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Kim & Louis

Teil 3

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Nach Matze suchen … Karsten hat Ideen. Und wie soll ich das anstellen? Gut, ich hab ja noch immer seine E-Mailadresse, die wohl auch noch funktionieren wird, aber was soll ich ihm schreiben? Hallo Matze, ich kann dich nicht vergessen. Hast du Interesse, wieder ein Teil meines Lebens zu sein? ... wohl kaum.

Immerhin sind mittlerweile fast drei Jahre vergangen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, und ungefähr zwei seit unserem letzten Kontakt.

Was er wohl mittlerweile macht? Diese Frage habe ich mir zwischenzeitlich öfter gestellt. Das Letzte, was ich von ihm weiß, ist, dass er sein Abi machen wollte.

Zwischenzeitlich habe ich mich von Karsten verabschiedet und bin wieder auf dem Weg nach Hause. Das Gespräch hat wahnsinnig gut getan und ich fühle mich befreit wie schon lange nicht mehr. Dennoch kreisen in meinen Gedanken Karstens Worte weiter umher: „Was hältst du von der Idee, wenn wir mal nach Matze suchen?“

Die Ansage meiner Haltestelle reißt mich aus meinem Grübeln. Stockend kommt die U-Bahn zum Stehen und ich steige aus. Trotz Auto mag ich es, in Hamburg mit der U-Bahn, welche hier ja Hochbahn heißt, unterwegs zu sein. Gerade die Strecke von den Landungsbrücken über den Hafen bis hin zum Rödingsmarkt hat es mir angetan, da man dort so wunderbar die Sicht auf Hafen, Elbphilharmonie und Speicherstadt genießen kann. Auch heute habe ich mich für diesen Weg entschieden, auch wenn es einen Umweg darstellt. Aber dank der fast Ringbahn ist das kein Problem und ich muss zwischendurch nicht mal umsteigen.

Gemütlich laufe ich nach Hause und koche mir, auch wenn es mittlerweile früher Abend ist, meinen obligatorischen Kaffee und fahre meinen Laptop hoch. Mit beidem bewaffnet verziehe ich mich in mein Bett und checke meine E-Mails. Viel Neues ist nicht dabei, so dass ich mich ein wenig bei einer sehr großen Online-Bestell-Seite umsehe und mich mit den neusten Hightech-Spielzeugen beschäftige. Nichtsdestotrotz kann ich meine Stöberei nicht ungestört genießen. Meine Gedanken gehen immer wieder zurück zu meinem Gespräch mit Karsten und seinem Vorschlag.

Grübelnd sitze ich vor meinem Rechner und starre Löcher in die Luft. Langsam formen sich meine Gedanken zu Worten, welche zu Sätzen werden, und ehe ich mich versehe, habe ich eine E-Mail an Matze formuliert und bereits abgeschickt. Diese Erkenntnis trifft mich so unerwartet, dass ich im ersten Moment mit Schreck geweiteten Augen auf mein E-Mailprogramm starre und nicht glauben kann, was ich gerade getan habe.

Jetzt ist es eh zu spät, sickert allmählich in mein Gehirn. Abgeschickt ist abgeschickt und zurückholen ist nicht mehr.

Nervosität macht sich in mir breit. Was habe ich mir denn bloß dabei gedacht? Was muss Matze denn von mir denken, wenn er meine E-Mail liest? Der muss doch denken, dass ich ’nen Schuss habe …

Ich klicke auf meinen Ordner mit gesendeten E-Mails und lese mir meine gesendete E-Mail nochmals durch.

Hallo Matze,

ich weiß, wir haben lange nichts mehr voneinander gehört. Du bist mir nach all der Zeit wieder in den Sinn gekommen und ich habe mich gefragt, wie es dir geht und was du so machst?

Na ja, ehrlich gesagt habe ich mich das über die letzten Jahre immer wieder gefragt, aber habe einfach nicht den Mut gefunden, mich bei dir zu melden. Unser Kontakt ist so nach und nach eingeschlafen und ich hatte den Eindruck, dass du kein Interesse mehr an unserer Freundschaft hast. Schweren Herzens habe ich dies versucht zu akzeptieren.

Dennoch habe ich dich über die vergangenen Jahre nie komplett vergessen. Du warst eben immer ein besonderer Mensch für mich. Und wenn ich an die Jugendfreizeit in den Niederlanden und unsere gemeinsame Zeit zurückdenke, habe ich immer noch ein Lächeln im Gesicht.

Bitte entschuldige, dass ich die alten Zeiten wieder aufwärme. Ich denke, dass du deinen Weg mittlerweile weitergegangen bist und einige neue, spannende Kapitel geschrieben hast.

Aber vielleicht hast du ja Interesse daran, unseren Kontakt nochmals aufleben zu lassen? Über eine Nachricht deinerseits würde ich mich sehr freuen.

Lieben Gruß

Kim“

Lange blicke ich auf die Nachricht und frage mich wiederholt, ob ich gerade das Richtige getan habe. Nach all der Zeit habe ich Matze eine Nachricht geschrieben. Wie er wohl reagiert oder ob er gar zurückschreibt?

Mit einem gespannten Gefühl mache ich mich irgendwann bettfertig und gehe schlafen. Davon, dass er noch am selben Abend zurückschreibt, gehe ich erst gar nicht aus.

Auch am darauffolgenden Tag ist noch keine Antwort gekommen. Aber als in den kommenden Tagen keine E-Mail von Matze bei mir eingeht, schwindet langsam meine Hoffnung und ich versuche, mich damit abzufinden, dass er offensichtlich keinen Kontakt mehr möchte.

Karsten habe ich nach ein paar Tagen gesagt, dass ich Matze geschrieben habe. Er hat sich offen für mich gefreut und mir viel Glück gewünscht. Hin und wieder fragt er nach, aber bis dato kann ich ihm noch kein positives Feedback geben.

So zieht die Zeit ins Land und die Tage verstreichen weiter. Der Alltag hat mich wieder und ich stürze mich in mein Studium. Hausarbeiten und Klausuren stehen an, so dass ich mich weniger intensiv mit meiner Freizeit, Jungs und anderen Dingen beschäftigen kann. Mit Stephanie und Michael treffe ich mich regelmäßig in der Mensa und auch Karsten, Steffen und Arthur sind hin und wieder dabei. In den Momenten, wenn wir alle sechs zusammen sind, sprechen wir häufig über unsere geplante Reise auf die Philippinen und bringen uns auf den neusten Stand der Planungen. Vorne dabei sind natürlich Steffen und Arthur, die bei weitem die meisten Ideen dazu beisteuern, aber auch wir anderen haben den einen oder anderen guten Vorschlag. Das Schöne an einer langen Reisevorbereitung ist die Vorfreude, so dass das Warten auf den Abflug nicht so lange ist.

Jetzt sitze ich gerade in einer Vorlesung, als ich mein Handy in der Hosentasche vibrieren fühle. Ja, ich weiß, in der Vorlesung sollten die Dinger komplett ausgeschaltet sein, aber daran halten tun sich wohl nur die wenigsten. Vorsichtig ziehe ich mein Telefon aus der Tasche, sehe, dass ich eine neue E-Mail erhalten habe und öffne mein Postfach.

Beim Anblick des Absenders schlägt mein Herz schneller. Matze. Sofort öffne ich die Nachricht.

Hallo Kim,

sorry, dass meine Rückmeldung ein wenig gedauert hat und ja, ich freue mich sehr, wieder von dir zu hören. Wie geht es dir und was machst du denn so?

Ja, die alte Zeit … das waren aufregende Erlebnisse, nicht?

Ruf doch einfach mal an, meine Mobilnummer ist noch immer die gleiche.

Freue mich,

Matze“

Erfreut und doch ein wenig enttäuscht lese ich die Nachricht ein paar Mal durch. Aber mit was habe ich gerechnet? Ich weiß es selbst nicht so genau ... So stecke ich wieder mein Handy weg und versuche, weiterhin meiner Vorlesung zu folgen. So wirklich funktionieren tut das allerdings nicht mehr und ich bin froh, als wir den Saal verlassen. Auf dem Weg zur Mensa treffe ich Karsten und halte ihm mein Handy unter die Nase. Etwas überrascht schaut er drauf und beginnt zu lächeln:

„Ist doch nicht schlecht für den Anfang. Wann rufst du ihn an?“

Ich zucke mit den Schultern und sehe ihn unschlüssig an.

„Okay, was ist los?“, fragt mich Karsten und bleibt stehen.

