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Almost nothing - Fast nichts

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Inhaltsverzeichnis

 

Was sind Stärke, Souveränität und Selbstbestimmung? Sind es Werte unserer Gesellschaft, die uns eine Möglichkeit zur eigenen Verwirklichung geben? Oder sind es Illusionen, weil diese Attribute nur dann funktionieren, wenn unser Umfeld es zulässt und wir das Gefühl haben, die Kontrolle behalten zu können?

Doch was geschieht, wenn man uns diese Kontrolle entreißt?

Was, wenn uns jemand seine eigenen Regeln aufzwingt?

Wo bleiben dann unsere Stärke, unsere Souveränität und die Möglichkeit zur Selbstbestimmung? Bin ich dann noch Jakob Raller, oder doch ein völlig Anderer? Was bleibt von mir, wenn man mir alle Rechte nimmt?

Nie hatte ich darüber nachgedacht, wie beängstigend das wäre, wie erschreckend fragil mein Leben in Freiheit sein könnte, bis mir Würde und jeglicher Freiraum radikal genommen wurden.

Doch in dieser Nacht beherrschte kein anderer Gedanke mein Gehirn, bis ich in die erlösende Welt der Träume abglitt. Befreit von den Leiden meines geschundenen Körpers.


Ich sehe meinem Freund tief in die blauen Augen, die mich aus dem fast feminin geschnittenen Gesicht anschauen. Die Wangen sind vom Liebesspiel noch gerötet und die blasse Haut seines zierlichen Körpers hebt sich nur leicht vom weißen Laken ab.

„Ich liebe dich, mein Casanova“, flüstert er.

Meine Hand streicht die wirren blonden Haare aus seiner Stirn. „Und ich liebe dich, Freddy.“

Frederik seufzt. „Nächste Woche sind deine Eltern wieder da.“

„Ja und?“ Mein Gehirn ist noch nicht ganz auf der Höhe.

„Ich glaube, dein Vater mag mich nicht, hält mich für einen Schmarotzer, oder so was in der Art.“

„Ihr kennt euch nur nicht richtig, das holen wir aber nach. Papa ist da ziemlich speziell veranlagt. Wenigstens akzeptiert er mittlerweile, dass ich ihm kein Schwiegertöchterchen nach Hause bringen werde.“

Freddy nickt und sieht zur Uhr. „Sorry, Jacky, ich sollte Heim. Morgen schreibe ich die Klausur und muss noch lernen. Vielleicht reißt das die Abinote ein wenig nach oben.“

Frustriert knurre ich ihn an und er lacht. „Okay, ich lasse dich gehen, aber ich will vorher noch mal!“

„Du Nimmersatt“, grinst er frech und seine Lippen wandern wieder zwischen meine Schenkel.


„Aufwachen!“ Eine Hand klatschte unsanft in mein Gesicht. Das Geräusch hörte ich, aber der Schmerz dieser Wahrnehmung drang nicht durch meinen umnebelten Geist. Ich spürte meinen Körper kaum noch, taub vom verkrampften Sitzen auf dem kalten Boden. Wie lange genau, konnte ich nicht sagen, das Fehlen von Licht machte eine Schätzung unmöglich. Ich wollte wieder schlafen, bei Freddy sein. Nochmals den Tag erleben, der sich so realistisch in den Traum geschlichen hatte. Nur das hielt meinen Verstand vom Wahnsinn fern.

Die Hände waren über meinem Kopf zusammengebunden, verknüpften mich mit einem Rohr zu einer Einheit und somit war das Thema ‚Toilette’ erledigt. Ich stank, so viel war klar.

„Du verdammtes Muttersöhnchen, heb gefälligst den Kopf!“, zischte die Stimme.

„Lass gut sein, ich kümmere mich darum. Halt die Kamera“, mischte sich die zweite Stimme ein, deutlich sanfter, bevor sie sich an mich richtete.

„Ich weiß, die Situation ist nicht einfach, aber du solltest tun, was er sagt.“

Eine weitere Hand berührte mein Gesicht, unterhalb des Kinns und hob meinen Kopf vorsichtig aber bestimmt an. Ein dumpfer Schmerz zog in meinen Nacken, als sich die ermüdeten und versteiften Muskeln bewegten. Mit einem Mal wurde mir übel und ich würgte bittere Galle hoch, die sich zu den anderen Gerüchen auf meiner Kleidung mischte.

„Lass uns das verschieben, nur um ein paar Stunden, so bringt das nichts“, ertönte es knapp neben meinem Ohr. Ein leises „Sorry“ schwebte fast unhörbar hinterher.

„Nein. Arschloch, halt deine Fresse nach oben.“

Aus eigener Kraft schaffte ich es nicht. Dann kamen eilige Schritte näher und irgendwas schoss mit enormer Kraft in meinen Magen. Ohne das Seil wäre ich mit Sicherheit nach vorne gefallen, doch nun hing ich halb nach vorne und die Schultergelenke schmerzten, als mein Peiniger mich am Nacken noch weiter vor zog.

„Mac, hör auf damit! Was soll das?“ Mein ‚Retter’ klang aufgebracht, soweit ich das beurteilen konnte. Ohne den wahnsinnigen Schmerz in meinem Körper hätte ich vermutlich aufgelacht, den anderen als Retter zu bezeichnen, nur weil er mich nicht schlug.

„Durst“, krächzte ich.

„Mac, bitte. Gib mir eine Stunde, dann wird es klappen.“

„Eine Stunde. Und wenn nicht...“, die Stimme schwenkte in meine Richtung, „... das wirst du dann schon raus finden. Aber glaub mir, du willst lieber kooperieren.“

Macs Schritte verklangen und eine Tür fiel ins Schloss. Ein dumpfes, metallisches Geräusch, das von kahlen Wänden zurückhallte.

