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Irrwege

Teil 8 - Eine Tüte Selbstbewusstsein, bitte!

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Alle Wege führen nach Rom, sagt das alte Sprichwort, doch wenn dein Leben sich hauptsächlich auf dem Unigelände abspielt, wird es dir eines Tages leicht fallen zu behaupten, dies gelte auch für den Campus. Sieht man von den drei Hauptstraßen ab, die sich vor dem Verwaltungsgebäude der Uni kreuzen, ist die Umgebung von kleinen, verwinkelten Wegen geprägt, die ausnahmslos große Namen tragen: die Schiller-Straße im Nordwesten, der Rousseau-Weg im Süden, die Magellan-Straße im Osten. Oder aber die Shakespeare-Gasse, eine Zeile von etwa fünf bis sechs Häusern auf jeder Seite, nur zwei Gehminuten vom WiMa-Turm, dem Hoheitsterritorium der Wirtschaftswissenschaftler und Mathematiker, entfernt.

Weit nach Mitternacht steuere ich auf eines dieser Häuser zu, ziehe müde meine Füße durch den weichen Schneeteppich, wirbele feinen, weißen Staub hoch, der sich wenig später wieder legt, zusammen mit den Flocken, die massenweise vom Himmel fallen und lautlos, abertausende Schlafende in Sicherheit wiegend, die Stadt erobern. Der helle Mond hoch oben und die ungewohnte Ruhe der tagsüber lauten und vor Leben pulsierenden Gegend verleihen der Straße einen zauberhaften Glanz, ein märchenhaftes Schimmern – auf den Dächern, auf dem Boden, überall um mich herum –, und einen Lidschlag lang vergesse ich das unwohle Gefühl, das mich zu dieser späten Stunde hierher treibt.

Die Nummer sechs mit ihrem schmalen Vorgarten-Streifen, dem zweigeschossigen Häuschen, das von der Größe her genau richtig ist für eine junge Familie, und dem dahinter liegenden Garten, unterscheidet sich nicht von den benachbarten Grundstücken – einzig das brennende Licht im Wohnzimmer sticht hervor. Seufzend lege ich die letzten Meter zurück und klopfe an der Tür, ein durch die Handschuhe gedämpftes Klopfen, das ich mehrmals wiederhole, bevor ich eine Hand freilege und es erneut versuche. Als immer noch keine Reaktion erfolgt, überlege ich, ob ich den Schlüssel benutzen oder doch lieber zurückkehren soll, da öffnet sich die Tür und Lucas tritt mit einem hochroten Kopf in Erscheinung und bedeutet mir mit einem fast leeren Weinglas einzutreten. Schuhe und Jacke ausgezogen, folge ich ihm in die warme Stube, wo er das inzwischen leere Glas abstellt, mich an sich zieht und seinen Kopf in meinem Pullover vergräbt.

Deshalb hat er mich also weggeschickt, um in aller Stille weinen zu können. Ich lege meine Arme tröstend um ihn und denke an den Nachmittag, der hinter uns liegt. Ohne jede Gefühlsregung hat er Jesse angerufen und mit ihr einen Termin abgemacht, und auch als wir zusammen mit Bastian die Möbel und Geräte in den Transporter gebracht haben, ist kein Zorn und kein Bedauern in seinen Augen gewesen, egal wie oft er Jesses Blick traf, egal wie sehr sie versuchte, mit ihm zu reden, ihn zum Bleiben zu überreden – Lucas' Herz schien aus Stein zu sein. Doch jetzt, in diesem Augenblick, hier, in seinem neuen Zuhause, ist sein Herz voller Schmerz, gebrochen und verletzt.


Der Duft frisch gebrühten Kaffees reicht bis ins Wohnzimmer und verführt mich dazu, meinen faulen Hintern vom Sofa zu heben, mich zu strecken und ihm in die Küche zu folgen, wo Lucas herumwerkelt und dabei eine fröhliche Melodie pfeift – ganz so, als wäre die letzte Nacht nicht passiert.

„Daran könnte ich mich glatt gewöhnen“, meine ich gähnend und Lucas sieht mich belustigt an.

