnte, hatten wir nur einander und so stand ich vor der Wahl, die Zeit entweder mit der alten Frau Coco, wie sie sich gern selbst nannte, zu verbringen, wobei allein der Gedanke daran meinen Schüttelfrost verstärkte, weil sie immer etwas Unheimliches an sich gehabt hatte und sich zudem täglich mit einer Falsche Chanel vollsprühte und sogar aus dem Mund nach dem Zeug stank, oder aber mit Fix, der seine Bekanntschaft mit dem grassierenden Virus schon hinter sich hatte. Ich entschied mich natürlich für meinen Lehrer/Kumpel, ohne allerdings damit zu rechnen, dass er sich tatsächlich dazu breitschlagen lassen würde. Den gleichen Gedanken muss meine Mutter auch gehabt haben, denn sie versprach Fix den doppelten Stundenlohn, obwohl wir uns das nicht leisten konnten. Aber so sind Mütter, wenn es um ihr Ein und Alles geht, richtig?

Und Fix – er kam, sah und siegte. Er saß die ganze Zeit über an meinem Bett, sah mir beim Schlafen zu, nickte manchmal selbst ein, doch wenn ich wach wurde und den kleinsten Laut von mir gab, war er wieder voll da, erkundigte sich, ob ich Schmerzen hätte, maß mein Fieber, holte mir Wasser, nach einer Weile, als das Fieber nicht nachlassen wollte, zog er mir sogar in kaltem Essigwasser getränkte Socken an – ein altes Hausmittel, das er von seiner Mutter kannte, erklärte er mir – und leerte und spülte mehrmals meine Spuckschüssel aus. Mit anderen Worten: Das, was er an jenem Nachmittag für mich tat, ging weit darüber hinaus, was ein Nachhilfelehrer oder auch ein bester Freund tut. Hätte irgendjemand das Gleiche von mir verlangt, hätte ich ihm damals einen Vogel gezeigt und mich angewidert vom Acker gemacht.

In der Nacht darauf träumte ich zum ersten Mal von ihm, von ihm und mir, wir zwei – zusammen. Der geilste Traum aller Zeiten. Und in jener Nacht wurde mir klar, dass es nur einen Grund geben konnte, aus dem Fix all das für mich getan hatte. Nicht für Geld, das er, wie ich später erfuhr, abgelehnt hatte, sondern aus Liebe.

Felix

In den Wochen danach war Fynn wie ausgewechselt, was die Schule betraf. Er lernte mit einem Eifer, den weder ich noch seine Mutter von ihm kannten, so als würde er uns beweisen wollen, dass er es schaffen konnte, es schaffen wollte, als hätte die Krankheit seine gesamte Sicht auf das Leben verändert, oder zumindest auf die Schule. Ich wunderte mich und bewunderte ihn zugleich, traute mich aber nicht zu fragen, was diese plötzliche Einsicht herbeigeführt hatte, und wäre ganz sicher nicht auf die Idee gekommen, dass er mir imponieren wollte. Seine Mutter meinte, da sei bestimmt ein Mädchen im Spiel und auch für mich klang das plausibel, obwohl ich es schon merkwürdig fand, dass er mir nichts von ihr erzählt hatte.

Fynn

Sie dachten beide, dass ich ein Mädchen beeindrucken wolle und ich mich deswegen so sehr ins Zeug legte, dabei wollte ich doch nur, dass der Mensch, für den ich von Tag zu Tag mehr empfand, auf mich stolz war. Nicht, dass ich nicht schon ein paar verrückte Sachen angestellt hätte, um die Girls auf mich aufmerksam zu machen! Um Melanie, meine erste Freundin, von meinen ernsten Absichten zu überzeugen, habe ich ein ganzes Wochenende lang im Vorgarten ihres Elternhauses campiert, bis ihre Eltern es satt gehabt hatten und sie überredeten, wenigstens einmal mit mir auszugehen. Oder die Sache mit Charlotte, die jenem Typen ein Date versprach, der es schaffte, ihr einen Backstage-Pass für das nächste Konzert von ich+ich zu besorgen. Und wer ist mit ihr ausgegangen?

