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Irrwege

Teil 3 - Liebe in ihrer Vielfalt

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Ein schauderhaftes Grollen, dem eines gefährlichen Monsters aus den Märchen und Fantasiegeschichten nicht unähnlich, erschütterte an jenem sonnigen Vormittag über mehrere Straßen hinweg die Nachbarschaft, doch es war niemand da, der es hätte vernehmen können – niemand abgesehen von zwei kleinen Jungen: einem, dem das Grollen galt, und einem anderen, der es nicht hörte, so vertieft war er darin, in die Wolken zu schauen und sie nach plüschigen Tieren oder anderen Formen abzusuchen. Erst als der erste Junge über seine ausgestreckten Beine stolperte und bäuchlings hinfiel, erwachte er aus seinem Lieblingsspiel. Der erste Impuls bestand darin, den Störenfried zu beschimpfen, hatte er ihn doch so unsanft aus seiner Fantasie gerissen, dann aber fiel ihm die schnelle, unregelmäßige Atmung des anderen auf, wie die eines gehetzten Tieres, das vor seinem Verfolger flieht, und schließlich sah und hörte er den Grund dafür langsam näherkommen.

Er bückte sich zu dem orangehaarigen Jungen, der aufzustehen versuchte, half ihm hoch und fragte, ob er laufen könne, woraufhin der andere nickte und nach einer kurzen Verschnaufpause seine Flucht fortsetzte. Der dunkelhaarige Junge, dessen Neugier nun geweckt war, vergaß die flauschigen Wolken und rannte dem anderen hinterher. Eine ganze Weile sah es für die beiden Kinder gut aus. Sie liefen quer durch ein Maisfeld, das sich vor ihnen teilte wie Moses’ Meer und hinter ihnen wieder schloss und ihnen damit Schutz vor den Augen ihres Verfolgers bot, erreichten eine menschenleere Straße, die sie rasch überquerten, und verschwanden in das kleine Wäldchen, das an die Wohnsiedlung grenzte. Der Abstand zu ihrem Verfolger nahm zu, doch dann begann der Gehetzte nachzulassen.

Es wäre nicht mehr weit, dann wären sie in Sicherheit, versprach der Träumer, doch der andere schaffte es nicht einmal mehr zu antworten. Furcht und Resignation standen ihm ins Gesicht geschrieben. Sie hörten wieder die näherkommenden Schreie, das Ungeheuer rückte mit großen Schritten vor. Der Dunkelhaarige zog den anderen ein paar Meter weiter zu einer alten Eiche, wo er den zusammengesackten Körper unter grünen Zweigen und Laub versteckte. Dann sah er sich um, mit beiden Ohren auf die heraneilenden Schritte achtend, die mittlerweile nicht mehr von wütenden Drohungen, sondern von einem erschöpften Grunzen begleitet wurden, griff nach einem dicken, kräftigen Ast, setzte sich die Mütze seines Schützlings auf und wartete zusammengekauert, Verletzlichkeit und Kapitulation vortäuschend, doch gut sichtbar am Rande des Waldes.

Als der Mann auf der anderen Straßenseite aus dem Maisfeld heraustrat, erkannte der Junge seine wirkliche Größe und das mulmige Gefühl überkam ihn, dass sein Plan schief gehen würde. Der Mann verzog das Gesicht zu einem breiten, bösen Grinsen, das mit jedem weiteren schwerfälligen Schritt, den er tat, gefährlicher wurde.

Gibst du auf, du kleiner Bastard?, hörte der Junge seine tiefe, furchteinflößende Stimme, der ein grauenhaftes Lachen folgte. Der Junge lugte verängstigt unter der Mütze hervor, kauerte sich noch tiefer in den Baumstamm und wünschte sich für einen Augenblick, der Baum würde ihn schlucken und in seine schützende Rinde hüllen. Dann stand das Monster vor ihm, hoch aufragend, übel riechend und siegessicher. Der Moment, auf den der Junge gewartet hatte, war gekommen. Er holte den Ast hervor, zielte und schlug mit unerwartet großer Kraft zu. Der Unmensch schrie auf, griff sich an den Unterleib, taumelte mehrmals und ging zu Boden, während der Junge noch einige Male ausholte und zuschlug, bis er der Meinung war, dass sein Peiniger ihn und seinen Schützling nicht mehr belästigen würde.

Dann ließ er den Ast fallen und lief zu seinem orangehaarigen Begleiter. Gemeinsam warfen sie einen letzten Blick auf das sich windende Scheusal und gingen durch den Wald zur anderen Seite der Siedlung.

Schweißgebadet und mit rasendem Herzklopfen werde ich aus dem Schlaf geschleudert, mit offenen Augen sehe ich mich um, kann aber in der Dunkelheit nur Umrisse erkennen, Schemen, die Götzenbildern ähneln. Wüsste ich nicht genau, welchem Gegenstand in meinem Zimmer jedes davon entspricht, wäre es ein Leichtes, mich selbst davon zu überzeugen, in der Hölle gelandet zu sein, denn genau so stelle ich sie mir vor: heiß, dunkel, furchteinflößend.

Sobald sich meine Augen einigermaßen an den schwachen Lichtschein gewöhnt haben, der von den Straßenlaternen in mein Zimmer herüberschwappt, stehe ich auf, zerre mir die nassen Sachen vom Leib und werfe sie zusammengeknüllt weg, auf dass sie gemeinsam mit dem Alptraum von der Dunkelheit verschlungen werden, gehe zum Fenster und öffne es ganz weit, atme die kühle Nachtluft ein, lasse sie in jede Pore meiner Haut eindringen, dirigiere die Luftmoleküle einzeln durch meinen Körper, setze sie als Waffe ein, doch die Bilder sind weiterhin präsent. Wie ein Virus vermehren sie sich, fördern andere, noch schrecklichere Erinnerungen zutage, Erinnerungen, die ich seit Jahren in eine spezielle Verbotene Kammer meines Bewusstseins einzusperren versuche, doch immer wieder schaffen sie es an die Oberfläche, immer öfter, als würden sie mir etwas sagen, mich auf etwas aufmerksam machen wollen.

Eine kalte Windböe verpasst mir eine Gänsehaut, ich drehe mich um und will mir meinen Bademantel überziehen, da renne ich fast den Kleinen um, der aus dem Nichts aufgetaucht ist. Trotz der schlechten Beleuchtung weiß ich sofort, wen ich vor mir habe. „Vergiss nicht,“ sagt der siebenjährige Lucas, um nach einer Bewegung des Mundwinkels, hinter der sich ein aufmunterndes Lächeln verbirgt, wieder zu verschwinden. Vergiss nicht. Als ob ich das jemals tun könnte.