„Ich weiß auch nicht“, stocke ich rum. „Ach, was weiß ich, ich habe wahrscheinlich was anderes erwartet.“

Karsten seufzt. „Und was hätte er deiner Ansicht nach schreiben sollen?“

„Na, vielleicht hätte er mal schon eher zurückschreiben können.“ Werfe ich ihm aufgebracht entgegen. „Zudem kein Wort oder ’ne Erklärung für das späte Melden“, füge ich noch schnell an. „Und überhaupt … wie er unsere gemeinsame Zeit abtut, so als ob das alles Schnee von gestern wäre. Als wäre ich sonst jemand … der ja mal einfach durchrufen kann …“, gebe ich wesentlich kleinlauter von mir. Im Grunde spüre ich gerade, dass ich am liebsten heulen würde.

Karsten merkt meine Enttäuschung über seine Nachricht und nimmt mich spontan in den Arm. „Hey Großer, ich weiß ja, dass dir die Vergangenheit zu schaffen macht, aber schau, immerhin hat er sich bei dir gemeldet. Reichlich spät, ja, aber wer sagt denn, dass es für ihn einfach war, sich bei dir zu melden. Du hast knapp zwei Jahre gebraucht, um ihm deine Nachricht zu senden. Vielleicht hat er auch ein wenig Zeit benötigt, um sich dir zu stellen. Wenn es ihm damals ähnlich gegangen ist wie dir, was denkst du, wie ihn deine Nachricht überrascht haben könnte?“

Tief Luft holend löse ich mich wieder von Karsten. Im Grunde hat er ja Recht, das weiß ich auch. Wie es Matze geht, wie er meine Nachricht aufgenommen hat oder welche Gedanken er damit verbunden hat, kann ich nicht sagen. Bestenfalls hat Karsten Recht.

„Ruf ihn doch einfach an und sieh, was er zu sagen hat“, höre ich nun seine aufmunternden Worte. Schon muss ich wieder lächeln, denn er hat den Nagel auf den Kopf getroffen. Es bleibt die einzige Möglichkeit, Klarheit zu bekommen.

Ich nicke ihm entsprechend zu. „Werde ich machen. Kannst du in meiner Nähe bleiben, wenn ich ihn anrufe?“

„Wie, du rufst ihn jetzt gleich an?“, fragt mich Karsten völlig verblüfft.

„Ja, jetzt ist genauso ein schlechter Zeitpunkt wie heute Abend, morgen oder sonst irgendwann. Zudem haben wir eh gerade Mittagspause und erst in zwei Stunden wieder Vorlesung.“

„Okay, dann mal los.“

Karsten und ich gehen ein wenig abseits auf eine der großen Wiesen der parkähnlichen Anlage unseres Campusgeländes und setzen uns dort auf eine Bank. Ich suche in meinem Adressbuch die Nummer von Matze und drücke den Wählknopf. Nach einem kurzen Klingeln höre ich eine mir sehr bekannte Stimme.

„Hallo?“

„Ja, ähm, hallo Matze. Hier ist Kim.“

Stille in der Leitung.

„Matze ... bist du noch dran?“, frage ich etwas ängstlich nach.

„Ja, klar. Wow … Mann … Kim, das ging ja schneller als erwartet“, höre ich ihn überrascht sagen.

„Sorry, störe ich dich gerade? Also ich kann auch zu ’nem anderen Zeitpunkt anrufen, wenn es gerade nicht passt.“ Beginne ich schon auszuweichen. Nervös greife ich unbemerkt nach Karstens Hand, Sicherheit suchend.

„Nee, nee. Ist schon okay, ich bin nur gerade ein wenig überrascht. Ich hatte ehrlich gesagt nicht so schnell mit deinem Anruf gerechnet. Aber sag, wie geht es dir?“, kam nun schon etwas sicherer.

„Gut soweit, bin gerade in der Mittagspause auf dem Campus und dachte, dass es vielleicht ’ne gute Gelegenheit ist, dich anzurufen. Hast du auch gerade Mittag und wie geht es dir?“

„Danke, gut und nee, ich bin gerade zuhause. Heute hab ich erst am späten Nachmittag Vorlesung. Daher bin ich noch daheim.“

„Was studierst du denn und vor allem, wo hat es dich hin verschlagen?“ Will ich nun wissen.

„Ich bin in Freiburg, studiere hier Medizin.“

„Oh, wow. Das’s ja mal was. Respekt“, gebe ich beeindruckt zurück.

„Und was machst du? Bist wahrscheinlich auch nicht in deiner Heimat geblieben, nehme ich an?“, fragt Matze.

„Doch“, gebe ich lachend zurück. „Ich bin noch immer in Hamburg, wohne in der Einliegerwohnung meiner Eltern und studiere hier BWL an der Uni.“

„Das’s ja klasse.“

Da keiner so recht weiter weiß, kommt unser Gespräch ins Stocken und eine erneute Stille tritt ein.

„Und was hast du die letzten Jahre gemacht?“, frage ich nach, bevor es unangenehm wird.

„Hui, ’ne Menge und doch nicht viel“, weicht Matze aus. „Na ja, so das tägliche Leben gemeistert und mich bis zum Abi durchgeschlagen.“

„Bei mir ähnlich“, gebe ich zurück. „Na ja, irgendwann die Studienwahl und nun stehen wir hier.“

„Ja, nun stehen wir hier“, wiederholt er leise. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass da mehr ist, was er mir gern sagen möchte, kann es aber nicht in Worte fassen. Wieder entsteht eine Pause.

„Sag mal, was machst du eigentlich das Wochenende?“, frage ich ihn, von mir selbst überrascht. Auch Karsten wendet überrascht den Blick und schaut mich skeptisch an. Klar, auch er merkt, dass unser erstes Gespräch nicht ohne Schwierigkeiten läuft. Zudem halt ich noch immer seine Hand, merke ich gerade, und lasse sie schnell los.

Matze ist offenbar genauso irritiert über meine Frage, denn ich kann ihn durchs Telefon fast denken hören.

„Äh …“, kommt auch prompt von ihm.

„Vergiss es, war eh ein blöder Gedanke“, falle ich ihm ins Wort, vor meiner eigenen Courage Angst bekommend.

„Nee, warte. Im Grunde haste ja recht, vielleicht sollten wir uns einfach sehen und reden. Das ist vielleicht einfacher als übers Telefon“, kommt nun von ihm. Erleichtert atme ich auf.

„Gut, dann am Wochenende?“, frage ich nochmals nach, um auch sicher zu gehen, dass ich mich nicht verhört habe. Dabei lacht er auf und ich spüre plötzlich Schmetterlinge in mir fliegen. Wie habe ich dieses Lachen vermisst, es ist noch immer das Gleiche wie früher.

„Ja, lass uns am Wochenende treffen. Das kann ich mir einrichten. Soll ich nach Hamburg kommen?“

„Ich komm auch nach Freiburg, wenn es für dich einfacher ist. Immerhin habe ich ja nun ’nen Führerschein“, schiebe ich lachend hinterher. Schlagartig merke ich, dass ich total nervös werde. Und ich kann es kaum begreifen – wow – Matze und ich sehen uns tatsächlich wieder, unglaublich.

„Nein, nein. Ist schon okay. Ich suche mir ’ne Zugverbindung raus und sag dir, wann ich ankommen werde. Kannst mich ja dann am Bahnhof abholen kommen.“

„Klar, kein Thema, mach ich gern, bin dann pünktlich da.“

„Super, dann bis Freitagabend, wenn es okay ist?“

„Sicher, sag mir einfach die Uhrzeit, wann ich da sein soll.“

„Mach ich, dann bis bald, Kim. Ist schön, wieder mit dir in Kontakt zu sein“, schiebt er noch schnell hinterher.

„Ja, das finde ich auch. Ich freue mich auf dich. Bis bald dann.“

„Bis bald“, höre ich noch und er legt auf.

Unglaublich starre ich mein Telefon an. Ich kann es noch immer nicht fassen, nicht dass wir gerade kurz miteinander geredet haben, sondern dass er tatsächlich schon diesen Freitag zu mir nach Hamburg kommen wird. Wie genial ist das denn? Voller Übermut drehe ich mich zu Karsten, umarme ihn spontan und drücke ihm ’nen Kuss auf die Wange.

„Wie geil ist das denn?“, rufe ich erfreut raus.

„Hey, hey, hey“, kommt es nun von Karsten. „Ich freue mich ja auch mit dir, aber musst du mich dann gleich abknutschen?“, knufft er mich grinsend in die Rippen und schiebt mich ein wenig von sich weg. Ohje, da ist wohl gerade meine Euphorie mit mir durchgegangen.

„Ups, sorry, Karsten“, sage ich immer noch wie ’n Reaktor strahlend. „Ich bin nur gerade so aufgeregt. Hast du gehört, er kommt echt nach Hamburg!“

„Ja, das war ja nur unschwer zu überhören. Ich glaub, der ganze Campus weiß nun, dass du am Wochenende Besuch bekommst“, lacht er mich an und steht von der Bank auf. „Komm, lass uns in die Mensa und was Essen gehen.“ Folgsam stehe ich auf, betrachte ihn von der Seite und umarme ihn nochmals spontan. „Danke“, hauche ich ihm ins Ohr.

