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Irrwege

Teil 13 - Dernière

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Informationen

 

Nach der letzten Vorstellung am Freitag vor den Weihnachtsferien, dem krönenden Finale einer mehr als gelungenen Aufführungswoche, finden wir uns alle, ob Schauspieler, Bühnenhelfer, Freund oder Verwandter, erneut im bxd ein, wo, nach dem obligatorischen It's Raining Men, Basti auf die Bühne gescheucht wird. Einmal mehr dankt er allen Beteiligten und schmunzelt über den Gag in der Abschlussszene, woraufhin etliche Leute, Kim eingeschlossen, anfangen, Stille Nacht zu summen. Wir anderen sehen uns fragend an und zucken unwissend mit den Schultern.

Kim und Alex, die seine Frau gespielt hat, gesellen sich, immer noch summend, zu Bastian und klären uns schließlich auf:

„Für die, die es noch nicht wissen, möchten wir diese Gelegenheit nutzen und unseren verehrten Regisseur am heutigen Abend ganz öffentlich outen: Also … liebe Leute … Puh, das ist ganz schön schwer, oder?“, stöhnt Kim und sieht Alex grinsend an.

„Ja“, erwidert sie und Basti schlägt lachend die Hände vors Gesicht, „er ist ja nicht nur unser Regisseur, sondern auch unser Freund, aber wir müssen – wir müssen! – die Welt vor ihm warnen.“

„Daran führt kein Weg vorbei, fürchte ich – wat mutt, dat mutt. Sorry, Basti, deine letzte Chance. Willst du sie wahrnehmen und allen selbst die Wahrheit über deine … ungeheuerliche Abart sagen, die du so schamlos und offen zur Schau stellst?“

Der Gefragte tut so, als würde er angestrengt überlegen, was den beiden offenbar zu lange dauert.

„Tja, Chance verpasst, dann müssen wir es eben doch selbst übernehmen“, sagt Alex und schüttelt enttäuscht den Kopf. „Es tut uns unheimlich leid, euch verkünden zu müssen, dass … oh Gott, ich bringe es nicht übers Herz, Kim. Das können wir ihm nicht antun.“

„Würde ihm so passen, dann hört er nie damit auf.“ Kim nimmt Alex' Hand. „Wir müssen stark sein, nicht für Basti, nicht für uns, sondern für all die Schauspieler, die nach uns kommen und glauben, in ihm“, eine kurze Kopfbewegung und ein verächtlicher Blick in Bastians Richtung, „den besten Regisseur gefunden zu haben, den es gibt. Die Wahrheit ist, meine Freunde …“

„Ist ja gut, ich gestehe!“, ruft Basti mit gespielt gequältem Blick dazwischen und alle Augen richten sich auf ihn, „Ich gestehe: Ich … ich … summeWeihnachtsliederwährendderProben. So“, schnieft er und dreht Kim und Alex den Rücken zu, „seid ihr jetzt zufrieden?!“

„Weiß nicht“, meint Alex. „Haben alle verstanden, was er gerade gesagt hat?“, fragt sie und schüttelt vehement den Kopf, woraufhin ein einstimmiges Nein den Raum erzittern lässt. „Nee, Bastian, du musst es wiederholen, langsam und deutlich, damit auch der Letzte da hinten in der Ecke dich hört.“

Basti atmet tief ein … und aus … und ein … „Ich. Habe. Während. Der. Proben. Weihnachtslieder. Gesummt.“

„Tztztz“, macht Kim. „Wir schämen uns für dich, Bastian. So sehr“, er wendet sich an uns, „dass Alex, also meine Frau, in der heutigen letzten Szene leise – sehr leise – Stille Nacht gesummt hat, was aber nicht jedem aufgefallen sein dürfte.“

Sie ist das also gewesen, und nicht irgendein Kindskopf vor mir.

„Damit du dich immer an uns erinnerst – und als Dank für eine coole Zeit.“

Einer nach dem anderen gehen Ensemble und Crew unter stürmischem Beifall und Pfeifen auf die Bühne, umarmen Basti und drücken ihm rote, gelbe und weiße Rosen in die Hand.

