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Irrwege

Voller Zweifel

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Wir sind am Strand, Lucas und ich. Jeder auf seinem eigenen Laken, seines mit einem weißen Stern auf dunkelblauem Hintergrund, meines weinrot, meine Lieblingsfarbe. Er liegt auf dem Bauch, sein Gesicht von mir abgewandt, seine Augen wahrscheinlich geschlossen. Er liebt es, von warmen Sonnenstrahlen liebkost vor sich hin zu dösen. Ich kann nur seine orangefarbenen Haare sehen, natur, nicht gefärbt.

Ich selbst liege auf dem Rücken, lasse mir die Sonne auf den Bauch scheinen, merke in Wirklichkeit gar nicht, dass es sie überhaupt gibt. Meine Füße spielen im Sand, nähern sich seinen, um gleich darauf wieder die Flucht zu ergreifen und in die entgegengesetzte Richtung zu schnellen. Sie scheinen ein Eigenleben entwickelt zu haben, gehorchen mir nicht mehr. Ich würde sie Lucas auf keinen Fall so nah kommen lassen. Seit Wochen achte ich darauf, ihm nicht zu nah zu kommen, nicht körperlich und auch sonst nicht. Distanz, zu diesem Schluss bin ich gekommen, ist die beste Lösung für mein Problem.

Vielleicht ist es gar kein Problem, aber man weiß es ja nie, ich bin kein Optimist. Was

wenn…? Diese Frage verfolgt mich Tag und Nacht, kein Schlaf; vielleicht bin ich deswegen so gereizt und zu nichts zu gebrauchen.

Was wenn…? Ich will ihn nicht verlieren, er ist mein bester Freund. Mein einziger wirklicher Freund, um genau zu sein. Manchmal habe ich das Gefühl, dass niemand sonst mich versteht.

Da kann ich es mir nicht leisten, unsere Freundschaft in Gefahr zu bringen, ihn zu verlieren.

Was würde ich ohne ihn machen?

Ich drehe mich auf die Seite, stütze mich auf meinen Ellbogen. Meine Gedanken rasen, während meine Augen seine weiche Haut abtasten, die sich immer so warm anfühlte, als wir – früher – zusammen übernachteten und im selben Bett schliefen. Wie ein Scanner, der wichtige Daten aufzeichnet, um sie speichern und vervielfältigen zu können, nur dass ich das Gesehene mit niemandem teilen möchte, die gesammelten Informationen sind nur für mich bestimmt.

Mein Geheimnis. Meine Nahrung. Die Nahrung meiner Träume.

Jede Unebenheit wird registriert, jedes Muttermal, jede noch so kleine Verletzung. Sind die Härchen auf seinen Beinen nicht etwas länger als noch vor einer Woche? Als meine Augen seine Füße erreichen, bohren sie sich in den heißen Sand, die großen Zehen dienen dabei als Minibagger, die den Sand auf dem Laken abladen.

Ob er meine verstohlenen Blicke spüren kann? Ich schließe meine Augen und lege mich auch auf den Bauch, mein Gesicht ihm zugewandt. Ich stehe in einer Arena, Tausende grölen und rufen mir Unverständliches zu. Was wenn…?-Fragen drehen sich um mich herum, bleiben dann stehen und kommen mit angriffslustigen Mienen auf mich zu. Platzangst überfällt mich, Panik. Tief atmen, Markus, das beruhigt!

Kann er meine Gedanken hören, meine Zweifel und meine Hoffnungen, die wider meine Natur immer wieder in mir aufkeimen?

Furcht und freudige Erwartung dessen, was wahrscheinlich nie passieren wird, wechseln sich so rasch ab, dass ich mich in einem Labyrinth der Emotionen gefangen fühle, aus dem es nur einen Ausweg gibt.

„Lucas, ich bin…,“ flüstere ich so leise, dass ich mich selbst kaum hören kann. Den Satz bringe ich nicht zu Ende, ich fühle mich wieder wie gelähmt, stehe wieder in der Arena.

Plötzlich herrscht Totenstille, keine Menschenseele mehr zu sehen. Ich bin allein, keiner, der mir hilft, meinen Weg zu finden, bis seine Stimme mich aus der Ferne erreicht.

„Ich weiß“, lässt sich der vermeintlich Schlafende vernehmen und löst damit in

Sekundenschnelle den komplizierten Knoten, den ich in den letzten Wochen mühevoll geknüpft habe.

Seine Hand tastet nach meiner, er drückt sie. Ich sehe ein Lächeln, als er sich zu mir dreht und mich ansieht.