Ich bleibe noch einen Moment hier stehen, vielleicht kommt er zurück, um irgendwas hinzuzufügen, mir zu erklären, was er genau meint, doch er lässt sich nicht wieder blicken. Ein weiterer Windstoß erfasst meinen Körper, meine Hand greift gezielt in die Dunkelheit, dann verlasse ich mein Zimmer. Der Rest des Hauses ist wie ausgestorben, kein Wunder um diese Uhrzeit. In frühestens einer Stunde wird meine Mutter aufstehen, dann, einer nach dem anderen, mein Vater und meine Schwestern – Emma zuletzt, sie nutzt jede Sekunde Schlaf aus, die sie bekommen kann, ganz anders als Anna, die, sobald sie die Augen aufgeschlagen hat, voller Tatendrang durchs Haus wirbelt.

Kaltes und heißes Wasser wechseln sich mehrmals ab, die Müdigkeit, die mir aufgrund des Schlafmangels in den Knochen steckt, ist nach einer Weile vertrieben, die Gedankenfetzen vom Wasser hinuntergespült, nur Lucas’ Stimme und sein Gesicht beehren mich mit ihrer bleibenden Anwesenheit und begleiten mich in den Tag hinein – ein gutes Gefühl.

Als ich in der Küche damit beginne, das Frühstück zuzubereiten, nimmt auch der Tag draußen langsam Konturen an. Während ich Teller und Besteck, Butter, Marmelade, Aufschnitt und Cornflakes auf den Tisch lege, Toastscheiben paarweise in den Toaster stecke und für Emma zwei Scheiben Vollkornbrot schneide, wird es trotz wolkenverhangenem Himmel allmählich heller, ganz weit entfernt lässt sich sogar ein kurzes Blinzeln der Sonne erkennen. Es ist schwer vorstellbar, dass vor gerade einmal zwei Tagen Lucas und ich bei über fünfundzwanzig Grad am Strand lagen, unsere letzten gemeinsamen Stunden in der Sonne erscheinen mir deutlich länger her als nicht einmal achtundvierzig Stunden. Und doch, die Zeit lügt nicht.

„Markus,“ gähnt meine Mutter und reißt mich damit aus meinen Gedanken. „Was machst du um diese Uhrzeit schon auf?“ Sie schraubt die mittlerweile volle, dampfende Kaffeekanne zu und stellt sie zusammen mit der Milch auf den Tisch.

„Ich muss doch zu Lucas, der Umzug,“ rutscht es mir raus. „Und da dachte ich, ich kann ausnahmsweise mal das Frühstück machen.“

„Danke, mein Schatz,“ sagt sie und drückt mir einen Schmatzer auf die Wange. „Es ist erst kurz nach sechs und du bist schon angezogen, hast du’s so eilig?“

„Nee, erst mal in Ruhe mit euch frühstücken, ist ja das vorletzte Mal für ’ne Weile.“

„Erinner’ mich nicht daran!,“ lächelt sie wehmütig, doch in ihrer Stimme klingt auch eine gute Portion Stolz mit, denn lange Zeit sah es nicht danach aus, dass ich das Abitur überhaupt schaffen würde.

„Ach, Mom, jeder wird mal erwachsen und muss sein eigenes Leben leben, selbst ich.“ Und das aus dem Munde eines der beiden größten Peter Pan-Fans.

Sie nickt. „So haben dein Vater und ich euch alle erzogen, zur Selbständigkeit und Unabhängigkeit.“ Wie kommt es dann, dass ich mich momentan so sehr an Lucas klammern möchte, dass es weh tut?

Als nächster watschelt Paps wie ein betrunkener Pinguin im Schlafanzug in die Küche, die Augen noch halb geschlossen, und klopft mir auf die Schulter. „Langer Tag heute, was?,“ meint er kurz und gießt sich seinen ersten von etlichen Kaffeebechern pro Tag ein, ohne die er nicht einmal den Vormittag überleben würde. Kaum hat er den Becher geleert, kommt Anna hereingebraust, verteilt ihre Guten-Morgen-Küsse und schaltet das Radio ein, in dem Joe Cocker gerade sein „N’oubliez jamais“ zum Besten gibt. Der Song ist ihr zu langsam, deshalb schaltet sie auf CD um – Hip Hop am Morgen...

Schließlich schafft es auch Emma aus den Federn, gähnend setzt sie sich Anna gegenüber und läutet damit das morgendliche Familienritual ein. Was für manche Familien das gemeinsame Abendessen, bei den meisten aber gar nicht vorhanden ist, spielt sich bei uns am Frühstückstisch ab: der gestrige Tag wird besprochen, Neuigkeiten aus Schule und Beruf ausgetauscht, die Pläne für heute vorgestellt; Mom liest dabei noch die Zeitung, Paps den Wirtschaftsteil, Emma und Anna lachen über ein Mädchen aus einer Parallelklasse, das im Sportunterricht unfreiwillig mehr Haut gezeigt hat als üblich, und ich würde ihnen am liebsten von Lucas erzählen und mich bemitleiden lassen, entscheide mich aber dagegen und lausche stattdessen Anna, die sich scheinbar ungewollt verplappert.

„Sie ist die Schwester von Nicholas, und der ist total in Emma verschossen.“

„Gar nicht wahr!,“ wehrt sich Emma errötend und lässt den Tisch ruckeln.

„Au! Hör auf damit!“ Meine Eltern senken ihre jeweiligen Zeitungsteile und schenken den beiden jetzt ihre volle Aufmerksamkeit. „Letzte Woche hat er ihr in der Pause eine rote Rose auf den Tisch gelegt und gestern hat er sie persönlich zu seiner Geburtstagsfete heute Abend eingeladen.“

„Anna!,“ warnt Emma ihren Zwilling und tritt noch einmal zu, was allerdings nicht allzu viel bringt.

„Aber sie will nicht hingehen, sie will den Abend lieber mit einem schönen Buch in unserem Zimmer verbringen. Du bist sooo langweilig, Schwesterherz! Ich werde übrigens gehen und dir morgen dann erzählen, was du alles verpasst hast!,“ zieht Anna sie weiterhin auf.