Und dann passiert es. Mittendrin. So verstohlen und kurz, dass man es leicht hätte übersehen können: ein Kuss – von Student #3. Bastian errötet und sein Blick folgt dem Studenten, bevor er sich von Dozent #1 drücken lässt. Ich stoße Kristin, die neben mir sitzt, mit dem Ellbogen in die Seite. Sie grinst: „Es wurde aber auch langsam Zeit, nicht?“ Ich grinse zurück.

Auf der Bühne lichtet sich allmählich die Schar der Gratulanten, bis Basti wieder allein da steht und erneut das Wort ergreift. „Also, eigentlich verdient ihr es gar nicht, nachdem ihr mich so gnadenlos zum Coming Out gedrängt habt, aber weil ich ja so ein herzensguter Mensch bin“, allgemeines Lachen, „werde ich euch die Neuigkeit nicht vorenthalten. Wie einige von euch wissen, wurde die Premiere ins Netz geladen“, Kim hat das erwähnt, fand ich klasse, „und wir haben auch schon mehrere Tausend Besucher und noch mehr Kommentare erhalten – ja, die meisten davon sind positiv“, antwortet er auf die Zwischenrufe.

„Ein paar negative sind auch dabei, aber Interpol hat uns die Namen der Kritiker verraten und wir schicken den Weihnachtsmann höchstpersönlich mit einer Rute vorbei. Was ihr dort allerdings nicht finden werdet, ist das hier.“ Er macht es spannend und holt aus seiner Hosentasche ein Blatt Papier hervor, mit dem er ein paar Mal herumwedelt, um es dann ganz langsam auseinander zu falten.

„Ihr fragt euch sicher, was das ist“, allgemeines Nicken, „und genau die gleiche Frage habe ich mir heute Morgen, als ich die E-Mail erhalten habe, auch gestellt. Ich meine, wer schreibt mir schon freiwillig, hm? Ihr ganz sicher nicht, kein Frohe Weihnachten oder Guten Rutsch, nein, ihr drückt mir lieber Dornen in die Hände. Besten Dank dafür übrigens. Ach, wisst ihr was, ich werd’ euch die Mail doch nicht vorlesen“, sagt er und zerreißt das Blatt in mehrere Stücke, die er dann gleichgültig über die Bühne verstreut.

Ein enttäuschtes Oh macht die Runde. „Was denn? Man bekommt im Leben nicht immer das, was man sich wünscht. Werdet erwachsen, also wirklich!“ Er dreht sich weg und geht ab. Stille. Absolute Totenstille. Sprachloses, entsetztes Warten. Hat er das ernst gemeint oder kommt er wieder? Leises, unverständliches Murmeln setzt an, auch wir schauen uns an und fragen uns, was wohl in ihn gefahren sein mag, als er mit einem frechen, fiesen Grinsen zurückkehrt. „Hört auf zu betteln“, lacht er. „Am besten, ihr kommt alle wieder zu mir hoch, alle, die mitgemacht haben. Gut so – und ihr anderen, von euch möchte ich den lautesten Applaus hören, den ihr je zustande gebracht habt, denn … wir wurden … für den TadU nominiert.“ Verhaltenes Klatschen.

Bitte was?, fragt ihr euch jetzt.“ Er zieht ein weiteres Blatt hervor und reicht es Student #3 – wie heißt er nur? –, der zufällig neben ihm steht.

„Der TadU“, liest dieser vor, „ist der Theater-an-der-Uni-Preis und wird jedes Jahr deutschlandweit in mehreren Kategorien verliehen. Wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass Ihre Produktion von Das X-Mas Virus – Eine moderne Weihnachtsgeschichte in den Kategorien Originalität, Darstellerische Leistung, Regie und Kulisse nominiert wurde, und laden Sie herzlich am 15. Januar um 20:00 Uhr zur Preisverleihung in das Auditorium Maximum der Universität Hamburg ein. Ist das ein Scherz?“, fragt Student #3 und reicht das Blatt weiter an seine Kollegen.

„Nein“, schüttelt Basti den Kopf, „kein Scherz.“ Langsam begreifen auch wir Zuschauer das und auf das zögerliche, vereinzelte Händeklatschen folgt der gewünschte frenetische Applaus.

