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Die Entschuldigung

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Alex Kampe war sich des flauen Gefühls in seinem Magen bewusst, das stärker wurde, je mehr er sich dem Haus näherte, in dem die Eltern seines besten Freundes wohnten. Das Gefühl, das Herr Marquard schon damals in ihm ausgelöst hatte, als er in der siebten Klasse das erste Mal Bas zu Hause besucht hatte, begleitete ihn auch heute wieder auf den letzten Metern zur Haustür des Einfamilienhauses.

Er hoffte inständig, dass Bas‘ Vater nicht zu Hause sein würde. Und die Chancen standen gut, denn es war früher Nachmittag, die Sonne schien wunderbar warm über der Stadt und Herr Marquard sollte zu dieser Tageszeit normalerweise in seinem, so stellte Alex es sich zumindest vor, dunklen, muffigen und mit Spinnweben überzogenen Büro im Keller eines mittelständischen Unternehmens sitzen, weil keiner seiner Kollegen ihn um sich haben wollte.

Das mit dem Büro war etwas übertrieben, das wusste Alex, weil Bas ihm mal erzählt hatte, das Büro seines Vaters biete einen tollen Ausblick auf die Südstadt, aber Alex‘ Vorstellung passte eher zu dem Mann, den er … Nein, er fürchtete Bas‘ Vater nicht, es war eher ein Gefühl des Nicht-würdig-seins, des Nicht-genügens. Herr Marquard gab ihm mit den wenigen Blicken und emotionslosen Begrüßungen, mit denen er Alex für gewöhnlich bedachte, stets das Gefühl, für Bas nicht gut genug zu sein.

Sein bester Freund hatte oft versucht, Alex zu erklären, dass sein Vater ihn keineswegs geringschätzte, dass er zu jedem so sei, er sei eben ein verschlossener Mann, der eine ganze Weile brauche, um mit jemandem warm zu werden. Doch mittlerweile waren Bas und er zwanzig Jahre alt und der alte Grummelbär, wie sein Freund seinen Vater gern nannte, hatte bis heute noch kein freundliches Wort mit ihm gewechselt.

Daher war das flaue Gefühl so stark wie noch nie, als er schließlich auf den messingfarbenen Klingelknopf drückte und das Unhoffbare hoffte: dass Bas selbst oder vielleicht Frau Marquard die Tür öffnen würde, denn Bas‘ Mutter liebte Alex fast wie seine eigene.

Alex wartete, während die Sekunden vergingen und sich allmählich dem Ende der ersten Minute näherten, ohne dass jemand Anstalten machte, ihm zu öffnen. Er sah auf die Uhr, um sich zu vergewissern, dass er nicht zu früh aufgetaucht war, doch das war er nicht. Er klingelte ein weiteres Mal, länger diesmal, und hatte den Finger immer noch auf dem Klingelknopf liegen, als die Tür schließlich geöffnet wurde – von einem unverschämt gutaussehenden Mann.

Diese Möglichkeit, musste sich Alex eingestehen, hatte er nicht vorhergesehen, obwohl sie auf der Hand lag. Vorausgesetzt, seine erste Vermutung erwies sich als richtig, denn er brauchte eine Weile, bis er sein Gegenüber wiedererkannte, hatte dieser doch nichts mehr mit dem Vierzehnjährigen gemein, den er vor vier Jahren noch zu seinen Freunden gezählt hatte. Auch nicht mit dem schlaksigen Jungen, der ihnen zwei Jahre später bei Bas‘ Auszug helfen wollte und auf dem Weg zum Auto immer wieder über die eigenen Füße gestolpert war und dabei mehrfach den Kartoninhalt auf die Straße gekippt hatte.

Nein, vor ihm stand ein Mann, ein junger Mann, der seine kastanienbraunen Haare mittlerweile gezähmt hatte. Sein Gesicht hatte die kindlichen Rundungen verloren und verbarg sich zum Teil unter einem gepflegten Dreitagebart. Und die blaugrünen Augen – ja, daran erkannte er ihn nun endgültig – jene Augen, hinter denen früher jeden Tag ein neuer Streich hervorgesprungen war, zeugten nun von einer inneren Ruhe und einem Selbstbewusstsein, die Alex dem Jungen nie zugetraut hätte.

Er selbst war beschämt, bestürzt und verwirrt zugleich über die Tatsache, dass er keine Sekunde lang damit gerechnet hatte, von ihm die Tür geöffnet zu bekommen. Und dass er ihn hatte vergessen können, das war Alex absolut unverständlich, zumal der Junge, der Mann, im Gegensatz zu seinem Bruder, immer noch zu Hause wohnte.