„Dir auch einen schönen guten Morgen. Und das Angebot steht, du kannst hier jederzeit einziehen.“ Die Versuchung, ja zu sagen, ist immens: eine Zweier-WG, nur wir beide, jeder ein Schlafzimmer, geteiltes Bad, Wohnzimmer, Küche – mein Lieblingstraum ist nur ein Wort davon entfernt, Wirklichkeit zu werden. Als ich nichts erwidere, nimmt Lucas die Pfanne vom Herd, verteilt das Omelett auf die Teller und sieht mich an. „Ich weiß, es ist besser so, aber letzte Nacht … Ich wollte nicht, dass du mich so siehst, auch wenn ich nicht genau weiß, wieso eigentlich nicht. Danke, dass du trotzdem zurückgekommen bist. Und jetzt lass uns essen, bevor es kalt wird. Wir wollen nicht, dass du noch vom Fleisch fällst, was würde Ole dann sagen?“

Sollte er es etwa herausgefunden haben? Ich jedenfalls habe ihm bisher noch nichts davon erzählt.

„Ole? Was hat Ole damit zu tun?“

Lucas sieht mich verschmitzt lächelnd an. „Was auch immer Ole mit irgendwas zu tun hat, er muss dich verdammt gern haben - trotz seines Rufes. Davon hast du sicher auch gehört, oder?“

„Man muss hinterm Mond leben, um nicht davon gehört zu haben. Aber er ist alles andere als kaltherzig.“

Er lacht zwischen zwei Bissen. „Und du verteidigst ihn – habt ihr was am Laufen, wovon ich noch nichts weiß?“

„Nein, haben wir nicht“, wehre ich ab. „Na ja, nicht am Laufen. Er war mein erstes und bisher einziges Mal mit einem Mann.“ So, jetzt ist es raus. Gott, das Omelett ist plötzlich so heiß! Ein Glas Wasser muss her. Praktisch, dass ich Lucas den Rücken zukehren muss, um mir eins zu holen. Langsam nehme ich einen Schluck, dann einen weiteren, und so weiter – bis das Glas leer ist. Mehr Wasser, bitte.

„Habe ich letzte Nacht auch so rot ausgesehen wie du gerade?“, macht sich Lucas über mich lustig, nimmt mir das Glas aus der Hand und dreht mein Gesicht zu sich. Bedeutet das, er ist nicht sauer, weil ich weitergelebt habe, während er immer depressiver wurde? „Du hast es endlich geschafft, über deinen eigenen Schatten hinweg zu springen – du hast neue Freunde, du hattest Sex mit jemandem, den du nicht schon seit Jahren kennst, du lebst dein eigenes Leben. Siehst du“, sagt er und zeigt auf seine Augen, „das sind Tränen der Freude. Mein Kleiner wird das-böse-Wort-das-wir-als-Peter-Pan-Fans-nicht-benutzen.“

Also, jeder Spaß hat seine Grenzen – oder beginnt erst. Ohne Lucas aus den Augen zu lassen, greife ich mir das noch volle Wasserglas, grinse ihn an und werfe ihm das Wasser ins Gesicht, was ihn dazu veranlasst, den verbliebenen Schluck in den Mund zu nehmen und mich vollzuspritzen. Was daraufhin folgt, ist eines jeden Peter-Pan-Fans würdig und endet damit, dass wir nebeneinander auf den nassen Küchenfliesen liegen und nach Luft ringen.

Nachdem wir abwechselnd geduscht und die Küche wieder auf Vordermann gebracht haben, will ich mich auf den Heimweg machen, aber Lucas bittet mich, noch eine Weile zu bleiben. Aus der Richtung, in die Lucas das Gespräch lenkt, schließe ich, dass es Zeit für mich wird, Oles Familiendrama zum Besten zu geben.

„Und du glaubst ihm?“, fragt er, als ich geendet habe.