„Oh mein Gott, geht das jetzt den Rest der Woche mit dir so weiter? Du bist ja wie ausgewechselt. So kenne ich dich ja gar nicht.“ Erneut befreit er sich aus meiner Umarmung und schiebt mich wieder ein wenig von sich weg. Dabei schaut er mich kopfschüttelnd an. „Seit ’ner Minute benimmst du dich wie ein kleines Kind, das sich auf Weihnachten freut“, höre ich ihn schon wieder scherzen und dieses Mal ist er derjenige, der mich an sich heranzieht und dabei einen Arm um meine Schulter legt. Langsam zieht er mich Richtung Mensa und wir gehen Essen.


Keine Ahnung wie ich die Woche überlebt habe. Mit jedem Tag wuchs meine Aufregung und ich wurde, so vermute ich mal, immer unerträglicher für meine Freunde. Klar, sie freuen sich mit mir, dass ich Matze endlich wiedersehe, allerdings bekam ich auch das ein oder andere mahnende Wort, nicht zu viel in das erste Treffen hineinzuinterpretieren und meine Erwartungen entsprechend herunterzuschrauben. Wenn ich Matze auf ein solch hohes Podest stelle, könnte er dies unmöglich erreichen und ich wäre hinterher enttäuscht. Ich muss aber auch gestehen, dass ich den einen oder anderen Zweifel habe und mir hin und wieder die Frage stelle, wie das Wochenende verlaufen soll und ob das alles gut gehen wird. Wie hat er sich verändert? Wie sieht seine Sicht der Dinge aus, dass wir uns aus den Augen verloren haben?

Meine Eltern habe ich vorsorglich informiert, dass ein alter Freund zu Besuch kommen wird, damit sie sich nicht wundern. Im Grunde hätte ich dies nicht tun müssen, doch es ist für mich eine Frage des Respekts und zudem schütze ich mich so vor lästigen Fragen. Immerhin hatten sie Matze damals nicht kennengelernt. Sie wussten zwar um unsere Freundschaft, aber Näheres hatten sie nie von mir erfahren.

Nun stehe ich auf Gleis 12 und warte darauf, dass der ICE aus Basel, welcher auch in Freiburg hält, ankommt. Viel zu früh bin ich hier angekommen, aber mit der beengten Parktplatzsituation um den Hamburger Hauptbahnhof wollte ich lieber auf Nummer sicher gehen. Zu allem Überfluss zeigt nun die Anzeigetafel auch noch eine halbe Stunde Verspätung an. Typisch Deutsche Bahn, denke ich mir.

Ich lasse meinen Blick über den Bahnsteig wandern und beobachte die anderen Leute. Ich mag die Atmosphäre hier, das Vibrieren der großen Zügen auf den zahlreichen Gleisen, die Gespräche der Menschen um mich herum, mit der Freude oder auch teils Traurigkeit in den Gesichtern der Menschen, die ankommen oder abfahren … oder eben auch einfach die Menschen, die lediglich durch den Hauptbahnhof durchlaufen, um auf die andere Seite zu kommen. Egal ob jung oder alt, alles ist hier vertreten und geht einem geschäftigen Treiben nach.

Hinter jedem dieser Menschen steckt eine Geschichte, geht es mir gerade durch den Kopf. Nicht nur eine Geschichte, auch ein Schicksal. Jeder bewegt sich in seinem Rahmen. Unterschiedliche Erlebnisse, Erfahrungen und Entscheidungen haben die Menschen in diesem Moment hierher geführt, so wie auch mich. Aber dennoch steht keiner von ihnen in einer Verbindung mit mir, unsere Wege haben sich noch nie gekreuzt. Der Grund, warum ich jetzt hier bin, kommt gleich mit dem nächsten Zug an. Und ich bin gespannt, wie wohl unsere Geschichte weitergeht …

Ein Kind, das seinen Koffer hinter sich herzieht, rempelt mich an und reißt mich aus meinen Gedanken. Ich spüre, wie in mir die Anspannung weiter wächst. Die große Freude, welche ich vor ein paar Tagen gespürt habe, hat einem leichten nervösen Zittern Platz gemacht. Urplötzlich werde ich mir bewusst, welch hohe Erwartungen ich in dieses Treffen setze und realisiere, dass mich meine Freunde offenbar nicht zu Unrecht gewarnt haben. Auch ich rede mir nun ein, nicht zu hohe Erwartungen an unser Wiedersehen zu haben, und versuche, mir keine falschen Hoffnungen zu machen. Ich rufe mir ins Bewusstsein, dass Matze nicht aus diesem Zug steigen und mir mit einem Kuss um den Hals fallen wird, auch wenn ich mir dies vielleicht wünsche. Ich schüttle meinen Kopf und atme tief durch. Mach dir keinen Stress, das wird schon alles gut gehen. Auch wenn du dich gerade nicht so benimmst, ihr beide seid erwachsen und werdet das schon schaffen.

Die Ansage, dass der Zug in wenigen Minuten einfährt, lässt mich aufblicken und ich hole nochmals tief Luft. Gleich ist es soweit, unser erstes Wiedersehen seit Jahren.

Und dann steht er plötzlich vor mir. So unerwartet, dass ich ihn erst mal anstarre. Unerwartet, da ich ihn von der anderen Seite erwartet hatte und nicht davon ausging, dass er mir einfach von hinten auf die Schulter tippt. So langsam dämmert es mir, wer da vor mir steht, und ehe ich mein Handeln kontrollieren kann, umarme ich ihn und hebe ihn vor Freude hoch. Er ist so überrascht, dass er seine Tasche fallen lässt, aber zu Lachen beginnt und meine Umarmung erwidert. Vorsichtig setze ich ihn wieder ab und schaue ihm in die Augen. Gott, diese Augen, die gleiche Farbe, das gleiche Leuchten wie damals … ich kann einfach nicht wegschauen. Aber auch Matze schaut mich mit einer Faszination an, welche meiner in keiner Weise nachsteht.

„Hallo erst mal“, höre ich nun seine Stimme in mein Bewusstsein dringen.

„Hallo“, erwidere ich, „schön, dass du da bist.“

„Ja, das habe ich gemerkt“, sagt er lachend und hebt seine Tasche auf. „So, wo hast du denn geparkt, lass uns unser Wiedersehen woanders feiern und nicht hier auf dem Bahnsteig“, zwinkert er mir zu. Augenblicklich schießt mir die Röte ins Gesicht, da ich eine Doppeldeutigkeit in seinen Worten vernehme, welche ihm scheinbar gar nicht auffällt. Denn schon hat er sich bei mir eingehängt und zieht mich Richtung Rolltreppe.

„Äh, wir müssen zur anderen Seite“, kommt es langsam von mir. Lachend wendet er die Richtung und ich lasse mich mitziehen. Noch immer bin ich total neben der Spur, stelle ich gerade fest. Irgendwie ist bei dem Wiedersehen eine meiner Sicherungen durchgebrannt. Ich versuche, mich zusammenzureißen und meine Gedanken zu sortieren. So werde ich das Wochenende jedenfalls nicht überstehen, sage ich zu mir.

Oben in der Wandelhalle angekommen lotse ich ihn zu meinem Wagen. Wir verstauen sein Gepäck auf dem Rücksitz und steigen ein. Vorsichtig schlängle ich mich durch den Feierabendverkehr.

„Wie war deine Zugfahrt?“, versuche ich, unser Gespräch in Gang zu bringen, denn bislang hat er nichts mehr gesagt.

„Gut, sehr gut sogar. Ich habe unterwegs die Ruhe genossen und sogar ein wenig geschlafen“, strahlt er mich an. „Das Studium ist echt stressig, kostet ziemlich viel Kraft und auch Zeit“, setzt er hinterher.

„Das glaub ich gern, ein Medizinstudium ist kein Zuckerschlecken. Aber gut schaust du aus. Ein wenig älter geworden, aber das steht dir.“ Schnell beiße ich mir auf die Zunge. Junge – was machst du da? Er ist noch keine zehn Minuten bei dir und du fängst schon an zu flirten? Mein Seitenblick bestätigt mir auch gleich, dass er seine Ohrenfarbe zu einem leichten Rot gewechselt hat.

„Danke“, ist alles, was von ihm kommt. „Du aber auch“, setzt er kurze Zeit später mit ’nem kleinen Lächeln hinterher und mustert mich nun gründlicher. „Du scheinst zu trainieren und hast einiges an Muskeln hinzugewonnen seit unserer letzten Begegnung.“

„Na ja, trainieren ist ein wenig übertrieben. Hin und wieder gehe ich ins Fitnessstudio, aber ehrlich gesagt mehr wegen dem tollen Sauna- und Wellnessbereich. Meist mache ich dann vorher einen Kurs, dann ist die Entspannung in der Sauna erst richtig gut.“

„Was für Kurse besuchst du so?“

„Letztens war ich wieder im Bodypump, der war echt klasse. Die Trainerin hat uns ganz schön gescheucht und hat damit ’nen super Job gemacht. Danach war ich total ausgepowert …“, füge ich begeistert hinzu. Louis kommt mir natürlich auch in den Sinn, den ich aber ganz schnell wieder verdränge, der hat hier nichts zu suchen. Von Matze ernte ich allerdings einen respektvollen Blick für mein Trainingsprogramm.