„Nico!“, sagte Alex überrascht und bemühte sich, das Ausrufezeichen in seiner Stimme zu verbergen. „Hi. Lange nicht gesehen.“

„Wow!“, erwiderte der Jüngere mit vor Sarkasmus triefender Stimme. „Wir sehen uns nach zwei Jahren wieder und das ist alles, was dir einfällt?“ Nico schüttelte den Kopf und sah ihn eine Weile mit steinernem Blick an. Doch dann wurden seine Gesichtszüge weicher und er grinste. „Ich mach nur Spaß. Lass die Klingel los, bevor ich taub werde, und komm rein.“

Erst jetzt fiel Alex auf, dass sein Finger noch immer auf die Klingel drückte, und er zog die Hand hastig herunter, doch Nicos zweiter Aufforderung folgte er nicht sofort – er zögerte, bis der Jüngere sich zu ihm drehte und ihn fragend ansah. Als dann die Erleuchtung kam, sagte dieser schmunzelnd: „Paps ist nicht zu Hause, du kannst ganz beruhigt sein.“

Als wäre eine schwere Last von seinen Schultern genommen worden, spürte Alex regelrecht, wie die Anspannung aus ihm wich. Wortlos folgte er Bas‘ Bruder durchs Wohnzimmer, das noch immer so aussah, wie das letzte Mal, als er hier gewesen war, und mehr einer Bibliothek als einem Wohnzimmer ähnelte, in die Küche, die wie stets so blitzeblank poliert war, dass das hereinscheinende Sonnenlicht sich in den glatten Flächen spiegelte und den Anschein erweckte, der ganze Raum würde von selbst leuchten.

„Was zu trinken?“, fragte Nico ihn und Alex nickte, ohne seine Augen von Nicos Gesicht zu nehmen. „Bas ist noch nicht angekommen“, fuhr der Jüngere fort und reichte ihm ein Glas Wasser. „Er hat vorhin angerufen, er steckt im Stau fest. Eine halbe Stunde braucht er bestimmt noch, meint er.“

„Oh“, war alles, wozu Alex im Stande war zu erwidern.

„Ich wollte mir gerade ein Sandwich machen, möchtest du auch eins?“

Alex schüttelte sich, als sei er aus einer Trance erwacht, und nickte dann. „Soll ich dir helfen?“, erkundigte er sich und öffnete den Kühlschrank. „Butter oder Margarine?“

„Butter, die irische“, entgegnete Nico, der in der Zwischenzeit vier Scheiben Brot abschnitt. „Salami oder Schinken, kannst du dir aussuchen. Käse ist keiner da, magst du sowieso nicht. Salatblätter, Tomate und Gurke sind schon gewaschen. Die Zwiebel auch. Müssen nur noch geschnitten werden.“

Alex suchte zwei Messer heraus, reichte eines davon Nico und machte sich daran, das Gemüse in Scheiben zu schneiden, während der Bruder seines Freundes die Brote beschmierte und mit reichlich Salamistreifen belegte. Dass sich dabei ihre Arme und Hände immer wieder berührten, störte Alex nicht, ganz im Gegenteil. Er genoss den körperlichen Kontakt, die menschliche Wärme, die Nähe eines Mannes. Diese schlichte Arbeit zu zweit, diese Zweisamkeit, diese Nicht-Einsamkeit – er war dankbar für jede Sekunde davon und weigerte sich, daran zu denken, dass sie bald vorbei sein würde.

Sie blieben in der Küche, setzten sich an den Tisch, einander gegenüber, jeder mit seinem Teller und seinem Glas vor sich. Alex wollte etwas sagen, irgendwas, weil er die Stille nicht mochte, doch er wusste nicht was. Worüber sollte er mit Nico sprechen? Wer war Nico überhaupt? Wer waren sie beide? Und vor allem was?

Sein Verstand sagte ihm, dass vor ihm sein alter Freund saß, der nun etwas anders aussah und sich auch anders benahm. Seltsam, als wäre zwischen ihnen alles in Ordnung. Als hätte er Alex nicht verletzt.

Alex‘ Herz flehte ihn an, dem Jüngeren zu vergeben, Frieden zu schließen und zuzulassen, dass die Vergangenheit vergangen blieb, so wie es Nico offenbar tat. Hatte er denn alles vergessen?

Dann war da noch sein Unterleib, der sprach eine ganz andere Sprache. Doch daran durfte Alex nicht denken, das hatte Bas ihm früh genug eingebläut.

„Du hast dich verändert“, hörte Alex mit einem Mal seine eigene Stimme.