„Dass er Geld hat, ist offensichtlich. Und seine Geschichte erklärt so einiges.“

„Nur nicht wieso er in einer WG im Studentenwohnheim wohnt, wo er hier ein tolles Haus ganz für sich allein haben könnte“, wendet Lucas ein. „Oder warum er es mir für lächerliche Zweihundert im Monat vermietet, wo er locker das Fünffache verlangen könnte. Oder das Zehnfache.“

„Was du dir aber leisten kannst“, kontere ich. „Wie gesagt, Geld ist für ihn kein Thema. Und was die Sache mit dem Wohnheim angeht, ich schätze, das ist für ihn die einzige Möglichkeit, Freunde zu haben. Er ist auf die WG angewiesen, weil er da Leute hat, die für ihn da sind. Eine Art Familienersatz. Würde er hier im Haus wohnen, würde er sich total abschotten, sein Leben würde ausschließlich aus Sex bestehen – und Alleinsein.“

„Das hier hat also nichts damit zu tun, dass ihr miteinander … du weißt schon?“ Worauf will er hinaus? „Ich will nur nicht, dass du für die Differenz geradestehen musst. In … Naturalien.“

Wow! Da sage noch einer, ich würde auf abstruse Ideen kommen! „Lucas“, wie soll ich das nur ausdrücken? „du bist ein Idiot.“ Es tut gut, das ausnahmsweise mal selbst zu sagen. „Ich ignoriere großzügigerweise die Implikation, ich würde mich Ole für dich als Sexspielzeug verkaufen, weil ich zu geschockt bin, um irgendwie darauf zu reagieren, ohne unsere Freundschaft, und möglicherweise auch dein Leben, in Gefahr zu bringen!“

„So meinte ich das nicht“, versucht er sich zu verteidigen. „Gott, ich wollte nicht … Tut mir leid, Markus. Bitte …“

„Schon gut. Schon gut“, beruhige ich ihn und mich zugleich. „Irgendwann werden wir sicher darüber lachen können.“ Hoffentlich. „Du kennst seinen Ruf“, er nickt, „dann weißt du bestimmt auch, dass er nie ein zweites Mal mit jemandem schläft.“ Wieder nickt er. „Auch wenn ich das manchmal gern wiederholen würde, es wird also nicht passieren. Und dass er dir dieses Haus zur Verfügung stellt, hat nichts damit zu tun. Für Ole ist es egal, ob es leer steht oder nicht. Er hat nicht wirklich was davon, er wollte nur einem Freund in Not helfen. Ursprünglich wollte er dich hier umsonst wohnen lassen, das habe ich dir auch gesagt, du hast auf die Miete bestanden. Also tu dir selbst einen Gefallen und nimm es hin, wie es gemeint war: als Nikolausgeschenk, als eine gute Tat, als was auch immer. Nur weil Jesse zu einer Hexe mutiert ist, heißt das nicht, dass jetzt jeder einen Hintergedanken hat und dich in die Pfanne hauen will.“ Er hebt den Kopf und sieht mich verschämt an. „Verlier nicht dein offenes, natürliches Wesen, Lucas, sie ist es nicht wert.“

Er beißt sich auf die Unterlippe, steht auf, schaut zum Fenster hinaus. „Ich dachte, sie wäre die Richtige. Dass sie mich liebt und wir zusammen alt werden würden. Das war unser gemeinsamer Traum. Aber sie hat mich nicht geliebt, Markus.“ Bitterkeit liegt in seiner Stimme.

„Auf ihre Art …“

„Nein! Nein … Wenn … wenn du jemanden liebst, bist du bereit Kompromisse einzugehen, auf den anderen, auf seine Bedürfnisse einzugehen. Und wenn das nicht klappt, wenn du merkst, du machst ihn unglücklich, lässt du ihn gehen. In der Hoffnung, dass er woanders, mit jemand anderem glücklich wird.“ Und ein bisschen was von ihrem Glück färbt auf dich ab und du freust dich für sie – wie Recht Bastian hatte.

„Vielleicht …“, fährt Lucas fort, „vielleicht sind wir zu jung dafür. Wer wird schon mit seiner ersten richtigen Freundin alt? Wir sind an der Uni, sollten uns austoben, neue Leute kennen lernen – nicht so intensiv wie Ole“, lacht er, „aber … Kinder kriegen kann ich mit dreißig immer noch, richtig?“

Er kommt zu mir, sieht mich ernst an und sagt: „Es tut mir leid wegen vorhin, Markus, ich wollte dich nur beschützen.“ Das hat er immer getan, manchmal auch vor mir selbst. Nur ist er diesmal zu weit gegangen.

