zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Irrwege

Teil 15 - Coming In

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

 

Dunkel und still ist es um mich herum. Die einzigen Geräusche kommen von Lucas, der sich neben mir dreht, mal auf die eine, mal auf die andere Seite. So unruhig habe ich ihn noch nie erlebt. Womöglich hat es etwas damit zu tun, dass er die Aufzeichnung des Konzerts niemandem zeigen will. Etwas muss gestern passiert sein, mit ihm, in ihm, was ich nicht mitbekommen habe. Etwas, das seine Zurückhaltung erklärt. Etwas, das ihn mehr beschäftigt, als er bereit ist zuzugeben, und ihn sogar im Schlaf noch verfolgt.

Aber wenigstens hat er nicht die letzten zwei Stunden damit zugebracht, Löcher in die Luft zu starren und nachzudenken über … Kims Eltern zum Beispiel. Denn sobald ich die Augen schließe, sehe ich Kim und mich an einem sonnigen Strand liegen. Hände haltend, mit einem kühlenden Cocktail in der anderen Hand, glücklich, verliebt, auf Wolken schwebend. Stundenlang sehen wir uns an, werden nicht müde, uns anzulächeln, bis ein Schatten sich über uns legt, zwei Schatten, um genau zu sein. Obwohl ich ihre Gesichter nicht erkennen kann, weiß ich, dass die Schatten Kims Eltern sind. Kims Mutter sagt etwas, ihre Lippen bewegen sich, doch ihre Stimme geht im Rauschen des Meeres unter, woraufhin Kims Lächeln erlischt. Er steht auf, schaut traurig zu mir herunter, winkt mir zum Abschied zu und entfernt sich zusammen mit seinen Eltern immer mehr, bis ich sie nur noch am Horizont erahnen kann. Kims Badetuch, sein Glas, seine Tasche in Form eines Wals - alles verschwindet mit ihm, keine Spur mehr vom Mann meines Herzens. Als hätte er nie existiert. Als hätte ich ihn nur geträumt.

Doch das habe ich nicht, da bin ich mir ganz sicher. Die letzten Tage, Wochen, waren real, Kim war real. Er ist real, ein kurzer Blick auf's Handy bestätigt das. Vor drei Stunden hat er mich zuletzt angerufen, da war er schon im Zentrum, seine Schicht hatte bereits angefangen. Er sagte, er erwarte eine ruhige Nacht, doch der Klang seiner Stimme strafte ihn lügen. Ich hoffe nur, dass die Ereignisse der letzten Nacht, die ihn so sehr aus der Fassung gebracht haben, sich nicht wiederholen werden.

„Kim?“

„Was? Oh, Lucas!“ Er hat die Nachttischlampe eingeschaltet und sich aufgesetzt. „Wieso bist du wach?“ Er sieht mich an, sein Gesicht ist blass, als hätte er nächtelang kein Auge zugetan. Aber das ist sicher nur das Licht.

„Ich … ähm … ich muss mal eben wohin.“ An der Tür dreht er sich kurz um und fragt: „Ist alles in Ordnung mit dir? Ist Kim was passiert?“

Ich schüttele den Kopf. „Nein, alles okay.“

Allein im Zimmer, stehe ich auf und setze mich ans Fenster. Durch die Wolken kann man den Mond nur unscharf erahnen, doch das wenige Licht, das er spendet, reicht aus, um die weiße Schneedecke, die über der Stadt liegt, zum Glitzern zu bringen. Irgendwo vor mir, in einem der vielen Einfamilienhäuser dieses Viertels, wohnen die Schneiders, Römchens Eltern. Wie werden sie die bevorstehenden Feiertage verbringen, ohne ihren Sohn, ohne ihr einziges Kind? Vermissen sie ihn? Denken sie an ihn? Bereuen sie es, ihn damals hinausgeworfen zu haben?

Ist es das, was auch Kim zugestoßen ist? Warum er nicht über seine Eltern spricht? Und wurde er letzte Nacht daran erinnert? Ist er deswegen so fertig gewesen?

„Hey!“ Lucas ist zurück, hat sich bereits wieder hingelegt. „Komm schlafen“, sagt er und klopft mit der flachen Hand auf meine Betthälfte. Ich gehorche, lege mich hin und kuschle mich in meine Decke ein. „Morgen früh kannst du ihn wieder anrufen“, sagt Lucas noch und legt seinen Arm um mich und ich spüre, wie meine Augenlider allmählich schwerer werden.

 

Zum ersten Mal in meinem Leben fühlt es sich falsch an, neben Lucas aufzuwachen, neben ihm zu liegen und seinen Arm um mich zu spüren. Nicht weil ich einen Freund habe, den ich liebe, denn wir haben nichts getan, was irgendetwas mit Kim oder meiner Beziehung zu ihm zu tun hat. Es geht um letzte Nacht, die rastlosen Stunden, die Lucas gequält haben, um den Traum, der ihm den Schlaf verdunkelt hat, und darum, dass ich als Freund, als sein bester Freund, versagt habe.

Wäre es nicht meine Aufgabe gewesen, ihn danach zu fragen, so wie er mich gefragt hat? So lange nachzubohren, bis er sich mir anvertraut hätte, sich seinen Schmerz von der Seele gesprochen hätte? Oder ihn wenigstens gelindert? Stattdessen war ich wieder einmal so sehr auf meine eigenen Gedanken fixiert, mit meinen eigenen Sorgen beschäftigt, dass ich seine körperliche Nähe dankbar zum Anlass nahm, um in das Paradies traumlosen Schlafes hinüberzugleiten.

Vorsichtig hebe ich Lucas' Arm und lege ihn auf seine Seite, stehe auf und …

„Wie spät ist es?“, höre ich seine ins Kissen gemurmelten Worte.

„Halb sieben.“

Ohne die Augen zu öffnen, hebt er seinen Arm und winkt mich zu sich. „Gut, dann komm zurück ins Bett, es ist noch viel zu früh. Ich will endlich mal wieder richtig ausschlafen.“

Zögernd mache ich einen Schritt vorwärts, bleibe dann wieder stehen. „Ich ...“

„Wann wirst du bloß damit aufhören, dir Sorgen zu machen, noch bevor der Tag richtig begonnen hat?“ Sich auf eine Hand stützend, sieht er mich müde an. „Was?“

„Letzte Nacht, woran kannst du dich erinnern?“

„Daran, dass meine Blase zu bersten drohte nach dem ganzen Bier gestern Abend. Und du hattest bis dahin kein Auge zugetan, stimmt's?“

Seine Frage ignorierend, frage ich weiter: „Dein Traum, worum ging's da?“

„Nur ein Traum, nicht weiter schlimm.“

„Lucas, du hast dich ständig hin- und hergewälzt! Was ist in dem Alptraum passiert?“

Er schließt die Augen und verzieht das Gesicht. „Gib mir noch ein paar Stunden, noch etwas Ruhe, ok?“

Resignierend - trotz meines schlechten Gewissens zugleich aber auch froh darüber, das unangenehme Gespräch auf später zu verschieben - gebe ich schnell nach und gehe zurück ins Bett, lege meinen Arm um ihn und schließe die Augen.