„Das will ich doch hoffen“, lachte Nico zwischen zwei Bissen. „Wäre schon bitter, wenn ich immer noch wie ein Milchbubi aussehen würde.“

„Du siehst toll aus“, versicherte Alex ihm. „Und der Bart steht dir."

„Danke. Du aber auch. Das macht die Liebe. Wie lang bist du jetzt schon mit Jonas zusammen?“

„Gewesen“, antwortete Alex und verfluchte die Verbitterung, die in seiner Stimme lag.

„Gewesen? Das tut mir leid“, erwiderte Nico mit hochgezogenen Augenbrauen, als er aufstand und sein Geschirr ins Spülbecken legte. „Was ist passiert?“

„Das Leben. Wir haben uns irgendwie entfremdet, auseinandergelebt. Haben immer seltener was zusammen gemacht, uns ständig gestritten. Vor ein paar Monaten habe ich es dann beendet, es hatte keinen Sinn mehr.“

Alex räumte sein Geschirr ab und stellte sich zu Nico.

„Noch vor einem halben Jahr hätte ich dich gefragt, wie das sein kann“, gab der Jüngere zu. „Wie zwei Menschen, die sich lieben, auseinander driften können. Liebe schweißt alles zusammen, hab ich immer gedacht. Aber wenn es passiert, dann kann man es nicht aufhalten, so sehr man sich auch dagegen wehrt. Irgendwann muss man schließlich einsehen, dass es nicht mehr klappt. Vermisst du ihn?“

Alex schüttelte langsam den Kopf. „Klingt jetzt vielleicht kaltherzig, aber nein. Ich vermisse ihn nicht. Ich vermisse aber das, was wir hatten, bevor wir es nicht mehr hatten. Das Gemeinsame, das Zusammensein, das vermisse ich. Die Zweisamkeit. Und du?“

Nico sah ihn verwundert an. „Wie kommst du darauf, dass ich jemanden vermissen könnte?“

„Wenn man glücklich ist, verliebt, dann klingt das ganz anders“, erklärte Alex.

Nico lächelte. „Wir sind immer noch gute Freunde. Wir haben uns getrennt, weil sie mich dazu gebracht hat, etwas zu erkennen, was sie schon eine Weile gewusst hatte. So sehr ich mich bemüht habe, Anja zu lieben – ich wollte es, ich wollte sie über alles lieben, aber ich konnte es nicht. Letzten Endes kapierte ich, dass meine Gefühle für sie eine Pseudo-Liebe waren. Dass ich sie nur geliebt habe, weil ich meine große, echte Liebe nicht haben konnte. Aber das hat lange gedauert – wer will sich so etwas schon eingestehen?“

Einen Moment lang durchzog Alex ein Gefühl der Überraschung darüber, wie normal dieses Gespräch war, und er lächelte, weil ihn das jetzt und hier, mit Nico, glücklich machte – so unkompliziert es auch war, womöglich auch gerade deswegen. Er wischte den Gedanken beiseite und gab sich dieser Normalität hin.

„Weiß sie, was du für sie fühlst? Hast du es ihr mal gesagt?“

Nico verstand offenbar sofort, dass er nicht von der Ex sprach. „Sie hat keinen blassen Schimmer. Diese … Person weiß nicht einmal richtig, dass ich noch existiere, für sie bin ich gestorben.“

Alex konnte nicht umhin, als sich zu fragen, was Bas‘ Bruder getan haben mochte, dass die Frau, die er so sehr liebte, ihn hasste, doch er sprach die Frage nicht aus. Wenn Nico sich ihm anvertrauen wollte, dann würde er das von sich aus tun, Alex wollte ihn nicht drängen.

„Du solltest es ihr sagen“, meinte er dennoch. „Vielleicht wird sie dir verzeihen. Und wenn nicht, dann hast du so etwas wie einen Abschluss, kannst einen Schlussstrich ziehen und endlich bereit sein für eine neue Beziehung. Du kannst dabei nur gewinnen. Das, was du jetzt hast, dieser Schwebezustand, führt lediglich dazu, dass du vereinsamst.“

„Du hast Recht“, erwiderte Nico und biss sich auf die Unterlippe. „Ich muss es ihr sagen. Danke, Alex. Ich habe das echt vermisst, unsere Gespräche.“

Es dauerte einige Sekunden, bis die Erinnerung zurückkam. Sie hatten sich früher tatsächlich miteinander unterhalten, als Freunde. Sich einander anvertraut, zusammen gelacht. Bevor sich alles änderte.