„Ich weiß, und ich bin dir dankbar dafür, dass du es bisher immer getan hast. Aber mittlerweile, Lucas, kann ich ganz gut auf mich selber aufpassen!“

Ohne mir dessen bewusst zu sein, habe ich mir meine Jacke geschnappt und stehe nun an der Tür, bereit zu gehen. Ein letzter Blick zurück, Lucas' Augen flehen mich an zu bleiben. Ich ziehe die Haustür mit einem Ruck hinter mir zu, überhöre sein Sorry, Markus und bin weg.


Keine fünf Minuten später stehe ich wieder vor seiner Tür und hämmere dagegen. Als er aufmacht, gehe ich sofort verbal auf ihn los. „Wie kannst du mir so was unterstellen, Lucas? Wie kommst du überhaupt auf so eine Idee? Ich habe einmal mit Ole geschlafen und du hältst mich für eine Schlampe? Ich habe mich verändert, das gebe ich zu. Die Monate ohne dich waren hart, ich musste mich anpassen, okay?! Du selbst hast mir oft genug vorgebetet, ich soll leben – das habe ich jetzt gelernt. Ich habe Freunde gefunden, bin offener geworden. Und ich habe einmal mit jemandem geschlafen - ich mag ihn und er mag mich. Nicht Beziehungs-Mag, aber wir sind Freunde. Und ich sehe nicht ein, wieso das schlimm sein soll, okay? Und überhaupt, für wen hältst du dich, dass du dir das Recht herausnimmst, über mich zu urteilen, verdammt noch mal?“

An die Wand gelehnt, sieht Lucas mich amüsiert und entwaffnend an. „Bist du fertig?“

„Ja!“

„Gut. Ich bin dein Freund. Zugegeben, meine Wortwahl war unglücklich, aber ich kenne dich und weiß, dass manchmal deine masochistische Ader mit dir durchgeht. Weder halte ich dich für eine Schlampe – was für ein hässliches Wort! – noch finde ich es im Entferntesten schlimm, dass du und Ole euren Spaß hattet.

Ganz im Gegenteil, ich freue mich und bewundere dich sogar für das, was du für dich in meiner Abwesenheit erreicht hast. Ich kann nur hoffen, dass du meine Entschuldigung akzeptierst und du nicht jedes Mal, wenn wir uns sehen, an diese unangenehme Episode erinnert wirst, weil ich nämlich keinen Bock hab, mir je einen neuen besten Freund zu suchen.

So, und nach diesem sentimentalen Moment: Können wir uns bitte ins Wohnzimmer setzen und darüber reden, was dir wirklich zu schaffen macht?“

Während ich meine Jacke aufhänge und die tropfenden Schuhe ausziehe, verschwindet Lucas um die Ecke. Am Wohnzimmertisch warte ich auf ihn, es dauert eine Weile, bis er mit zwei dampfenden Bechern dazukommt.

„Vorsicht, heiß“, warnt er mich und reicht mir einen Becher voller Kakao. Ein heißer Kakao ist genau das, was ihr jetzt braucht, er wärmt euch und tut gut, hat meine Mutter früher gesagt, wenn wir nach einer Schneeballschlacht mit roten Wangen und strahlendem Lachen völlig durchgefroren ins Haus kamen.

„Danke.“ Und was jetzt? Worüber soll ich mit ihm reden? Was genau will er hören? „Ich weiß ja selber nicht, was in letzter Zeit mit mir los ist. Ich bin so leicht reizbar.“

Lucas nickt. „Aufbrausend. Ist mir aufgefallen. Aber du sagst es so, als wäre es was Schlimmes.“

„Ist es das nicht? Es ist frustrierend, weil ich Dinge sage oder tue, die ich kurze Zeit später bereue, und dann muss ich mich entschuldigen. Ein Spielball meiner Gefühle, so komme ich mir vor.“

„Das sind wir alle, Markus. Nur warst du bisher immer ruhig, hast alles für dich behalten, nie widersprochen. Deshalb kommt es dir ungewohnt vor, aber, glaub mir, du wirst dich daran gewöhnen. Gib’s zu, es hat gut getan, mir deine Meinung zu sagen.“

„Yep“, grinse ich und nehme einen vorsichtigen Schluck.