 

Es ist hell draußen, als ich das nächste Mal aufwache. Nicht die leuchtende Helligkeit einer strahlenden Sonne, sondern die graue, triste eines durchschnittlichen Dezembermorgens, die einen wünschen lässt, man könnte den ganzen lieben Tag mit seinem Liebsten im Bett verbringen. Was allerdings ein Ding der Unmöglichkeit ist, wenn hundert Kilometer zwischen uns liegen, so dass ich mich mit der nächstbesten Lösung zufriedengeben muss: dem Telefon.

Kim berichtet mir von seiner Nacht, die so ereignislos war, dass er noch vor Mitternacht während der hundertsten Wiederholung irgendeiner Sitcom eingeschlafen und erst vor einer halben Stunde wachgeworden ist, und ich erzähle ihm von meiner Vermutung zu Lucas' Alptraum.

„Die Höhle, von der du mir erzählt hast … Ich meine, ich glaube nicht an Zauberei oder übernatürliche Kräfte oder so, aber für euch beide ist sie besonders. Ihr beide … wie soll ich das sagen … ihr habt offenbar eine besondere Beziehung zu ihr. Ihr fühlt euch dort wohl und könnt euch von dem befreien, was euch zu schaffen macht. Zumindest konntest du das.“

Ohne viel überlegen zu müssen, stimme ich ihm zu. „Einen Versuch ist es wert. Wenn er es nicht schafft, das Monster loszuwerden ...“

„Das wird er, mit deiner Hilfe.“

„Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll“, gestehe ich ihm.

„Das Wichtigste ist, für ihn da zu sein, ihm zuzuhören, ihm eine Schulter zum Weinen anzubieten, eine Umarmung. Im Grunde musst du nichts anderes tun, als das, was du immer tust: sein Freund sein.“

Das sollte ich wohl hinkriegen, doch wird das reichen?

„Glaubst du, das Konzert hat alles wieder an die Oberfläche geholt, Kim?“

„Kann ich dir nicht sagen. Möglich … Aber da gehört's auch hin. Er wird es nicht vergessen, solche Dinge vergisst man nicht. Sie zu verdrängen, ist aber auch keine Lösung, weil gerade diese Art von Erinnerungen die Angewohnheit hat, im unpassendsten Moment wieder aufzutauchen. Konfrontiere ihn damit, hilf ihm, die Musik von dem Typen zu trennen, sie aus seinen Fängen zu befreien, sie sich wieder zu Eigen zu machen.“

„Wie? Wie soll ich das anstellen?“

„Niemand kennt Lucas so gut wie du, Markus. Manchmal muss man nur den Stein ins Rollen bringen und er findet seinen Weg allein. Nur ein kleiner Stups.“

Wie leicht sich das bei ihm anhört … Fast so leicht wie die Diskussion, die wir darüber haben, wer von uns den anderen mehr vermisst, und ich finde, dass ich als klarer Sieger daraus hervorgehe, was ich Kim natürlich nicht unter die Nase reibe. Ich lasse lieber ihm das letzte Wort, nach dem wir auflegen müssen, damit er nach Hause fahren kann, um zu duschen und anschließend im Restaurant seiner Tante auszuhelfen.

Über die Ereignisse von vorletzter Nacht hat er kein einziges Wort verloren …

 

Gedankenversunken starre ich den ausgeschalteten Fernseher an. Für einen Augenblick habe ich das Gefühl, ein Bild darin zu sehen. Unscharf, nicht richtig zu erkennen. Das Gerät scheint sich von selbst einschaltet zu haben. Natürlich nicht von selbst, Lucas wird aufgestanden sein, doch als ich mich umschaue, ist keine Spur von ihm zu sehen. Kopfschüttelnd schließe ich die Augen und will gerade nach der Fernbedienung greifen, auf die ich mich gesetzt haben muss, als eine Stimme sich räuspert. Mein Blick fällt wieder auf den Fernseher und zu meiner Überraschung muss ich feststellen, dass er gar nicht an ist. Emma steht davor und grinst mich an.

„Willst du mich damit wegzappen? Oder erkennst du deine eigene Schwester nicht mehr?“

„Guten Morgen“, lächle ich zurück.

„Den wünsche ich dir auch, du kannst ihn besser gebrauchen als ich. Nicht so gut geschlafen, hm?“

Ich möchte ihr nicht von Lucas erzählen, von meiner Vermutung. Oder von meiner Angst, ihm nicht helfen zu können. „Wir hatten gestern keine Chance, uns allein zu unterhalten. Wie geht’s meiner Lieblingsschwester?“

Sie sieht mich an und schüttelt kaum merklich den Kopf, doch sie spielt mit: „Ihr geht es gut, sie ist nur etwas aufgeregt.“

„Spricht du jetzt neuerdings von dir selbst in der dritten Person?“

„Nein, wieso? Du hast mich doch nach Anna gefragt, oder nicht?“

Sie lacht. Jenes ehrliche, lebendige Lachen, das sie viel zu selten mit anderen teilt, was es dafür umso kostbarer macht.

„Du bist glücklich“, schlussfolgere ich. „Nicholas? Wann lerne ich ihn endlich kennen?“

„Heute Mittag.“

Ich schaue sie überrascht an. „So richtig? Wir alle, ganz offiziell?“

Emma nickt. „Wir geben nicht unsere Verlobung bekannt, aber … ja, ganz offiziell, für alle zu sehen. Ich möchte mich nicht mehr verstecken, ich bin jetzt endlich bereit, ich zu sein.“ Nach ein paar Sekunden sagt sie weiter: „Die letzten Monate haben nicht nur dich verändert. Ich habe es geschafft, aus Annas Schatten zu treten, nicht mehr nur als ihre Schwester angesehen zu werden.“ Sie sieht mir direkt in die Augen, als sie fortfährt: „In zwei Monaten werde ich sechzehn und ich habe keine Lust mehr darauf, ein Gast auf meiner eigenen Geburtstagsparty zu sein.“

Mit ihren fünfzehn Jahren hat meine kleine Schwester bereits herausgefunden, wer sie ist und was sie will, ihr großer Bruder hingegen fühlt sich manchmal immer noch wie ein kleines Kind - unschlüssig, hilflos … Aber das gehört mit zum Leben, oder etwa nicht? Das Kind im Manne und all das …

„Bist du es denn?“, fragt sie mich und holt mich aus meinen Gedanken.

„Bin ich was?“

„Glücklich.“

„Jetzt gerade ja“, antworte ich und lege meinen Arm um sie. „Ich bin stolz auf dich, Emma.“

„Und?“ Ich brauche nicht zu fragen, was sie damit meint.