„Danke, Mann“, wiederholte Nico und legte ihm die Hand auf die Schulter. Eine Geste, die unter Freunden so gewöhnlich, doch inzwischen so ungewohnt geworden war, dass sie wie ein Pfeil durch seinen Körper jagte und ihn mitten ins Herz traf.

„Dazu sind Freunde da“, antwortete Alex mit unsicherer Stimme, während er ein paar Schritte von Nico wegtrat und sich selbst schalt. Er durfte es nicht zulassen, es durfte nicht passieren – er durfte sich unter keinen Umständen verlieben. Nicht in Bas‘ kleinen Bruder.

„Hör mal, Nico, ich warte draußen auf Bas. Ich muss … eine rauchen.“ Er rang sich ein gequältes Lächeln ab und versuchte dem scheinbar immer enger werdenden Raum zu entfliehen, doch seine Füße gehorchten ihm nicht.

Er hörte Nico lachen und drehte sich zu ihm um. „Du rauchst nicht“, stellte dieser belustigt fest. „Bleib bitte, lass mich hier nicht allein stehen. Ich muss dir was sagen.“

Alex lehnte sich an die gegenüberliegende Wand, um möglichst viel Abstand zwischen sich und Nico zu bringen, atmete tief durch und wartete.

„Ich fand es total bescheuert“, begann der Jüngere mit einer leisen, sachlichen Stimme, die im Laufe der nächsten Sätze jedoch immer erregter wurde. „Finde es immer noch. Nicht, dass du es getan hast, sondern dass du es tun musstest. Diese Erklärung, dieser Zwang, sich öffentlich zu bekennen. Homo oder hetero. Oder bi oder überhaupt irgendwas. Wieso kann man nicht einfach jemanden lieben, ohne dass das gesellschaftlich relevant wird? Es sollte doch nur zählen, dass man liebt, sich überhaupt traut, sich einem Menschen so weit zu öffnen, dass man ihn lieben kann.“

Er hatte es also nicht vergessen, stelle Alex erleichtert fest und wollte ihm antworten, dass viele, wenn auch bei weitem nicht alle, sich nun mal für ein bestimmtes Geschlecht interessierten, sich entweder zu Frauen oder zu Männern hingezogen fühlten, aber er hatte das Gefühl, dass solche Worte eher kontraproduktiv sein und Nico noch mehr auf die Palme bringen könnten.

„Du solltest nicht gezwungen sein, dich vor irgendjemanden hinzustellen und zu sagen, dass du nicht auf Mädchen stehst“, fuhr Nico fort. „Du solltest nicht blöd angeguckt werden, nur weil du einen anderen Jungen küsst oder auch nur seine Hand hältst. Du solltest nicht gemieden werden, weil deine Liebe außerhalb des Rahmens der gesellschaftlichen Norm ist. Norm, normal – diese Wörter sollten ausradiert werden, sie tun so vielen Menschen weh.“

Nico atmete tief ein und aus, sah dann Alex an und schniefte, machte sich aber nicht die Mühe, die Träne wegzuwischen, die aus seinem linken Auge langsam die Wange hinabkullerte. „Ich schätze, was ich versuche zu sagen, ist, dass es mir leid tut, dass ich dich nach deinem Coming-out gemieden und so getan habe, als würde ich dich nicht kennen, weil meine sogenannten Freunde das von mir erwarteten. Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen und alles richtig machen.“

Alex erlaubte sich ein aufflackerndes Lächeln, obwohl ihm gar nicht danach war. Er wollte Nico danken und ihm sagen, dass er ihm verzieh, dass sie ihre Freundschaft erneuern sollten. Doch er befürchtete, dass etwas gänzlich anderes seinen Mund verlassen könnte, ein Geständnis, das seine Freundschaft zu Bas aufs Spiel setzen könnte. Denn er wollte mehr. Er stellte sich vor, wie er den Abstand zwischen sich und Nico minimierte und ihm die Träne aus dem Gesicht wischte. Wie er ihn umarmte und vielleicht, ein klein wenig, küsste.

Er schlug seinen Hinterkopf gegen die Wand hinter sich und spürte dankbar einen stechenden Schmerz, auf den er sich konzentrieren konnte, der ihn ablenkte von seinem Verlangen. Er schloss die Augen, um nicht wieder von Nicos angezogen zu werden, als er schließlich antwortete: „Du warst fünfzehn, Nico. Hattest gerade rausgefunden, dass Freunde einem genauso viel wie die Familie bedeuten können. Dass man sich ihnen anvertrauen kann und sie sogar die Dinge verstehen, die bei den eigenen Eltern auf taube Ohren stoßen. Alles völlig …“

„Sag jetzt nicht normal“, warnte ihn Nico.