Die Dates an sich waren meist sehr langweilig, außer für Melanie habe ich eigentlich für keins der Girls richtig was empfunden – ihre Forderungen zu erfüllen, das war es, was den Kick ausmachte, den Reiz. Fix aber stellte keine Forderungen, trotzdem gab ich mir mehr Mühe von da an, weil ich hoffte, dass eines Tages vielleicht mein allnächtlicher Traum wahr werden und er meine Gefühle erwidern würde. Ich wollte ihn und ich würde alles in meiner Macht Stehende tun, um ihn zu bekommen.

Doch dann machte ich den größten Fehler meines Lebens.

Felix

Vor drei Monaten etwa, mitten im Schuljahr, ging ich wie üblich zu ihm hoch, doch anstatt am Schreibtisch zu sitzen und sich gedanklich auf die Stunde einzustellen, kam er mir, mit triefenden Haaren und von der Taille abwärts in ein Handtuch gehüllt, entgegen, drückte mich gegen den Türrahmen und küsste mich. Nicht auf die Wange, wie es immer mehr Jungs zur Begrüßung oder zum Abschied tun, sondern auf den Mund. Auf die Lippen. Ein echter Kuss, kein … Ein Kuss!

Ein Kuss, den ich zuließ, den ich erwiderte, den ich genoss, obwohl ich wusste, dass er verboten war. Sekunden, unendlich lange Sekunden dauerte es, bis ich wieder so weit bei Sinnen war, dass ich ihn wegdrückte und anschrie: „Was zum Teufel war das?“

Er lächelte sein verschmitztes Lächeln, das er sonst immer aufsetzte, wenn er über seine Eroberungen redete, und kam erneut auf mich zu. Mit ausgestreckten Armen hielt ich ihn mir vom Leib und wünschte mir zugleich nichts sehnlicher, als es zuzulassen. Ich drückte ihn in seinen Bürostuhl und hockte mich vor ihn.

„Was soll das?“, fragte er missbilligend. „Was ist dein Problem, Mann?“

„Wieso hast du das getan?“

„Was? Der Kuss?“ Ich nickte. „Aus dem gleichen Grund, aus dem nicht nur mein Schwanz dabei steif geworden ist. Ich steh auf dich – deutlich genug?“

Fynn

Das war doch offensichtlich, oder? Man geht doch nicht wahllos auf Menschen zu und küsst sie.

Ich war wütend, ich war verletzt. Ich war es nicht gewohnt, einen Korb zu kriegen. Ich hatte von Freunden gehört, wie es sich anfühlte, aber es fühlte sich tausendmal schlimmer an. Zurückgewiesen zu werden war mit nichts vergleichbar, was ich bis dahin erlebt hatte. Am schlimmsten fand ich, dass ich nicht verstand, wieso er mich zurückwies.

Felix

Kopfschüttelnd stand ich auf und lehnte mich an die Tür, hätte am liebsten losgeheult, denn ich wollte genau das Gleiche wie er. Er wollte mich, ich wollte ihn. Nur dass ich ihn nicht wollen durfte.

„Was?“, fragte Fynn und Verzweiflung lag in seiner Stimme. „Was?! Willst du mir mit deinem Kopfschütteln sagen, dass du nichts für mich empfindest, außer Freundschaft? Dass ich mich geirrt hab und das harte Etwas in deiner Hose dein Schlüsselbund war?“

Fynn

Meine Worte verletzten ihn mindestens genauso sehr, wie seine mich verletzt hatten. Er war den Tränen nahe, also hielt ich meine große Klappe, legte einen Arm um seine Schulter und drückte ihn an mich. Und küsste ihn erneut, doch dieses Mal drückte er mich sofort weg und sagte mit bebender Stimme, ich müsse mir einen neuen Nachhilfelehrer suchen. Und dann ... war er weg.

Halbnackt, wie ich war, lief ich ihm hinterher, doch er drehte sich nicht einmal um, sondern fuhr mit quietschenden Reifen davon. Ungläubig starrte ich ihm minutenlang hinterher, wartete darauf, dass er wiederkam und sich entschuldigte, aber nichts dergleichen geschah. Wütend schlug ich die Haustür hinter mir zu, stampfte runter in den Keller und fing an, meinen Boxsack zu bearbeiten.