Zurück am Tisch wird der Verkünder der frohen Botschaft gefragt, ob er seinen Berufswunsch nicht verfehlt habe, denn so wie er uns alle an der Nase herumgeführt hat, hätte er genauso gut auf der Bühne seines eigenen Stücks agieren können. Eine Antwort darauf bleibt Basti uns schuldig, denn der gute Ole legt von hinten seine Arme um ihn und drückt ihm einen verfehlten Schmatzer auf das linke Ohr, was unser Freund mit einem Lachen und einem Bäh quittiert, bevor Leah rettend einschreitet und den leicht Angetrunkenen auf die Tanzfläche entführt.

„Nicht dass Student #3 noch eifersüchtig wird“, sagt Jonna und eilt den beiden hinterher.

„Sein Name ist Timo“, ruft Basti ihr hinterher, „und er hatte es von Anfang an auf mich abgesehen. Nach dem Vorsprechen hat er mir gesagt, dass er nur eine Rolle in XV will, um mich kennen zu lernen“, verrät er uns.

„Das hast du uns nie erzählt“, beschwert sich Kristin.

„Wozu? Es gab kein Kennenlernen. Wir sind nie ausgegangen. Es war eine rein professionelle Beziehung!“

„Abgesehen von den vielen Malen, als Timo nach der Probe noch eine Weile geblieben ist“, wendet Kim ein.

„Um über das Stück zu reden. Er war immerhin deine Zweitbesetzung. Anfangs zumindest haben wir uns über XV unterhalten, danach … Aber es wollte einfach kein Funke überspringen, ich kann ihn nicht besonders gut leiden. Also sind wir auch nicht ausgegangen, ich hatte seit Jahren kein Date mehr.“

„Eben“, meint Kristin augenzwinkernd. „Lass es mal wieder krachen.“

„Und falls du irgendwelche Tipps für ein erstes Rendezvous benötigst, musst du nur zwei Türen weiter nachfragen“, meint Kim und klopft mir auf die Schulter. Dafür, dass er sich über mich lustig macht, wird er später noch büßen müssen!

„Was war denn eigentlich das geheimnisvolle Geschenk, das er dir zum ersten richtigen Date mitgebracht hat?“, fragt Basti neugierig.

„Das willst du lieber nicht wissen“, komme ich Kim mit einer Antwort zuvor. Kristin fängt neben mir an zu kichern. Haben sich denn jetzt alle gegen mich verschworen?

„Doooch, jetzt erst recht“, lacht Basti.

„Ist ihm peinlich“, erklärt Kim, „aber ich find's einfach nur total süß.“ Nein. Nein! Neineinein! Lass ihn stecken!!!

Doch Kim hört meine Gedankenschreie nicht. Er holt seinen Schlüsselbund heraus und …

„Oh, guckt mal, der Weihnachtsmann.“ Mein verzweifelter Ablenkungsversuch scheitert, keiner lässt den Anhänger aus den Augen.

„Das ist Aang“, verkündet Kim stolz, „der echte Avatar. Ihn gab es schon Jahre, bevor James Cameron seine blauen Riesenaliens ins Kino schickte. Das, was Aang in der Hand hält, ist sein Gleiterstab – und daran hat Markus eine winzige rote Papierrose festgemacht. Klasse, oder?“

So enthusiastisch, wie Kim es erzählt, könnte ich ihm glatt zustimmen, allerdings muss ich gestehen, dass ich es ohne Kristins Hilfe nicht geschafft hätte, den Anhänger zu finden. Sie hat eine unglaubliche Geduld zutage gelegt, nicht nur, weil sie mit mir unzählige Comic- und Spielzeugläden abgeklappert hat, sie hat mich zudem immer wieder aufgemuntert und angetrieben, wenn ich mal wieder kurz davor stand, das Handtuch zu werfen und mit einer schlichten Rose beim Date aufzukreuzen.

Als Dankeschön für ihre Hilfe musste ich ihr nur versprechen, dafür zu sorgen, dass Lucas die Uni wechselt – nichts leichter als das, hm …?

Als hätte er mitbekommen, dass meine Gedanken sich um ihn drehen, steht Lucas auf und verabschiedet sich mit einem Bis später, Kristin, die sich noch einmal umdreht und mir zuzwinkert, im Schlepptau.