„Okay, mach ich nicht. Aber ich bin froh, dass wir wieder miteinander reden, Kleiner.“

„Geht mir auch so“, sagte der Jüngere.

Und dann passierte es. Alex bemerkte es zu spät, um auszuweichen, und als es dann so weit war, wollte er es nicht mehr. Nicos Arme drückten ihn so fest an sich, dass er kaum noch Luft bekam, doch die Umarmung stillte eine Sehnsucht, die – das wurde Alex allmählich klar – weitaus länger in ihm geschlummert hatte, als er es sich eingestehen wollte. Seine eigenen Arme legten sich um Nico und er ließ seinen Kopf auf Nicos Schulter sinken. Er wollte ihn nie wieder loslassen.

Doch er tat es. Er ließ Nico los, drückte ihn sanft von sich und schaute zu Boden.

„Ich muss jetzt gehen“, murmelte Alex, ohne den Blick zu heben.

„Okay“, kam die Antwort, die ein Teil von ihm nicht hören wollte. Der Teil, der zu hoffen gewagt hatte, Nico würde ihn aufhalten. Und seine Gefühle erwidern. Der Teil von ihm, der langsam verrückt wurde vor Sehnsucht, der das Alleinsein satt hatte und der dabei war, sich unsterblich zu verlieben.

Er musste hier weg, stellte er für sich fest. Irgendwohin gehen und allein sein, um darüber nachzudenken, was er wollte. Er musste herausfinden, was ihm mehr bedeutete: seine Freundschaft zu Bas oder seine aufkeimenden Gefühle für dessen Bruder.

Er spürte, dass etwas fehlte. Wie ein Puzzle, bei dem das letzte Stück unauffindbar war. Was hatte er übersehen?

„Sag Bas, ich ruf ihn später an“, sagte er im Hinausgehen. „Die Getränke für die Party heute Abend kann er auch allein besorgen.“

„Okay“, antwortete Nico einsilbig und Alex glaubte, etwas aus seiner Stimme herauszuhören, das wie Enttäuschung klang. Aber das bildete er sich sicher nur ein.

Er winkte Nico kurz zu, rang sich ein halbherziges Lächeln ab und winkte noch einmal, als er den Schlüssel in die Fahrertür seines Wagens steckte und ihn umdrehte. Er sah ein letztes Mal zu Nico hinüber, öffnete die Tür, stieg ein und fuhr rückwärts aus der Auffahrt.

Er fuhr nicht nach Hause, denn er wohnte noch bei seinen Eltern, so lange, bis er mit seiner Ausbildung fertig sein würde. Seine Mutter wäre zu Hause und würde ihm mit ihrer überfürsorglichen Natur sofort ansehen, dass etwas nicht stimmte, dass ihn etwas beschäftigte. Und sie würde ihm Löcher in den Bauch fragen, bis er schließlich nachgab und ihr alles erzählte, doch über Nico wollte er nicht mit ihr reden. Er musste sich allein klar werden, wen er wollte, Bas oder Nico. Beide konnte er nicht haben, zumindest nicht, wenn Nico und er ein Paar werden sollten.

Ein Paar – dazu gehörten immer zwei: er und … Alex war sich ziemlich sicher, dass er wusste, was er für Nico empfand, doch er hatte keine Ahnung, ob Nico seine Gefühle erwiderte. Er war ja in diese Frau verliebt, derentwegen er sich von seiner Freundin getrennt hatte.

Das war es, was ihn vorhin irritiert hatte, das fehlende Puzzleteil. Bevor er irgendwas entscheiden konnte, musste er zunächst einmal herausfinden, ob Nico überhaupt an ihm interessiert war und Alex die Chance geben wollte, ihm dabei zu helfen, seine unerfüllte erste Liebe zu vergessen.

Ohne auf die hupenden und fluchenden Fahrer hinter sich zu achten, vollführte er einen U-Turn über drei Fahrbahnspuren hinweg und legte sich bereits seine Worte zurecht, während er zum Marquardschen Haus zurückfuhr.

Er hörte weder den Kies unter seinen Schuhen noch die Klingel, die er drückte, sobald er die Haustür erneut erreichte, so laut hämmerte sein Herz in seiner Brust. Und dann blieb es stehen. Ganz plötzlich hörte es auf zu schlagen, als die Tür aufging und Bas vor ihm stand. Bas, sein bester Freund, mit dem er sich erst hatte auseinandersetzen wollen, wenn – falls – Nico seine Gefühle erwiderte.