„Du scheinst aber auch nicht untätig zu sein, wenn ich das richtig sehe“, gebe ich an ihn zurück.

„Ich bin hin und wieder schwimmen. Wir haben da ein gutes Schwimmbad in Freiburg, da bin ich mindestens einmal die Woche. Die haben auch ’nen Saunabereich, aber den nutze ich eher im Winter, wenn es draußen schön kalt ist. Da tut die Wärme auch richtig gut.“

Als ich im Carport bei meiner Wohnung parke, bin ich überrascht, dass wir schon angekommen sind. Die Zeit ist regelrecht verflogen und wir haben uns richtig gut unterhalten. Fast wie in alten Zeiten. In der Wohnung führe ich ihn kurz durch mein Reich und koche uns ’nen Kaffee. Seine Tasche steht im Wohnzimmer neben dem Tisch.

„Wo schlafe ich eigentlich heute Nacht?“, kommt die Frage von ihm.

„Du kannst die Couch hier im Wohnzimmer nehmen oder, da ich kein Gästezimmer habe, in meinem Bett pennen.“ Überrascht schaut er mich an und hebt ’ne Augenbraue.

„Und wo schläfst du dann heute Nacht?“ Irritiert schaue ich ihn an.

„Wie jetzt?“, frage ich auf der Leitung stehend nach.

„Na ja“, beginnt er zu erklären, „wenn ich in deinem Bett penne, wo schläfst du dann?“, grinst er mich herausfordernd an.

„Oh“, ist das einzige, was von mir kommt, und schon spüre ich, wie mir abwechselnd die Farbe aus dem Gesicht weicht, um dann um so intensiver zurückzukommen. „Äh …“, füge ich wenig geistreich hinzu. Jetzt kann Matze nicht mehr an sich halten und bricht in schallendes Gelächter aus. Na danke auch, denke ich und mein Gesicht hat sich nun komplett für ein intensives Rot entschieden.

„Ich bring mal meine Tasche ins Schlafzimmer“, mit diesem Satz lässt er mich stehen, schnappt sich seine Tasche und ist kurz verschwunden. Ich stehe wie ein Depp in meiner Küche, halte mich an meinem Kaffee fest und versuche zu eruieren, ob ich damit gerade eine Antwort erhalten habe. Als ich seine Schritte vernehme, löse ich mich aus meiner Starre, werfe schnell einen Blick in meinen Kühlschrank und überlege, was wir kochen könnten. Matze gesellt sich zu mir und schnell haben wir uns für Spaghetti Bolognese entschieden. Den passenden Rotwein öffnen wir bereits beim Kochen und unterhalten uns weiter.

Es entwickelt sich ein richtig schöner Abend und langsam schließen wir die Lücken unserer Vergangenheit. Nur um das Thema, warum unser Kontakt eingeschlafen ist, haben wir uns bislang erfolgreich gedrückt. Keiner will so richtig damit anfangen. Dennoch spüren wir beide, dass wir eigentlich darüber reden wollen.

„Sag mal, warum hast du mir eigentlich nicht mehr geschrieben?“, frage ich dann doch irgendwann nach. Matze seufzt und schaut dann unvermittelt auf den Boden. Ich kann regelrecht spüren, wie es in ihm arbeitet und er nach den passenden Worten sucht. Abwartend beobachte ich ihn.

„Kim“, fängt er stockend an, „ich wollte dich nie verletzen.“ Er hebt seinen Blick und schaut mich an, offenbar meine Reaktion abschätzend. Als ich nichts darauf erwidere, spricht er weiter.

„Damals war alles so kompliziert. Wir waren ja fast noch Kinder und haben uns nie gesehen.“

Er holt Luft, schaut noch immer zu mir, doch ich wende meinen Blick ab.

„Ich habe dich wahnsinnig vermisst, nachdem die Freizeit zu Ende war. Das Nachtreffen war ja auch nicht optimal verlaufen, wir hatten nicht mal Zeit, uns ungestört zu unterhalten“, dringen seine Worte zu mir.

Ich blicke noch immer auf den Boden. Erinnerungen kommen hoch und ziehen an meinem inneren Auge vorbei.

„Wir haben noch eine Weile danach geschrieben und ich habe mich wahnsinnig über deine Nachrichten gefreut. Auf jede einzelne habe ich gewartet und war bereits in der Schule total hibbelig, bis ich endlich nach Hause kommen und deine Antworten lesen konnte.“

Matze seufzt erneut.

„Kim, du hast meine Eltern nie kennengelernt … Weißt du, mit der Zeit ist meinem Vater meine Verhaltensänderung aufgefallen. Am Anfang hat er nicht nachgefragt und mich machen lassen. Aber so nach einem halben Jahr fragte er nach, welches Mädel mir denn so den Kopf verdreht hätte, dass ich denn immer so viele Nachrichten schreiben würde? Ob und wann ich ihm denn meine Auserwählte mal vorstellen würde.

Ich war darüber so geschockt, dass er das viele Schreiben mitbekommen hat, dass ich ihm irgendwas zusammengestammelt habe und er es erst mal auf sich beruhen ließ. Natürlich wurde ich daraufhin vorsichtiger und habe meine Freude über deine Nachrichten für mich behalten. Folglich habe ich auch weniger geschrieben, da ich keine weitere Aufmerksamkeit auf mich ziehen wollte.

Leider war das Gegenteil der Fall, denn prompt fragte mich mein Vater, was denn los sei. Ich wurde meinen Eltern gegenüber immer verschlossener. Wie hätte ich ihnen davon erzählen sollen, dass ich mich in dich verliebt hatte? Du musst verstehen, dass mein Vater Richter am Oberlandesgericht ist und meine Mutter Grundschullehrerin. Beide sind erzkatholisch und entsprechend konservativ. So etwas wie Homosexualität gibt es in ihrer Welt nicht. Ich wusste irgendwann keinen anderen Ausweg mehr und habe mich immer mehr in mich verkrochen.“

Matze reibt mit seinen Händen durchs Gesicht. Als ich wieder aufblicke, erkenne ich seine feuchten Augen und merke, wie schwer es ihm fällt, über das alles zu sprechen. Nachdem er sich wieder gesammelt hat, fährt er fort:

„Und dann kam der Abend, der alles veränderte. Ich kam vom Geigenunterricht nach Hause und wurde von meinem Vater bereits in der Diele abgefangen. Er hatte ganz offensichtlich auf mich gewartet. Noch bevor ich einen Fuß auf die Treppe zu meinem Zimmer hochgehen konnte, packte er mich am Arm und zerrte mich hinauf. Dort angekommen traf mich fast der Schlag. Mein Rechner war angeschaltet und das E-Mailprogramm offen. Mit hochrotem Kopf zeigte mein Vater auf den Bildschirm und fragte mich, was das für abnormale Perversionen seien, die ich dort von mir geben würde.“

Matze schaut mir in die Augen und ich kann den Schmerz darin erkennen, den die Erinnerung auslöst. Er holt tief Luft und spricht weiter:

„Nachdem mich mein Vater zur Sau gemacht hatte, bekam ich auf unbestimmte Zeit Hausarrest. Er nahm auch meinen PC und mein Handy mit und meinte, dass ich den erst wiederbekommen würde, wenn ich normal geworden wäre. Ich war am Boden zerstört, heulte und wusste nicht mehr ein noch aus. Da auch meine Mutter mich ignorierte und mich, wenn sie mich sah, nur mit einem mitleidigen Blick anschaute, war ich selbst in unserem Haus völlig isoliert. In der Schule konnte ich mich an keinen wenden, mein Vater hätte mich in der Luft zerrissen, hätte ich auch nur ein Wort über das Vorgefallene verloren.“

Ich stehe auf, setze mich neben ihn und nehme ihn in den Arm. Mit vielem hatte ich gerechnet, doch dass seine Version der Vergangenheit so ausfallen würde, hätte ich mir im Traum nicht vorstellen können. Nach einiger Zeit hat sich Matze wieder gefangen und sagt:

„Weißt du, mir blieb irgendwann nichts anderes übrig, als dich zu verdrängen und meinen Eltern das Gefühl zu geben, dass ich wieder ihrem Weltbild entsprach. Nur ganz langsam besserte sich unser Verhältnis wieder. Nach und nach bekam ich dann auch meine Freiheiten zurück. Da ich allerdings stets damit rechnete, dass mein Vater weiterhin meine Kommunikation überwachen würde, habe ich mich nicht mehr getraut, dir zu schreiben, und aus diesem Grund hast du nie wieder etwas von mir gehört.“

Ich bin sichtlich geschockt über die Grausamkeit und das Unverständnis seines Vaters, aber auch der Ignoranz seiner Mutter. Noch immer sitze ich neben Matze und halte ihn im Arm, gerade nicht fähig, etwas auf das Gesagte zu erwidern.