„Man kann nicht immer glücklich sein. Man würde es nicht mehr zu schätzen wissen, wenn man es ständig wäre, nicht wahr?“

„Mein Bruder der Philosoph“, scherzt sie. „Und was ist mit dir und … meinem anderen Bruder?“

„Genau das. Wir sind beste Freunde. Brüder. Und das werden wir immer bleiben.“

„Kommst du damit klar?“

„Mittlerweile schon. Dank Kim. Und Basti, Kristin, Jonna … Sie haben mir geholfen zu erkennen, dass … mein Leben sich nicht um Lucas drehen muss.“

„Heißt das, du hast aufgehört, ihn zu lieben?“

„Oh nein, ich liebe ihn mehr denn je. Nur … anders.“

„Vergleichst du die beiden manchmal?“

So langsam komme ich mir vor wie in einem Verhör, beantworte dennoch weiter ihre Fragen, weil es ganz gut tut, darüber zu reden, besonders mit ihr.

„Kim und Lucas? Nah! Das einzige, was sie gemein haben, ist, dass sie mich mögen.“

„Lieben“, verbessert mich Emma.

„Mögen. Das heißt, bei Lucas hast du auf jeden Fall recht, bei Kim vielleicht auch. Wahrscheinlich. Und wie sieht's bei euch aus?“

„Wir … mögen uns“, antwortet sie und grinst. „Sehr. Wir verbringen viel Zeit miteinander, aber ich achte darauf, dass ich nicht wie eine Klette an ihm hänge. Was ich auch gar nicht möchte. Du weißt ja, dass ich ganz gern mal Zeit für mich selbst habe. Und die braucht Nicholas auch, für seine Kumpels, seinen Sport. Zumal noch keiner über uns Bescheid weiß. Obwohl, ich muss sagen, das Versteckspiel hatte was, ich glaube, ich werde es vermissen. Dieses ständige Ausdenken von Ausreden, wo ich war, was ich getan habe, es hat Spaß gemacht. Manchmal lagen wir auf seinem Bett und haben uns ausgetauscht und uns über die Reaktionen der anderen lustig gemacht. Er lacht so gern … Und ich liebe es, ihn zum Lachen zu bringen. Ich liebe ...“

Mittendrin bricht sie ab, doch ihre errötenden Wangen beenden den Satz für sie.

„Anna hat ihren ersten Korb gekriegt“, wechselt sie abrupt das Thema. Obwohl ich gern mehr über den Grund ihres Errötens erfahren würde, unterbreche ich sie nicht. „Sie ist mittlerweile zwar wieder darüber hinweg, aber eine Woche lang war sie fix und fertig. Sie geht seitdem mit den Jungs vorsichtiger um, sie ist netter zu ihnen. Und zu mir.“

„Meinst du, ich sollte mit ihr reden? Großer Bruder und so?“

Sie hebt eine Augenbraue. „Du? Lass das besser Lucas machen.“ Er hatte schon immer einen besseren Draht zu Anna, schon als sie noch klein war.

„Verstehe. Wirst du mir wenigstens mehr über Nicholas erzählen?“, erkundige ich mich neugierig.

„Mmmm … Nein. Ich möchte, dass du dir eine objektive Meinung über ihn bildest.“

„Wozu? Du magst ihn, das reicht mir völlig.“

Emma schüttelt den Kopf. „Mir nicht. Es ist mir wichtig, dass du ihn magst. Und das nicht nur, weil ich auf ihn stehe. Du und Lucas. Ihr müsst ihn mögen und euch - und mich - davon überzeugen, dass ich nicht verrückt bin, weil ich glaube, mit fünfzehn den Menschen gefunden zu haben, mit dem ich ...“

Erst als sie ihren Satz mittendrin abbricht, verstehe ich, was sie mir sagen möchte. Sagen, aber nicht aussprechen. Oder nicht auszusprechen wagt.

Ich weiß nicht, wie lange wir dasitzen und uns ansehen, ohne ein Wort zu sagen. Schließlich ist es meine Schwester, die fragt:

„Bin ich verrückt?“

Eine Stimme in meinem Kopf schreit Ja, ja, tausendmal ja!, doch zu meiner Erleichterung kann nur ich sie hören. Denn was spricht dagegen? Wie viele Menschen haben das Glück, jemanden zu finden, bei dem sie sich wirklich wohlfühlen, mit dem sie eins werden und den Rest ihres Lebens verbringen wollen? Und wenn man ihn gefunden hat, ob mit fünfzehn oder mit siebzig, was macht das für einen Unterschied?

„Verrückt?“, frage ich nach. „Glaubst du, dass du das bist?“

„Manchmal komme ich mir so vor“, sagt sie leise.

„Schon mal darüber nachgedacht“, erwidere ich und streiche ihr durch die Haare, „dass man vielleicht ein bisschen verrückt sein muss, um sich zu verlieben? Sich zu trauen, sich einem anderen zu öffnen, mit ihm Gedanken zu teilen, die man sonst für sich behält. Dinge zu tun, nur um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Und wenn man sie dann hat, seine ungeteilte Aufmerksamkeit, dann ist man verrückt … vor Glück. Also mach dir deswegen keine Sorgen, Verrücktsein ist völlig okay.“

Sie schweigt einige Sekunden, denkt nach, dann meint sie: „So habe ich das noch nicht betrachtet ... Hast du denn irgendwas Verrücktes getan? Für Kim? Oder Lucas?“

„Ich habe mich am dritten Adventssamstag stundenlang durch Einkaufsstraßen jagen lassen auf der Suche nach einem passenden Geschenk für das erste Date mit Kim.“ Die Erinnerung daran bringt mich zum Lachen.

„Hat es ihm gefallen?“

„Er war begeistert. Ein Schlüsselanhänger mit dem Helden seiner Lieblingsserie, der eine rote Rose in der Hand hält.“

„Sehr … originell“, grinst Emma.

„Aber nicht besonders verrückt, hm? Ich wünschte, er wäre mitgekommen“, seufze ich, „ich vermisse ihn.“

„Kann ich mir vorstellen, ich hätte ihn auch gern kennengelernt, meinen zukünftigen Schwager.“

„Was, Schwager?“, ertönt es plötzlich aus dem Türrahmen hinter uns. „Bist du nicht etwas jung zum Heiraten, Emma?“, scherzt Lucas und setzt sich zu uns.

 

Nach einem ausgiebigen Frühstück fahren wir zu dritt zu meinen Eltern, wo Claudia und Mom den Backmarathon von gestern fortsetzen. Paps sitzt in seinem Zimmer vor dem Laptop, sein Blick klebt am Bildschirm, wie so oft, wenn er mal wieder vergisst, dass er nicht mit seiner Arbeit verheiratet ist. Und Anna …

„Wo ist Anna?“, erkundigt sich Lucas, der sich, von Emma auf den neuesten Stand der Dinge gebracht, bereit erklärt hat, mit ihr ein ernstes Großer-Bruder-Gespräch zu führen.

„Versuch's in ihrem Zimmer“, ruft meine Mutter aus der Küche.

„Bestimmt telefoniert sie mal wieder mit einem ihrer Verehrer“, hören wir Claudia belustigt hinzufügen.

