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Bin immer für dich da

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Kai schenkte Tobi sein schönstes Lächeln und gab ihm einen sanften Kuss. Händchen haltend standen sie mitten im Flur in der Wohnung von Tobis Eltern und versuchten, den Moment des Abschieds noch ein wenig hinauszuzögern.

„Ich will nicht, dass du gehst.“, meinte Tobi unglücklich.

„Ach, Süßer…“ Kai strich ihm durch sein rotbraunes Haar.

„Ich muss. Meine Eltern machen sonst Terror. Ich würde ja auch lieber hier bleiben, aber wenn ich nicht mit zu dem Geburtstag meiner Oma komme, hängt daheim wieder der Haussegen schief.“

Tobi seufzte herzerweichend.

„Aber“, er schaute mit seinen Rehaugen zu Kai auf,

„wir wollten doch heute Nachmittag…“

„…ins Kino gehen. Ich weiß. Bis dahin bin ich doch wieder da.“

Tobi war sich da nicht so sicher. Solche Geburtstage konnten lange dauern. Wahrscheinlich würde er nachher allein vor dem Kino stehen und vergeblich auf seinen Schatz warten. Er schüttelte den Kopf. Nein, das wollte er nicht.

Plötzlich hörten die beiden den Hausschlüssel in der Tür und noch im selben Augenblick betrat Tobi’s Vater die Wohnung. Sofort ließ Tobi Kai’s Hand los. Sobald Herr Schenke die beiden Jungs gesehen hatte, verzog er ärgerlich das Gesicht, sagte jedoch nichts. Schweigend drängte er sich an ihnen vorbei ins Wohnzimmer.

„Ich glaub, jetzt muss ich wirklich gehen.“, sagte Kai.

Tobi nickte langsam und folgte seinem Freund zur Haustür, die noch offen stand. Ein unmissverständliches Zeichen von Tobi’s Vater für Kai, endlich zu verschwinden. Im Türrahmen blieb er stehen und drehte sich zu Tobi um.

„Zum Kino bin ich wieder da, versprochen.“

Er wollte sich zu Tobi hinunterbeugen, um ihm einen Abschiedskuss zu geben, überlegte es sich dann aber anders. Genau die richtige Entscheidung, denn Herr Schenke kam aus dem Wohnzimmer, blieb einen Moment lang im Flur stehen, um Kai einen bösen Blick zuzuwerfen und verschwand dann in der Küche. Die beiden sahen sich hilflos an. Warum konnten Eltern es nicht akzeptieren, wenn der Sohn schwul war? Diese Frage hing zusammen mit ihrem Schweigen zwischen ihnen. Bei Kai’s Eltern war es noch schlimmer. Die drehten durch, sobald sie den Namen Tobias nur hörten. Und wenn irgendwo mal das Wort „Schwul“ oder „Homosexuell“ fiel, sahen sie Kai vorwurfsvoll und missbilligend an, als könnte er etwas für seine Gefühle.

„Das Leben ist grausam.“, sagte Kai leise und versuchte zu lächeln.

Doch Tobi schien ihn gar nicht gehört zu haben. Abwesend schaute er an ihm vorbei und starrte die Wand hinter ihm an. Erst nach einigen Sekunden fasste er sich wieder.

„Was hast du gesagt?“, fragte er und blickte Kai entschuldigend an.

„Sorry, ich war grad irgendwie weg.“

„Macht nichts. War nicht so wichtig.“

Kai machte eine kurze Pause.

„Also, ich geh jetzt. Wir sehen uns nachher, ok?“

„Ok. Aber komm ja pünktlich!“

„Natürlich.“

Nachdem er sich vergewissert hatte, dass Herr Schenke noch in der Küche war, beugte er sich zu Tobi hinunter und flüsterte ihm ein „Ich liebe dich.“ ins Ohr. Noch ein letzter verliebter Blick und schon ging er die Treppe hinab, die zu der Wohnung führte. Tobi schaute ihm nach und schloss die Tür, als er ihn nicht mehr sehen konnte.

Auf seinem Weg nach Hause ließ Kai die Szene, in der Herr Schenke in die Wohnung gekommen war und auch alle anderen, in denen er ihn und Tobi zusammen gesehen hatte, noch einmal Revue passieren. Er wollte diesen abstoßenden Blick nicht länger ertragen müssen. Tobi’s Mutter war genauso wenig erfreut über diese Beziehung, aber da sie aufgrund ihres Jobs meistens außer Haus war, merkte man davon Gott sei Dank nur selten etwas.