„Die beiden haben’s ziemlich eilig, was?“, kichert Basti von seinem Stuhl und blickt zu mir hoch, wahrscheinlich auf der Suche nach einem Zeichen der Eifersucht in meinem Gesicht, doch ich bin selbst überrascht, wie wenig mich das Verschwinden der beiden tangiert, und wie leicht mir die Worte Hauptsache, sie haben ihren Spaß über die Lippen kommen. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich weiß, dass Lucas seine Bedürfnisse nicht so offen jedem zeigen würde – und Kristin sicherlich auch nicht.

„Den werden wir jetzt auch haben“, kommt es von Kim, der mich mit einer eleganten Verbeugung auf die Tanzfläche bittet, wo wir uns engumschlungen zu der ruhigen Nummer bewegen. Leider hält unsere Zweisamkeit aber nicht lange an, denn schon nach wenigen Minuten spüre ich die Hose meines Freundes vibrieren. Sein Handy fordert, wie so oft in den letzten Tagen, seine Aufmerksamkeit und allmählich gewöhne ich mich daran, dass er mitten in was auch immer ans Telefon geht und sich nach einem meist kurzen Gespräch auf den Weg macht.

Auch dieses Mal ist es nicht anders. Sobald er aufgelegt hat, zieht er mich sanft etwas abseits, wo er mich mit seinen schönen, traurigen Augen still um Vergebung bittet. Meine Antwort darauf besteht aus einem Kuss, einer Umarmung und dem wortlosen Versprechen, immer noch da zu sein, wenn er Stunden später nach Hause kommt und selbst jemanden zum Reden braucht.

„Sehen wir uns nochmal, bevor ihr morgen fahrt?“

„Auf jeden Fall“, antworte ich in der Hoffnung, morgen früh neben ihm aufzuwachen. Ein letzter Kuss noch und weg ist er – wer weiß, wie viele Stunden er diesmal wieder fort sein wird.

Mit einem doppelten Espresso in der einen und einem Bitter Lemon in der anderen Hand, gehe ich zurück zu Basti, der mit müden, kraftlosen Gliedern halb auf seinem Stuhl liegt. Als ich ihm den Espresso vorsetze, bedankt er sich mit einem Nicken.

„Wieso sitzt du hier ganz allein?“, erkundige ich mich. „Keine Lust auf Timo?“

Er schüttelt den Kopf. „Ich bin kaputt. Auf der Bühne zu stehen und den Clown zu geben, das ist nichts für mich. Und was Timo betrifft, auch wenn ich mich geschmeichelt fühle, wie gesagt, ich mag ihn nicht besonders. Er mag gutaussehend sein, das bestreite ich nicht, aber seine forsche Art ist einfach nicht mein Ding. Außerdem will ich überhaupt niemanden, ich bin glücklich mit meinem Leben.“

„Mhm“, deute ich meine Zweifel an. „Wann hast du denn das letzte Mal …“

„Es dreht sich doch nicht immer alles nur um das Eine.“

„Das meine ich auch nicht, Basti. Was ist mit Nähe, Zuneigung?“

„Dafür habe ich euch, meine Eltern, David … Gerade du hast bisher ein prima Kuschelmonster abgegeben. Aber ich weiß … Kim.“ Höre ich da Wehmut in seiner Stimme? „Versprich mir nur eins, ja?“

„Was denn?“

„Dass du dir mit dem Ausziehen Zeit lässt.“ Ich habe keineswegs vor, mich hier und jetzt auszuziehen, was ich ihm auch sage. Er lächelt gequält. „Wir vermissen dich jetzt schon, sehen dich kaum noch. Es wäre schön, wenn du öfter zu Hause wärst.“

„Genau“, springt mir Jonna von hinten um den Hals. „Keiner lästert so viel über Johnny Depp wie du und man kann nicht diskutieren, wenn alle einer Meinung sind – oder gar kein Interesse zeigen.“

Auch Ole und Leah sind wieder da, sie lassen sich zur Linken und zur Rechten Bastians fallen. Fehlt nur noch Kristin, dann wäre das Traumsextett wieder vollständig.

„Wie sind wir jetzt von Basti bei mir gelandet?“, erkundige ich mich, einerseits gerührt von ihren Worten, andererseits aber auch leicht genervt, weil ich auch ohne ihre Schuldgefühle nicht weiß, wie ich die nächsten zwei Wochen überstehen soll. Denn so schön es auch ist, verliebt zu sein (das höchste Glücksgefühl, zu dem ein Mensch fähig ist), ist es umso schlimmer, wenn man, frisch verliebt, auf eine längere Zeit ohne den anderen vorausblickt.