In der Arena jubeln die Menschen, als auch das letzte Fragezeichen besiegt ist. Ich lasse mich von ihnen feiern, nur kurz, denn bald schon verstummen sie und starren mit offenen Mündern Löcher in die Luft. Ein Loch, um genau zu sein. Irgendwo neben mir. Ich drehe mich um und sehe dem Loch in die Augen. Zwei hat es, beide braun. Links und rechts eins; dazwischen eine Nase; ein Mund; zwei Lippen; Zähne, die mich anblitzen, als er lächelnd wartet.

Worauf? Dass ich auch den zweiten Schritt wage? Und dritten? Und richtig laufen lerne? Bin ich schon so weit? Der erste Schritt, so sagt man, sei der schwerste, doch der zweite fällt mir nicht leichter.

Er bemerkt mein Zögern, ich schaue beschämt weg. Den zweiten Schritt tut er, einen dritten und vierten auch. Nun steht er direkt vor mir, unsere großen Zehen berühren sich. Er dreht mein Gesicht zu sich, sieht mich ermutigend an. Den fünften, Markus, den musst du machen, sagen seine Augen. Und sie haben Recht.

In spannungsgeladener Langsamkeit nähert sich mein Gesicht dem seinen. Meine Füße stellen sich auf die Zehen, die Augen schließen sich, es kann sich nur noch um Millionstel Sekunden handeln, bis unsere Lippen aufeinander treffen. Ein fassungsloser Aufschrei fährt durch die Menge, als meine Lippen von einer fleischigen Mauer aufgehalten werden. Ich öffne meine Augen, eine Hand trennt mich von meinem Happy End. Sie gehört Lucas.

„Wowowowowow!“, lacht er. „Sachte, Markus! Nur weil du dich geoutet hast, heißt das nicht, dass du dich dem Erstbesten an den Hals werfen sollst!“

Erschrocken ziehe ich mich auf mein Handtuch zurück, will mich fallen lassen, falle

tatsächlich, in tiefes Wasser. Ein See - aus Tränen. Tränen, die nicht vergossen werden dürfen, will ich mich nicht noch lächerlicher machen als sowieso schon.

Leise sagt er noch: „Ich liebe Jesse, Markus.“

Meine Lippen brennen. Die Sonne, die ihren Zenit längst überschritten hat, sticht mit ihren Strahlen auf mich ein, saugt mich aus, gierig und schmerzhaft. Ich fühle mich wie Dreck, weil ich meine Gefühle über alles gestellt habe und dabei seine verletzt habe. Unsere Freundschaft, ist sie damit vorbei?

Ich blicke zu ihm hoch, komme aber einer Antwort zuvor. „Es tut mir leid, Lucas.“

Er erwidert nichts, zuckt nur gleichgültig mit der Schulter, als ob es nichts wäre. „Schon okay. Ich weiß ja, dass ich unwiderstehlich bin“, grinst er mich an. „Komm, lass uns noch ne Runde schwimmen gehen.“

Die Versuchung ist groß, sehr groß, doch etwas hält mich zurück. „Lass uns lieber fahren, ja?“

„Bist du sicher?“

Nein. Auf gar keinen Fall. Ich möchte für immer mit dir hier bleiben, nur wir beide, ohne Jesse, ohne den Rest der Welt. Einfach nur mit dir sein. „Ja. Fahren wir.“

Während wir unsere Sachen zusammenpacken und die paar Hundertmeter zum Auto

zurücklegen, sagt keiner von uns was. Ich wage nicht einmal, ihn anzusehen, so sehr schäme ich mich dafür, mich wie ein Kind benommen zu haben.

Du bist zwanzig, du Idiot, sagt eine Stimme in meinem Kopf, und das Einzige, woran du denken kannst, ist Liebe! Was ist mit Freundschaft? Sind deine Gefühle es wirklich wert, diese Freundschaft aufs Spiel zu setzen? Du würdest dich damit nur selbst quälen und am Ende verlieren. Deine Liebe und deinen besten Freund.

„Halt die Klappe“, höre ich meine eigene Stimme, als Lucas den Kofferraum öffnet und unsere Taschen reinlegen will. Er hält mitten in der Bewegung inne.

„Ich hab nichts gesagt, Markus“, sagt er und sieht mich besorgt an.

Wir steigen ein, er fährt. Wie immer, wenn wir gemeinsam unterwegs sind. Mein Auto, mein Chauffeur. Alles total normal.