Wann würden Tobias’ Eltern und seine eigenen – und überhaupt alle – endlich einsehen, dass es ganz natürlich war, wenn sich zwei Menschen liebten, egal ob hetero-, homo- oder bisexuell. Schließlich lebten sie im 21. Jahrhundert, da konnte man doch wohl ein bisschen mehr Toleranz erwarten, oder?

Er schüttelte den Kopf. Was dachte er da eigentlich? Toleranz? Reines Wunschdenken! Fakt war, dass ihre Eltern über die beiden Bescheid wussten. Auch in Tobi’s Klasse war es bekannt, dass Tobi auf Jungs stand, nachdem es durch einen unglücklichen Zufall herausgekommen war. Zwar wussten seine Mitschüler nichts von Kai, doch die Tatsache, dass Tobi „andersrum“ war reichte, um ihn von nun an fertig zu machen. Das schlimmste war aber, dass Kai nichts dagegen tun konnte, weil er auf eine andere Schule ging. Dort hatte er keine Probleme. Seine Homosexualität war bis jetzt noch geheim, wenn man mal die Eltern außer Betracht ließ.

Seufzend trat er durch das Gartentor, denn er war inzwischen zu Hause angekommen. Seit einem halben Jahr waren er und Tobi ein Paar und von Tag zu Tag liebte er ihn mehr. Dieses wundervolle Glück würde er sich von keinem streitig machen lassen. „Auch nicht von euch.“, dachte er verbittert, als er die Haustür aufschloss und seinen Eltern entgegentrat, die wissen wollten, wo er denn schon wieder gewesen sei.

Der Film war kurz nach halb sechs zu Ende. Kai hatte es tatsächlich noch geschafft, pünktlich zu erscheinen und trat nun zusammen mit Tobi aus dem Kino. Draußen war es immer noch taghell, was daran lag, dass es Mitte Juni war und in dieser Jahreszeit sind ja die Tage bekanntlich alle recht lang. Lang, sonnig und heiß. (Es sei denn, man lebte in Deutschland, da regnete es zwischendurch auch mal ein paar Tage). Nur in einem unterschied sich der heutige Abend von den vorherigen. Im Gegensatz zu jenen, die unerträglich heiß gewesen waren, war es heute angenehm warm. Ein leichter Wind vertrieb die furchtbare Hitze und verwehte die Asche, die Kai von seiner Zigarette geschnipst hatte.

„Ich dachte, du hast aufgehört?“, sagte Tobi verwundert.

„Na ja…Wollte ich ja, aber irgendwie ist das gar nicht so einfach…“

Tobi schüttelte lächelnd den Kopf, griff nach der Zigarette und zog ebenfalls daran. „Umso besser für mich.“, meinte er und stieß genüsslich den Rauch aus.

„Von wem sollte ich mir sonst das Nikotin besorgen?“

„Wie wär’s denn mal mit selber kaufen?“

„Ich hab doch gar kein Geld dafür.“

„Ach, aber ich oder was?“ Kai holte die Marlboroschachtel aus seiner Hosentasche und nahm sich eine neue Zigarette, da Tobi keine Anstalten machte, ihm seine Alte wiederzugeben.

„Ja, wen haben wir denn da?“, hörten sie eine Stimme hinter sich sagen.

Als sie sich umdrehten, sahen sie Thorsten und Dennis, zwei Klassenkameraden von Tobi, aus dem Kino kommen.

„Tobias und sein erster Stecher!“, sagte Dennis hämisch und die beiden Jungs fingen an zu lachen.

Kai machte ärgerlich einen Schritt auf Dennis zu.

„Hör mal zu, du Spasti!“, zischte er wütend.

„Ich bin nicht Tobis Stecher, ich bin sein…“

„Kumpel!“, fiel Tobi Kai hastig ins Wort.

Kai drehte sich verwundert zu ihm um. Kumpel? Hatte er richtig gehört?

„Ich glaub’, mich knutscht ’n Elch!“, dachte er.

Kumpel?! Das war ja wohl die Höhe!

„Ach so ist das.“

Thorsten baute sich wenige Zentimeter vor Tobi auf und sah ihn mitleidig an.

„Also immer noch Jungfrau?“

Dennis lachte wieder. Thorsten grinste, nahm Tobi die Zigarette ab, zog kräftig daran und blies ihm den Rauch ins Gesicht. Sofort fing Tobi an zu husten.

„Verpiss dich, Thorsten!“, keuchte er.

„Na, na.“

Er versetzte Tobi einen Stoß gegen die Schulter, sodass dieser zurücktaumelte.

„So redet man aber nicht mit mir. Und überhaupt…“

Er schubste ihn erneut.