„Weil sich dank dir alles geändert hat“, meint Leah unverblümt. „Unser Außenseiterteam ist im Begriff auseinander zu fallen.“

„Leah!“, kommt es von den anderen gleichzeitig.

„Was? Stimmt doch! Zuerst bringst du Lucas mit ins Boot, was an sich super ist, nur hat uns ein gewisser jemand ermahnt, die Finger von ihm zu lassen.“

„Nicht ich!“, verteidige ich mich gegen ihre Andeutung.

„Nicht du – Bastian!“ Oh, sie benutzt seinen vollen Vornamen, was nichts Gutes bedeutet. Das hat er nicht wirklich getan, oder?

Der Angeklagte setzt seine Unschuldsmiene auf und bekennt sich damit schuldig. „Ich dachte damals, aus euch beiden könnte doch noch was werden.“

„Ist doch jetzt sowieso egal“, wütet Leah weiter, „weil Kristin ständig mit ihm und dem ganzen Musik-Unsinn unterwegs ist. Du verbringst die meiste Zeit mit Kim, schläfst nicht mal mehr zu Hause, Basti hat nur noch sein Weihnachtsvirus im Kopf und der Hengst der Truppe ist zur Couchpotato mutiert. Gott, ich hab echt keinen Bock mehr auf Deppen-Filme. Sorry, Jonna.“

Ooookay … Da hat sich ja einiges aufgestaut in letzter Zeit. Aus der plötzlichen Stille schließe ich, dass die anderen ihr durchaus zustimmen.

„Dann sollte ich vielleicht doch lieber ausziehen“, schlussfolgere ich.

„Genau das sollst du nicht“, betont Leah ungewohnt ernst und nimmt meine Hand. „Ich will nur, dass alles wieder wie früher wird, wenigstens ab und zu. Dass wir zusammensitzen, nur wir sechs – oder fünf, wenn Mr. Sex-Maniac irgendwann seine zugelegten Pfunde abtrainiert und wieder anfängt, die Ich-bin-der-schärfste-Typ-Karte auszuspielen – und uns Geschichten erzählen, oder über dämliche Dates lästern – nur wir eben, versteht ihr? Wann haben wir zuletzt zusammen gekocht, hm?“

„Das ist aber nicht Markus’ Schuld, Leah“, wendet Basti ein. „Die letzten Wochen waren ziemlich chaotisch, da kannst du nicht erwarten, dass wir stur dem üblichen Tagesablauf folgen.“

„Ich weiß“, sagt sie, und an mich gewandt: „Du hast nur gerade eine perfekte Zielscheibe abgegeben. Tut mir leid.“

„Schon gut. Das zeigt mir, wie sehr du auf mich stehst.“

Leah lacht und umarmt mich. „’schuldigung“, flüstert sie.

„Ihr alle seid hier an der Uni meine Familie“, verspreche ich. „Ich muss es nur irgendwie schaffen, alles unter einen Hut zu bringen, aber ich werd’s packen.“ Irgendwie.

„Mann, das ist ja nicht mehr auszuhalten“, gibt jetzt auch Ole seinen Senf dazu. „Wenn’s noch schwulstiger wird, muss ich gleich kotzen, Leute.“

„Das heißt schwülstig, du Schlaukopf“, stimmt Leah mit ein.

„Nicht wenn ich schwülstig und schwul zugleich meine. Außerdem, bist du jetzt unter die Germanisten gegangen, oder was?“

„Leute, es geht los!“, unterbricht Jonna die beiden.

„Was geht los?“, frage ich.

„Hör zu und genieße“, nickt Basti in Richtung Bühne.


Der Morgen danach ist der Morgen davor. Es ist noch dunkel, als ich zum ersten Mal die Augen aufschlage und merke, dass Kim nicht neben mir liegt. Und es ist immer noch genauso dunkel, als ich gefühlte Stunden später, die real nur Minuten entsprechen, mit einem merkwürdigen Gefühl im Magen aufstehe, das ich als Sorge interpretiere.