Alles andere als normal. Seine Geschichten, mit denen er mich bislang noch in jeder Situation aufheitern konnte, zeigen heute keine Wirkung. Seine Witze kommen mir fad vor, seine Worte belanglos. Ich ziehe mich in eine dunkle Ecke zurück und schmolle.

‚Verdammt noch mal!‘, höre ich diese blöde Stimme wieder, reiß dich zusammen und finde dich damit ab!

Als ob ich das könnte. Ich sitze neben dem Mann meiner Träume und soll ihn vergessen? So tun, als würde ich ihm nicht am liebsten die wenigen Kleider vom Leib reißen, die er anhat?

Mit einem Kuss würde ich mich fürs Erste schon zufrieden geben, doch ich warte vergeblich darauf.

Auf dem Hof vor dem Haus meiner Eltern lässt Lucas den Wagen ausrollen, dreht den Motor aus und steigt aus dem Auto. Dabei guckt er mich fragend an, so untypisch für ihn, der sonst bei jeder Gelegenheit wie ein Wasserfall losredet. Er wirft mir die Schlüssel zu und dann einen erneuten Blick. Eine auffordernde Kopfbewegung. Fahre ich ihn nach Hause?

Einige Sekunden lang stehen wir uns wortlos gegenüber, dann holt er seine Tasche aus dem Kofferraum und hebt die Hand zum Abschied. Dreht sich um und verschwindet hinter der hohen Hecke auf die Straße. Er ist weg. Und ich allein.

Die Haustür knallt hinter mir zu, meine Mutter ruft irgendwas aus der Küche, aus dem

Zimmer der Zwillinge dröhnt Apologize von OneRepublic. Ich verschwinde in meinem

Zimmer und werfe mich aufs Bett. Wenn ich Glück habe, schlafe ich sofort ein. Wäre das Beste. Abschalten, an nichts denken, für eine Weile das Leben vergessen.

Doch weit gefehlt. Kaum dass ich die Augen geschlossen habe, kommt meine Mutter und setzt sich zu mir. Sie hat einen Instinkt dafür, wenn wir uns schlecht fühlen. Vielleicht ist das bei allen Müttern so, aber ganz sicher nicht so ausgeprägt wie bei meiner. Sie streicht mir die Haare aus der Stirn, lässt ihre Hand auf meinem Kopf ruhen.

„Streit mit Lucas?“, fragt sie mitfühlend. Sie spielt mit meinen Haaren und wartet geduldig auf meine Antwort.

„Ich habe einen Fehler gemacht.“

„So schlimm?“

„Ja. Gleich mehrere. Und ich weiß nicht, welcher davon ihn am meisten verletzt hat. Sie alle haben mich verletzt, das zumindest ist sicher. Hätte ich bloß auf sie gehört.“

„Auf wen?“

„Die Stimme in meinem Kopf. Meinen Verstand. Aber nein, mein Herz hat mal wieder die Überhand gewonnen und mich in tiefe Sch...“ Ich öffne meine Augen und schaue sie Hilfe suchend an. Wie pathetisch, in meinem Alter noch so auf seine Mutter angewiesen zu sein!

„Was immer es ist, Markus, ihr biegt das wieder hin. Ihr kennt euch schon so lange, ich kann mir nicht vorstellen, dass es etwas gibt, was du tun könntest, um eure Freundschaft zu zerstören. Du bist ein guter Mensch, mein Schatz, und Lucas auch. Glaub mir, ihr werdet diese Krise bewältigen.“

Das Tolle an Mom ist, dass sie nie nachbohrt. Sie ist nicht gierig nach Informationen, wie andere Mütter, sondern hilft dir, ohne gleich deine Privatsphäre mit Füßen zu treten. Sie drückt meine Hand, dann steht sie auf und geht.

„Mom“, rufe ich und sie bleibt kurz stehen. „Danke.“

Ich fühle mich tatsächlich etwas besser, die bedrohlich dunklen Wolken am Horizont

beginnen sich zu lichten. Um mich abzulenken, hole ich einen leeren Koffer aus der

Abstellkammer und sehe mich im Zimmer nach Dingen um, die ich schon mal einpacken kann.

In ein paar Tagen geht’s los zur Uni. Erstsemester. Klingt ein wenig wie Erstklässler. ‚Ein neuer Lebensabschnitt steht Ihnen bevor‘, haben sie uns letzte Woche auf der Infoveranstaltung gesagt. Wie wahr! Das erste Mal richtig von zu Hause weg, der erste Schritt in Richtung eigenes Zuhause, in Richtung Selbständigkeit. Neue Leute kennen lernen, jede Menge davon.