„Was willst du Schwuchtel schon gegen mich machen?“

„Das reicht!“, dachte Kai, als er sah, wie Thorsten mit seinem Schatz umging.

Mit einer energischen Handbewegung schmiss er seine Zigarette weg und packte Thorsten an den Schultern. Mit einem Ruck zog er ihn von Tobi weg und drückte ihn mit dem Rücken gegen die Außenwand vom Kino

. „Das gibt gleich eine Schlägerei“, wurde es Tobi bewusst.

Thorsten und Kai sahen sich hasserfüllt in die Augen, und Dennis ging hinter den beiden in Stellung, bereit ,Kai eine reinzuhauen, falls er gleiches bei Thorsten versuchen sollte.

„Wenn du dich nicht sofort vom Acker machst, zeig ich dir, wie man mit Leuten wie dir

umgeht.“, sagte Kai drohend.

Thorsten schien keineswegs beeindruckt, obwohl er derjenige war, der im wahrsten Sinne des Wortes mit dem Rücken zur Wand stand.

„Nimm deine schwulen Finger von mir.“, knurrte er.

Kai tat so, als hätte er es nicht gehört.

„Fass noch einmal Tobi an und du bist tot, kapiert?!“

Thorsten grinste nur.

„Uhh! Jetzt spielt er den großen Beschützer!“

Mit einer raschen Bewegung zog er sein Knie hoch und zielte zwischen Kai’s Beine. Doch Kai war schneller und konnte noch in allerletzter Sekunde zur Seite ausweichen. Im selben Moment hieb er Thorsten seine rechte Faust in die Magenkuhle. Das war Dennis Einsatz. Während sich Thorsten noch vor Schmerzen krümmte, trat er Kai in die Kniekehle, sodass Tobi mit ansehen musste, wie sein Freund zu Boden ging.

Was sollte er tun? Er war kein Schlägertyp. Das war eigentlich mehr Kai’s Sache. Aber irgendetwas musste er unternehmen! Hilflos suchte er die Straße mit den Augen ab. Keine Menschenseele zu sehen. Das war doch das Kino! Da müssten doch viele Leute rumlaufen! Aber außer ihnen war weit und breit niemand.

Thorsten hatte sich wieder einigermaßen erholt und trat nun zusammen mit Dennis auf Kai ein, der immer noch am Boden lag. Dort unten hatte er gegen die beiden keine Chance. Tobi rammte Dennis mit der Schulter.

„Lasst ihn in Ruhe!“, schrie er.

Dennis beförderte ihn mit einem gekonnten Stoß gegen die Wand.

„Uff!“

Tobi blieb die Luft weg. Kaum war er wieder zu Atem gekommen, versuchte er es bei Thorsten – mit dem gleichen Ergebnis.

„Das gibt’s doch nicht!“, dachte er verzweifelt.

Kai war inzwischen wieder auf die Beine gekommen und hatte Dennis einen Zahn ausschlagen können. Doch Thorsten hielt ihn nach dem kleinen Zwischenfall mit Tobias fest und Dennis versetzte ihm einen Hieb nach dem anderen. Kai trat wie wild um sich, doch es nütze nichts. Thorsten war zwar fünf Zentimeter kleiner als er, aber dafür war er anscheinend stärker.

„Was soll ich tun? Was soll ich tun?“, wiederholte Tobi in Gedanken.

Hastig schaute er sich nach irgendetwas um, womit er den beiden eine überziehen konnte, aber er fand nichts. Nicht mal einen Stock oder etwas Ähnliches. Da stach ihm plötzlich etwas ins Auge. Er bückte sich und hob die Zigarette, die Kai weggeschmissen hatte, auf. Sie war noch nicht ausgegangen, was ihm nun sehr von Nutzen sein konnte.

Er stellte sich hinter Thorsten und drückte ihm die glühende Zigarette an den Hals.

„Ahh!“

Sofort ließ er Kai los. Endlich wieder Hände und Füße frei, schlug dieser sogleich auf Dennis ein. Er versetzte ihm einen Tritt gegen das Schienbein und landete einen Fausthieb gegen Dennis’ Unterkiefer. Ein weiterer Zahn oder zumindest ein Stück davon, flog auf den Gehweg. Zu guter Letzt trat er ihm mit voller Wucht zwischen die Beine. Dennis schrie auf und fiel mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden. Da Dennis nun anscheinend erledigt war, wollte sich Kai Thorsten zuwenden, aber der kämpfte bereits mit den Schmerzen. Nach der Attacke mit der Zigarette, hatte er vorgehabt, Tobi seine Faust sonst wohin zu donnern, jedoch war Tobi geschickt ausgewichen, und so hatte er nur den Laternenpfahl getroffen.