Der Blick auf meinen Wecker hält mich davon ab, meine schlafenden Mitbewohner mit den Geräuschen einer laufenden Dusche zu terrorisieren, also lege ich mich, meine Gedanken immer noch bei Kim, wieder ins Bett und nehme mir die Kurzgeschichten vor, die Basti mir zum Lesen gegeben hat. Wenig später, als ich damit fertig bin, erwische ich mich dabei, wie ich instinktiv zum Handy greife und Kims Nummer wähle, breche den Anruf aber gerade noch rechtzeitig ab – nicht dass er denkt, ich sei ein Kontrollfreak.

Er wird sich schon melden, murmle ich auf dem Weg zum Kühlschrank vor mich hin. Vielleicht dauert das Gespräch so lange, oder er wurde noch von jemand anderem angerufen, während er schon auf dem Weg hierher war, oder er muss, wie letztes Wochenende auch, bei der Suche nach einem Ausreißer mithelfen. Oder ihm ist was passiert …

Der letzte Gedanke bleibt mir wie ein Klumpen im Hals stecken.

„Wieso bist du denn schon wach?“, höre ich Basti aus dem Wohnzimmer, als ich die Kühlschranktür öffnen will.

„Kann nicht mehr schlafen – Kim. Was ist mit dir? Wo willst du hin?“, erkundige ich mich, als mir auffällt, dass er seine Jacke und seine Stiefel angezogen hat.

„Komm grad erst.“ Als wir anderen aufgebrochen sind, wollte er noch etwas im Club bleiben, aber so lange … Er ist doch sonst nicht der Typ, der so spät heimkommt.

„Gab’s Ärger?“

„Im bxd? Nein, ich hatte noch einiges zu klären. Wegen Heiligabend und David und …“

„Was ist mit ihm? Habt ihr euch gezofft? Sitzt du deswegen hier im Dunkeln und erschreckst ahnungslose Mitmenschen?“

„Im Dunkeln? Der Mond scheint hell genug und außerdem wollte ich euch nicht wecken“, weicht er aus.

„Okay, du musst es mir nicht sagen. Auch wenn du mich vor ein paar Stunden noch dein Kuschelmonster genannt hast“, spiele ich den Gekränkten.

Mein Versuch, ihn aufzuheitern, geht spurlos an ihm vorbei. „Es ist nichts, er benimmt sich in letzter Zeit nur sehr komisch. Aber wir haben darüber gesprochen und er gelobt Besserung.“

„Will ich auch hoffen. Wenn er sich aber doch nicht daran hält, gib mir Bescheid und ich fahr meine plüschigen Monsterkrallen aus und tu ihm weh.“

„Genau“, sagt Basti und schmunzelt. „Ich hab dir übrigens was mitgebracht.“

„Die Julklapp-Geschenke gibt’s erst, wenn alle wach sind, Basti.“

„Ich weiß, aber ich hab nicht dich gezogen, daher möchte ich sie dir jetzt schon geben. Nur eine Kleinigkeit.“ Er holt aus der Innentasche seiner Jacke zwei quadratische Papierhüllen und reicht sie mir rüber. „Ich hatte leider keine Zeit, richtige Hüllen und Cover zu basteln, die bekommst du dann nächstes Jahr. Das eine, die Aufführung, ist von gestern Abend, die letzte, und du solltest sie vielleicht nicht im Beisein deiner Eltern anschauen, wenn du dich bis dahin noch nicht geoutet hast. Die Kamera folgt nämlich fast ausschließlich Kim.“

„Okay, danke. Werd’ ich mir merken. Vielleicht vermisse ich ihn dann weniger.“

„Genau. Und die andere …“

„Das Konzert!“

„Hab mir gedacht, du willst Lucas’ ersten Auftritt zu Hause vorführen.“

Und damit ist Basti die unangefochtene Nummer Eins auf meiner Lieblingsmitbewohnerliste. Oder doch nicht …? „Ich hab nichts für dich.“

„Tja“, macht er, „dann wirst du wohl für immer und ewig im Feuer der Keine-Geschenke-Hölle schmoren. Das ist okay, die eine DVD ist ja nicht wirklich für dich, sondern für deine Family. Im Ernst, ich möchte keine Geschenke, ich wollte dir einfach nur ’ne Freude machen. Und jetzt werde ich mich zwei Stunden aufs Ohr hauen und du rufst Kim an.“

„Meinst du, das ist okay?“

„Bestimmt freut er sich“, sagt er und ist aus der Tür.