Doch anstatt mich zu beruhigen, wurde ich nur noch wütender. Wieso hatte er es getan? Einfach so – zu Ende, vorbei. Ohne Grund. Ein Kuss – ein Kuss war doch kein Grund, um eine Freundschaft zu beenden, oder? Oder die Liebe … Man hörte doch immer und überall, dass Liebe das schönste Gefühl sei, ein Geschenk Gottes – und wegen dieses Geschenks Gottes sollte ich meinen engsten Freund verlieren …

Ich malträtierte den Sandsack noch eine ganze Weile, ließ mich nicht davon stören, dass mein Handtuch sich öffnete und zu Boden fiel, und beschloss schließlich, dass ich Felix – seine Freundschaft – zurückgewinnen würde. Ich lief hoch in mein Zimmer, zog mir schnell was an, schnappte mir die Hausschlüssel und schwang mich aufs Rad. Auf dem Weg zu ihm rief ich ihn immer wieder an, aber er ignorierte mich. Ich legte einen Zahn zu, den steilen Steinweg flog ich regelrecht hinunter, bog links ab und wurde jäh von einem pfeifenden Polizisten angehalten, der mir eine Anzeige wegen Telefonierens auf dem Fahrrad aufbrummte und mich ermahnte, langsamer zu fahren.

Als ich bei Felix ankam, war er nicht da – nicht an diesem Tag und nicht an den nächsten Tagen.

Felix

Meine letzte Freundin und ich hatten uns im Guten getrennt, keine Animositäten, keine Hasstiraden und Tränenbäche. Gelegentlich verabreden wir uns heute noch und gehen gemeinsam aus, wie gute alte Freunde. Bei ihr tauchte ich die nächsten Tage unter, bei ihr hatte ich das Gefühl, Abstand zu gewinnen zu dem, was passiert war: zu Fynn, zum Kuss, zu den Gefühlen, die dieser Kuss in mir hervorgerufen hatte.

Fynn

Zu meinem vierzehnten Geburtstag machte mir meine Mutter ein besonderes Geschenk, weniger um des Geburtstags willen, vielmehr wollte sie dem überaus wichtigen Ersten Mal den Reiz des Unbekannten nehmen, in der Hoffnung, dass ich nicht aus reiner Neugier mit einem Mädchen in der Kiste landete, das mir nichts bedeutete und, blauäugig wie man in dem Alter ist, womöglich ein Kind bekam, noch bevor ich selbst den Kinderschuhen entwachsen wäre. Die Auserwählte meiner Mutter war nicht irgendjemand, sondern ihre beste Freundin Marika, deren Ehemann ein paar Jahre zuvor bei einem 1. Mai-Einsatz tödlich verwundet worden war und die seitdem ihre Tage und Nächte damit verbrachte, unglücklichen Männern eine schöne Zeit zu bereiten. Dazu muss man sagen, dass sie nicht jeden an sich heran ließ, ihre Klienten mussten ganz bestimmte Kriterien erfüllen – bezüglich ihres Alters, ihres Aussehens und natürlich der Dicke ihres Portemonnaies.

Für mich machte sie in jeder Hinsicht eine Ausnahme. Nicht nur an jenem Geburtstag, sondern auch an den nächsten und manchmal auch mitten im Jahr, wenn ich Stress mit meiner Freundin hatte oder einfach nur mal jemanden zum Quatschen brauchte und weder Felix noch einen meiner anderen guten Kumpel erreichen konnte. Und ein so verkorkster Tag wie dieser schrie förmlich nach ihr, nach ihrer Erfahrung und ihren Rundungen.

Als sie die Tür öffnete, sah sie so umwerfend aus wie immer in einer ihrer vielen seidenen Roben, die gerade genug zeigten, um Appetit zu machen auf mehr. Kaum fiel die Tür hinter mir ins Schloss, öffnete sie ihre Robe, ließ sie wallend auf den Boden fallen und schon ging's zur Sache. Doch entgegen aller Vorfreude und Erwartung ließ mich mein zweites Ich zum ersten Mal in meinem Leben im Stich.

„Das kann selbst in deinem Alter mal passieren“, tröstete sie mich und ich vergrub mein Gesicht noch tiefer zwischen ihre Brüste. „Wenn auch normalerweise aus einem ganz anderen Grund als bei einem Siebzigjährigen. Also?“, fragte sie und strich mir durch die Haare.