„Oh! Ich bring euch beide um!“, stöhnte er und hielt sich die rechte Hand.

Tatsächlich sah sie so aus, als wäre sie gebrochen. Kai zog unbeeindruckt Dennis am T-Shirt hoch und packte auch Thorsten am Kragen.

„Verpisst euch endlich!“, fauchte er.

„Sonst bring ich nämlich euch um!“ Er ließ die beiden los, woraufhin sie sich gleich in Bewegung setzten. Am Ende der Straße drehte sich Thorsten noch einmal um und brüllte: „Wir sehen uns in der Schule, Tobilein! Da mach ich dich fertig!“

Dann bog er mit Dennis um eine Ecke und war verschwunden.

„Was für Wichser!“, sagte Kai und wischte sich das Blut vom Mundwinkel.

Seine Lippe war aufgeplatzt und ihm fehlte ebenfalls ein Stück von einem Zahn. Tobi war recht unversehrt geblieben, aber Kai sah echt schlimm aus. An einer Stelle war sein T-Shirt zerrissen und er hatte überall Schrammen und Kratzer.

„Verdammt!“

Er spuckte ein wenig Blut aus.

„Dieses Arschloch hat mich voll erwischt!“

Er sah Tobi fragend an.

„Sehe ich sehr schlimm aus?“

Anstatt zu antworten, sah Tobi zu Boden.

„Das sagt ja dann wohl alles.“, meinte Kai, als er keine Antwort bekam

. „Tut mir Leid.“, murmelte Tobi.

„Ich wollte nicht, dass das passiert.“

Kai seufzte.

„Ich auch nicht. Aber jetzt kann man es nicht mehr ändern.“

Er ging zu seinem Fahrrad und schloss es auf. Während er noch mit dem

Schlüssel beschäftigt war, fragte er:

„Was sollte das eigentlich heißen?“

„Was?“

Tobi tat es Kai gleich und öffnete sein Fahrradschloss. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie Kai vergeblich mit dem Feuerzeug kämpfte, in dem Versuch, sich eine Zigarette anzuzünden. Irgendetwas wurmte ihn, das wusste Tobi – und es war nicht die Schlägerei. Kai’s Miene verriet, dass er über etwas anderes verärgert oder wegen etwas beleidigt war.

„Komm, lass mich mal.“

Tobi konnte nicht länger mit ansehen, wie sich Kai mit dem Feuerzeug abquälte und nahm es ihm aus der Hand. Bereits beim ersten Versuch klappte es, und die Zigarette gab ihren Rauch an die Luft ab. Brummend steckte Kai das Feuerzeug wieder weg.

„Das mit dem ‚Kumpel’, meine ich.“, sagte er, nachdem er einige Züge getan hatte. „Kumpel?“ Tobi überlegte angestrengt. Plötzlich erhellte sich sein Gesicht, doch schon in der nächsten Sekunde wurde er verlegen.

„Ach, das meinst du.“

„Ja, genau das mein ich. Bin ich dir denn so peinlich?“

„Nein. Ich…“

„Und dann noch vor diesen Typen.“

Kai nickte in die Richtung, in die Dennis und Thorsten verschwunden waren.

„Ich dachte eigentlich, du würdest zu mir stehen.“

Mit diesen Worten schwang er sich auf sein Rad.

„Kai! Warte!“

„Was denn?“

„Es tut mir Leid. Ich wollte…Ich…Ich weiß auch nicht…“

Tobi verstummte. Was sollte er jetzt sagen? Natürlich war es falsch gewesen. Kai musste wirklich verletzt sein. Wenn er sich vorstellte, Kai würde ihn als Kumpel bezeichnen… Er wäre genauso enttäuscht.

„Ich fahr jetzt.“, unterbrach Kai seine Gedanken.

„Wir sehen uns dann.“

Im Fahren zog er noch einmal an der Zigarette, bevor er sie von sich schnipste. Tobi blieb allein zurück und sah ihm nach.

„Kai.“, dachte er. „Ich liebe dich doch…“

Um zehn Uhr lag Kai immer noch hellwach in seinem Bett und dachte nach. Während er an die Decke starrte, ließ er wieder und wieder eine silberne Kette mit einem Herzanhänger durch seine Finger gleiten. Die Kette hatte er letzte Woche in der Stadt gekauft und vorgehabt, sie Tobi zu schenken, nur war er irgendwie noch nicht dazu gekommen. Er war einfach zu vergesslich. Aber jetzt dachte er an die Kette, dachte an Tobi und es wäre genau der richtige Zeitpunkt, sie ihm zu schenken. Sozusagen als Zeichen seiner Liebe, als Zeichen dafür, dass es ihm Leid tat, wie er sich vor dem Kino benommen hatte.