Wie so oft hat Basti Recht. Kim ist froh, mich zu hören und verspricht, in zehn Minuten da zu sein, sagt, dass er bereits auf dem Weg sei. Beruhigt will ich zurück ins Bett und dort auf ihn warten, da fällt mir ein, dass ich mit Bastian noch über seine Geschichten reden wollte.

„Ich hab sie gelesen“, platze ich in sein Zimmer rein und plappere drauf los, während er sich bettfertig macht. Er hält mitten in der Bewegung inne, sieht mich an, seine Hose liegt ihm um die Knöchel, seine langen, käsigen Beine bilden einen krassen Kontrast zu seiner dunklen Kleidung und der in warmen, lebendigen Farben gehaltenen Ausstattung seines Zimmers.

„Und?“

„Leg dich schon mal hin, schließ deine Augen und ich erzähle dir eine Gute-Nacht-Geschichte.“

„Markus, spann mich nicht auf die Folter!“, quengelt er, schlüpft aber schon mal unter die Decke, zieht sie sich bis zum Hals hoch und guckt mich mit großen, wartenden Augen unter hochgezogenen Brauen an und sieht dabei aus wie ein kleines Kind, das genau darauf wartet: auf eine Gute-Nacht-Geschichte. „Also?“

„Ich fand sie toll, hab sie alle gern gelesen, aber die letzte …“

Somewhere over the Rainbow“, rät er.

„Genau, woher wusstest du, welche ich meine?“

„Du zuerst.“

„Okay. An sich finde ich, dass das die beste Geschichte von allen ist, weil sie die Welt auf den Kopf stellt. Es ist nicht mehr der Junge oder der Mann, der irgendwann entdeckt, dass er doch auf Kerle steht, sondern eben andersrum: Ein überzeugter Homo verliebt sich in eine Frau. So etwas liest und sieht man nicht oft.“ Nicht, dass ich der Experte in Sachen homosexuelle Literatur oder Kinematographie bin, aber das eine oder andere bekommt man auch so mit. Außerdem lerne ich über Kim Schicksale aus dem echten Leben kennen und von einem schwulen Jungen, der sich in ein Mädchen verknallt, hat er bisher noch nicht erzählt. „Dazu kommen die ganzen kleinen Verrücktheiten, die du eingebaut hast, wie das Tomatenmädchen und natürlich der Regenbogen, an dessen Ende kein Topf voller Gold auf ihn wartet, und genau die sind zugleich auch das Problem, weil du mit diesen Ideen ein ganzes Buch füllen könntest, du könntest sogar mehrere Bände schreiben und sie weiterspinnen – und, wer weiß, vielleicht würde damit dein Traum in Erfüllung gehen.“

„Sicher …“ Er setzt sich auf. „Also, so was Ähnliches hat der eine Verleger auch gemeint, als er mir eine Abfuhr erteilt hat. Danke, dass du versuchst mich aufzumuntern.“

„Bas…“

„Nein, schon gut. Ich meine, ich habe gerade eine Woche hinter mir, die ich mir erfolgreicher nicht hätte wünschen können. Man muss auch Rückschläge einstecken können, richtig?“ Er zeigt mit dem Finger auf den Schreibtisch. Wörter wie interessant, ungewöhnlich und vielversprechend springen mir vom obersten Blatt entgegen. Und tut uns leid.

„Vergiss den Wisch, Basti. Vergiss … Was ich vorhin gesagt habe, hab ich auch so gemeint. Und du weißt es. Du weißt, dass du gut bist. Vielleicht sind diese Geschichten nicht das, was ein Verleger lesen möchte, aber es gibt viele andere Leute, die, wie ich, gern noch mehr davon lesen würden. Und für uns wirst du weiterschreiben.“

„Tz, für dich doch nicht!“, lacht er. „Hast du Kim erreicht?“

„Ja, er müsste gleich hier sein.“

„Gut, dann mach, dass du hier raus kommst. Und, Markus …“

„Hm?“

„Danke.“

„Klar doch. Schlaf gut“, wünsche ich ihm, bevor ich das Licht ausknipse und die Tür leise hinter mir schließe.