„Viel Spaß!,“ faucht Emma und steht mit einem Ruck auf. „Ich wusste, ich hätte heute gar nicht aufstehen sollen!,“ zischt sie und knallt die Küchentür hinter sich zu.

„Gut gemacht, Anna!,“ ruft meine Mutter und läuft Emma nach.

Anna sieht meinen Vater und mich an. Mein Vater schüttelt den Kopf. „Was?!,“ fragt sie. „Ist doch wahr! Der süßeste Typ unserer Klassenstufe steht auf sie und sie spielt die Unnahbare. Verbringt ihre Zeit lieber allein, eingesperrt in unserem Zimmer. Sie ist so... Markus, selbst du hast Freunde!“

Paps runzelt die Stirn. „Vielleicht wählt Emma ihre Freunde nur sorgfältiger aus.“

„Was willst du damit sagen? Ich tu das auch. Aber was kann ich dafür, dass ich beliebter bin als sie? Das ist doch nicht mein Problem!“

„Ihres aber auch nicht, Anna,“ gebe ich ihr zu bedenken. „Emma mag sich so, wie sie ist, wieso versuchst du sie zu ändern?“

„Wenn sie wirklich mit sich selbst zufrieden ist, warum ist sie dann eben so ausgerastet?“

Das wüsste ich auch gern.

„Sie wird schon einen Grund haben. Zum Beispiel, dass ihre eigene Schwester sich über sie lustig macht,“ sagt mein Vater. „Oder vielleicht mag sie den Jungen auch.“

„Wieso will sie dann nicht zur Party?“

„Denk drüber nach, mein Schatz.“ Er küsst sie auf den Kopf und beginnt den Tisch abzuräumen.

Meine Schwester guckt mich an, ich hebe die Hände abwehrend hoch:

„Mich brauchst du nicht zu fragen – du weißt doch, der Mann, der die Frauen versteht, muss erst noch geboren werden.“ Außerdem muss ich los, Lucas wird bestimmt bald anfangen wollen. Auf dem Weg zu ihm bleibt mir nicht viel Zeit zum Nachdenken, ich nehme mir aber vor, heute Abend mit Emma zu reden. Dass sie mir von Nicholas nichts erzählt hat, bringt mich ins Grübeln, für gewöhnlich bin ich der Erste, dem sie von ihren Neuigkeiten berichtet.

Mein Zimmer sieht aus wie immer, es stehen nur ein paar Taschen und Koffer rum, die ich gestern Nachmittag gepackt habe, Lucas’ hingegen ist fast leergefegt: in den Regalen herrscht gähnende Leere; an die Poster und Fotos, mit denen die Wände vorgestern noch tapeziert waren, erinnern nur die zahlreichen weißen Flecken; der Schreibtisch ist mitsamt Stuhl und Computer ebenso verschwunden wie die Fernseh- und HiFi-Ecke.

Die nackten Wände um mich herum beginnen sich zu drehen, schwere Felsbrocken machen es sich in meinem Magen bequem, mein Atem reduziert sich auf ein Minimum. Unsere Kindheit, unsere Jugend – jede Spur davon wie wegradiert. Alles weg, verpackt in Kartons, wer weiß, wie viel davon je wieder das Tageslicht sehen wird.

„Hey, Mann, du bist aber früh hier!“ Lucas legt einen Arm um mich und sieht sich um. „Ziemlich merkwürdig, das alles. Diesen Tag habe ich mir herbeigesehnt, seit ich ein kleiner Steppke war – und jetzt ist er da. Sollte der glücklichste Tag meines Lebens werden, aber das ist er nicht.“

Ich sehe ihn an, verständnisvoll und zugleich leicht verwundert – Melancholie hätte ich heute nicht von ihm erwartet. „So viel hat sich seit damals geändert, Peter Pan.“

Er verwuschelt mir die Haare. „Ja, zum Guten. Meine Mutter und ich verstehen uns mittlerweile, sie hat endlich einen anständigen Mann abgekriegt, der sich um uns gekümmert und uns einander wieder nähergebracht hat, und das hier,“ er macht eine ausholende Handbewegung, „fühlt sich fast wie zu Hause an...“

„Und das wird es auch bleiben,“ ertönt es hinter uns von Claudia, die mit Michi im Türrahmen aufgetaucht ist.

„Wir werden hier neu streichen und bei der Gelegenheit die ganze Wohnung renovieren, und nach und nach werden wir dein Zimmer wieder herrichten,“ stimmt Michi ihr zu und drückt ihre Hand. „Claudia und ich werden jetzt den Transporter holen, dann können wir alles aufladen und zu Jesse fahren.“

„Also bis gleich, mein Großer,“ flüstert Claudia mit zitternder Stimme, bevor sie ihrem Freund hinterher eilt.

„Es ist nicht leicht für sie,“ meint Lucas nachdenklich. „Sie glaubt, dass ich ihr immer noch nicht verzeihen kann und deshalb ausziehe. Aber das stimmt nicht, im Gegenteil: Auf eine perverse Art bin ich ihr sogar dankbar dafür, dass sie sich immer von Arschlöchern angezogen fühlte, weil mich das stark gemacht hat. Es gibt nichts, was mich unterkriegen kann. Nichts, was uns beide unterkriegen kann, richtig?“ Ich lasse mich von seiner Euphorie anstecken und nicke, für diesen Moment sind wir unbesiegbar. Wir beide, hat er gesagt.

„Hey, heute Abend, hast du da was vor?,“ fragt er und holt sich aus der Küche ein Glas Wasser.

Habe ich jemals was vor? „Nicht dass ich wüsste...“

„Gut, jetzt schon.“

„Und was haben wir drei vor?“

„Drei? Oh, du meinst Jesse. Nein, Jesse macht heute auf Familie und ich hab mir gedacht, das könnten wir auch. Wenn du Lust dazu hast, gehen wir vier nett zu Abend essen, vielleicht kapiert Claudia dann endlich, dass ich ihr verziehen habe, dass ich in letzter Zeit tatsächlich das Gefühl hatte, dass sie meine Mutter ist. Deine Eltern laden wir auch ein, wenn du willst, und die Zwillinge.“ Beim letzten Wort hebt er vielsagend die Augenbrauen, denn sowohl Anna, als auch Emma können ihre Augen nicht von ihm lassen, wenn sie ihn sehen – muss wohl in der Familie liegen. Und er grinst sich danach immer einen ab, sobald wir unter uns sind.