Lucas sieht zuerst mich, dann Emma irritiert an. „Wann sind die beiden beste Freundinnen geworden?“ Eine gute Frage, bedenkt man, dass Mom früher nicht besonders gut auf Lucas' Mutter zu sprechen war.

Emma macht mit den Fingern ein verschwörerisches Zeichen, dass wir näher kommen sollen. „Seit sie beide das Gefühl haben, ihre süßen Babys an die böse Großstadt verloren zu haben“, flüstert sie. Dann kneift sie uns in die Wangen und grinst. „Gemeinsame Feinde schweißen Menschen eben zusammen. Außerdem hält Claudia Mom irgendwie davon ab, ihrem Weihnachtswahnsinn zu verfallen. Was ist jetzt mit Anna?“

„Ähm“, macht Lucas und dreht sich ohne ein weiteres Wort um und geht.

„Warte!“, entfährt es mir, wobei ich nicht sagen kann, woher das genau kommt oder wieso ich plötzlich der Meinung bin, er sollte da nicht allein hineingehen. „Ich komme mit.“

Lucas hebt eine Augenbraue. „Bist du sicher?“

„Nein. Ja … Ich meine … Gehen wir einfach.“

 

Lucas klopft, wir betreten das Zimmer, schließen die Tür hinter uns. Claudia lag richtig mit ihrer Vermutung: Anna telefoniert. Sie liegt auf einer dunkelroten, L-förmigen Couch, die ich zum ersten Mal sehe. So ziemlich alles in ihrem Zimmer ist neu: die zur Couch passenden Sessel, der Tisch mit einer zentimeterdicken Glasplatte, das moderne Regal an der Wand neben der Tür, der große Breitbildfernseher an der Wand, die Stereoanlage darunter oder die zylinderförmige Stehlampe, die fast so groß ist wie sie selbst … Einzig Pix, der riesige Teddy, den Lucas und ich ihr zu ihrem elften Geburtstag geschenkt haben, erinnert noch an das kleine Mädchen, das sie schon lange nicht mehr ist.

Sie hat mittlerweile aufgelegt und sieht uns lächelnd an. Oder besser gesagt: Sie lächelt Lucas an, ich bin offenbar nur ein Störenfried, was sie mir mit ihrer Frage einmal mehr verdeutlicht: „Du?“

„Schon gut“, nicke ich Lucas zu und will gehen, als sie mich mit einem Halt! davon anhält.

„Bleib“, sagt sie und nimmt mich an die Hand. „Setzt euch. Was hat sie euch erzählt? Dass ich verliebt war und er mir das Herz gebrochen hat? Deswegen seid ihr doch hier, oder? Sie übertreibt, wie immer.“

„Emma macht sich Sorgen um dich“, gesteht Lucas.

„Tut sie das? Vermisst sie die Bitch, die ich war? Keine Angst, sie ist auf dem besten Weg, wieder in voller Blüte zu erstrahlen.“

„Anna! Was soll das?“, mische ich mich ein. „Ist es das, was du siehst, wenn du in den Spiegel blickst?“

„Ja! Ich bin kein Engel, und das wisst ihr genauso gut wie Emma. Es macht mir nun mal Spaß, Menschen zu ...“

„Ärgern?“, schlägt Lucas vor.

„Genau. Ihnen einen kleinen Stich zu versetzen. Leute wie mich muss es geben, wir machen das Leben interessant. Lebenswert.“

„Aber der eine Stich, der ging nach hinten los.“

„Anscheinend... Dabei hätten wir sicher eine Menge Spaß haben können. Wir wären das Traumpaar schlechthin gewesen. Das beliebteste Mädchen mit dem heißesten Typen der Schule - perfekter geht’s gar nicht. Was ich nur nicht verstehe, ist, weshalb er nicht mitmachen wollte. Hab schon überlegt, dass er vielleicht schwul ist, der leichte englische Akzent …“

Den Rest des Satzes höre ich nicht, und Lucas wohl auch nicht. Er schließt die Augen und verzieht das Gesicht. „Oh, Mann“, stöhnt er leise, doch nicht leise genug.

„Oh Mann was?“, fragt Anna und lässt ihren Blick von Lucas zu mir wandern.

Lucas sieht mich an. „Willst du?“

Annas Augen folgen Lucas' Blick. „Oh Gott, er ist schwul!“, glaubt sie zu verstehen und steht mit einem nervösen Lachen auf. „Woher kennst du ihn? Du hast doch nicht mit ihm … ? Er ist sechzehn, Markus! Und außerdem, denke ich, bist du mit Kim zusammen? Jetzt sag doch endlich was!“

Ich schaue zu Boden, während ich überlege, wie ich es ihr beibringen soll, was meine Schwester aber gänzlich missversteht. „Wie konntest du nur? Er ist …“

„Sechzehn. Ist ja gut, ich hab nicht mit ihm geschlafen.“ Ihr Blick verrät mir, dass sie mir nicht so ganz glauben mag. „Sein Name. Wie heißt er?“, frage ich und hoffe inständig, dass Lucas und ich uns irren.

„Nicholas.“

So viel zum Thema Hoffnung. „Nicholas ist nicht schwul, Anna“, fängt Lucas an.

„Dann hast du wirklich nicht …?“

„Nein, hab ich nicht“, bestätige ich.

„Er wollte nicht mit dir ausgehen, weil … er eine Freundin hat.“ Lucas muss es unbedingt spannend machen.

„Jaaa … Und das weißt du, weil du auf unsere Schule gehst und jeden Tag siehst, dass er von einer ganzen Meute umringt ist, aber nie auch nur eine Sekunde allein mit jemandem verbringt, nicht wahr?“, spottet Anna.

„Er ist mit Emma zusammen, schon seit Monaten“, lasse ich die Bombe platzen und erlöse damit nicht nur Anna von ihren Qualen.

Mit großen Augen sieht sie mich an, dann lässt sie sich wie ein schwerer Stein in Pix' Schoß fallen und legt seine Arme um sich. „Natürlich“, murmelt sie. „Ich dachte, es wäre nur Spaß, hab mich sogar noch lustig darüber gemacht, als er ihr die Rose auf den Tisch gelegt hat. Ich bin so blöd! Wieso hat sie nichts gesagt? Wieso? Wieso? Wieso?!“

Mit einem Satz steht sie auf und läuft aus dem Zimmer zu Emma, umarmt sie und sagt, dass sie sich für sie freue und wieso sie es ihr nicht gesagt habe. Und dann werde ich Zeuge von etwas, das ich seit mindestens einem Jahr nicht mehr gesehen habe: sie reden und lachen, miteinander, wie früher.

„Emma hätte uns ruhig vorwarnen können, hm?“, grummelt Lucas, als er sich zu mir stellt und einen Arm auf meine Schulter legt.

„Ich werde nachher mal mit ihr reden“, nicke ich, ohne meine Augen von den Zwillingen zu nehmen.

