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Blind Date

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Das war mal wieder typisch für Noah. Fünf vor zwölf steckte er in einem Aufzug fest, jenem Aufzug, der ihn zur angesagtesten Silvester-Party überhaupt hatte bringen sollen – und zu ihr, der angeblichen Frau seiner Träume. Eigentlich hatte er den Jahreswechsel zusammen mit mehreren Flaschen Sekt in seinem Appartement verschlafen wollen oder Trübsal blasen, was aufs Gleiche hinauslief. Das letzte Jahr war für ihn alles andere als prächtig verlaufen, also gab es nichts zu feiern, nicht einmal das neue Jahr.

Doch irgendwie hatte ihn sein bester Freund Nicholas wieder auf den Teppich geholt, was für ihn inzwischen wohl zur Gewohnheit geworden sein musste, und Noah dazu überredet, 2016 in Begleitung einer schönen Unbekannten zu begrüßen. „Nicht nur irgendeine schöne Frau, Noah. Sie ist der Traum aller Männer. Sie sieht gut aus, ist intelligent und hat auch noch unheimlich viel Kohle. Die Sorte von Frau, die jedem Mann zusteht.“

Zugegeben, Nick hatte eine seltsame Vorstellung von der Welt, aber er war der beste Freund, den man sich wünschen konnte. Die beiden kannten einander in- und auswendig, vertrauten dem anderen blind und interessierten sich für verschiedene Geschlechter, so konnten sie sich nicht in die Quere kommen, wenn es um die Liebe ging.

Noah schaute nervös auf die Uhr, noch drei Minuten waren es bis Mitternacht. Die Frau, die den Fahrstuhl mit ihm teilte, schien nicht minder aufgeregt zu sein. Schweißperlen liefen ihr übers Gesicht, sie ging in der winzigen Kabine hin und her und schlug ständig auf den Notrufknopf, den natürlich keiner beachtete, schließlich bereitete sich jeder darauf vor, dass die Uhr endlich Punkt zwölf schlug und dachte nicht einmal im Entferntesten daran, dass jemand Hilfe brauchen könnte.

Er sah sich die Unbekannte etwas genauer an. Sie war in etwa so groß wie er, ein paar Zentimeter kleiner vielleicht, mit rotbraunen Haaren, so kurzgeschnitten und wild gegelt, dass sie so gar nicht zu ihrem schwarz-glitzernden Abendkleid zu passen schienen. Doch genau dieser Gegensatz machte Noah an, weil es ihm zeigte, dass sie genau wusste, was sie wollte.

Er ließ seinen Blick weiterziehen, zu den Augen. Dunkle Augen, so schwarz wie die Nacht, blitzten ihm entgegen; kein böses Blitzen, sondern ein energisches, lebensfrohes, das einen dazu einlud, tief in den Augen zu versinken und die sich ausbreitende Unendlichkeit zu erforschen. Die Nase, klein und leicht zugespitzt, wurde von niedlichen Sommersprossen verziert, eine schöner als die andere. Die Lippen, sinnlich und verführerisch, wollte er am liebsten mit den seinen vereinen, aber dazu war er zu feige – er war nicht so ein Draufgänger wie Nicholas. Die Schultern konnte man nur konturenartig ausmachen unter dem schneeweißen Schal, der darüber geschwungen war. Schmal waren sie, wie Belles Taille. So taufte er sie: Belle. Sie war die Schöne, er das Biest, wenn auch nur deswegen, weil er sich nicht traute sie anzusprechen.

Lautes Knallen zerriss die peinliche Stille und sie schauten beide auf die Uhr. Mitternacht. Es war soweit. Und vorbei. Sie hatten beide den Jahreswechsel verpasst. Ein super Jahresanfang!

„Frohes neues Jahr!“, sagte Belle plötzlich mit einer Stimme, die trotz der unmöglichen Situation süßer als Honig klang.

„Frohes Neues“, erwiderte Noah zittrig und spürte einen eisigen Schauer seinen Rücken hinunterlaufen. Er war verliebt, unsterblich verliebt in eine Frau, deren Namen er nicht einmal kannte.

„Ein toller Anfang, nicht wahr?“, sprach sie weiter. „Eigentlich sollte ich jetzt da oben sein und wie eine Verrückte durch die Gegend springen, meinen geheimen neuen Freund an die Hand nehmen und ihn küssen, unendlich lange küssen. Aber nein, ich hab‘s mal wieder verpatzt. Oh Gott und das ist nur der Jahresanfang, wie wird dann der Rest?“

Noah spürte, wie ihm schwindlig wurde und er lehnte sich an die Wand, hoffte, dass seine Beine nicht nachgeben würden. Wie konnte er sich nur so schnell verliebt haben? Er war genauso zu nichts zu gebrauchen, wie bei seiner allerersten Freundin, kein Wort brachte er raus.

„Seit drei Jahren hab ich keine richtige Beziehung mehr gehabt“, fuhr sie fort, „und jetzt versetze ich den Mann, der vielleicht die Liebe meines Lebens hätte werden können. Wissen Sie, Sie sehen ihm gar nicht unähnlich, wie meine Freundin ihn beschrieben hat. Er ist einsachtzig groß, hat dunkle Haare, blaue Augen und trägt eine Brille. Und soll unheimlich nett und süß sein. Ja, Sie sehen ihm sogar sehr ähnlich. Zufall, nicht wahr? Und sein Name ...

Namen sagen viel über eine Person aus, auch wenn man sie sich normalerweise nicht selbst ausgesucht hat. Sein Name sagt mir, dass er der Eine ist, das fühle ich einfach. Oder besser, er war der Eine. Wer will schon eine Frau haben, die so unzuverlässig ist?“

Sie schlug wiederholt auf den Hilfeknopf und endlich antwortete jemand und versprach, dass Hilfe unterwegs war. Jetzt oder nie, dachte Noah sich. Wenn er es jetzt nicht tat, würde sie gleich hinausgehen und er würde sie nie wiedersehen. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und bewegte sich auf sie zu, nur von seinem Herzen geleitet, nahm ihre Hand, blickte ihr tief in die Augen und küsste sie.

„Sein Name ist Noah, wissen Sie?“, hauchte sie leise, als sich ihre Lippen trennten und der Lift sich wieder in Bewegung setzte.

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