Irgendwann lehnt Matze sich fester an mich. Wenig später spüre ich die gleichmäßigen Atemzüge und stelle fest, dass er eingeschlafen ist. Während wir so gemeinsam dasitzen, gehen mir viele Gedanken durch den Kopf. War ich damals zu viel mit mir beschäftigt, um das alles zu merken? Aber er hatte nie etwas gesagt oder auch nur in diese Richtung angedeutet. Warum hat er sich mir nicht anvertraut? Ich war bzw. bin doch sein Freund. Auch ich schlafe über meine Gedanken hinweg ein, halte Matze weiter im Arm.

“Shit, ich bin eingepennt.” Langsam öffne ich meine Augen und reibe mir meinen schmerzenden Nacken. Ich bemerke, dass Matze und ich noch immer auf der Coach sind, allerdings nicht mehr sitzend, wie gestern Abend, sondern eng aneinander gekuschelt liegend. Offenbar hatten wir heute Nacht unsere Position in eine etwas bequemere Lage gewechselt. Augenblicklich macht sich in mir ein Gefühl der Wonne und des Glückes breit. Ohne mich viel zu bewegen, drücke ich Matze ein wenig fester an mich und genieße den kostbaren Augenblick.

Als ich gerade wieder am Einschlafen bin, bewegt sich allerdings Matze und wird langsam wach. Ich merke, wie auch er sich dichter an mich herankuschelt, meinen Duft in sich einsaugt und ein seliges Schnurren von sich gibt. Als ich ihm mit meiner Hand vorsichtig und liebevoll über die Wange streiche, versteift er sich und richtet sich so schnell auf, dass ich erschrocken keuche und meine Hände von seinem Gesicht nehme. Mit großen Augen schaut Matze mich an und wird ganz bleich.

Ehe ich es begreifen kann, ist er aufgesprungen, verschwindet im Bad und schließt die Tür hinter sich ab. Perplex liege ich auf der Coach und versuche, das gerade eben passierte zu begreifen. Irgendwas ist hier abgelaufen, dessen tieferen Sinn ich nicht fassen kann. Wir haben ein wenig miteinander gekuschelt, nachdem er mir gestern einen Einblick in seine Vergangenheit gewährt hat, aber es ist doch nichts passiert. Nichts, was eine solche Reaktion auslösen sollte.

Ich stehe auf, gehe zur Badezimmertür und klopfe vorsichtig an. Keine Reaktion.

„Matze?“, frage ich leicht besorgt, aber es kommt keine Antwort.

„Matze, alles okay mit dir?“, versuche ich erneut. Ein undeutliches „Ja“ ist zu vernehmen, dem ich nicht ganz glauben kann. Da ich aber so ausgeschlossen keine Hilfe leisten kann, wende ich mich um und begebe mich in die Küche. Dort koche ich erst mal einen Kaffee und bereite ein kleines Frühstück vor. Während meiner Vorbereitung höre ich die Badezimmertür und vernehme, wie Matze ins Schlafzimmer schleicht, wohl neue Klamotten nimmt und wieder im Bad verschwindet. Kurze Zeit später höre ich die Dusche.

Mit einem Kaffee verziehe ich mich auf die Coach, öffne meinen Rechner und stöbere ein wenig im Internet, um mir die Wartezeit ein wenig zu vertreiben. Nach einer gefühlten Ewigkeit, ich habe mittlerweile meine zweite Tasse Kaffee ausgetrunken, kommt Matze wieder aus dem Bad. Er schaut unerwartet frisch und gut gelaunt aus. Meinen irritierten Gesichtsausdruck ignorierend, deutet er auf das vorbereitete Frühstück.

„Cool, du hast schon Frühstück gemacht. Ich habe einen Bärenhunger. Los, lass uns was essen.“

Als ich einfach nur sitzen bleibe und mich frage, was hier gerade abgeht, höre ich ihn weitersprechen.

„Ja, hopp hopp, wir haben heute ein gutes Programm vor uns“, dabei klatscht er in seine Hände, um seiner Aussage Nachdruck zu verleihen. „Ich war noch nicht in Hamburg und will einiges sehen.“ Schiebt er hinter.

Ich stehe einfach auf, bewege mich zum Frühstückstisch und setze mich hin, noch immer unfähig, die Situation in klare Bahnen zu ordnen. Matze setzt sich mir gut gelaunt gegenüber und greift nach einem der Aufbackbrötchen, die ich gemacht habe.

„Alles okay bei dir?“, schaffe ich es nun endlich, zu fragen.

„Klar, alles super. Und bei dir?“, lächelt er mich offen an. Was auch immer vorhin los war, davon ist nichts mehr zu spüren. Soll ich ihn darauf ansprechen, frage ich mich in Gedanken, oder spiele ich dieses Gute-Laune-Spiel einfach mit und warte, ob er von selbst anfängt?

„Ähm“, beginne ich zögernd, „sag mal, was war vorhin los?“, stelle ich die Frage und habe mich entschieden, selbst nachzufragen.

„Wie? … Achso, du meinst, dass ich vorhin so aufgesprungen bin? Ähm … na ja, ich musste ganz dringend mal wohin, sonst wäre meine Blase geplatzt.“

„Okay …“, kommt es gedehnt von mir, allerdings merke ich deutlich, dass er mir mit dieser Antwort nicht die Wahrheit sagt. Aber offensichtlich möchte er über den wahren Grund nicht sprechen. Für Matze ist damit die Diskussion auch beendet, denn er kaut intensiv auf seinem Brötchen, den Blick von mir abgewandt. Gut, wenn er nicht drüber sprechen will, dann eben nicht. Entsprechend wechsle ich das Thema.

„Was möchtest du heute machen?“

„Ich dachte an ein wenig Sightseeing, so mit Speicherstadt, Rathaus, Hafen und so ’ne alte historische Straße, die es hier geben soll … ich hab nur den Namen grad nicht im Kopf, aber auch irgendwo da am Hafen.“

„Ah, die Deichstraße meinst du. Die, in der der große Brand ausgebrochen ist?“

„Ja, genau die. Hättest du dazu Lust?“, fragt er mich aufmunternd.

„Klar, das liegt alles ziemlich dicht zusammen, vielleicht magst du noch ins Miniaturwunderland? Dann könnten wir am Rathaus beginnen und mit der U3 an die Landungsbrücke fahren, von dort in die Speicherstadt laufen, in der Speicherstadt Kaffeerösterei ’nen kurzen Kaffee trinken und dann hoch ins Miniaturwunderland zu den Eisenbahnen gehen. Von dort ist es nur über die Brücke auf die andere Straßenseite bis zur Deichstraße. Dort gibt es auch einen fantastischen Crêpes-Laden, der heißt Ti Breizh, dort könnten wir Mittagessen und unsere Tour danach mit ’nen Elbspaziergang abschließen?“

Matze schaut mich mit großen Augen an.

„Schaffen wir das denn an einem Tag? Ich meine, das klingt nach einem echt strammen Programm“, fragt er mich unsicher.

„Klar, es ist ja noch recht früh und wenn wir demnächst aufbrechen, sollte das kein Problem sein. Und sollten wir doch merken, dass uns die Zeit zu knapp wird, lassen wir einfach den ein oder anderen Punkt weg oder machen was anderes.“

„Okay, super. Dann lass uns mal schnell abräumen und dann los“, sprach er und schnappte nach den Tellern. Ich lächelte nun auch wieder, ein Plan für den Tag war gemacht und Matze signalisierte sehr deutlich, dass er gleich starten möchte.

Wir nehmen die U-Bahn in die Stadt. Bereits am Hauptbahnhof steigen wir aus, denn so können wir kurz rüber zum Hotel Atlantik laufen und Matze sieht auch die Außenalster. Von dort geht es über die Binnenalster, wo er staunend die große Fontäne betrachtet, und weiter über den Jungfernstieg zum Rathaus. Während der gesamten Zeit unterhalten wir uns über dies und das, genauso wie in unserer gemeinsamen Zeit in der Freizeit. Fast ist es wieder so wie damals. Mehr und mehr spüre ich, wie sehr ich die Zeit und auch ihn vermisst habe. Jedes Mal, wenn ich Matze ansehe, kommt ein leichtes Kribbeln in mir auf, welches ich nur zu gern zulasse.

Am Rathaus machen wir ein paar Fotos und fahren dann mit der U-Bahn in den Hafen. Als wir den Tunnel quietschend in Richtung Rödingsmarkt verlassen und plötzlich über der Erde weiterfahren, schaut mich Matze mit ungläubigen, leuchtenden Augen an.