„Nein, lass es gut sein“, meint er leise. „Der nächste Streit kommt noch früh genug. Abgesehen davon haben wir vor dem Mittagessen noch einiges zu tun“, erinnert er mich an das Versprechen, das Mom mir gestern abgenommen hat. Wenigstens muss ich es nicht allein machen …

 

Leicht genervt folge ich Lucas in den Keller und frage mich, was das Ganze überhaupt soll, schließlich habe ich nicht so viele meiner Sachen hiergelassen, abgesehen von zwei, drei Kartons mit irgendwelchem Krimskrams, von dem ich mich vor drei Monaten nicht trennen wollte und den ich bestimmt auch jetzt nicht weggeben will. Da sind Dinge drin wie unsere Schwerter oder Hooks Hut. Dinge, die Lucas und ich eines Tages seinen Kindern zeigen wollen, wenn wir ihnen von unseren gefährlichen Abenteuern erzählen werden. Solche Erinnerungsstücke behält man doch, oder?

Lucas öffnet die Tür gegenüber dem Heizungsraum, die, solange ich denken kann, abgeschlossen war, und betätigt den Lichtschalter, doch anstatt hineinzugehen, bleibt er stehen, so dass ich gegen ihn laufe und erst nach einem Blick über seine Schulter kapiere, wieso er mit offenem Mund in den Raum starrt. Als das Bild endlich mein Gehirn erreicht, erstarre ich wie er, als hätten wir beide der schlangenköpfigen Medusa in die Augen geblickt, denn mindestens drei Viertel des Raumes ist voll mit … mit allem Möglichen. Und alles gehört anscheinend Lucas und mir. Dreizehn Jahre Freundschaft, zwanzig Jahre Leben - komprimiert in einem überdimensionalen Quader voller großer und kleiner Kartons und Klappboxen in allen Farben des Regenbogens, alle sorgfältig beschriftet: Markus, Lucas, Markus & Lucas.

Anstatt wieder hoch zu laufen und meine Mutter zu fragen, wieso zum Geier sie das ganze Zeug behalten hat, betreten wir das Zimmer und …

Lucas hält mir eine kleine, staubbedeckte Pappschachtel entgegen, die ich nicht sofort wiedererkenne, sondern erst als er den Deckel hebt und eine Welle der Erinnerung jenen Moment seines sechzehnten Geburtstags an die Oberfläche spült, als wir ganz allein in meinem Zimmer standen, inmitten einer merkwürdigen, lauten Stille, die unsere Herzen schneller pochen ließ, und unser Atem sich überschlug, weil wir beide wussten, dass gleich etwas geschehen würde, etwas Wichtiges, etwas, das so groß war, dass wir trotz des Alkohols in unserem Blut mit einem Mal wieder völlig nüchtern waren. Ich wartete. Nicht weil ich nicht den ersten Schritt tun wollte, sondern schlicht deswegen, weil ich keine Ahnung hatte, worin der erste Schritt bestand oder was dieser Moment überhaupt bedeuten sollte. Ich wusste nur, dass es ein bedeutsamer und magischer Moment war, das verriet mir das komische Gefühl in meinem Magen. Ich sah zu, wie Lucas auf die Kommode zuschritt und aus der hintersten Ecke meiner Unterwäsche-Schublade eine weiße Schachtel herausholte, eben jene, die er jetzt in der Hand hält.

„Zuerst dachte ich, du machst dich über mich lustig, als du sagtest, du fändest, ich sollte an deinem Geburtstag ebenfalls Geschenke bekommen, wenigstens eins - von dir“, erinnere ich mich.

„Ja, manchmal kann ich ganz schön sentimental sein“, sagt er und nimmt die Wattewolke aus ihrem Behälter, hält sie in der offenen Hand, bedeutet mir mit den Augen, sie ihm abzunehmen. „Ich wollte, dass du nie vergisst, dass du ein Wolkenträumer bist, der in dem Chaos dort oben immer etwas Schönes findet.“

Ein bisschen gefühlsduselig, der Gute, was aber verständlich ist nach der letzten Nacht. Auch wenn ich immer noch nicht weiß, was da tatsächlich in Lucas vorgegangen ist, meine Theorie ist nicht mehr als eine Theorie, von der ich mir nichts anderes wünsche, als dass sie sich als falsch erweise.

„Es war Momos Idee“, erklärt er lächelnd und ich frage mich, was mein Großvater mütterlicherseits mit der ganzen Sache zu tun haben soll.

„Was war Momos Idee?“, frage ich daher laut.

„Dass ich dir zu meinem Geburtstag ein Geschenk mache, damit du ...“

Ach das meint er, auch wenn es gar nicht sein kann. „Seine Idee? Momo hat mich doch gar nicht leiden können. Ich konnte es ihm nie recht machen.“ Im Gegensatz zu den Zwillingen, die er abgöttisch liebte.

„Er hat sich selbst in dir gesehen. Die Verletzlichkeit, das Fragile, das große Herz …“

Klar hat er das! „Deswegen hat er auch dich als letzten sehen wollen, bevor er starb“, sage ich und kann den vorwurfsvollen Unterton in meiner Stimme nicht verbergen. Ich sehe kurz auf die Wolke in meiner Hand, werfe sie im nächsten Moment wütend zu Boden und suche das Weite. Bis Lucas' Hand meinen Arm zu fassen kriegt und mich aufhält, mich wieder in unsere Vergangenheit zerrt und die Tür wieder hinter uns schließt.

„Er wollte mich sehen, weil … Bitte krieg das nicht in den falschen Hals, okay? Ich habe es sowieso schon immer getan und werde nie damit aufhören, er hätte sich das Ganze also genauso gut sparen können.“ Er hält mein Kinn mit seinen Fingern fest, dreht mein Gesicht, bis ich ihm in die Augen sehe … sehen muss. „Er hat mir das Versprechen abgenommen, auf dich aufzupassen, dich zu beschützen, immer für dich da zu sein. Er hat dich geliebt, Markus, wie niemanden sonst auf der Welt.“

Eine Welle der Erkenntnis überkommt mich. Ich lasse mich auf den pfirsichfarbenen Zweisitzer fallen, der früher in meinem Zimmer stand, und sehe Momo vor mir, wie er war. Wie er wirklich war. Sehe das, was ich vergessen habe. Verdrängt. Wie er sich, ohne jemals die Geduld zu verlieren, tagelang mit mir abmühte, bis ich endlich ohne Stützräder radfahren konnte. Wie er mich antrieb, wenn ich mal wieder kurz davor war, alles hinzuwerfen, weil es nicht auf Anhieb klappte. Wie ich ihn immer seltener besuchte, als er nach Omas Tod im Altenheim … abgeladen wurde. Aussortiert, wie eine alte Hose, der man entwachsen ist …

Lucas hat seine Arme um mich gelegt und zieht mich zu sich hoch, umarmt mich und küsst mich auf den Kopf. Wie Momo es früher tat …