Und das ausgerechnet mir, wo ich mich doch so schwer damit tue.

Eine CD nach der anderen landet im geöffneten Koffer, dazu einige DVDs und ein ganzer Stapel Bücher. Science-Fiction hauptsächlich und Shakespeare, allen voran Der Kaufmann von Venedig. Nachdem ich alles zurechtgerückt habe, bleibt noch ein knappes Drittel frei, also schnappe ich mir ein paar T-Shirts und wickle darin die gerahmten Fotos ein, die ich mitnehmen will. Ja, selbst im digitalen Zeitalter gibt es noch Menschen, die sich Fotos ganz altmodisch ins Regal stellen.

Auf dem ersten präsentieren Anna und Emma stolz ihre Auszeichnung, die sie letztes Jahr für einen Artikel für die Schülerzeitung bekommen haben; das nächste zeigt Mom und Paps vor dem Eiffelturm vergangenen Frühling; dann wieder die Zwillinge, diesmal bei einem Fotoshooting zum Thema Grimassenschneiden, meine Abschlussarbeit im Fach Kunst.

Beim letzten Foto schaffe ich es nicht, meine Augen davon zu lösen. Es wurde in London aufgenommen, in Kensington Gardens. Mit Peter Pan in unserer Mitte, strahlen Lucas und ich in die Kamera, überglücklich, endlich unseren Held ‚persönlich‘ getroffen zu haben.

Sekunden später erneuerten wir unseren Schwur, den wir mit zwölf geleistet hatten, in der Nacht, als wir die letzte Seite von J. M. Barries Meisterwerk gelesen hatten. Den Schwur, wie Peter nie erwachsen zu werden. Das war vor zwei Jahren.

Ich nehme das Bild aus dem Regal, doch anstatt es zu den anderen in den Koffer zu legen, setze ich mich damit aufs Bett und starre es an. Wie wenig wir uns verändert haben seit damals. Gewachsen sind wir so gut wie gar nicht mehr, Millimeter höchstens. Unsere Gesichtszüge allerdings sind härter geworden, männlicher, weniger jungenhaft. Wir beide haben eine Zeit hinter uns, in der wir es cool fanden, uns nicht zu rasieren und so rum zu laufen, als hätten wir uns tagelang nicht gewaschen. Das hat uns dann immer das Gefühl vermittelt, wir seien die Größten, weil die Welt uns nichts anhaben konnte.

Doch genau das kann sie und das tut sie auch. Sie verkompliziert Dinge, die sonst so einfach sein könnten. Sie zwingt uns allem einen Namen zu geben und ein Gegenstück: Schwarz - Weiß, Hass - Liebe, Tag - Nacht. Entweder - Oder. Gut, es gibt Grau und Toleranz und... Dämmerung, also ein Weder - Noch. Aber was ist mit Sowohl - Als - Auch? Freundschaft und Liebe. Nur weil es kein Wort dafür gibt, heißt nicht, dass es das nicht geben kann. Dass der Drang, das innere Bedürfnis nicht da ist, seinen Freund zu küssen, ihm auch körperlich näher zu kommen.

Ich wünschte, ich wäre jetzt in der Arena, dann würde ich die Menschen fragen, was ich tun, wie ich es schaffen soll, meinen besten Freund zu behalten und mich gleichzeitig nicht in seiner Anwesenheit wie ein verliebter, besessener Teenager zu benehmen, der seinen Schwarm ununterbrochen total schmachtend angafft und sich währenddessen den wildesten Gedanken und Träumen hingibt.

Doch diesmal lässt mich meine sonst so hilfsbereite Fantasie im Stich. Stattdessen holt mich ein Klopfen an der Tür aus der Geborgenheit der Vergangenheit in die ungewisse Gegenwart zurück. Blonde Haare, lange Beine, schlanke Figur, der Traum vieler Männer. Ihr Name: Isabella – Nachbarstochter, weiblicher Kumpel und Ex-Freundin.

„Hi“, haucht sie mir ins Ohr, als sie sich zu mir aufs Bett setzt. Sie nimmt mir das Bild aus der Hand und legt es, ohne zu gucken, in den Koffer zu den anderen, dann rückt sie näher heran und streicht mir eine unsichtbare Strähne aus dem Gesicht. „Wie geht’s dir?“, fragt sie in einem Ton, den ich früher mal als verführerisch bezeichnet hätte. Heute finde ich ihn nur lächerlich, besonders jetzt, da sie mit dem Fingernagel ihres linken Zeigefingers über meinen Oberkörper kratzt und ein eindeutiges Ziel hat.