„Ich hab mich verliebt“, murmelte ich in ihre Brust.

„Natürlich, in solchen Fällen geht es immer um die Liebe. Was hat es dir angetan? Ihre Augen, ihr Lächeln, ihre Möpse?

„Seine Hände, seine liebevollen Berührungen.“

Mit ihrem Zeigefinger hob sie mein Kinn hoch, so dass ich in ihre Augen sehen konnte. „Ich habe dich nie für so einen gehalten.“

In ihrem Blick fand ich kein Zeichen des Ekels oder der Abneigung, nur Faszination und Neugier, dennoch verspürte ich den Drang mich zu verteidigen – und meinen Freund … ehemaligen Freund. „Ich bin nicht so einer – und Felix auch nicht!“

„Felix-dein-Nachhilfelehrer-Felix?“ Ich nickte. „Dieser Mistkerl hat dich angefasst?!“

Von ihrer Reaktion überrascht, sprang ich von ihr runter und sah sie wütend an. „Mistkerl? Felix ist der netteste und liebste Mensch, den ich kenne. Er hat mich nicht angefasst! Er hat mir die Stirn gekühlt und die Brust mit Salbe eingerieben, als ich krank war, das weißt du doch! Und selbst wenn er es getan hätte, gerade du musst reden? Du fickst mich seit fast vier Jahren, und ja, beim ersten Mal, was anderes war ich da als noch ein Kind?!“

Sie setzte sich auf und zog mich wieder zu sich aufs Bett. „Du hast natürlich recht, entschuldige bitte. Ich vergesse immer, dass du im Grunde schon ein Mann bist.“

Ich rang mir ein gequältes Lächeln ab. „Ich hab ihn zweimal geküsst. Beim ersten Mal hat er mich angeschrien, beim zweiten Mal weggedrückt und ist dann abgehauen.“

„Vielleicht empfindet er nicht das Gleiche für dich wie du für ihn. Gefühle kannst du nicht erzwingen, Fynn.“

„Ich glaube nicht … Er hat ganz sicher was … empfunden. Ich glaube, er hat Angst.“

„Angst? Wovor?“

„Davor, dass die Menschen genauso reagieren wie du. Dass sie in ihm ein Monster sehen, das einem armen Jungen die Unschuld rauben will. Die Nachrichten werden doch zurzeit davon beherrscht. Aber ich bin kein Junge mehr! Ich liebe ihn – und das, was allein schon seine Nähe mittlerweile in mir auslöst.“

Später fing ich an, mir Sorgen um Felix zu machen, mich zu fragen, ob ihm vielleicht etwas passiert war auf dem Heimweg. Am Abend dann saß ich niedergeschlagen neben meiner Mutter auf der Couch im Wohnzimmer, ohne auf den Film zu achten, der im Hintergrund lief.

Im Gegensatz zu ihrer Freundin war sie kein bisschen überrascht, als ich ihr von meinen Gefühlen für Felix erzählte, sondern wunderte sich, wie ich es getan hatte, darüber, dass er sich so forsch von mir abgewandt hatte. Doch als ich ihr von Marikas erster Reaktion erzählte, nickte sie verständnisvoll und traurig und hoffte mit mir zusammen, dass Felix nichts passiert sei und er sich melden werde.

In der Nacht dann erhielt ich eine SMS von einer unbekannten Nummer, in der stand, dass es Felix gut ginge und er nur etwas Zeit brauchte. Immerhin ein Lebenszeichen …

Felix

„Das hätte ich nie vermutet, dass du auf Typen stehst“, meinte Ela ein paar Tage später, nachdem ich mich wieder gefangen hatte.