Eine ganze Weile stehen wir so da, während ich mit den Tränen kämpfe, bis ich sie schließlich nicht länger zurückhalten kann. Weitere Minuten vergehen, dann trocknet Lucas mein Gesicht mit seinem Ärmel ab und sieht mich ernst an, als er die Wolke vom Boden aufhebt und sie mir reicht. „Und er sagte, ich soll es dir sagen, nicht irgendwann, sondern dann, wenn es dir besonders schlecht geht. So wie jetzt, schätze ich.“

„Danke. Danke, dass du es mir gesagt hast.“

„Bitte, aber das habe ich noch nicht. Zumindest nicht heute, gestern, ja, aber … Du weißt es, daher brauche ich es nicht zu wiederholen.“

Sind es nicht immer solche Worte, die einen neugierig machen und nachbohren lassen? „Wir haben Zeit“, sage ich, „also kannst du es noch einmal sagen, damit … ich endlich verstehe, wovon du überhaupt redest!“

Er zögert einen Moment, dann sagt er leise: „Dass ich dich liebe.“

Ich bin mir nicht sicher, ob es daran liegt, dass sein Atem mein Ohr kitzelt, als er es mir zuflüstert, oder aber an seiner Stimme, an der Art, wie er den Satz ausklingen lässt, als würde noch einiges darauf folgen, so was wie Lass uns abhauen und heimlich heiraten und glücklich bis an unser Lebensende zusammen sein … Und ich würde … Nein, ich hätte vor wenigen Wochen Ja gesagt, hätte er mir solch eine Frage gestellt. Doch jetzt nicht mehr …

„Ich liebe Kim.“

„Ja!“, lacht Lucas. „Das ist auch völlig in Ordnung, dass du Kim liebst, aber es ändert nichts daran, dass wir, du und ich, uns lieben. Was nicht heißen soll, dass ich mit dir schlafen will, weil ich immer noch auf Frauen stehe, aber es soll heißen, dass du dich auf mich verlassen kannst, dass ich für dich da sein werde, wann immer du mich brauchst.“

Ich kann es nicht leiden, sprachlos zu sein, aber in diesem Moment tut es gut, nichts zu sagen, nur kurz zu nicken, ihn anzulächeln und seine Worte wie eine warme Decke zu spüren. Worte, deren Wahrheitsgehalt ich bisher nur einmal in meinem Leben angezweifelt habe, damals, nach dem Fiasko mit Jesse.

„Es tut mir leid“, murmle ich schließlich.

„Was?“

„Jesse.“

„Spinner“, lacht er wieder und legt seine Hand auf meine Schulter. „Aber mal ehrlich, was war denn das für'n peinlicher Abgang vorhin? Eine Wattewolke auf den Boden werfen? Sehr effektvoll. Das nächste Mal greifst du dir gefälligst eine Handgranate, die macht dann ordentlich Rumms!“, belehrt er mich und ich kann nicht anders, als in sein Lachen mit einzustimmen.

 

Eine ganze Weile machen wir weiter, hören erst auf, als es klingelt, sehen uns an und stürzen uns auf die Treppe, bleiben oben auf dem Treppenabsatz stehen und recken unsere Hälse in Richtung Eingangstür, wo Emma ihren Gast mit einem freudigen Lächeln hereinbittet.

Nicholas sieht überraschend normal aus. Durchschnittlich, könnte man sagen. Wieso er der heißeste Typ der Schule sein soll, kann ich, zumindest auf den ersten Blick, nicht nachvollziehen. Womöglich liegt das an dem riesigen Blumenstrauß, der sein Gesicht bis zur Nasenspitze bedeckt. Als er den Strauß sinken lässt, den Blick hebt und die Mundwinkel zu einem unsicheren, nervösen Grinsen verzieht, spielt Lucas den Eisbrecher.

„Hi, ich bin Lucas“, sagt er und schüttelt ihm lächelnd die Hand. „Du musst Nicholas sein, stimmt's? Freut mich, dich kennen zu lernen.“

„Hallo Lucas“, entgegnet Nicholas sichtlich erleichtert. „Ich habe schon viel von dir gehört. Ebenso wie von dir“, fährt er fort und drückt mir die Hand. Nachdem auch die anderen ihn begrüßen und Nicholas aus dem einen großen Blumenstrauß vier kleinere hervorzaubert, die er meinen Schwestern, Mom und Claudia überreicht, machen wir „Kinder“ es uns im Wohnzimmer bequem, bis das Essen so weit ist.

Eine gute halbe Stunde später, als wir alle am Tisch sitzen und uns die Suppe schmecken lassen, glaube ich zu wissen, was Emma an ihm findet. Und damit meine ich nicht sein ansteckendes Lachen, das von seinem gesamten Körper auszugehen scheint, ich meine die Kleinigkeiten, die kostbaren Geschenke, die die beiden austauschen. Sei es eine wie beiläufige Berührung ihrer Handrücken, ein flüchtiger, wortloser Blick, der so voller Liebe strahlt, als würden sie sich seit Ewigkeiten kennen und lieben, oder die Art, wie sie gegenseitig ihre Sätze vervollständigen ...

„Man glaubt es kaum, aber du bist verknallt“, verspottet mich Lucas, als wir wieder allein im Keller sind, mit der Aussicht auf einen Nachmittag voller Auspacken, Sortieren, wieder Einpacken und in Erinnerungen Schwelgen. Erinnerungen, die nicht nur in all diesen Kartons zu finden sind, sondern uns auch in Form von Fotos entgegenkommen.

„Ich bin nicht verknallt, Lucas. Obwohl, schon, aber nicht in Nicholas. Ich stelle mir nur gerade vor, wie es gewesen wäre, wenn ich damals ...“

Ich beende den Satz nicht, denn plötzlich hält Lucas ein Bild hoch, ein Foto, das mich im Alter von dreizehn Jahren zeigt, zusammen mit einem Jungen namens Daniel, der mir gerade meinen ersten Kuss gibt, weil er bei Mensch ärgere dich nicht verloren hat.

„Wusstest du damals schon, als du ihn geküsst hast ...“

„Er hat mich geküsst“, berichtige ich Lucas.

„Schon, aber du hast dich nicht gewehrt.“

Das stimmt, das habe ich nicht. Stattdessen habe ich den Zeigefinger an die Lippen geführt, als könnte ich mit dieser Geste das unglaubliche Gefühl, das einen übermannt, wenn man etwas Neues erlebt hat, etwas unerwartet Schönes, für immer einschließen und es immer wieder neu erleben. Doch man kann es nicht, alles, was einem bleibt, ist die Erinnerung daran, an das magische Gefühl des ersten Mals - des ersten Kusses. Auch wenn er nicht von dem Menschen kam, mit dem ich ihn am liebsten erlebt hätte.