„Du hast mir vorhin gesagt, ich soll mir meine offene Art bewahren – und das gehört auch dazu: zu sagen, was du zu sagen hast. Wenn du's nämlich nicht tust, wirst du immer das Gefühl haben, außen vor zu sein. Konfrontationen und Auseinandersetzungen sind genau so wichtig wie … im richtigen Moment nachzugeben.“

Ich nutze die Zeit, in der er sich seinem Kakao widmet und suche jedes Fitzelchen Mut zusammen, das sich irgendwo in mir versteckt. „Ole“, sage ich schlussendlich und – welch ein Wunder! – Lucas lacht.

„Wie war's? Besser als mit Bella?“

Ich denke kurz darüber nach. „Nein, nicht besser, das kann ich so nicht sagen. Man kann sie nicht miteinander vergleichen, finde ich. Mit Bella war es schön – romantisch, zärtlich, kuschelig; wir haben uns Zeit gelassen, sind aufeinander eingegangen. Mit Ole war es … wild, wie ein Kampf. Wie unsere Peter-Pan-Spiele, nur hemmungsloser, erotischer, härter. Die Schmerzen kamen mir zuerst unmenschlich vor, aber sie gehörten dazu, waren Teil des Spiels, aufregend, explosiv, antörnend. Hier, ich zeig's dir.“

„Schon gut, ich glaub dir auf's Wort“, wehrt Lucas lächelnd ab, dennoch ziehe ich mein Pullover und das T-Shirt hoch.

„Man sieht immer noch Spuren davon, oder?“ Er antwortet nicht, doch ich spüre seine warmen Finger, wie sie die nahezu geraden Linien nachzeichnen. Eine Stimme in mir sagt, er solle weitermachen, näher kommen, mich richtig berühren …

„Er hat dich gekratzt?“, höre ich Lucas hinter mir kichern.

„Ja. Aber du hättest seinen Rücken sehen sollen“, sage ich und ziehe mir die Kleider zurecht. „Als ich danach geduscht habe, hat meine Haut gebrannt wie verrückt, und am nächsten Morgen hatte ich einen Muskelkater wie früher in der ersten Sportstunde nach den Sommerferien. Aber das war es wert. Allein die Erinnerung daran, diese Empfindung - ich hab's getan! Und ich hab's genossen. Ich will mehr – und genau das macht mir Angst. Einerseits wünsche ich mir nichts so sehr, wie einen Freund zu finden, also einen Freund-Freund, andererseits will ich mehr – mehr Ole, mehr Sex. Dieses Gefühl danach, vollkommen glücklich und zugleich total ungebunden zu sein, es ist überwältigend. Frei. Freiheit pur. Verstehst du? Aber ich will nicht so enden wie er, dass ich mich von einem Bett ins nächste vögle.“

„Keine Angst, du bist nicht wie Ole“, meint Lucas aufmunternd. „Etwas Wichtiges unterscheidet euch.“

„Ja, ich weiß. Er sieht aus wie ein griechischer Gott und ich gehöre eher dem Fußvolk an.“

„Du hast es erfasst“, mokiert sich Lucas. „Ich meine seine Unfähigkeit, sich emotional auf andere einzulassen. Zu lieben. Zu vertrauen.“

„Er vertraut mir“, werfe ich ein.

„Wenn seine Geschichte wahr ist … ja, hat er. Und ich wette, das hat ihn ungeheure Überwindung gekostet. Und mit diesem hier“, er dreht mit dem Zeigefinger einen großen Kreis, der wohl das ganze Haus darstellen soll, „hat er Herz gezeigt, aber das war eine Ausnahmesituation. Sie ändert nichts an der Tatsache, dass er im täglichen Leben auf emotionaler Ebene die Menschen um sich herum auf Abstand hält. Und nur, weil du jetzt neue Leute kennen lernst, mit ihnen Spaß hast und mit dem einen oder anderen im Bett landest, bist du noch lange nicht Ole. Das ist normal, jeder macht das. Also: Stürz dich ins Leben!“

„Witzig!“ Als ob das so einfach wäre.

„Heute Abend“, sagt er beiläufig. „Du, Bastian und ich, abgemacht?“

Lucas versucht ja schon seit Jahren, mir das mit dem Leben einzutrichtern. Besser später als gar nicht, richtig? „Abgemacht.“

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