„Hört sich nach einem Plan an. Keine Ahnung, ob meine Eltern mitkommen wollen, Anna wird es mit Sicherheit nicht, sie geht zu einer Party. Und was Emma angeht, ich glaube, sie ist verliebt.“

„Du machst Witze!,“ winkt er ungläubig ab. „Unsere Emma, die noch introvertierter ist als du?“

„Mhmm, deswegen will ich vorher auf jeden Fall noch zu Hause vorbeischauen und mit ihr sprechen. Sie hat mir nichts davon erzählt, aber Großmaul hat sich beim Frühstück einen Spaß daraus gemacht, sie damit aufzuziehen.“

Nachdem ich ihm die Szene beschrieben habe, meint Lucas: „Vielleicht hast du Recht, vielleicht hat sie aber auch einfach kein Interesse. Bloß weil sie fünfzehn ist, muss sie nicht gleich den ganzen Tag nur an Jungs denken. Oder Mädchen.“

„Denkst du? Ich meine, die Sache mit den Mädchen?“

Er legt mir die Hände auf die Schultern und sieht mich tadelnd an. „Markus, sag mir bitte nicht, dass ausgerechnet du ein Problem damit hättest.“

„Nein, natürlich nicht. Ich habe bis jetzt nur nicht gedacht, dass das auch eine Möglichkeit wäre. Ich schätze, ich stecke gedanklich immer noch in diesem Junge/Mädchen–Mädchen/Junge-Muster fest.“

„Dann wird’s aber Zeit, davon loszukommen, es wird Zeit für...,“ er führt seine Hände an meine Schläfen und spreizt die Finger wie Professor Xavier von den X-Men, wenn er in den Kopf eines Anderen eindringt, „... den Musterminator.“ Mist, falscher Film! Kann er mich denn nicht vorwarnen?!

„Der Terminator kann keine Gedanken manipulieren, du Genie!,“ kläre ich ihn über seinen misslungenen Versuch auf.

Er verwirft meinen Einwand mit einem Achselzucken. „Na und? Das ist künstlerische Freiheit, du Genie!“

Oh!

„Außerdem geht’s doch sowieso nur darum, ob es funktioniert. Also, hat es? Denkst du jetzt im Weiße-Kuh-mit-rosarot-gesprenkelter-Haut-und-regenbogenfarbenem-Hut-Muster?“

Er guckt mich beschwörend an. Hypnotisierend. Wer weiß, was passiert, wenn ich ihm eine falsche Antwort gebe, womöglich verwandelt er mich in eine weiße Kuh mit rosa...

„Du hast ihr Muttermal auf der linken Wange vergessen, du Wie-erschaffe-ich-ein-Ungetüm-aus-Wörtern?.... -Mensch!“

Er lässt mich los und greift sich theatralisch an die Brust. „Oh, mein Gott, ich bin getroffen. Ich, ein Mensch? Wie kannst du nur? Und dich zugleich mein Freund nennen?“ Daraufhin hört er auf sich zu bewegen, hört auf zu atmen und fällt mit einem dumpfen Knall tot zu Boden.

Nun endlich hat Hook den Ewigen Jungen genau da, wo er ihn haben möchte: tot, am Ende, finito! Hook freut sich über alle Maßen, doch dann beginnt er zu begreifen, was gerade geschehen ist: sein einziger Widersacher, der Einzige, der es je wagte, sich ihm in den Weg zu stellen, ist nicht mehr. Hook nimmt seinen Hut ab, senkt ehrerbietend den Kopf und salutiert vor seinem einstigen Gegner. Eine Träne, die erste, die der Pirat seit Jahren geweint hat, fällt aus seinem Auge auf Peter Pans Gesicht – und siehe da, der Ewige Junge rührt sich, atmet, lebt!

Vor Freude springt Hook wie ein Verrückter auf dem Deck herum, rutscht auf einer vom Morgentau nassen Stelle aus und landet unkontrolliert auf seinem noch am Boden liegenden, jetzt wieder sehr lebendigen Rivalen.

Lucas keucht laut, als ihm die Luft aus dem Magen gepresst wird, sieht mich mit blankem Gesicht an und sagt: „Für dich gibt’s heute Abend nur Salat, mein Freund!“

Die nächsten Stunden vergehen wie im Flug. Möbel und Kartons einladen, zur hundert Kilometer entfernten neuen Wohnung fahren und dort alles wieder ausladen. Während Lucas, Michi und ich Couch, Tisch und Co. in die zweite Etage hieven, machen sich Claudia, Jesses Vater und Jesse bereits ans Auspacken und Einräumen, Letztere nicht ohne wiederholt mittendrin innezuhalten und uns anzuweisen: „Das kommt da hin, nein, noch ein Stück weiter, und jetzt noch etwas nach vorn. Ja, gut. Nein, doch nicht, nicht gerade, so, genau...,“ und so weiter. Das tut sie dann bei allem, was wir rein bringen, und trotzdem schafft sie es bis zum Nachmittag, als wir mit Transport und Aufbau fertig sind, die gesamte Küche einzurichten – Töpfe und Geschirr einräumen inklusive!

Die anderen, privateren Dinge auszupacken, das bleibt Jesse und Lucas für die nächste Tage (oder Wochen, wenn sie ihn nicht oft genug anspornt) überlassen, so dass wir noch deutlich vor achtzehn Uhr zu Hause ankommen. Meine Eltern sehen sich freudig überrascht an, tauschen in ihrer Geheimsprache Blicke aus und nehmen schließlich Lucas’ Einladung an; Anna macht sich für die Party fertig und würdigt mich keines Blickes, während sie ihre Schönheit mit Make-up, Rouge und Eyelinern versteckt, pardon, unterstreicht; und Emma liegt, welch ein Wunder, mit einem Buch in der Hand auf einer gepolsterten Gartenliege und begrüßt mich ganz herzlich, ohne von ihrem Buch aufzublicken:

„Machst du gerade irgendein Männlichkeitsritual durch oder ist Stinken jetzt in?“ So freundlich hat sie mich bisher noch nie angesprochen, Anna scheint einen guten Einfluss auf sie auszuüben, dennoch kann ich eine kurze Kopfbewegung später nur nicken, denn ihr Einwand ist mehr als berechtigt. Vielleicht hätte ich doch vorher unter die Dusche springen sollen, aber nun ist es zu spät, mein Image als Saubermann hat in den Augen meiner Schwester gelitten. Unwesentlich im Vergleich zu meiner Aufgabe, die höchste Priorität genießt.

„Setz dich,“ sagt sie kurz angebunden, zieht die Knie ein und legt das Buch weg.