„Ja, das ist die kostenlose Hafenrundfahrt“, scherze ich. Tatsächlich genießen wir die Aussieht aus dem Wagen, als wir über Baumwall mit Blick auf die Elbphilharmonie und den Hafen bis hin zu den Landungsbrücken fahren. Dort steigen wir aus und laufen anschließend über die schwimmenden Pontons, vorbei an den Restaurants, Souvenirläden und Anbietern von Hafenrundfahrten. Ein wenig verweilen wir dort, stehen eng beieinander, genießen das leichte schwanken der Plattform und schauen den Schiffen auf der Elbe zu. Wieder schießen wir einige Fotos und lächeln dabei um die Wette.

Mehr und mehr gestehe ich mir ein, wie sehr ich diese Zeit mit Matze genieße. Aber langsam kriecht ein neuer Gedanke in mein Bewusstsein. Was mache ich morgen, wenn er wieder zurück nach Freiburg fährt? Wie soll es weitergehen? Denn ich merke, dass ich gern mehr von uns hätte.

Schnell schiebe ich den Gedanken wieder zur Seite. Morgen ist noch weit weg und ich möchte die verbleibende Zeit gern auskosten und mich an den Momenten mit Matze erfreuen.

Gemütlich laufen wir an der Elbe entlang in die Hafencity und genehmigen uns dann den Kaffee in der Kaffeerösterei. Einer meiner Lieblingsorte, denn der Kaffee hier ist immer ein Genuss! Ich wähle meinen Standardkaffee, Espresso Organico BIO als Bohne und schön verpackt als Latte Macchiato. Dazu gibt es noch ein Stück leckeren Kuchen. Matze folgt meinem Beispiel und schon sitzen wir im Hauseigenen Café der Rösterei in einer Fensternische und genießen den Blick auf das Wasser der Speicherstadt.

Als die Sonne durch das Fenster auf Matze fällt, sein Haar und Gesicht beleuchtet, stielt sich ein Lächeln auf mein Gesicht.

„Was ist los?“, fragt mich Matze, dem mein Blick nicht verborgen bleibt.

„Ich bin gerade glücklich und freue mich sehr, dass du hier bist“, weiche ich aus.

Matze lächelt und greift nach meiner Hand, die neben meinem Teller auf dem Tisch liegt. Leicht drückt er sie und sagt: „Ich auch und ich freue ich sehr, dass du mich eingeladen hast. Es ist schön, wieder bei dir zu sein.“

Wir schauen uns in die Augen und ich spüre nur zu deutlich, dass ich gerade dabei bin, mich wieder in ihn zu verlieben.

Wenig später machen wir uns auf ins Miniaturwunderland. Bereits einige Male hab ich diese Lokalität besucht, doch meine Faszination für das hier Geschaffene ist ungebrochen. Mit welcher Liebe und Hingabe die Anlage aufgebaut wurde ist einfach unverkennbar. Mit der Zeit hatte ich die eine oder andere Kleinigkeit entdeckt, die von den Erbauern in der Anlage versteckt wurden. So nutzte ich mein Wissen, um auch Matze das Liebespaar im Sonnenblumenfeld zu zeigen oder die Wasserleiche, welche gut versteckt und dennoch sehr offensichtlich in die Umgebung eingebunden wurde. Wir entdeckten aber auch Schneewittchen und die sieben Zwerge, die offensichtlich ihren Wald verlassen und eine Fernreise angetreten haben. Matze zeigt mir auch zwei für mich neue Funde, denn er entdeckte Heidi und ihren Ziegen-Peter in der Schweiz sowie die Weihnachtskrippe in Skandinavien.

Ohne es zu merken, rast die Zeit dahin und wir verbringen einige Stunden in der wahnsinnig tollen Ausstellung. Mit bereits knurrendem Magen machen wir uns langsam auf den Weg raus. Wir ignorieren das Miniaturwunderland Restaurant, in dem ich bereits einige Male eine sehr gute Curry-Wurst mit Pommes gegessen hatte, aber unser Ziel liegt in dem kleinen bretonischen Crêpes-Restaurant in der Deichstraße. Über den Kehrwiedersteg geht es direkt auf der anderen Straßenseite in die Deichstraße. Matze schaut sich die urigen Häuser an und ist fasziniert von der alten und sehr gut erhaltenen Substanz.

Das Ti Breizh liegt ungefähr in der Mitte der kurzen Straße. Den Kopf einziehend betreten wir das gemütliche Lokal. Ein freundlicher Kellner begleitet uns in den zweiten Stock und gibt uns einen schönen, ruhigen Tisch in der Ecke. Schon bringt er auch die Speisekarten und wir studieren neugierig die Auswahl.

„Das ist ja ein geniales Restaurant“, strahlt mich Matze unvermittelt an. „Die Auswahl ist ja riesig und das machen die alles mit Crêpes?“

„Ja, Crêpes und Galettes. Ich bevorzuge zum Hauptgang aber die Buchweizen-Galettes, die sind wunderbar herzhaft und machen gut satt. Zum Nachtisch können wir gern noch einen Weizen-Crêpes nehmen, die sind auch total lecker.“

„Au ja, das ist eine tolle Idee. Hast du auch ’ne Empfehlung, welcher denn am besten schmeckt?“

„Den L'Estivalle“, gebe ich ohne zu überlegen von mir, „der ist mal was anderes. Der ist mit Rotezwiebel-Konfitüre an Cassis-Likör, warmem Ziegenkäse der mit Honig übergossen ist und ’ner Salatbeilage.“

Skeptisch und an meinem Geschmack zweifelnd schaut Matze mich an.

„Ja, ernsthaft, der ist total lecker“, setze ich begeistert hinterher und versuche, ihn zu überzeigen.

„Rotzwiebel-Konfitüre und Ziegenkäse?“, fragt Matze mit ’nem schiefen Grinsen im Gesicht nach. „Also süße Zwiebeln mit Ziege … vielleicht sollte ich doch anfangen, an deinem guten Geschmack zu zweifeln.“ Hätte Matze dabei nicht dieses unverschämt verschmitzte Funkeln in den Augen, wäre ich wahrscheinlich beleidigt gewesen.

Bevor ich aber zu einer Antwort ansetzen kann, steht schon der Kellner neben uns und Matze orderte zweimal die Galettes mit besagtem Belag. Dazu wählt er noch eine große Karaffe des Landweines und schon ist der Kellner wieder verschwunden.

„So, so … du zweifelst also an meinem guten Geschmack“, nehme ich unser Gespräch wieder auf, mir bewusst, dass ich eine gewisse Doppeldeutigkeit hineinlege.

„Ach ja? Tue ich das? Hm … habe ich nicht gerade das Gegenteil bewiesen?“, lächelt er verschmitzt.

„Nein“, sage ich nun etwas provozierend. „Du wolltest nur nicht unhöflich sein und den Kellner nochmals wegschicken. Du hattest deine Essenswahl noch nicht getroffen und bist nur der meinen gefolgt, um nicht in Verlegenheit zu geraten.“

„Erwischt“, gibt Matze zu und lehnt sich ein wenig zurück und schaut mich offen an. „Danke nochmals für den sehr schönen Tag heute.“ Mit diesen Worten nimmt er sofort die Schärfe aus unseren vorherigen Worten. „Ich hatte schon lange nicht mehr so viel Spaß und habe schon lange nicht mehr so viel erlebt.“

„Keine Ursache, auch ich genieße die Zeit sehr. Wir haben uns viel zu lange nicht gesehen …“, füge ich etwas melancholisch an. Und wieder ist es Matze, der meine Hand streichelt, sie dann nimmt und drückt. Erst als der Kellner mit dem Wein kommt, lässt er sie los und wir stoßen an.

„Auf ein schönes Wochenende“, hebe ich an.

„Auf ein schönes Wochenende“, gibt auch Matze zurück.

Wenig später kommen auch unsere Galettes und duften herrlich. Uns läuft das Wasser im Mund zusammen und schon beim ersten bissen bekommt Matze leuchtende Augen.

„Deine Wahl ist vorzüglich“, sagt er noch beim Kauen. Danach herrscht Stille und wir genießen schweigend unser Essen und den Wein. Auch teilen wir im Anschluss noch einen süßen Crêpes, für jeden einen hätten wir nicht mehr geschafft. Fast ist es wieder wie in unserer alten Zeiten. Während wir so zusammensitzen, kommen immer mehr Erinnerungen in mir hoch und ich spüre sehr deutlich, wie ich die vergangene Zeit vermisse und beginne die verpasste Chance mit Matze zu bedauern. Vielleicht wäre unser Kontakt mit ein wenig mehr Mut von meiner Seite nicht abgebrochen. Aber auf der anderen Seite war dort sein Vater, der unseren Kontakt unter allen Umständen verhinderte, so wie Matze mir gestern Abend mitgeteilt hatte.