„Es muss ein paar Monate später gewesen sein, vielleicht auch ein Jahr, ich weiß es nicht mehr genau. Da hat er mich gefragt, ob ich einen Freund hätte, und ich habe Ja gesagt, obwohl ich solo war … Ich wollte … Ich schätze, damals habe ich es gewusst … Und nicht wahrhaben wollen, weil du schon angefangen hattest, mit Mädchen auszugehen und es war für dich selbstverständlich und für mich irgendwie auch, obwohl ich mir nichts sehnlicher wünschte, als dass du … dass ich … Aber es hat nicht sein sollen, also habe ich es verdrängt und mich gefreut, dass du immer noch so viel Zeit für mich hattest.“

Lucas hält mitten in der Bewegung inne und sieht zu mir rüber. „Nur um eines klarzustellen: Wir reden jetzt nicht mehr von Daniel“, unterbricht er meinen Wortschwall und ich schüttle zögerlich den Kopf. Er setzt sich auf den Boden mit dem Rücken zum Sofa und sagt: „Du und ich, das hätte auch damals nicht funktionieren können. Nicht auf Dauer.“

„Ich weiß“, gebe ich kleinlaut zurück. „Jetzt weiß ich es, aber zu dem Zeitpunkt hoffte ich, dass … wir all unsere ersten Male zusammen erleben.“

„Du hättest Ja sagen sollen.“

„Habe ich ja.“

„Ich meine Nein. Du hättest Daniel die Wahrheit sagen und mit ihm zusammen sein sollen. Auch wenn ich schwul gewesen wäre, hätte es nicht mit uns geklappt. Nicht auf Dauer.“

Den letzten Satz sagt er bereits zum zweiten Mal. Als würde er ihn betonen wollen. Mehr als das. Als würde er wollen, dass sich die Worte in mein Gehirn einbrennen, damit ich sie nie wieder vergesse.

„Ja, wir hätten unseren Spaß gehabt. Wir hatten unseren Spaß. Bis heute. Und daran wird sich auch nie was ändern, höchstens das, was wir unter Spaß verstehen. Aber ein Paar sein, das konnten wir nicht, nicht nachdem er mich gehabt hatte.“

Ich muss nicht fragen, wen er mit er meint, Lucas ist das auch so bereits zu viel der Erinnerungen. Er steht auf, geht zur Tür, öffnet sie und geht … Zumindest glaube ich das für einen Moment, doch im nächsten steht er wieder im Raum, drückt die Tür hinter sich zu und schließt ab mit dem Schlüssel, der eben noch auf der anderen Seite im Schloss steckte. Dann setzt er sich auf das Sofa und wartet. Also setze ich mich zu ihm - und warte, weil ich weiß, dass wir darüber reden müssen. Wir müssen … es nicht aus der Welt schaffen, nein, denn es wird immer ein Teil von Lucas' Vergangenheit sein und somit ein Teil von ihm, von seiner Zukunft. Aber es muss zu einer Art von Abschluss kommen, so dass er nicht wie letzte Nacht wieder von Alpträumen geplagt wird, sondern endlich die Musik die Oberhand gewinnt und die Erinnerungen zu nicht mehr verblassen als zu einem Schatten, der immer schwächer wird.

 

Die letzten Stunden haben Spuren hinterlassen, mein ganzer Körper ist eingeschlafen. Ich habe mich kaum bewegt, höchstens die Hand gehoben, um Lucas' Kopf zu streicheln, den er mal auf meine Schulter, mal in meinen Schoß legte, wo nach und nach seine Tränen den harten Stoff meiner Jeans aufgeweicht und durchtränkt haben.

Die letzten Stunden habe ich kein Wort gesprochen, mein Mund ist trocken, meine Kehle wie zugeschnürt von dem, was ich gehört habe. Drei Jahre geballt in wenige Stunden. Anfangs die zärtlichen Berührungen eines Vaters, am Ende ein Ungeheuer aus Selbsthass, Verzweiflung, Orientierungs- und Hilflosigkeit, Selbstaufgabe, Zorn und Schmerz. Und dazwischen, irgendwo dazwischen, immer hin und her huschend, den anderen, mächtigeren Gefühlen geschickt ausweichend, in der Hoffnung, nicht von ihnen erdrückt und aufgefressen zu werden, ein kleines Fünkchen Liebe. Ganz schwach zunächst, doch es wird langsam stärker, kräftiger, lebendiger.

Die letzten Stunden hat Lucas geweint, gelacht, erzählt und noch mehr geweint, bis ihm die Tränen ausgingen. Er hat gekämpft, mit seinen Gefühlen, mit dem roten alten Boxsack, den er aus einer Ecke hervorgezerrt hat, mit und für sich selbst. Und ich, ich habe mich gefragt, wie ein einzelner Mensch so viel Schmerz aushalten kann.

„Alles kann man aushalten“, sagt er, während seine Finger immer noch über die schwarzen und weißen Tasten seines alten Keyboards fliegen. „Wenn man jemanden hat, mit dem man seine Bürde teilen kann, der einen aufmuntert, dessen Anwesenheit allein ausreicht, damit man sich besser fühlt. Jemanden wie dich“, fährt er fort und steht auf, zieht mich zu sich hoch und legt seine Arme um mich.

„Und ich dachte immer, du bist mein Beschützer“, sage ich in seinen Pullover.

„Bin ich, aber das bedeutet nicht, dass du nicht auch auf mich aufpasst.“

„Hätte ich meinen Job gut gemacht, dann …“ Weiter komme ich nicht, weil Lucas mir den Zeigefinger auf den Mund legt und mich damit zum Schweigen bringt.

„Denk den Satz nicht mal zu Ende, hörst du?! Du hast weitaus mehr getan, als ich mir hätte wünschen können, klar?! Und jetzt habe ich Hunger. Lass uns hochgehen und was essen und danach kannst du mit den Gesangskünsten deines besten Freundes angeben“, verspricht er und sieht mich eindringlich an. Ohne ein weiteres Wort beschließen wir, die Vergangenheit vergangen sein zu lassen und den Rest des Abends mit den anderen zu verbringen, schließlich sind wir nicht den ganzen Weg hergefahren, um unter uns zu bleiben.

Lucas schließt die Tür auf. Wir warten einen Moment, in dem er sich versichert, dass ich seine Worte verinnerlicht habe, und dann hat die Welt uns wieder zurück.

 

Auf der obersten Stufe bleibe ich erneut stehen und frage mich, ob es das jetzt gewesen ist, woraufhin mich Lucas mit hochgezogener Augenbraue ansieht.

„Was?“

„Nichts“, zögere ich. „Es ist nur … Wie geht’s jetzt weiter? Ist jetzt alles wieder gut und es ist nie passiert oder …?“

Er beißt sich auf die Unterlippe. „Es ist passiert!“, betont Lucas. „Ich kann's nicht rückgängig machen, ich kann's nicht auslöschen, es ist passiert. Aber die letzten Stunden haben mir klar gemacht, du hast mir klar gemacht, dass es nicht meine Schuld war, dass ich es nicht verhindern konnte, dass es nicht mehr so weh tut wie damals. Dass ich ihm die Macht über mich nehmen muss … und vor allem, dass ich sie ihm nehmen kann! Ich werde das Vorspielen durchziehen und, wenn sie mich aufnehmen, werde ich das Studium durchziehen und endlich dort weitermachen, wo ich wegen ihm aufgehört habe. Das ist ein Versprechen, das ich dir und mir selbst gebe, okay?“

Ich habe das Gefühl, dass mein Kopf sich leicht zu einem Nicken bewegt, ohne dass ich es ihm erlaubt hätte, aber vielleicht habe ich mir das auch nur eingebildet, also gebe ich ein deutliches Okay von mir und folge ihm ins Wohnzimmer, wo bei weihnachtlichem Kerzenschein alle beisammen sitzen, Emma und Nicholas inklusive.