„Ist ein bisschen frisch, um draußen zu lesen, oder?“

„Bisschen, aber immer noch besser als der Grande Dame dabei zuzusehen, wie sie sich für die Party des Jahrtausends fein macht.“ In ihrer Stimme klingt ein scharfer Unterton mit, der mir in letzter Zeit öfter im Zusammenhang mit Anna aufgefallen ist.

„Die Zeiten sind vorbei, in denen ihr Hand in Hand durch die Gegend gehopst seid, was?“

„Ich hasse es, dich zu enttäuschen, Maku, aber Dinge ändern sich.“ Den Namen zu hören, den sie mir als Baby verpasst hat, weil sie meinen nicht richtig aussprechen konnte, jagt mir einen Schauder über den Rücken. „Die Welt dreht sich, wir werden älter,“ sagt sie weiter. Ich wünschte, das würde sie nicht tun.

„Vielleicht wird es an der Zeit, dass du ein eigenes Zimmer bekommst.“

Das krampfhafte Lachen, das sie von sich gibt, ähnelt mehr einem Schnauben als einem echten, fröhlichen Lachen, das sie früher immer begleitet hat. „Ja! Wir ziehen eine hohe Trennwand mitten durch unser Zimmer, eine Dicke von zehn Kilometern sollte ausreichend sein.“

„So schlimm, hmm?“

„Nein, ganz so schlimm ist sie nicht, manchmal ist sie immer noch wie früher, sie hört zu und ist total nett. Aber manchmal kann sie ein richtiges Biest sein.“

„Wie heute Morgen. Ich meine das ernst mit dem eigenen Zimmer, Emma. Ihr könnt nicht den Rest eures Lebens aufeinander hocken und euch gegenseitig die Hölle heißmachen.“

„Unser Haus hat nur vier Zimmer, Markus, willst du mich in die Garage verfrachten?“

Wieso denn nicht? Die gute Schwester in der Garage, zwischen Fahrrädern, Werkzeug und Autos, die böse Schwester im Haus, im eigenen, traumhaft eingerichteten Zimmer. Aber eigentlich dachte ich da an etwas Naheliegenderes.

„Vier Zimmer, eben. Eins davon von übermorgen an unbewohnt.“

„Neineineineinein! Das kannst du vergessen, Markus! Ich werde nicht dein Zimmer in Beschlag nehmen, dann harre ich lieber in alle Ewigkeit mit Anna aus. Es ist deins, du kommst wieder. Weihnachten, in den Ferien...“

„Für ein paar Tage, nicht länger.“ Es laut auszusprechen, es ausgesprochen zu hören, verleiht dem Ganzen eine Endgültigkeit, für die ich, wie mir in diesem Augenblick klar wird, noch nicht bereit bin. Ich meine, was soll ich in einer Millionenstadt, umgeben von Menschen, die ich nicht kenne und nicht kennen will – wieso tue ich mir das an?

„Leben, mein Freund. Lerne zu leben“, sagt mir der kleine Lucas, bevor er mit dem hereinbrechenden Zwielicht verschmilzt.

„Jedenfalls hast du ab morgen Abend dein eigenes Zimmer,“ wende ich mich wieder meiner Schwester zu, deren anfängliches Zögern in Dankbarkeit umschlägt.

„Wirklich?“ Man sieht ihr an, dass sie außer sich ist vor Freude, sie strahlt über beide Ohren. Doch dann streift ihr Blick das Doppelfenster im zweiten Stock und ihre Miene verdunkelt sich. „Ich hab sie vorgestern dabei erwischt, wie sie in meinem Tagebuch gelesen hat, so hat sie das mit Nicholas überhaupt rausgefunden. Und gestern hat sie es all ihren Freundinnen und deren Freundinnen und dem Rest der Schule erzählt, ein Wunder, dass sie es nicht auf ein Transparent gemalt hat.“

„Dann stimmt das also, Nicholas mag dich.“ Und gleich kommt der Moment der Wahrheit, der Moment, in dem die rosarote Kuh sich einmischt und der ganzen Welt verkündet, dass Emma ihn nicht mag – weil sie Jungs nicht mag.

„Ja,“ sagt Emma mit einem errötenden Lächeln. „Er mag mich. Und ich ihn.“ Erst jetzt, da ich brüsk ausatme, merke ich, dass ich die Luft angehalten habe und ihre Worte trotz Lucas’ mentaler Vorbehandlung Erleichterung in mir auslösen.

Ich lächle zurück: „Ich freue mich für dich. Aber dann...“

„Warum gehe ich nicht zu seiner Geburtstagsparty? Habe ich dir wirklich noch gar nichts über Nicholas erzählt?“ Mit einem Kopfschütteln fordere ich sie auf fortzufahren. „Er ist mit acht nach England gezogen, sein Vater hatte da einen gutbezahlten Job bekommen, und gegen Ende des letzten Schuljahres sind sie nach Deutschland zurückgekehrt. Er war nicht gleich so beliebt wie heute, am Anfang haben sich alle über seinen Akzent lustig gemacht und er hat sich in den Pausen immer außerhalb der Cliquen und Gruppen hingesetzt, hat die anderen beobachtet, fühlte sich ausgeschlossen. Irgendwann hat er mich entdeckt, auch eine Außenseiterin, und sich zu mir gesetzt. Die nächsten Tage hat er jede Pause mit mir verbracht und mir beim Lesen zugesehen. Ich las gerade Romeo & Julia, da leistete er mir wie immer Gesellschaft und holte eine englische Ausgabe aus der Hosentasche, die sieht übrigens weitaus zerfledderter aus als meine. So kamen wir ins Gespräch.

In den Sommerferien hat er seine Deutschkenntnisse perfektioniert, ist um gut zehn Zentimeter gewachsen und hat ein paar Pfund abgenommen und zu Beginn des neuen Schuljahres sein athletisches Können gezeigt, was ihn aus den Flop 5 auf Platz 1 der Schülerhitliste katapultierte. In den Pausen ist er jetzt ständig von schwärmenden Annas und bewundernden Jungs umgeben, die ihn für Gott halten. Aber nach der Schule trifft er sich immer noch mit einem unscheinbaren Mädchen aus seiner Klasse, mit dem er sich über Bücher austauscht und für das er mittlerweile mehr als nur Freundschaft empfindet. Er hat des Öfteren versucht, mich vom Gegenteil zu überzeugen, aber ich wollte nicht eines seiner Groupies sein, deshalb habe ich ihn gebeten, unsere Beziehung geheim zu halten. Aber dank Anna weiß jetzt die ganze Schule Bescheid. Zumindest, dass er auf mich steht, sie hatte nicht genug Zeit, mehr herauszufinden.“

Wow! Meine kleine Schwester wird erwachsen. Anna ist es in der Beziehung schon seit zwei, drei Jahren, aber dass Emma jetzt auch so weit ist, das hätte ich nicht erwartet. Der kleine Lucas stößt mich mit dem Ellbogen an und reicht mir sein Taschentuch, nachdem er sich damit die Tränen aus den Augen gewischt hat. „Eine schöne Geschichte,“ sagt er und ich kann ihm nur zustimmen – schön, wie jede Geschichte von der ersten Liebe.