„Tu ich nicht. Ich steh nicht auf Typen. Nicht im Allgemeinen, nicht … Es ist dieser Kuss, dieser verdammte …“

„Kuss. Das erklärt zumindest, wieso du es nie länger als ein paar Monate mit einer Frau ausgehalten hast. Mit Fynn aber – wie lange schon?“

„Ich habe ihn nur unterrichtet, nichts anderes. Ich habe in ihm nie mehr gesehen als einen Schüler.“

„Und einen Freund.“

„Einen guten Freund, ja! Aber keinen Lover, keinen Partner. Der Kuss … Gott! Warum hat er es getan?“

„Das ist ziemlich offensichtlich. Die Frage ist eher, warum wehrst du dich so sehr dagegen? Warum wehrst du dich, obwohl du für ihn genauso viel empfindest?“

„Liegt das nicht auf der Hand? Ich bin dreißig, Ela, und Fynn ist minderjährig!“

„Oh ja, wie konnte ich das nur vergessen? Wenn ich mich noch richtig erinnern kann, müsste Fynn jetzt siebzehn sein, nicht? Das heißt, er ist kein Kind mehr, Felix. Mit ihm eine Beziehung, eine richtige, gegenseitige Beziehung einzugehen, das kannst du nicht mit dem vergleichen, was diese Bastarde unter dem Deckmantel der Kirche angestellt haben. Fynn weiß genau, worauf er sich einlässt – wie lange noch bis zu seinem Achtzehnten?“

„Zwei … zwei Monate. Und bis dahin ist jede falsche Berührung, jeder falsche Blick illegal. Wahrscheinlich würde der Kuss schon ausreichen, um mich hinter Gitter zu bringen.“

„Du bist paranoid. Kann sein, dass du, streng genommen, recht hast, aber wenn ihr weiterhin Schüler und Lehrer seid, wer stellt das in Frage? Wer soll davon erfahren, was ihr in seinem Zimmer macht?“

„Hinter verschlossenen Türen – womit wir wieder bei der Kirche wären. Vergiss es, Ela! Nicht, solange er minderjährig ist.“

„Okay, dann sag Fynn genau das und versteck dich nicht länger vor ihm. Was?“

„Würdest du dich auf eine Beziehung mit einem Achtzehnjährigen einlassen?“

„Klar!“ Wie selbstverständlich und selbstbewusst sie das sagte! „Sieh mal, ein Mensch, ob Mann oder Frau, ob richtig alt oder so wie wir, wird, falls möglich, immer eine Beziehung mit einem oder einer Jüngeren eingehen. Sie gibt ihm das Gefühl, selbst jünger zu sein und immer noch begehrenswert. Die Jugend ist der einzige echte Jungbrunnen. Du kannst dich liften lassen, so oft du willst, aber wenn du in deinen inneren Spiegel siehst, blickt dir dein wahres Alter entgegen. Lässt du dich aber mit Jüngeren ein, dann hat das Alter keine Bedeutung mehr.“

„Eines kann dir die Jugend aber nicht geben: die Sicherheit und Geborgenheit einer dauerhaften Beziehung“, gab ich Ela zu bedenken, worauf sie jedoch auch eine Antwort parat hatte:

„Eine solche Garantie kann dir auch niemand geben, der dreißig ist, oder fünfzig oder siebzig. Lass dich auf Fynn ein, Felix, und finde es heraus. Was hast du schon zu verlieren? Eine weitere Beziehung, die kein halbes Jahr dauert? Oder vielleicht doch länger? Du magst ihn, er mag dich – mehr ist doch nicht wichtig.“

Fynn

Eine ganze Woche lang herrschte absolute Funkstille zwischen uns. Eine schwere Zeit – nicht nur, weil mir Felix' fachliche Erläuterungen fehlten, sondern, und das wog am schwersten, weil er selbst mir fehlte. Immerhin wusste ich, dass es ihm gut ging und, wenn ich die SMS – die ich mehrmals täglich las, um mich zu vergewissern, dass ich sie mir nicht nur einbildete – richtig interpretierte, durchaus Hoffnung bestand, dass ich ihn eines Tages wiedersehen würde. Und das machte diese Woche doch einigermaßen erträglich.

Er rief vorher an und bestand darauf, dass meine Mutter auch zu Hause sein sollte, sagte, er müsse unbedingt mit ihr reden, was meine anfängliche Freude über unser Wiedersehen stark dämpfte, denn seine Worte konnten nichts Gutes bedeuten. Als er dann endlich vor mir stand, schüttelte er mir ganz formell die Hand, wie bei unserem allerersten Treffen, und vermied ansonsten jeglichen Körperkontakt, um nicht zu sagen meine Nähe.