„Ich hätte mich nicht so aufführen sollen. Es gibt schließlich Schlimmeres.“

Was wäre wohl passiert, wenn Tobi ‚Freund’ gesagt hätte, so wie er selbst es hatte tun wollen. Wahrscheinlich hätten Dennis und Thorsten einen blöden Spruch nach dem anderen über sie abgelassen.

Er seufzte. Auf der einen Seite konnte er Tobi verstehen. Worte können auch ganz schön weh… Auf der anderen Seite…

„Kumpel!“, dachte Kai.

Natürlich können Worte ebenfalls wehtun.

Er verdrängte all seine Gedanken und sah auf die leere Stelle neben sich, wo sonst Tobi schlief, wenn seine Eltern nicht zu Hause waren. Wie sehr er diese Augen vermisste! Die Augen, die süße Nase, die wundervollen Lippen… Seinen Geruch, seine Wärme und seine Nähe! Er wollte Tobi jetzt bei sich haben, sich an ihn kuscheln und nie wieder gehen lassen. Je mehr er an Tobi dachte, desto größer wurde die Sehnsucht. Er betrachtete noch eine Weile das Kissen neben sich und stand dann entschlossen auf. Rasch zog er sich Jeans und T-Shirt an und verließ dann leise sein Zimmer. Im Flur schlüpfte er in Turnschuhe und Jacke und schlich sich aus dem Haus. Die Kette hielt er immer noch in der Hand.

Millionen von Sternen funkelten am Firmament, als er die Straße hinunter ging. Während er sich Schritt für Schritt Tobi’s Haus näherte, suchte er nach Sternenbildern. Der große und der kleine Wagen, der Orion, der Delphin… Es war eine wunderbare Nacht. Sogar zwei Sternschnuppen huschten über den Himmel. Nur der Mond war nicht zu sehen.

Nach fünf Minuten bog er in die Straße ein, in der Tobi wohnte. Die Häuser am Straßenrand lagen allesamt dunkel und still im Schatten. Kai bewegte sich im Licht der Straßenlaternen.

Jedenfalls bis er an die einzige in dieser Straße kam, die kaputt war. Als er ins Dunkel trat, blieb er einen Augenblick stehen. In seiner linken Hosentasche suchte er nach dem Hausschlüssel. Dem Schlüssel, den Tobi ihm gegeben hatte, für den Fall, dass er ihn nachts heimlich besuchen wollte. Kai hatte ihm ebenfalls einen Schlüssel von seinem Haus dagelassen. So konnten sie, wenn die Eltern tief und fest schliefen, sich rausschleichen und einander sehen, wann immer sie wollten. Es war außergewöhnlich, es war aufregend. Und die Vorfreude, gleich in den Armen seines Schatzes zu liegen und darin einzuschlafen, war einfach…unbeschreiblich. Nur noch ein paar Minuten und dann würde er die ihm so vertraute Szene wieder erleben. Erst durch die Haustür, leise die Treppe hinauf in Tobi’s Zimmer, sich entkleiden und zu ihm ins Bett legen. Dann ihn sanft am Nacken küssen, dabei die Hand unter sein T-Shirt gleiten lassen und ihn am Bauch streicheln.

Tobi würde wieder sein „Mhhh.“ von sich geben, sich umdrehen, ihn anlächeln und sagen: „Schön, dass du da bist.“

– und dann würden sie sich küssen. So lief es immer ab. Kai liebte das. Besonders den Satz:

„Schön, dass du da bist.“ Er könnte das immer und immer wieder von Tobi hören. Schön, dass du da bist. Schön, dass du da bist…