„Jetzt verstehe ich erst recht nicht, warum du dich immer noch versteckst.“

„Und das ausgerechnet von dir, Markus? Ich verstecke mich nicht. Oder vielleicht schon, ein bisschen. Nick und ich haben letzte Nacht zusammen reingefeiert, nur er und ich. Aber jetzt dort zu sein, das wäre nicht ich. Du weißt, dass ich Menschenaufläufe ebenso wenig mag wie du, wozu also das Theater? Klar, als seine Freundin würden sie mich auch als dazugehörig, als hip ansehen, aber das will ich gar nicht. Genau so wie du dich nicht danach sehnst, von Lucas’ Freunden akzeptiert zu werden, geht es mir auch. Wozu? Nicholas und ich sind uns in manchen Dingen ähnlich, in allem anderen ergänzen wir uns – wie du und Lucas. Übrigens, sei vorsichtig, wie viel du über deine Gefühle für ihn preisgibst.“

„Meine Gefühle...?“ Nach Bella jetzt auch Emma. Hat mir jemand auf die Stirn geschrieben, dass ich auf Lucas stehe?!

„Es ist nicht normal, dass man mit zwanzig noch bei seinem besten Freund übernachtet. Nicht, wenn man nur wenige Straßen voneinander entfernt wohnt. Ich habe ihn gestern Morgen raushuschen gesehen. Außerdem weiß ich, dass Bella nicht schnarcht, das hat sie Mom nämlich als Grund dafür genannt, dass sie auf der Couch geschlafen hat.“

„Was auch immer es ist, was dir Sorgen macht, das braucht es nicht. Lucas ist mit Jesse zusammen, wir sind nur Freunde,“ beruhige ich sie.

„Beste Freunde,“ sagt Emma, als wäre sie mein Echo, und kuschelt sich an mich ran. Ich lege meinen Arm wärmend um sie. Es wäre besser, wenn wir bei der Kälte hineingehen würden, doch dort wären wir nicht so ungestört. Hier draußen sind wir allein, nur der Wind hört mit und trägt unsere Worte, kaum dass wir sie ausgesprochen haben, weit weg, dorthin, wo sie ihre Bedeutung verlieren.

„Lucas wird nie mit irgendjemand anderem zusammen sein als mit dir, Maku. Und du mit niemandem außer Lucas. Er verbringt viel Zeit mit Jesse, aber wenn es um Wichtiges geht, kommt er zu dir. Vielleicht liegt es daran, wie ihr euch kennen gelernt habt, vielleicht ist es Bestimmung, aber Tatsache ist, dass du bei Lucas immer an erster Stelle stehst.“

„Hör auf,“ bitte ich sie. Meine Stimme klingt, als hätte ich sie vorher in einen Eimer voller Selbstmitleid getaucht, obwohl ich mich bemüht habe, sie mit einem Lachen zu untermalen. „Du liest zu viel, Emma, in deinem Alter sollte man nicht so viel über Beziehungen wissen. Und trotzdem, Lucas und ich, ich kann mir nicht vorstellen, dass man so etwas in Büchern findet.“

Sie sieht mich fragend an und hört aufmerksam zu, als ich ihr das bisher Geschehene darlege. Zum Schluss gibt sie mir einen Rat, den ich nur allzu gern befolgen werde: „Genieß all das Schöne, das dir das Leben bietet, und wenn du mal das Gefühl hast, dir wächst alles über den Kopf, erinnere dich an den guten Zeiten und daran, dass ich dich lieb hab.“ Sie unterstreicht ihre Worte mit einem flüchtigen Kuss auf die Stirn und lässt mich dann allein mit der Dunkelheit. Meine große kleine Schwester.

Stunden später trennen Lucas und ich uns vor dem Restaurant von unseren Eltern, die uns viel Spaß wünschen und sich dann paarweise auf den Heimweg machen. Was wir mit der angebrochenen Nacht machen werden, steht in den Sternen. Ihre Leuchtkraft dort oben konkurriert mit den Lichtern der Stadt, die sich unter uns ausbreitet. Wir stehen, an die Motorhaube des Wagens gelehnt, an jenem Aussichtspunkt, von dem man den Großteil unserer Kleinstadt betrachten kann, ein beliebtes Ausflugsziel für verliebte Pärchen, sei es tagsüber oder natürlich nachts – und so frage ich mich, was wir hier tun, doch dann höre ich Emmas Stimme, ihren Rat, den sie mir wenige Stunden zuvor gegeben hat, und schiebe mein Unbehagen beiseite.

„Komm,“ sagt Lucas auf einmal, als hätte er sich an den Sternen sattgesehen und sei nun bereit für neue Entdeckungen. „Schließ die Augen,“ sagt er weiter. „Ich lege dir eine Augenbinde an, nicht erschrecken.“

Ah, er will mich entführen. „Dir ist klar, dass meine Eltern deine Lösegeldforderung nicht erfüllen können?“

Er lacht, ich spüre seinen Atem in meinem Nacken, als er die Binde zuknotet. „Wer braucht schon das Geld deiner Eltern? Die Organmafia zahlt viel besser und die Kannibalen reißen sich um Weiße. Dann habe ich ausgesorgt und lasse mich auf einer kleinen Insel nieder, umgeben von lauter nackten Frauen, die nur das Eine im Sinn haben.“

Daher weht also der Wind. „Dann verabschiede ich mich wohl besser von meinem Dasein, was? Und von meinem besten Freund?“

„Dafür wirst du noch genug Zeit haben, erst einmal machen wir eine kleine Reise.“ Er nimmt meine Hand und zieht mich langsam hinter sich her. „Du kennst das Terrain hier und ich passe auf, dass du nicht stolperst,“ versichert er mir.