Die Stimmung im Wohnzimmer war angespannt: Mir fiel es schwer, nicht alle paar Minuten vom Sessel aufzustehen und im Zimmer meine Kreise zu drehen, wie ich das immer tat, wenn ich nachdenken musste oder besonders nervös war; Felix zupfte ständig an seinen Hemdärmeln herum, ihm ging es also auch nicht anders; nur meine Mutter saß ganz locker da und wartete.

Wozu sollte sie überhaupt dabei sein? Sie hatte doch mit alledem rein gar nichts am Hut – es war eine Sache zwischen mir und Felix! Was ging nur in ihm vor?

„Frau Seidel“, fing er dann irgendwann mal an, „ich weiß nicht, wie viel Fynn Ihnen bereits erzählt hat …“

„Alles“, klärte ich ihn auf.

„Oh“, machte er und nickte in meine Richtung. Meine Mutter nickte zurück. „Okay … Also …“, brabbelte er unsicher, so dass ich beschloss zu intervenieren.

„Hör zu, Felix! Ich werde mich nicht entschuldigen für das, was ich getan habe, oder dafür, dass ich dich liebe ...“

„Tust du?“, unterbrach er mich lächelnd und ich sah die gleiche Wärme in seinem Blick, mit der er mich an jenem Nachmittag verzaubert hatte. Mit neuer Kraft stand er auf und wandte sich an meine Mutter: „Frau Seidel, wir kennen uns schon ziemlich lange und ich denke, Sie wissen, dass ich für Ihren Sohn nur das Beste möchte und dass ich ihm nie wehtun würde. Aber es gibt etwas, womit genau das passieren würde, wenn ich es ihm verwehren würde. Sehen Sie, ich liebe Fynn.“ Nein, ich führte jetzt keinen Freudentanz auf, das wollte ich später, wenn ich mit Fix allein wäre, nachholen. „Ich sage Ihnen das nicht, um von Ihnen die Erlaubnis dafür zu bekommen, denn die wird nichts an dieser Tatsache ändern. Ich möchte aber, dass sie es wissen, weil ich gerne Fynns Nachhilfelehrer bleiben möchte. Falls Sie deswegen Bedenken haben sollten, so kann ich Ihnen versichern, dass wir auch weiterhin auf einer rein freundschaftlichen Ebene miteinander umgehen werden …“

Ich musste mich wohl verhört haben! „Was?“, ging ich unwirsch dazwischen, worauf Felix einen Zeigefinger hob und mich um Geduld bat.

„… bis Fynn achtzehn wird. Und dann … liegt es an Fynn und mir, in welche Richtung unsere Beziehung sich entwickeln wird.“

Das war zwar nicht das, was ich mir vorgestellt hatte – wer lässt sich schon gern einen zweimonatigen Keuschheitsgürtel verpassen? –, aber wenn es Fix' Gewissen beruhigte, war ich dazu bereit: eine rein platonische Beziehung – zwei Monate lang!

Nun stand meine Mutter auch auf und strich ihm über die Wange. „Mein Sohn hatte recht, du machst dir wirklich zu viele Sorgen, mein Lieber“, sagte sie ihm. „Fynn ist alt genug, um selbst zu entscheiden, worauf er sich einlässt und worum er lieber einen weiten Bogen macht. Aber wenn du dich dadurch besser fühlst: Mein Sohn hat eine gute Wahl getroffen, und ich freue mich für euch beide. Nur um eines möchte ich euch bitten: Seid gut zueinander, ja?“

Und nach diesem kurzen Interlude war sie auch schon weg und ließ uns allein. Das erste Mal nach dem Sturm wieder allein.

„Auch kein Kuss?“, fragte ich. Felix biss sich auf die Lippe und schüttelte den Kopf. „Vielleicht ein ganz kleiner“, gab er nach einer Weile meinem Kulleraugenblick nach. „Cher zuliebe.“

Dank der bevorstehenden Jahresabschlussklausuren hatten wir gut zu tun und damit auch immer einen Grund, uns zu sehen – nur für den Fall, dass jemand nachfragen sollte, was allerdings nie passiert ist. So haben wir die beiden Monate des Zölibats unbeschadet überstanden und – ich bin mir sicher, dass Felix mir da zustimmen wird – werden hoffentlich noch viele, viele weitere Monate und Jahre zusammen verbringen!

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