Ein zaghaftes, gequältes Lächeln breitete sich auf Alex‘ Gesicht aus. „Bas! Mann! Gut, dich zu sehen.“

Sein Freund lächelte nicht zurück, sondern drückte ihn vor sich hin, trat aus der Tür hinaus und schloss sie hinter sich.

„Was hast du mit Nico gemacht, Alex?“, fragte Bas anstelle einer Begrüßung.

Alex hob die Arme abwehrend hoch. „Nichts.“

„Eben.“

„Was? Ich habe ihm nichts getan. Wir haben geredet, wir haben uns versöhnt. Was ist schlimm daran?“, fragte Alex verwirrt.

„Nichts. Im Gegenteil, es ist toll“, stimmte Bas ihm zu.

„Eben. Aber bevor wir diese äußerst interessante und wirre Unterhaltung weiterführen, muss ich dich um einen Gefallen bitten.“

„Schieß los.“

„Entbinde mich von dem Versprechen“, bat Alex. „Es macht keinen Sinn mehr. Es ist total bescheuert.“

„Welches Versprechen? Wovon redest du?“

„Von dem Versprechen, das ich dir an dem Tag gegeben habe, an dem ich mich bei dir geoutet habe.“

„Keine Ahnung, was du meinst, aber ja, klar“, willigte sein Freund ein. „Du weißt, dass ich dir tausendmal mehr schulde als du mir.“

„Nein, nein. So geht das nicht. Du musst dich doch erinnern. Das eine Versprechen, das einzige, das ich dir jemals gegeben habe.“

Wieder sah Bas ihn verständnislos an. „Alex, keine gute Zeit für Rätsel. Mein Bruder läuft da drin die Wände hoch.“

„Genau, dein Bruder. Ich musste dir versprechen, die Finger von ihm zu lassen. Damals war das logisch, ich war fünfzehn, er dreizehn, da war er für mich wie ein Bruder. Aber heute …“

„Warte mal“, unterbrach Bas seinen Redefluss. „Du hältst dich immer noch an ein Versprechen, das du mir mit fünfzehn gegeben hast?“ Alex nickte unmerklich. „Du, mein Freund“, fuhr Bas fort, „bist ein Idiot. Und der zweite ist da drin. Du stehst auf ihn, er auf dich, aber keiner traut sich, etwas zu sagen! Geh rein, rede mit ihm.“

Er schloss die Tür hinter sich auf und bedeutete Alex, hineinzugehen, hielt ihn jedoch am Arm fest, noch bevor er über die Türschwelle treten konnte. „Nur damit es nicht wieder zu Missverständnissen kommt: Du bist hiermit von deinem Versprechen entbunden. Mein Bruder ist schon lange alt genug, um für sich selbst zu entscheiden. Und ganz nebenbei: Dass du mir damals das Versprechen gegeben hast, war noch dämlicher als die Tatsache, dass ich es dir abverlangt habe. Als ob du je imstande wärst, Nico wehzutun!“

Dieses Mal war Alex‘ breites Lächeln echt, voller Dankbarkeit und Freude, aber auch ein wenig Stolz, als er Bas zunickte.

„Gib mir etwas Zeit, mit Nico zu reden, dann können wir die Getränke für die Party heute Abend holen gehen“, bat er seinen Freund, der sein Gesicht verzog und seltsam wegsah. Was das zu bedeuten hatte, fand Alex in den nächsten Minuten heraus, in denen er seinen besten Freund von einer neuen Seite kennenlernte. Der einstige Partylöwe war offenbar zahm geworden, zumindest so weit, dass er die obligatorische Party, mit der er den ersten Tag der Semesterferien feierte, gegen einen gemeinsamen Abend mit seiner Freundin einzutauschen gedachte.

„Wir haben uns seit mehr als anderthalb Monaten nicht mehr gesehen, sie fehlt mir. Und das ist übrigens deine Schuld, deinetwegen werde ich noch zum Softie“, grinste Bas Alex frech an, bevor er ihm gestand, dass die angebliche Party eine kleine Notlüge gewesen war, um Nico und ihn endlich dazu zu bringen, sich zu versöhnen und herauszufinden, ob sie das Gleiche füreinander empfanden.

„Wie lange weißt du’s schon?“, fragte Alex, als Bas geendet hatte.