„Verrätst du mir wohin?“

„In die Vergangenheit,“ tut er geheimnisvoll.

„Ja!“ Meine Begeisterung überrascht mich selbst, Lucas lacht belustigt. „Darf ich mit den Dinos spielen?“

„Nein, Hook, das willst du doch auch gar nicht. Sie sind die Vorfahren der heutigen Krokodile und damit verbindest du keine so guten Erinnerungen, nicht wahr? Deshalb gucken wir uns fürs Erste die letzte Nacht an.“ Ich bleibe stehen und schaue in die Richtung, in der ich ihn stehen vermute, doch mit einem sanften Zug an meiner Hand fordert er mich auf, ihm weiter zu folgen. „Heute Morgen bist du zusammengezuckt, als du meine Stimme gehört hast; das tust du nur, wenn du einen Alptraum hattest. Es ist jetzt so viele Jahre her, Markus, und es macht dir immer noch Angst. Als ob du es dir zur Aufgabe gemacht hättest, meine Kindheit immer und immer wieder zu durchleben. Und das, mein Freund, ist nichts als Masochismus.“

Den verbleibenden Weg bis zu unserem Ziel verbringen wir in Gedanken vertieft. Was soll ich denn auf seine Feststellung erwidern? Er hat ja recht, aber ich habe mich nicht dafür entschieden, die Dinge, von denen er mir erzählt hat, in meinen Träumen nachzuspielen, ich habe keinen Einfluss darauf. Sie kommen und gehen, wie sie wollen.

„Wir sind da,“ verkündet er nach einer Weile und stoppt mich, als ich die Augenbinde abnehmen will. „Noch nicht.“

Es ist warm hier, aber ich habe Lucas keine Tür öffnen hören, wir müssen immer noch draußen sein. Und hell – das Licht dringt durch die Spalten ober- und unterhalb der Binde, verleiht ihr eine heilige Aura.

„Okay, jetzt setz dich bitte auf den Boden. Sachte, nicht dass du dich hinpackst. Warm genug hier drin?“

Hier drin? „Wo drin, Lucas?“

„Erinnerst du dich an die Höhle, die wir vor einigen Jahren gefunden haben? Dort sind wir.“

„Wenn wir angekommen sind, wozu noch die Augenbinde?“ Sie irritiert mich. Nicht weil ich ihm nicht vertrauen würde, sondern einfach deshalb, weil ich ein sehr visueller Mensch bin. Wenn ich nicht sehen kann, fühle ich mich, als würde mir ein Körperteil fehlen.

„Weil dir das Ganze dann hoffentlich leichter fällt. Hörst du das Feuer knistern?“ Ich nicke. „Gut. Ich werde mich jetzt hinter dich setzen und wenn dir danach ist, lässt du dich einfach nach hinten fallen, in Ordnung? Dann können wir jetzt beginnen, uns beiden sollte es leicht fallen, so oft wie wir Peter Pan waren. Vielleicht musst du dich am Anfang konzentrieren, aber wir kriegen das hin.“ Nach einem zuversichtlichen Klopfen auf die Schultern fährt er fort: „Siehst du das Feuer, Markus?“

„Meine Augen sind verbunden,“ gebe ich ihm trotzig zu bedenken.

„Schließe sie und spüre die Hitze, wie sie in dir hochsteigt.“

Ich gerate in Panik. „Es brennt, Lucas!“

„Nein, tut es nicht,“ beruhigt er mich. „Das Feuer ist dein Freund, es durchströmt dich, schüre es, sammle dein Feuer, deine Wut.“

Mein Atem verlangsamt sich bei seinen Worten. Vor mir nehmen warme Flammen Gestalt an, sie greifen nach mir, schmerzen aber nicht. „Ich kann das Feuer sehen.“ Arme, Beine, Füße, mein ganzer Körper steht in Flammen, sie fühlen sich gut an. Sicher. Als wäre meine Haut ein Schwamm, saugt sie sie auf, sie schwimmen in meinen Adern, sie werden Eins mit mir, schließlich nimmt meine Haut wieder ihre gewohnte blassrosa Farbe an.

„Sehr gut, du machst das toll, Markus. Jetzt sieh dich ein bisschen um, kannst du erkennen, wo du bist?“

Nicht wirklich, es ist so dunkel, dass ich nichts sehen kann. Aber ich spüre Äste und Blätter um mich herum. „Bäume. Im Wald.“

„Ganz genau. Die Sonne hoch oben, blendet sie dich?“

Es wird heller, ein paar Sonnenstrahlen schaffen es bis zu mir runter. „Nein, sie scheint genau richtig. Ich stehe an der Stelle, wo ich dich vor deinem Vater versteckt hatte.“

„So ist es. Bist du allein?“

Bin ich nicht. Neben mir steht Lucas und sieht mich an. Wir sind beide erwachsen, nicht die kleinen, furchterfüllten Kinder von damals.

„Hilf mir,“ sagt er und beginnt sein Hemd aufzuknöpfen. „Mach meine Schnürsenkel auf und zieh mir die Hose runter.“ Als ich zögere, treibt er mich an: „Mach schon, uns läuft die Zeit davon.“

Keine Minute später steht er splitterfasernackt vor mir. Etwas in seinem gehetzten Blick hindert mich daran, auch nur im Entferntesten daran zu denken, über ihn herzufallen. Das und die Narben und Wunden, die allmählich auf seiner Haut sichtbar werden. Narben, die im Laufe der Zeit verblasst sind, nicht mehr als zwei oder drei hat er behalten. Doch jetzt sind sie alle wieder da.

„Er kommt,“ warnt Lucas mich und sieht in Richtung Straße. Dann nimmt er mich an der Hand und wir gehen ihm gemeinsam entgegen. Sein Vater sieht alt aus, die Haare ungekämmt und fettig, das Gesicht rot und faltig, der Atem, der ganze Körper stinkt nach Alkohol.

„Gibst du auf, du kleiner Bastard?,“ fragt er und grinst uns mit gelblichen Zähnen an.

„Ich gebe auf,“ lässt Lucas sich neben mir vernehmen, ohne jede Spur von Angst. Dann lächelt er mich auffordernd an und dieses Lächeln setzt bei mir eine kurze Information frei, die mich automatisch handeln lässt.