„Was denkst du gerade“, werde ich von Matze aus meinen Gedanken gerissen.

„Ich habe an die Vergangenheit gedacht und daran, ob wir vielleicht eine Chance gehabt hätten, wenn wir etwas mutiger gewesen wären.“

„Nein, ich denke nicht, Kim“, sagt er nach kurzem Überlegen. Er seufzt. „Mein Vater hätte unseren Kontakt mit aller Gewalt verhindert und ein Treffen zwischen uns beiden nie zugelassen. Dich trifft keine Schuld, aber auch mich nicht wirklich, soweit bin ich mittlerweile für mich gekommen. Es waren die äußeren Umstände, mein Vater und auch die Entfernung sowie unser Alter – das in Kombination hat es uns unmöglich gemacht.“

„Aber hätten wir nicht versuchen können, uns heimlich zu treffen?“, frage ich weiter nach.

„Vielleicht, aber wie hätten wir das bewerkstelligen sollen? Wie über die ganze Zeit verheimlichen sollen? Wärst du, wenn du ehrlich zu dir selbst bist, damit auf Dauer glücklich gewesen?“

Ich schweige, denke über seine Worte nach und komme langsam zu der Erkenntnis, dass er leider Recht hat. Für uns in diesem Alter und mit all diesen Unwägbarkeiten wäre eine erfolgreiche Beziehung sehr unwahrscheinlich gewesen.

Wir trinken unseren Wein aus und machen uns langsam auf den Weg zur Elbe. Die U-Bahnstation Rödingsmarkt ist nur ums Eck und so fahren wir wenig später über St. Pauli nach Altona. Dort ankommen schlagen wir den Weg zum Altonaer Balkon ein und genießen den Blick über den Hafen.

„Wow, das ist mal ein einmaliger Ausblick …“, höre ich ihn neben mir. Langsam ziehen die Schiffe an uns vorüber, wobei man das Vibrieren der großen Motoren auch hier oben noch gut hören und sogar spüren kann.

„Ja, es ist immer wieder schön, hier zu sein“, verleihe ich seinen Worten Nachdruck.

Wir stehen nebeneinander und plötzlich ist mir danach, meinen Arm um Matze zu legen. Schon den ganzen Tag werde ich von meinen Gefühlen hin und her geworfen. Der Wind weht ein wenig seinen Duft zu mir und ich spüre immer deutlicher, wie sehr ich ihn noch immer liebe. Diese Erkenntnis trifft mich so unerwartet, dass ich einen Moment brauche, um das zu realisieren. Einen Moment zögere ich, aber gebe dann doch meinem Impuls nach und lege meinen Arm um ihn. Habe ich nicht kurz zuvor noch davon gesprochen, was gewesen wäre, wenn wir etwas mutiger gewesen wären?

Nachdem wir eine Weile so dastanden, nehme ich meinen Arm wieder runter und frage ihn: „Wollen wir noch runter zum Sandstrand gehen?“

„Klar, wenn ich schon mal die Gelegenheit habe, quasi mitten in der Großstadt sowas zu erleben, dann los.“

Schnell sind wir die Treppen runter und laufen in Richtung Övelgönne. Matze staunt nicht schlecht, als wir nach kurzer Zeit tatsächlich vor dem Sandstrand stehen. Zu meiner eigenen Überraschung ist es gar nicht mal so gefüllt. Besonders an schönen Tagen kommt man sich hier schon mal vor wie auf dem Ballermann, wenn alle wie Ölsardinen nebeneinander liegen oder gemeinschaftlich am Strand grillen.

Matze und ich ziehen unsere Schuhe aus und laufen runter zum Wasser. Der Sand ist total angenehm und leicht warm. Ein sehr schönes Gefühl, erst recht als wir vorsichtig am Rand des Wassers entlanglaufen und dort der feuchte Sand wieder fester wird. Nach diesem wahnsinnig schönen Tag ist der Strandspaziergang genau der richtige Ausklang.

„Weißt du, dass ich, etwas weiter oben am Strand, mal übernachtet habe?“, frage ich Matze.

Der schaut mich überrascht an und schüttelt den Kopf.

„Dort ist der Alte Schweden, so heißt der große Stein hier an der Elbe. Zu unserem Abi-Abschluss haben wir hier ein großes Grillen veranstaltet und dabei auch übernachtet. Jeder hat was dazu beigesteuert, einige ’nen Grill und Holzkohle, andere das Fleisch, Salate, Snacks … einfach alles, was man dazu braucht. Unsere Isomatten dienten als Sitzgelegenheit und die Schlafsäcke als Kissen.“

„Das klingt nach einem sehr schönen Erlebnis. Darf ich fragen, ob deine Mitschüler damals wussten, dass du auf Jungs stehst?“

„Klar, ich habe da kein Geheimnis draus gemacht. Ich meine, in wie weit es in der Schule bekannt war, kann ich nicht sagen, aber in meinem Jahrgang war es doch ziemlich bekannt.“

„Hattest du keine Probleme mit den anderen bekommen, als du dich geoutet hast?“

„Am Anfang war es nicht leicht“, gebe ich zu, „aber ich hatte glücklicherweise Freunde, die mich unterstützt haben und denen ich mich anvertrauen konnte. Klar gab es auch den einen oder anderen dummen Spruch, aber diese versuchte ich weitestgehend zu ignorieren. Irgendwann ließ das auch nach und wurde dann immer weniger.“

Nach einem kurzen Schweigen frage ich Matze: „Wie war das bei dir? Hast du es irgendjemanden gesagt?“

„Nein, ich habe mich niemandem anvertraut. Bis heute nicht.“ Matze schaut zu Boden und bleibt stehen. Ich spüre deutlich, wie ihn diese Tatsache belastet, mache einen Schritt auf ihn zu und lege meine Arme um ihn.

„Na ja, jetzt bist du hier in Hamburg und weit weg von allem. Hier kannst du sein, wie du willst.“ Versuche ich ihm ein wenig Mut zuzusprechen.

Tatsächlich hebt er daraufhin seinen Kopf und lächelt mich an. Lange schauen wir uns in die Augen, bis er die Situation mit einem leisen „Danke“ beendet.

Wenig später gehen wir den Weg zurück nach Altona und fahren mit der U-Bahn nach Hause. Dort angekommen geht Matze auf die Terrasse und befreit erst mal seine Schuhe vom Sand und klopft seine Hosen nochmals aus.

„Haben wir den ganzen Strand mit nach Hause gebracht? Wir hatten doch gar keine Schuhe an …“, fragt er mich lachend durch die offene Tür. Ich stimme in seine gute Laune ein und frage ihn, als er wieder in die Wohnung kommt:

„Willst du vor dem Essen noch duschen?“

„Keine schlechte Idee, der Tag war ganz schön anstrengend“, lächelt er mich glücklich an. „Da tut ’ne Dusche jetzt richtig gut.“

„Soll ich schnell zuerst? Dann kann ich schon mal mit dem Abendessen starten, während du duschst.“

„Da sage ich nicht nein, bekochen lasse ich mich gern.“

Gesagt und getan. Schnell gehe ich unter die Dusche und freue mich über die Erfrischung. Als ich mich abgetrocknet habe, stelle ich allerdings fest, dass ich wohl ein wenig zu schnell ins Bad verschwunden bin. Ich habe keine frischen Sachen mitgenommen. Kurzentschlossen schlinge ich mir mein Handtuch um die Hüfte und verlasse das Bad. Matze sitzt währenddessen auf dem Sofa, hantiert mit seinem Telefon und schaut kurz zu mir hoch, als ich ihm zurufe, dass er jetzt rein kann. Ich muss aber unwillkürlich lächeln, als ich die Schlafzimmertür hinter mir schließe, denn mir ist sein offener Mund natürlich nicht entgangen, als ich so an ihm vorbei gegangen bin. Offenbar scheine auch ich ihm noch immer zu gefallen. Davon beschwingt ziehe ich mir wieder etwas an und mache mich in der Küche an die Arbeit.

Da ich ein wenig Musik angemacht habe und leicht am Mitsummen bin, bekomme ich nicht mit, wie Matze sich zu mir gesellt. Wie lange er mich schon beobachtet hat, kann ich nicht sagen, ich schrecke nur unheimlich zusammen, als ich plötzlich seinen Arm um mich spüre und er mich fragt, was ich denn gerade Schönes mache.

„Himmel, hast du mich erschreckt“, quietsche ich ihn an und mache einen beherzten Satz zur Seite. Nach einer kurzen Schrecksekunde beginnt Matze schallend zu lachen und hebt entschuldigend seine Hände.

„Sorry, ich wollte dich nicht so erschrecken, aber du warst so konzentriert und am Mitsummen, dass du mich nicht gehört hast. Ich habe sogar gefragt, ob ich dir was helfen kann, aber da du noch immer nicht reagiert hast, habe ich gedacht, ich versuche es mal so“, sagt er noch immer lachend.