Gleich war er da. Nur noch fünf Häuser trennten ihn von seinem Ein und Alles. Er setzte sich wieder in Bewegung, die andere Straßenseite als Ziel. Kaum war er einen Schritt aus dem Schatten herausgetreten, hörte er lautes Hupen und kurz darauf spürte er den Aufprall. Die Luft blieb ihm weg und er landete auf der Straße. Alles tat ihm weh. Er bemerkte, eine warme Flüssigkeit auf der Schläfe, der Wange und dem Kinn. Was war das? Was zum Teufel lief ihm da über das Gesicht? Und was hatte ihn gerammt? Er wandte den Kopf und stöhnte. Allein diese kleine Bewegung verursachte höllische Schmerzen. Am Ende der Straße sah er gerade noch, wie sich zwei Rücklichter eilig entfernten. Irgendein Idiot musste ihn angefahren haben. Wie war er überhaupt auf die bescheuerte Idee gekommen, die Straße an der einzigen Stelle zu überqueren, an der kein Licht brannte? Und warum hatte er sich nicht umgeschaut, ob ein Auto kommt? Im Grunde war es jetzt eh zu spät, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, doch diese Fragen umkreisten ihn immer wieder, während er sich vorsichtig aufsetzte. Schmerz schoss ihm das Rückrat hinunter und in die Arme und Beine. Ganz langsam bewegte er seine Gliedmaßen und den Kopf und stand dann noch langsamer auf. Gebrochen schien nichts zu sein. Abgesehen davon, dass ihm alles wehtat und er etwas benommen war, schien ihm nicht zu fehlen. Immerhin lebte er noch.

Mit einem Mal vergaß er jedoch alles. Sein Kopf wurde glasklar, als er die Kette sah. Sie lag ungefähr anderthalb Meter neben ihm – und war kaputt. Wer immer in dem Auto gesessen hatte, war über sie gefahren und hatte sie zertrümmert. Tränen schossen Kai in die Augen. „Das war Tobi’s Kette!“, dachte er wütend.

„Du Wichser musstest sie kaputt machen!“

Daran, dass er – mehr oder weniger – auch kaputt war, dachte er nicht. Für ihn zählte nur die Kette. Geknickt schlich er zu Tobi’s Haus, holte den Schlüssel aus der Hosentasche und schloss die Tür auf. Bevor er die Treppe hinaufstieg, wischte er sich das Blut mit einem Taschentuch aus dem Gesicht. Danach begab er sich in Tobi’s Zimmer, wo er feststellen musste, dass das Bett leer war. Wo war Tobi? Er zog seine Schuhe aus und setzte sich auf eines der Kissen. Von hier aus konnte er direkt aus dem Fenster und zu den Sternen sehen. Nach wenigen Minuten hörte er die Toilettenspülung aus dem Badezimmer neben an und kurz darauf kam Tobi mit zerzausten Haaren und verdrehtem T-Shirt ins Zimmer. Anscheinend hatte er schon geschlafen. Mit einem herzzerreißenden Gähnen kroch er unter die Decke, legte seinen Kopf auf Kai’s rechtes Bein und schloss die Augen. Lächelnd strich Kai Tobi liebevoll über das Haar. Er erwartete, den Satz „Schön, dass du da bist.“ zu hören, doch vergeblich. „Na, dann heute eben nicht.“, dachte er und lehnte sich an die Wand.

„Ich hatte so ein schönes Geschenk für dich.“, sagte er leise.

„Aber so ein Idiot hat…“ Er verstummte, als Tobi erneut gähnte.

„Da ist aber jemand müde. Na ja, ich kann dir die Geschichte auch morgen erzählen.“

Eine Weile schwieg er. In seinem Kopf dröhnte es, ihm war schlecht und sein linker Arm tat auf einmal mehr weh, als vorhin.

„Ich wollte dir eigentlich nur sagen, dass es mir Leid tut. Ich hätte mich nicht so aufspielen dürfen.“

Er machte eine weitere Pause und sah auf Tobi hinunter

. „Ich liebe dich.“, flüsterte er.

Tobi rührte sich nicht. Seinem ruhigen Atem nach zu urteilen, schlief er schon wieder. Kai lächelte und betrachtete die Sterne. Unter ihrem sanften Schein und mit dem schlafenden Tobi neben sich, schlummerte auch er kurze Zeit später.

Als er am nächsten Morgen aufwachte, war Tobi bereits auf den Beinen. Fix und fertig angezogen, fummelte er an seiner Anlage herum.

„Blödes Ding! Nun geh schon an!“

Kai grinste. Die Anlage spann manchmal und ließ sich erst gar nicht anschalten. Genervt warf Tobi die Cd, die er in der Hand hielt, auf den Schreibtisch.

„Dann eben nicht.“

Kai setzte an, etwas zu sagen, da unterbrach ihn die Türklingel.

„Nanu? Wer klingelt denn so früh?“, fragte er sich und sah auf den Wecker, der auf dem Nachttisch stand.

Ok, so früh… Es war kurz nach halb elf. Was er außer der Uhrzeit noch bemerkte, war, dass er die Nacht im sitzen geschlafen hatte. Gähnend streckte er Arme und Beine von sich. „Au!“ Sie taten immer noch weh.