Ich stelle mich zwischen Vater und Sohn und berühre Lucas an einem der zahlreichen Striemen, die seinen Oberkörper und seine Oberschenkel übersäen. Der Striemen verschwindet von der Haut meines Freundes und bleibt wie ein Pflaster an meiner Hand kleben, bis ich damit das Gesicht des Vaters berühre, der schreiend zurückzuweichen versucht. Doch nun ziert der lange rote Streifen sein Gesicht anstatt den Körper seines Sohnes. Mit den übrigen blutigen Streifen verfahre ich genauso, mein Gehirn leitet mich, zeigt mir, welche Narben von Lucas’ Vater stammen und welche den anderen Peinigern zuzuordnen sind. Als ich mit ihm fertig bin, krümmt er sich am Boden vor Schmerzen, er spürt jeden Schmerz nach, den er seinem Sohn vor Jahren zugefügt hat.

Ihm folgen zwei Mistkerle, die sich gleichfalls auf Riemen und die gelegentliche Bierdose an den Kopf werfen beschränkt haben, mit ihnen verfahre ich ebenso. Der Vierte aber ist von ganz anderem Kaliber, er verstand sich wie kein anderer auf Knochenbrüche, die langwierige und schmerzvolle Genesungszeiten hinter sich zogen. Bereits nach einem Rippen- und einem Unterarmbruch knickt er in sich zusammen, ich blicke zu Lucas, ob ich weitermachen soll.

„Du entscheidest, Markus, das hier ist dein Rachefeldzug, ich bin nur ein Werkzeug.“ Nach einigem Zögern fahre ich fort, bis Lucas’ Körper keinen einzigen Knochenbruch mehr aufweist.

Die Intensität der Schmerzen, die die Männer ertragen müssen, nimmt zu, bis ich beim Letzten, als Lucas’ Haut keinen einzigen Makel mehr aufweist, nach hinten taumele und dabei meinem Freund auf den Fuß trete. Ich drehe mich entsetzt zu ihm um. „Lucas, das kann ich nicht.“

„Ich weiß“, sagt er und hört für einige Sekunden damit auf, sich wieder anzukleiden. „Wie gesagt, du entscheidest, wie weit du gehst, wann du aufhören willst. Die Frage ist, ob du es dir leisten kannst, ihn davonkommen zu lassen. Hier,“ er gibt mir einen Dolch, dessen Klinge in der Sonne blitzt, „vielleicht erfüllt das hier den gleichen Zweck.“

Ich nehme die Waffe entgegen und sehe den Mann an, der vor mir steht. Er grinst uns nicht wie die anderen total verblödet an, er sieht normal aus mit seiner sauber gebügelten Kleidung und seinem gepflegten Äußeren. Er könnte Lehrer sein oder Arzt oder Bankangestellter. Er war Bankangestellter. Und Claudias letzter Freund vor Michi. Sie hatte sich so gefreut, dass sie endlich jemanden gefunden hatte, der mit ihrem Sohn klarkam, der ihn nicht in seiner Volltrunkenheit verprügelte, dass sie einen Nervenzusammenbruch erlitt und die nächsten fünfzehn Monate in der Geschlossenen verbrachte, als sie herausfand, dass er zu Lucas mehr als nur nett war.

Das verdammte Schwein sinkt in die Knie, zeigt aber kein Zeichen von Reue, als er mich gleichgültig ansieht. Ich hole aus und steche zu. Einmal... zweimal... dreimal... zehnmal... tausendmal... So lange, bis sein Blut sich mit meinen Tränen vermischt und Lucas mir den Dolch aus der Hand schlägt.

Regungslos liegt er vor mir. Ich stehe auf und trete zur Sicherheit ein paar Mal zu. Nur zur Sicherheit.

Wieder in der Höhle reiße ich mir die tränendurchweichte Augenbinde vom Gesicht und lasse meinen bebenden Körper nach hinten fallen. Lucas fängt mich auf, wie versprochen, und drückt mich an sich.

„Schhh... es ist alles gut, Markus. Ich bin bei dir, es ist keiner hier außer uns beiden.“

Eine Weile bleiben wir so liegen. Als ich mich endlich beruhigt habe, drehe ich mich auf den Bauch, um ihm in die Augen zu gucken. „Ich habe dir nie geholfen, habe tatenlos alles mit angesehen.“

Er schüttelt den Kopf und nimmt mein Gesicht in seine Hände. „Du hast nichts gesehen, Markus, ich habe nicht zugelassen, dass du etwas siehst. Ich wollte nicht, dass sie auch dir etwas tun. Alles, was du weißt, habe ich dir erst erzählt, als es vorbei war. Und was die Hilfe angeht, keiner hat mir mehr geholfen als du. Du warst immer für mich da, als ich jemanden zum Reden brauchte, und du hast mich abgelenkt, als ich vergessen musste. Du warst der beste Freund, den man sich wünschen kann. Ein Engel hätte es nicht besser machen können. Verstanden?“

Er gibt sich mit einem Nicken nicht zufrieden, erst als ich ein Lächeln andeute, rollt er mich weg, steht auf und zieht mich hoch. „Geht’s dir besser?“

„Ja, trotz der bizarren Methode, mit der du mir die Alpträume austreiben willst.“

„Hoffen wir, dass es etwas gebracht hat, ich habe dich nämlich diese Hölle nicht gern durchmachen lassen. Es gab Augenblicke, da wollte ich dich rausholen, weil du wie ein Verrückter geschrien hast, aber genau deswegen habe ich diese Höhle ausgesucht, weil du hier so laut schreien kannst, wie du willst.“

„Du bist schon ziemlich verrückt, weißt du das?“

„Ja,“ antwortet er nachdenklich, „da sind wir uns recht ähnlich.“ Dann reicht er mir einen Schlüssel, einen gewöhnlichen Wohnungsschlüssel; ich brauche nicht zu fragen, wozu der gehört. „Für dich. Du bist bei uns willkommen, wann immer dir danach ist.“

Ich zögere ihn anzunehmen. „Das geht nicht, Lucas. Würdest du allein wohnen, dann wäre das was anderes, aber mit Jesse...“

„Habe ich alles geklärt. Sieh mal, es war ihre Idee zusammenzuziehen und ich fand sie nicht schlecht, nachdem ich dich gefragt hatte, ob du mit meinen Gefühlen für sie einverstanden bist, aber ich hatte eine Bedingung: dass du einen Schlüssel zu unserer Wohnung bekommst. Und sie war einverstanden. Also keine Widerrede!“

Der Schlüssel fühlt sich gut an in meiner Hand, so als gehöre er zu einem Schatz, dem größten Schatz der Welt.

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