„Du hast mich fast zu Tode erschreckt“, gebe ich noch immer etwas geschockt von mir, kann mir aber ein Grinsen auch nicht mehr verkneifen. Ich mache einen Schritt auf ihn zu und gebe ihm mit der Hüfte einen leichten Schubs. „Dort liegen die Zwiebeln, zur Strafe darfst du die schälen und würfeln.“ Mit einem gespielt schmollenden Gesicht macht er sich an die Arbeit.

Das gemeinsame Kochen macht uns beide viel Spaß und immer wieder kommt es zu kleinen Körperkontakten. Beginnend mit einem leichten Anschubsen, wenn wir etwas vom anderen gereicht haben wollen, über leichten Berührungen, wenn wir um einander herumgreifen bis schließlich hin zu einem leichten Anlehnen, wie wir es schon früher immer gemacht haben. Über das gesamte Kochen hinweg breitet sich in mir eine wohlige Wärme aus, welche immer intensiver wird. Aber auch Matze scheint diese entspannte Atmosphäre und den alten Umgang nicht unangenehm zu finden.

Gemeinsam decken wir schließlich den Tisch und stellen alles bereit. Matze öffnet noch schnell die Flasche Wein, welche ich ihm angereiche, und schon kann es losgehen.

„Das Essen ist wirklich super lecker“, merkt er zwischendurch an.

„Danke, aber es ist ja nicht nur mein Verdienst. Ich denke, das haben wir super gemeinsam hinbekommen“, gebe ich das Kompliment an ihn zurück. Er erwidert meinen Blick mit einem Lächeln. Ich habe den Eindruck, bei ihm eine leichte Röte im Gesicht zu erkennen, als wir uns so ansehen. Langsam greife ich über den Tisch hinweg nach seiner Hand. Als wir uns berühren, durchläuft ein Kribbeln meinen Körper und ich fühle mich wie vor zwei Jahren, als wir uns langsam angenähert hatten. Die leichte Röte in seinem Gesicht wird dabei noch einen Tick intensiver.

„Magst du noch was?“, frage ich in die Stille hinein. Etwas überrascht schaut er mich an. Erst da wird mir die Doppeldeutigkeit meiner Worte bewusst, welche ich gar nicht beabsichtigt hatte. Und nun ist es an mir, die Farbe zu wechseln, und ich ziehe meine Hand schnell wieder zurück. Matze bekommt dabei ein Glänzen in den Augen und beginnt, als ich bereits ein Sorry nuschle, herzhaft zu lachen.

„So war das nicht gemeint“, schiebe ich etwas zerknirscht hinterher, stehe auf und beginne, den Tisch abzuräumen. Noch immer lachend folgt mir Matze in die Küche. Dort nehme ich ihm die beiden Teller aus der Hand und räume sie in die Spülmaschine. Nachdem wir den Tisch komplett abgeräumt und das Küchenchaos beseitigt haben, setzen wir uns noch einen Moment mit dem Rest unseres Weines auf die Coach und unterhalten uns über unverfänglichere Dinge.

„Magst du ins Bett gehen?“, frage ich Matze, als er wiederholt gähnt.

„Ja, ist vielleicht keine schlechte Idee, ist ja auch schon recht spät geworden.“

„Okay, dann lass uns mal Zähneputzen gehen.“ Ich nehme die Weingläser und bringe sie in die Küche, während Matze seine Zahnbürste aus dem Schlafzimmer holt. Gemeinsam gehen wir ins Badezimmer und machen uns bettfertig. Die Frage, ob er bei mir im Bett oder auf dem Sofa schlafen möchte, stellt sich irgendwie gar nicht mehr. Dies fällt mir auf, als wir uns bereits im Schlafzimmer ausziehen. Nur mit Boxershorts bekleidet schlüpfen wir ins Bett und ich schalte das Licht aus.

„Weißt du, dass wir noch nie zusammen in einem Bett geschlafen haben“, sagt Matze neben mir.

„Stimmt, auf der Freizeit hatten wir immer getrennte Betten, auch wenn wir immer nebeneinander geschlafen hatten.“

„Wie gern wäre ich damals immer zu dir ins Bett gekrochen und hätte mit dir gekuschelt. Vor allem an unserem letzten Abend ... nach unserem ersten Kuss …“, fügt er nach einer kurzen Pause mit einem Seufzen hinzu.

Ich drehe mich zu ihm um und kann sein Gesicht im leichten Mondschein, welcher durch das Fenster aufs Bett fällt, erkennen. Matze schaut nach oben an die Decke, die Arme hinter seinem Kopf verschränkt. Bei der Erinnerung an unseren Kuss durchströmt mich wieder dieses Kribbeln und mein Verlangen, ihn hier und heute zu berühren, wird immer stärker.

Meine Scheu überwindend rücke ich nun dichter an Matze heran, welcher mich daraufhin mit einem Lächeln ansieht und seine Bettdecke anhebt. Als ich mich an ihn schmiege, scheinen unsere Körper zu verschmelzen. So lange haben wir auf diesen Moment gewartet und nun ist es endlich so weit. Die Gefühle, welche in mir frei werden, kann ich kaum in Worte fassen, so intensiv ist die Wahrnehmung. Matze hat seine Arme um mich geschlungen und drückt mich fest an sich. Ich kann sein leichtes Zittern spüren und streiche behutsam mit meiner freien Hand über seinen Bauch. Sofort stellen sich bei mir alle Härchen auf und auch er atmet hörbar ein. Als ich nun meinen Kopf anhebe, kommt er mir ein wenig entgegen. Unsere Lippen treffen sich und ein wahres Feuerwerk geht durch mich hindurch. Würde ich nicht schon liegen und von ihm festgehalten werden, es würde mir den Boden unter den Füßen wegziehen. In diesem Kuss liegt unsere gesamte Vergangenheit, das intensive Kennenlernen, unser erster schüchterner Kuss, die Verzweiflung nach unserer Trennung, die Hoffnung bei jedem Kontakt, die Trauer über den Verlust des geliebten Freundes und nun die wiedergefundene Freude … diese Explosion der Gefühle nach all der Zeit raubt mir schier den Verstand. Aber nicht nur mir, wie es scheint. Auch Matze versinkt mit mir völlig in diesem Kuss.

Schwer atmend lassen wir kurz voneinander ab, nur um noch intensiver in einen weiteren Kuss einzutauchen. Wir werden immer fordernder und erkunden den bekannten und doch so unbekannten Körper des Anderen. Irgendwann sind auch die letzten Hüllen gefallen und wir steigern uns immer mehr in unsere Lust. Lustvolles Stöhnen entrinnt uns immer lauter und wir sind beide schon kurz vorm Höhepunkt.

„Fick mich“, stöhnt Matze zwischen zwei Küssen und ich komme dem Wunsch nur zu gern nach. Als ich in ihn eindringe, entrinnt ihm ein derart erotisches Keuchen, dass ich an mir halten muss, um nicht sofort in ihn zu kommen. Vorsichtig beginne ich, mich in ihm zu bewegen und merke schnell, wie Matze sich automatisch jeder meiner Bewegungen anpasst, fast synchron mitgeht. Wir steigern uns immer weiter in unser Liebesspiel und kommen wenig später fast gleichzeitig.

Als Matze bereits eingeschlafen ist und ich in seinem Arm liege, denke ich, dass wir tatsächlich füreinander bestimmt sind und freue mich, dass wir uns endlich gefunden haben. Morgen müssen wir unbedingt besprechen, wie wir unsere Beziehung festigen und weiter ausbauen können. Mit diesen wunderschönen Gedanken im Kopf und einem Lächeln im Gesicht, schlafe auch ich schließlich ein.

Am nächsten Morgen weckt mich die Sonne, die mich in der Nase kitzelt. Noch mit geschlossenen Augen atme ich tief ein und rücke ein Stück näher an Matze heran. Doch als ich in seine Richtung rutsche, finde ich nur Leere. Etwas irritiert drehe ich mich um und schaue auf das Bett neben mir. Tatsächlich, er ist nicht da.

Ein Räuspern lässt mich in Richtung Tür blicken. Zu meiner Überraschung steht Matze dort bereits komplett angezogen und mit unglücklichem Blick. Bevor ich auch nur etwas sagen kann, hebt er die Hand und stoppt mich.

„Es tut mir leid, Kim. Bitte glaub mir, die Nacht mit dir war das Beste, was mir je passiert ist, aber es geht nicht.“

Völlig perplex schaue ich Matze an und kann seinen Worten gerade nicht folgen. Was hat das alles zu bedeuten? Bevor ich aber etwas sagen kann, holt Matze tief Luft und fährt fort.

„Meine Freundin ist im zweiten Monat schwanger.“

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