„Ein paar Wochen. Seit sie sich getrennt haben.“

„Und du hast es mir nicht gesagt, weil …“

„Weil ich nicht wusste, ob du auch was für Nico empfindest“, gestand Bas ihm. „Ich hatte ja ganz vergessen, dass ich dir verboten hatte, überhaupt etwas anderes als Freundschaft für ihn zu empfinden. Und außerdem hat er mich gebeten, dir nichts zu sagen, weil er eine Heidenangst davor hatte, du könntest ihn immer noch hassen.“

„Ihn hassen … Vorhin hat er gesagt, sie, die Person, also ich, ich meine, er sagte, er sei für mich gestorben.“

Bas schmunzelte, was Alex sichtlich verwirrte, da er nicht verstand, was daran witzig sein sollte. „Er hat dich echt gern, der Kleine“, erklärte Bas, „aber für dich zu sterben – soweit würde er hoffentlich nicht gehen.“

„Nein, das war anders gemeint. Ach, vergiss es, ich muss zu ihm“, sagte Alex und ließ seinen besten Freund allein, um Nico zu suchen. Vor der offenen, deckenhohen Glastür, die auf die Terrasse führte, blieb er schließlich stehen und starrte eine Weile Nicos Rücken an.

Bas‘ Bruder saß auf der mittleren der drei blassroten Stufen, die von der Terrasse in den Garten führten. Sein linkes Bein war angewinkelt, sein T-Shirt flatterte leicht im warmen Sommerwind, seine Handballen lagen auf den Stufenrändern, während seine Finger sich bewegten, als würden sie konzentriert ein einstudiertes Klavierstück zum Besten geben. Es war Ewigkeiten her, dass er eines der Mini-Konzerte genossen hatte, mit denen Nico an Feiertagen immer die Familie und die Gäste erfreute.

Alex setzte sich neben ihn, stützte seine Unterarme auf die Oberschenkel und folgte dem Blick des Jüngeren auf einen Punkt irgendwo am Horizont.

„Spielst du noch?“, fragte er und nahm aus dem Augenwinkel Nicos stummes Kopfschütteln wahr. Daraufhin sprach einige Minuten lang keiner von ihnen. Die Leichtigkeit in ihrem Umgang miteinander, die Alex noch vor einer Stunde zu spüren geglaubt hatte, war nun einer Unsicherheit gewichen, der Furcht davor, etwas Falsches zu sagen, das die aufblühenden Gefühle ersticken konnte, noch bevor sie die Chance gehabt hatten, sich richtig zu entfalten.

„Ich hab damit aufgehört“, kam es endlich von Nico, „weil es mich an dich erinnert und wütend gemacht hat.“

„Wütend?“, fragte Alex verständnislos. „Wie kann Musik denn …?“

„Weil ich dich gehasst hab“, wurde er unterbrochen. „Erinnerst du dich an den allerersten Tag, als du zu uns gekommen bist?“

Und wie er das tat. Bas und er waren gleich nach der Schule hierher gefahren und hatten ihre Räder ins knöchelhohe Gras geworfen, als sie Nico mit blut- und tränenverschmiertem Gesicht sowie blutigen Unterarmen vor der Haustür warten sahen.

„‚Hallo, ich bin Alex‘, hast du gesagt und mich auf einen Stuhl im Flur gesetzt und Bas, der vor Schock völlig erstarrt war, Befehle zugerufen. Und während ich zwischen Schmerzensschreien erzählte, was ich Dämliches getan hatte, hast du ganz ruhig mein Gesicht und meine Arme gereinigt und die Wunden desinfiziert und am Ende gesagt, wie tapfer ich war. Und in dem Moment hab ich mich genauso gefühlt, als wäre ich der tapferste Junge auf Erden. Weil ich dir geglaubt hab. Vertraut. Du hast mich nicht ausgeschimpft, nicht ausgelacht, dich nicht über mich lustig gemacht. Du hast mir nur gesagt, dass ich tapfer bin, und, obwohl ich Jahre gebraucht habe, es zu erkennen, zu verstehen, war das der Augenblick, als ich anfing, dich zu lieben.

Das war der Grund für das Klavierspielen und die Streiche, die ich mir ausdachte. Alles nur, um deine Aufmerksamkeit zu bekommen. Und du hast sie mir gegeben. Es war so leicht, ich gab mich mit einem Blick oder einem Lächeln in meine Richtung zufrieden. Mehr wollte ich gar nicht.

Glaubte ich zumindest bis zu deinem Coming-out. Da standest du im Pausenhof Hand in Hand mit diesem Clown von einem Typen, mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht, unwissend, dass er dich drei Wochen später in die Wüste schicken würde. Aber da war es schon zu spät, da hatte sich meine Eifersucht schon so tief in mein Bewusstsein gebohrt, dass ich dich nicht mehr sehen wollte. So passte es mir ganz gut in den Kram, dass einige meiner damaligen Freunde ihre Homophobie lautstark zum Ausdruck brachten, und ich ließ mich von ihnen mitreißen.“

Alex wusste nicht, was er von diesem Geständnis halten sollte. Falls Nico ihm damit seine Liebe gestehen wollte, dann war der Schuss gehörig nach hinten losgegangen. Zu sagen, dass er schockiert war, wäre übertrieben, aber …

Vielleicht ein wenig schockiert.