„Hör auf“, bitte ich sie und auf dem ersten Blick sieht es so aus, als würde sie gehorchen.

Dann aber steht sie auf, geht zu meiner Musikanlage und legt einen langsamen Song ein, nach dem sie sich mit langsamen und lasziven Bewegungen zu entkleiden beginnt. Obwohl eher genervt als angeturnt, lehne ich mich zurück und schaue ihr zu, in der Hoffnung, dabei auf andere Gedanken zu kommen, was sie als Aufforderung sieht, ihren Tanz noch erotischer und aggressiver zu gestalten.

Schon bald sitzt sie auf meinem Schoß, wippt mit nur noch einem Tanga bekleidet auf und ab, hin und her, während ihre Hände sich an den Knöpfen meines Hemdes zu schaffen machen.

Als eine ihrer Hände in meine Hose gleitet, hört sie plötzlich auf und sieht sie mich entrüstet an.

Und was tut der Depp? Er entschuldigt sich. „So was ist mir noch nie passiert.“

Wer erwartet, dass sie sich jetzt hastig ihre Klamotten anzieht und mir eine scheuert, um dann beleidigt und mit herausgestreckter Brust aus meinem Zimmer zu verschwinden, kennt Bella nicht. Sie setzt sich zu mir, sieht mich an und wartet darauf, dass ich ihr mein Herz ausschütte. War schon immer so, selbst als wir noch zusammen waren. Im Grunde waren wir gute Freunde, die miteinander schliefen, und das ist doch wohl etwas anderes als Liebe, oder?

Auf einmal hält sie das Foto in der Hand. Das Foto. Jenes welches. „Ärger im Beste-Freunde-Land?“

Ich zucke mit den Schultern, denn eigentlich will ich nicht reden. „Weibliche Intuition?“

„Du hast dich daran geklammert, als würde dein Leben davon abhängen.“

Oder doch? Als würde ich von einer unsichtbaren Macht angetrieben, gebe ich jede Einzelheit der bisherigen Ereignisse von mir, erzähle ihr von meinen Gefühlen, schließlich von meinem Liebesgeständnis an Lucas. Alles, was sie erwidert, ist: „Na endlich!“

Diesmal bin ich selbst das Fragezeichen. Sehe bestimmt ziemlich dämlich aus, wie ich sie verständnislos anstiere. Was zum Henker meint sie damit nur? Will sie mir sagen, dass jeder sich mal in seinen/ihren besten Freund verliebt? Dass das eine Phase ist, ein Ritual, das man durchleben muss? So, jetzt hast du dich in deinen besten Freund/deine beste Freundin verliebt, akzeptiere, dass du ihn/sie nicht haben kannst und dann bist du bereit, dich richtig zu verlieben und eine erwachsene Beziehung zu führen?

„Was? Wieso na endlich?“

Sie steht auf und zieht sich nach und nach wieder an, während sie mir erklärt, was mir so nie bewusst war.

„Ist dir schon mal aufgefallen, wie mies du drauf bist, wenn du ein paar Tage lang nichts von Lucas gehört hast? Ach was, ein Tag reicht schon und du ziehst dich noch mehr zurück als sonst.“

„Bullshit!“, versuche ich mich zu verteidigen, doch mir fällt kein Beispiel ein, das ihren Punkt widerlegen könnte.

„Wirklich? Letzte Weihnachten: Lucas fährt zwei Tage vor Heiligabend mit Jesse und ihren Eltern nach Österreich, du verkriechst dich mit Kopfhörern auf den Ohren in dein Zimmer und schaust alle paar Minuten auf dein Handy. Entspannst dich erst, als er dir am nächsten Tag simst, wie cool Skifahren ist.“

„Ich hab mir Sorgen um ihn gemacht, um sie alle! Die Autobahnen waren verschneit, es hätte Gott weiß was passieren können!“

Sie lässt sich von meinem Einwurf nicht irritieren, fährt fort: „Abi-Ball. Karen war deine Begleitung, wie oft hast du mit ihr getanzt?“

„Ich habe mit ihr getanzt, einen Tanz immerhin! Die Schuhe waren neu, sie haben mich gekillt“, gebe ich mit einer abwehrenden Handbewegung zu bedenken.