Wenn Kim spät nachts erschöpft von den Treffen mit einem der Kids nach Hause kommt, legt er sich zu mir und sieht mich an, so lange, bis ich davon aufwache, und dann erzählt er mir von seinen Erlebnissen, teilt sie mit mir, die Freuden und Hoffnungen und noch viel öfter die Leiden und Bürden, die seine Schützlinge mit sich tragen, wodurch indirekt auch ich an ihrem Leben teilnehme. Anfangs habe ich mich dagegen gesträubt, weil ich das Gefühl hatte, Kim würde ihr Vertrauen missbrauchen, indem er sich mir anvertraute. Mittlerweile jedoch betrachte ich die Gespräche als Teil unserer Beziehung, ein Teil, den ich nicht mehr missen möchte, weil ich die Mädchen und Jungs kenne, von denen er spricht, sie während der gelegentlichen Besuche in ihrem Freizeit- und kurzfristigen Ersatzzuhause kennengelernt habe.

Kommt er hingegen tagsüber von seinen Hilfsmissionen zurück, dann machen wir lange Spaziergänge am Ufer der Vivera entlang oder erkunden die Straßen und Gassen um den Campus herum. Unsere Gespräche drehen sich dabei um Dinge wie zerstörte Familien, Drogen, Sex, Gewalt – körperliche und seelische, wobei letztere überwiegt –, Ängste, Unsicherheit, Gefühle im Allgemeinen.

Zeitlose Themen, die jede Generation auf ihre Art prägt. Worum es dieses Mal geht, werde ich gleich erfahren.

Um mir die Wartezeit zu verkürzen und, noch viel wichtiger, weil Kim völlig durchgefroren hier ankommen wird, setze ich Wasser auf und suche in einem der Hochschränke nach dem Limettentee – irgendwo müsste Kristin noch ein paar Beutel liegen haben. Der Wasserkocher ist noch nicht fertig, als mein Handy klingelt – Kim ist da.

Tür auf, Kim rein, Tür zu. Er sieht schrecklich aus. Und damit meine ich nicht, dass seine Wangen rot vor Kälte sind, denn seine Augen sind es noch mehr. Er muss geweint haben. Wortlos drückt er mich an sich, legt seinen Kopf auf meine Schulter und lässt mich erst nach einer ganzen Weile wieder los. Ich traue mich nicht zu fragen, was passiert ist, es muss was Grauenvolles sein und ich bin mir nicht sicher, dass ich solche Dinge im Moment hören will. Doch der verzweifelte Versuch, nicht daran zu denken, führt genau dazu, dass mir die schlimmsten Sachen durch den Kopf jagen. Eigentlich nur eine schlimme Sache – die, bei der nichts und niemand mehr helfen kann.

„Was …?“, wage ich es schließlich dennoch, doch er schüttelt den Kopf, als er sich auszieht und mir in die Küche folgt.

„Du weißt, dass ich es normalerweise nicht abwarten kann, dir alles zu berichten, ich texte dich richtiggehend zu, wenn ich in Fahrt komme, aber heute bin ich zu fertig. Ich will nur neben dir liegen und in deinen Armen einschlafen.“

„Dein Wunsch ist mir Befehl. Das heißt, gleich, erstmal wärmen wir dich von innen auf. Vorsicht, heiß.“

„Danke. Ich wünschte, ich könnte mit dir kommen, wenigstens über Weihnachten etwas Abstand gewinnen und alles vergessen.“

„Aber das kannst du … nicht.“ Weil Weihnachten nicht nur das Fest der Liebe ist, war seine Antwort, als ich ihn vor ein paar Tagen eingeladen habe.

„Nicht dieses Jahr, aber nächstes“, sagt er mit einer Selbstverständlichkeit, die mir klar macht, dass das nicht nur so daher gesagt, sondern als Versprechen gemeint ist. Ein Versprechen, das viel mehr beinhaltet, zum Beispiel, dass wir in einem Jahr immer noch zusammen sein werden. Eine Liebeserklärung der ganz besonderen Art, die er mit einem langen, leidenschaftlichen Kuss unterstreicht, während wir uns auf leisen Sohlen in mein Zimmer begeben, wo er seinen Worten Taten folgen lässt.

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