Wir machen es uns in der Nähe des Kamins auf dem Teppich bequem, lauschen gespannt Emmas Stimme, die nur das Beste über ihren Freund zu erzählen hat, von seiner Liebe zu Shakespeare und Dickens oder seinem lustigen Akzent, den er lachend für uns zum Besten gibt, obwohl er ihn sich größtenteils schon abgewöhnt hat. Als Nicholas meiner Schwester einen unschuldigen Kuss auf die Wange haucht, wandern meine Gedanken nach Hause, ins Chez Xiao, wo Kim um diese Uhrzeit in der Küche steht und irgendwas kleinschnibbelt. Ich sehe das Messer in seiner Hand, wie es sich mit rasender Geschwindigkeit auf und ab bewegt, so schnell, dass ich den einzelnen Schnitt nicht wahrnehmen kann. Ich lege meine Hand auf seine, spüre die Bewegung darin, lege meinen Arm um ihn, die andere Hand auf seine Brust, sein Herz rast, er dreht sich zu mir um und …

Lucas' leichter Händedruck holt mich zurück in die Realität, obwohl ich am liebsten in meinem Wachtraum geblieben wäre. Ich sehne mich nach Kim, seinen sinnlichen Berührungen, seinem heißen Atem in meinem Nacken, nach seinen Händen und seiner Haut auf meiner Haut.

Als wäre ich von einer Biene gestochen worden, springe ich auf und verschwinde in den Flur, wo ich ganz langsam mein Handy aus der Hosentasche hervorhole, jeden Sekundenbruchteil darauf hoffend, dass es klingelt und Kim mir sagt, er habe auch gerade an mich gedacht. Doch die Realität ist eben kein Film, in dem zwei Verliebte sich zur gleichen Zeit anzurufen versuchen.

Ich tippe auf Kims Gesicht und warte. Es klingelt. Es klingelt .. Es klingelt … Kim geht nicht ran, dafür seine Mailbox. Ich gestehe ihm, dass ich ihn unglaublich vermisse und es kaum erwarten kann, ihn in ein paar Tagen endlich wieder zu sehen. Und dass er mich zurückrufen soll, weil ich dringend seine Stimme hören muss.

Nachdem ich noch einige Minuten gewartet habe, in der Hoffnung, dass er sich gleich meldet, gehe ich wie ein begossener Pudel in Richtung Wohnzimmer, als es endlich in meiner Hose vibriert und ich einen Freudensprung unterdrücken muss, um nicht alle Blicke auf mich zu ziehen.

„Sorry“, sagt Kim und klingt etwas gehetzt, „ich habe mit beiden Händen in Hackfleisch gesteckt. Ist was passiert? Bin noch nicht dazu gekommen, die Mailbox abzufragen.“

„Nein, nichts, ich wollte nur deine Stimme hören.“

„Ich vermisse dich“, kommt es von uns beiden zugleich.

„Ja“, meint er, „ich hab mir was überlegt. Also, deine Einladung, gilt sie noch? Hätten deine Eltern was dagegen, wenn ich Weihnachten mit dir - mit euch - verbringen würde?“

Ich erlaube mir einen innerlichen Freudenschrei. „Was dagegen haben? Sie lieben dich jetzt schon!“

„Was hast du ihnen denn erzählt?“

„Nur Gutes, keine Angst“, kichere ich wie ein verliebter Teenager. „Weißt du schon, wann du hier sein wirst, damit wir dich vom Bahnhof abholen? Du fährst doch mit der Bahn, nicht dass du mit dem Roller herkommst, die Straßen sind streckenweise verdammt glatt!“

„Ja, ja, ja! Natürlich mit der Bahn! Ähm, also, ich melde mich nochmal wegen Abholen und so und …“

„Warte mal kurz“, unterbreche ich ihn, weil es an der Tür klingelt. „Ich muss mal eben zur Haus-“

„Hi!“, begrüßt Kim mich mit einem breiten Grinsen im Gesicht und lässt seine Tasche zu Boden fallen. Seine Arme schlingen sich um mich, er drückt mich an sich. Es dauert einen Moment, bis ich realisiere, was gerade passiert, bis ich ihn ebenfalls umarme, ihn so fest an mich drücke, wie noch nie jemanden zuvor.

„Hackfleisch, hm?“

Er lacht. „Ich hab's nicht mehr ausgehalten ohne dich“, murmelt er in meinen Pullover hinein. „Ich musste dich sehen und ...“ Mitten im Satz hält er inne und schaut auf einen Punkt hinter mir. Als ich mich umdrehe, stehen sie alle in der Wohnzimmertür und schauen uns an. Meine Mutter löst sich von den anderen und kommt auf uns zu.

„Willkommen in der Familie, mein Lieber“, strahlt sie und umarmt Kim und dann uns beide. „Willkommen in der Familie ...“

 

ENDE

Nachwort

Dieses eine Wort zu schreiben, ENDE, ist seltsam gewesen. Zum einen bin ich stolz, zum ersten Mal eine mehrteilige Story abgeschlossen zu haben, doch zugleich ist mir nach Weinen zumute, denn all die Charaktere, die in Irrwege ein Zuhause gefunden haben, sind mir ans Herz gewachsen. Ich habe mit ihnen fünf Jahre lang gelebt, mit ihnen gelacht und gelitten, denn, auch wenn ich nicht an der Geschichte schrieb, in Gedanken waren Markus, Lucas & Co. immer bei mir.

So fällt mir der Abschied besonders schwer, wenngleich es kein Abschied für immer sein wird. Obwohl die Hauptgeschichte nun erzählt ist, bleiben noch etliche Fragen offen, die in nicht allzu ferner Zukunft auf meiner Homepage marcodonkins.com beantwortet werden sollen.

Ich möchte diese Gelegenheit nutzen und mich bei meiner besten Freundin bedanken, die mich mit ihrer Kritik manchmal fast in den Wahnsinn trieb, mir zugleich aber half, Stolperfallen zu überwinden, die ich mir selbst gestellt hatte. Außerdem danke ich ganz herzlich meinem Korrektor Ste, der mir von Anfang an stets mit Rat und Tat zur Seite stand, und den Leuten von Nickstories.de dafür, dass sie meine Geschichte einem größeren Publikum vorgestellt haben. Auch ein Dankeschön geht an die Leser, denen meine Geschichte gefallen hat und die mir mit ihren Zuschriften den Mut und die Kraft gegeben haben, weiterzuschreiben.

 

Vielen lieben Dank und bis zur nächsten Geschichte

 

Euer hiStoryboy aka Marco Donkins

Lesemodus deaktivieren (?)