„Ich musste minutenlang auf dich einreden, bis du sie endlich zu dem Tanz aufgefordert hast, und selbst auf der Tanzfläche hattest du nur Augen für Lucas. Dein Blick ist ihm quer durch den Ballsaal gefolgt.“

„Woher willst du das wissen? Du konntest deine Augen doch nicht von Kevin lassen, so verknallt wie du in ihn warst.“ Angriff ist die beste Verteidigung, richtig?

„Unsere Blicke haben sich mehr als nur einmal getroffen. Hast du ihr auch nur ein

Kompliment gemacht? Ich wette, nicht mal als du sie abgeholt hast. Und sie sah unglaublich aus in dem schwarzen Kleid.“

„Hab ich wohl, ich habe Manieren, weißt du?“ Doch langsam verstehe ich, worauf sie

hinaus will. Warum habe ich es nicht vorher gemerkt? Wieso erst jetzt? Ausgerechnet jetzt?

„Er hat dir ne Abfuhr erteilt, stimmt’s?“

Die Frage überrascht mich. „Ist das so offensichtlich?“

„Ein wenig nur. Aber... er ist nicht schwul.“

„Genauso wenig wie ich es bin. Ich meine...“

„Stimmt schon. Als wir zusammen waren, musste ich wenigstens keinen Orgasmus

vortäuschen, du wusstest, was du tatest.“

Ich kann mir ein spöttisches Grinsen nicht verkneifen. „Was? Mit Kevin...?“

Sie zuckt die Schulter, dann nickt sie. „Er ist so sehr auf sich selbst fixiert, dass es vorbei ist, sobald er... fertig ist. Was ziemlich schnell der Fall ist, das kannst du mir glauben! Dann dreht er sich weg, macht das Licht aus und pennt innerhalb von Sekunden ein. Dabei gibt er so komische schmatzende Laute von sich, wie ein zufriedenes kleines Baby. Total abartig, sag ich dir.“

Sie setzt sich wieder zu mir und legt ihren Kopf auf meine Schulter.

„Wieso bleibst du dann mit ihm zusammen?“

„Weil er ansonsten total süß ist. Jedes Wochenende steht er früh auf und macht Frühstück und wir frühstücken gemeinsam im Bett. Und wenn er ohne mich irgendwohin fährt, ruft er mich ständig an und bringt mir eine kleine Aufmerksamkeit mit. Und wenn er morgens zur Arbeit fährt, lässt er immer etwas auf dem Kissen liegen, ein Gedicht, einen Gedanken, eine Blume.“

Aus ihren großen Augen sieht sie mich verträumt an. „Kevin ist süß und lieb und eine treue Seele, er liest mir jeden Wunsch vom Gesicht ab, wir passen perfekt zusammen. Und so jemanden findet man nicht an jeder Ecke.“

„Perfekt?“

„Mhm. Bis auf die Sache mit dem Sex, die ist...“

„Unbefriedigend“, beende ich den Satz für sie.

„Irgendwie schon.“

Was natürlich ihren Auftritt von vorhin erklärt. „Also hast du dir gedacht, ich besuch mal meinen Ex und lass es mir endlich mal wieder richtig besorgen...“

In dem Moment, in dem mir klar wird, dass ich meine Gedanken laut ausgesprochen habe, würde ich mich am liebsten selbst ohrfeigen, aber das ist gar nicht nötig, Bella übernimmt das schon für mich. Im nächsten Augenblick tut es ihr bereits leid.

„Das hab ich verdient“, versichern wir einander unisono.

„Zugegeben, es war eine blöde Idee von mir. Denn eigentlich will ich nur nicht allein schlafen heute Nacht. Kevin ist übers Wochenende mit seinen Kumpels unterwegs und meine Eltern besuchen Oma Ruth“, erklärt sie. „Kann ich bei dir schlafen? Bei dir, nicht mit dir?“

Ein wenig merkwürdig wird das sicher sein, aber es ist ja nicht so, als hätten wir uns eben erst kennen gelernt. „Klar, ich teile sogar mein Bett mit dir.“ Vor Freude springt sie mir um den Hals und bedankt sich mit tausend Küssen auf jeder Wange. Mehr oder weniger.

Ihre Arme umklammern mich immer noch, als Emma nach einem kurzen Klopfen ins Zimmer kommt und uns mädchenhaft lächelnd ansieht. „Mom fragt, ob du mit zum Essen bleiben willst, Bella.“

„Sicher, ich bleibe“, antwortet sie, bevor sie meine Schwester bei der Hand nimmt und ihr in die Küche folgt. Wie in alten Zeiten, nur anders.

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