„Tobi!“

Kai wandte den Kopf. Saskia und Anne, zwei Mädchen aus Tobi’s Klasse, kamen ins Zimmer.

„Was ist denn los?“, fragte Tobi, als er die bestürzten Gesichter der beiden sah

„Ist was passiert?“

„Ich…Wir…“, stotterte Saskia.

Selbst von dem Bett aus konnte Kai sehen, dass sie Tränen in den Augen hatte.

„Was ist denn los?“, fragte nun auch er, aber keiner antwortete ihm.

Saskia warf sich urplötzlich an Tobis Hals und fing an zu schluchzen. Auch Anne musste mit den Tränen kämpfen. Völlig überrumpelt nahm er Saskia in den Arm.

„Hey.“, meinte er leise. „Was ist denn jetzt passiert?“

„Wir…“, begann Anne. „Du solltest dich lieber setzen.“

Saskia löste sich von ihm und nickte.

„Wir müssen dir was sagen.“

Beim letzten Wort versagte ihr die Stimme. Hektisch kramte sie in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch.

Tobi tat, wie ihm geheißen und nahm auf seinem Schreibtischstuhl Platz.

„Also?“

Jetzt sah Kai, dass auch Tobi beunruhigt war. Aber ganz ehrlich… Er fühlte sich auch nicht gerade pudelwohl.

„Es geht um Kai…“, fing Anne an.

„Hä? Um mich?“, dachte Kai.

„Aber ich sitz doch hier! Warum bemerkt mich denn keiner?“

„Um Kai?“, fragte Tobi.

Nun spiegelte sich pure Angst in seinen Augen.

„Was ist mit ihm?“

„Wir wollten doch heute zusammen ins Freibad gehen…“, begann Anne.

„Und da dachten wir…“, fiel Saskia mit ein,

„dass wir schon früher gehen, weil es dann noch nicht so voll ist. Also sind wir zu Kai’s Haus, um ihn abzuholen…“

„Und da öffnete uns seine Mutter die Tür.“, fuhr Anne wieder fort.

„Sie war völlig fertig. Hat nur geweint und gestottert…Die Polizei war da…“

Die Mädchen schwiegen. Saskia wischte sich eine Träne von der Wange. Tobi saß da und starrte sie an, verzweifelt darum bemüht, zu verstehen, was sie ihm erzählten. Kai verstand nur Bahnhof. Er? Polizei? Seine Mutter? Geweint? Was war geschehen?

„W…Was ist…“

Tobis Stimme verlor sich. Saskia begann wieder zu Schluchzen. Anne legte ihr einen Arm um die Schulter und griff gleichzeitig nach Tobis Hand.

„Kai…“, sagte sie leise. „Er ist tot.“

„Nein!“, dachte Kai.

„Was?“

Tobi sprang auf.

„Aber…aber…“ Er schluckte.

„Sagt, dass das nicht wahr ist!“

Als er in die beiden Gesichter sah, begann auch er, bitterlich zu weinen. Die Mädchen schlossen ihn in die Arme und versuchten ihn zu trösten

. „Es tut uns so Leid.“, flüsterte Saskia.

„Das muss dir auch Leid tun!“, schrie Kai.

„Solche Lügen zu erzählen!“

Keiner der drei reagierte

. „Warum hört mich denn keiner?!“

Kais Stimme überschlug sich. Hastig sprang er auf und rüttelte Anne an der Schulter. „Warum erzählt ihr so was? Ich bin doch hier! Ich lebe!“

„Kai!“, schluchzte Tobi.

„Tobi! Tobi, hörst du mich?“

Kai legte ihm seine Hände auf die Schultern.

„Ich bin doch hier. Ich bin hier. Ich leb…“

„Hier.“

Saskia reichte Tobi ein Taschentuch.

„Danke.“, murmelte er und putze sich die Nase.

„Wie ist das passiert?“, flüsterte er.

„Ein Auto hat ihn…“, weiter kam Anne nicht.

Sie umarmte Tobi und drückte ihn fest an sich.

„Wenn du uns brauchst, wir sind für dich da.“

Sie sah ihm in die Augen. „Das weißt du, oder?“

Tobi nickte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass die beiden die einzigen waren, die die Beziehung zwischen ihm und Kai nicht verurteilt hatten.

„Danke.“, sagte er noch einmal.

Saskia versuchte, ein Lächeln zu Stande zu bringen, was ihr nicht mal annähernd gelang. „Willst du, dass wir noch ein bisschen bleiben?“

Tobi schüttelte den Kopf.