Vielleicht aber auch etwas mehr.

Er wusste nicht, was er fühlte. Oder fühlen sollte. Er stand auf und entfernte sich ein paar Schritte von Nico, kehrte ihm den Rücken zu. Er überlegte kurz, seinen besten Freund anzurufen, verwarf die Idee aber schnell wieder, da er Bas nicht in die Situation bringen wollte, sich für einen von ihnen entscheiden zu müssen.

„Hast du deswegen geglaubt, ich würde dich hassen?“, fragte er in die leichte Brise hinein, die ihm eine Gänsehaut verpasste. „Du hast doch mich damit gemeint, als du sagtest, du würdest für … die Liebe deines Lebens nicht mehr existieren, oder?“, fragte er.

„Wen sonst?“, antwortete Nico und sah zu ihm hoch, bevor er aufstand und sich vor ihn stellte – so, dass Alex seinem Blick nicht mehr ausweichen konnte.

„Wieso jetzt? Ich bin hergekommen, um dich um ein Date zu bitten, und du, du erzählst mir, dass du mich gehasst hast.“

„Eben deshalb“, erwiderte der Jüngere. „Welchen Sinn hat es, miteinander auszugehen, wenn du mir nicht vergeben kannst? Und wenn wir schon bei Geständnissen sind: Ich schnarche und manchmal sabbere ich auch im Schlaf.“

Beim letzten Satz konnte Alex nicht anders als loszuprusten. „Weiß ich doch. Oder hast du vergessen, wer dich immer wecken musste, wenn ich bei euch übernachtet habe, weil du genauso ein Langschläfer bist wie dein Bruder?“

Alex spürte, wie Nicos Arm seinen streifte, doch dieses Mal gab er sich mit der viel zu kurzen Berührung nicht zufrieden, sondern suchte mit der Hand die seines alten Freundes und nahm sie in seine.

„Ich mag dich, Nico. Sehr sogar. Und es war die Hölle, dass du dich damals von mir abgewandt hast, weil du für mich der kleine Bruder warst, den ich nie hatte. Aber die Auszeit hat mich verändert, meine Gefühle für dich sind jetzt anders als noch vor drei Jahren – das habe ich heute begriffen. Neben dir in der Küche zu stehen, das war ein großartiges Gefühl. Jetzt deine Hand zu halten, fühlt sich toll an.“

„Aber …“, schien Nico seine Gedanken zu lesen.

„Du hast mich auf ein so hohes Podest gestellt, dass ich nur runterfallen kann. Und dich enttäuschen.“

„Dann werde ich da sein und dich auffangen“, versprach Nico. „Kitsch beiseite. Du stehst deswegen so weit oben, weil ich dich nicht jetzt erst kennen lerne, sondern schon ewig kenne. Ich weiß, dass es nicht nach Rosen duftet, wenn du einen fahren lässt, aber auch, dass man sich auf dich verlassen kann – sogar dann, wenn es um Versprechen geht, die so dumm und alt sind, dass man sie selbst vergessen hat.“

„Du hast gelauscht“, schlussfolgerte Alex, worauf Nico mit einer gespielten Unschuldsmiene reagierte.

„Ich weiß, wie du bist und wer du bist“, fuhr der Jüngere fort. „Und mittlerweile habe ich auch herausgefunden, wer ich selbst bin. Ich werde dich diesmal nicht wieder kampflos aufgeben, auch wenn es bedeutet, dich selbst zu bekämpfen, die Ängste und Vorbehalte, die du, weshalb auch immer, haben magst.“

„Ich habe keine andere Wahl, als Ja zu sagen“, stellte Alex fest und strich mit der freien Hand über Nicos Wange. „Ich will auch gar nicht Nein sagen“, fügte er hinzu, während sein Gesicht sich Nicos Gesicht näherte und zwei Augenpaare beschlossen, so schnell nicht wieder voneinander loszulassen.

„Dann also heute Abend“, flüsterte Nico. „Was wollen wir machen, wo wollen wir hin zu unserem ersten Date?“

„Lass dich überraschen“, kam die ebenso leise Antwort, bevor endlich die letzten Zentimeter überwunden wurden und ihre Lippen zueinander fanden, ihre Augenlider sich schlossen und sie sich dem hingaben, worauf sie beide sehnsüchtig gehofft hatten.

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