„Ich will jetzt lieber allein sein, glaub ich.“

Eine Träne tropfte von seinem Kinn. Anne nahm seine Hand und drückte sie fest.

„Wir sind für dich da.“, wiederholte sie.

Tobi nickte wieder.

„Ich weiß.“

Saskia gab ihm einen Kuss auf die Wange.

„Vielleicht kommen wir heute Abend noch mal vorbei.“

Als sie sah, wie sich seine Augen erneut mit Tränen füllten, umarmte sie ihn ebenfalls.

„Du schaffst das.“, flüsterte sie. „Wir schaffen das.“

Dann gingen die beiden und ließen ihn allein zurück.

„Ganz allein.“, dachte Tobi, warf sich auf sein Bett und weinte, bis er keine Tränen mehr zu haben schien.

„Kai!“, murmelte er immer und immer wieder. „Kai, Kai, Kai…“

Kai stand noch immer neben dem Schreibtisch und verstand die Welt nicht mehr. Er und tot? Unmöglich! Er wollte zu Tobi hinübergehen und ihn in den Arm nehmen, als eine Hand nach seiner griff. Er sah hinunter und blickte auf einen kleinen Jungen, ungefähr fünf Jahre alt. „Wer bist denn du?“, fragte Kai.

„Erkennst du mich nicht?“

Der kleine Junge lächelte und plötzlich fiel es Kai ein. Sein Bruder! Sein kleiner Bruder, der mit fünf gestorben war. Er hatte ihn ganz vergessen!

„Wie…was…warum bist du hier?

“ „Wir sind jetzt Engel.“, sagte der Kleine.

„Engel?“, fragte Kai ungläubig.

„Ja. Siehst du.“

Kai traute seinen Augen nicht, als sein Bruder vom Boden abhob und über seinem Kopf schwebte.

„Ich kann fliegen!“, lachte er.

„Und du kannst es auch!“

„Nein, das glaub ich nicht.“, sagte Kai kopfschüttelnd

. „Doch, doch. Komm.“

Sein Bruder nahm in an der Hand und zog ihn hoch. Kai merkte, wie er immer höher und höher… Das konnte doch nicht sein, oder? Jetzt schwebte er tatsächlich unter der Zimmerdecke! Als er so seinem kleinen, toten Bruder gegenüber „stand“, konnte er nicht anders. Eine Träne nach der anderen liefen ihm die Wangen hinunter. Der Kleine schwebte zu ihm und schloss ihn in die Arme.

„Endlich hab ich meinen großen Bruder wieder.“, sagte er.

„Hey!“

Er wischte Kai die Tränen weg.

„Nicht weinen.“

Lächelnd strich er ihm über das Haar. Kai lächelte zurück.

„Ich will wieder runter.“, sagte er und schon hatten sie wieder festen Boden unter den Füßen. „Kommst du mit?“, fragte sein Bruder.

„Wohin?“

„Raus! Ein bisschen durch die Gegend fliegen!“

„Mo…Moment. Ich muss noch was erledigen.“

Kai ging zum Schreibtisch, griff sich einen Kugelschreiber und einen Notizzettel und schrieb etwas. Dann legte er den Zettel auf das Kopfkissen neben Tobi, der sein Gesicht immer noch in der Bettdecke vergraben hatte. Zwischen zwei Schluchzern strich Kai ihm leicht über die Wange.

„Ich liebe dich. Für immer.“

Dann ging er zu seinem Bruder zurück, der ihm die Hand entgegenstreckte.

Plötzlich setzte sich Tobi auf und trocknete sich das Gesicht mit seinem T-Shirt.

„Kai…“, murmelte er wieder.

Sein Blick fiel auf den Zettel. Verwundert nahm er ihn mit zittrigen Finger und las das Geschriebene: Bin immer für dich da. Dein Schatz

Hektisch schaute sich Tobi im Zimmer um, aber er konnte Kai und seinen Bruder natürlich nicht sehen.

„Wie…“ Verwirrt starrte er den Zettel an.

Kai lächelte und nahm die Hand seines Bruders. Dieser lächelte ebenfalls.

„Komm jetzt! Ich zeig dir, wie die Welt von oben aussieht.“

Und die beiden Brüder schwebten durch das Fenster nach draußen in den wolkenlosen Himmel.

Kai lachte mit dem Kleinen um die Wette. Fliegen war etwas Wunderbares! Nur eine Sache ließ ihm keine Ruhe. Das, was da um Tobi’s Hals gehangen hatte… Wie war das dort hingekommen? Eine silberne Kette mit einem Herzanhänger…

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