Neben mir seufzte der andere vernehmlich. „Gott sei Dank. Jakob ... ich hoffe du hast nichts dagegen, wenn ich dich mit deinem Namen anspreche, oder?“

Ich deutete ein Kopfschütteln an.

„Gut, danke. Du kannst mich ‚Tin’ nennen. So wie den Tin Man, also diesen Blechkameraden aus dem Zauberer von Oz. Hör zu, Mac ist ein wenig angespannt, es geht um ... viel Geld.“

Nun lachte ich tatsächlich auf, kurz und mit aller Verachtung, die ich aufbringen konnte.

„Ich verstehe dich. All dieses Elend, nur damit wir an Kohle kommen. Aber dein Vater hat genug, dem tut das nicht weh.“

Ich drehte mein Gesicht in die Richtung, aus der Tins Stimme erklang. „Nein, ihm nicht.“

Tin schwieg einen Augenblick. „Ja. Tut mir Leid. Ich halte dir jetzt eine Flasche an den Mund. Trink langsam.“

Die Öffnung einer Plastikflasche drängte sich an meine Lippen und kleine Mengen abgestandenen Mineralwassers bahnten sich gierig den Weg durch meine Kehle. Ich musste husten.

„Langsam. Ich habe genug da“, ermahnte mich mein Entführer.

„Fick dich!“, zischte ich ihm entgegen.

„Jakob, ich nehme dir das nicht übel aber unterlasse so was, wenn mein Partner dabei ist. Du weißt, zu was er fähig ist.“

„Ist doch egal. Ihr macht mich eh kalt, wenn mein Alter gezahlt hat. So oder so.“ Dann würde ich mich auch nie mehr an diesen Horror erinnern müssen.

„Du hast zu viele schlechte Filme geguckt. Wenn Mac ... wenn wir das vorhaben würden, dann hätten wir es schon längst getan.“ Tin seufzte erneut. „So kann ich dich hier nicht sitzen lassen. Wenn du die Chance zum Duschen bekommst, versprichst du mir, nichts Dummes zu versuchen? Ich könnte dich aufhalten aber glaub mir: ich möchte es nicht tun müssen.“

Der Gedanke, aus diesem Mief herauszukommen, war verlockend.

„Jakob?“

„Okay, versprochen.“

Seine Hände machten sich an dem Seil zu schaffen. „Oh shit. Ich mach dir später eine Salbe drauf, das sieht ziemlich hässlich aus.“ Sein Finger berührte die wundgescheuerten Handgelenke und ich atmete zischend aus, als der brennende Schmerz durch meine Arme fuhr.

„Das wird unter der Dusche ziemlich brennen.“ Die Sorge in der Stimme klang echt, vielleicht sehnte ich mich auch nur nach ein wenig Fürsorge. Und nach meinem Freund. Was war nur mit Freddy? Er war bei mir, als die Kerle zuschlugen, aber die genauen Umstände versteckten sich hinter einem Nebel aus Grau.

„Egal, wie ein inkontinenter Hosenscheißer zu stinken ist schlimmer“, kommentierte ich sarkastisch, was Tin zum Kichern brachte. Obwohl ich das mehr als unpassend fand, stahl sich ein leichtes Grinsen in mein Gesicht. Was war hier, in diesem Loch, schon normal, oder gar passend?

„Entschuldige, ich hätte nicht lachen sollen aber der Spruch war gut.“ Mein Begleiter gab ein betroffenes Geräusch von sich.

„Schon okay, lieber ein Lachen als ein Tritt in den Magen.“

„Das ist nicht fair, ich habe dir nichts getan“, war die beleidigte Antwort.

„Nichts getan? Ach ja, stimmt. Du hast mich nur mit entführt und hältst mich in diesem Verlies fest, drohst mit Gewalt, wenn ich ‚was Dummes’ tue ... auch wenn du es nicht möchtest. Geht glatt als ‚Nichts getan’ durch.“

„Okay. Du hast Recht. Fast nichts ...“ Er langte nach meinem Ellbogen und zog mich auf die Beine. Der Griff war weit weniger sanft als zuvor und ich stieß ein schmerzgeschwängertes Keuchen aus.

„Und das ist jetzt die Strafe für die Wahrheit? Du bist nicht besser als dieser Mac. Dein Schaffell ist zwar etwas weicher, doch Wolf bleibt Wolf.“

„Jakob ... hör auf damit. Ich will nicht, dass du unnötig mehr leidest, solange wir dich festhalten.“ Er atmete mehrmals tief ein und aus. „Das Ganze war eine Schnapsidee“, fügte er leise hinzu. „Komm.“ Der Griff lockerte sich und er führte mich durch die Finsternis, welche durch eine stramm sitzende Augenbinde verursacht wurde.

Unsere Trittgeräusche änderten sich, als der Bodenbelag von Beton zu Kacheln wechselte.

„Okay, zieh dich aus“, kommandierte Tin.

„Dich zu bitten, dass du dich umdrehst, ist wohl überflüssig?“ Es war eine rein rhetorische Frage und er antwortete auch nicht. Dank meiner steifen Gelenke war ausziehen unmöglich. „Ich kann mich kaum bewegen und die Hose klebt an mir. Du musst mir helfen.“

„Äh ... okay.“ Täuschte ich mich oder klang er plötzlich schüchtern?

Ungelenk streifte er mir das Shirt über den Kopf und ich glaubte fast, dass seine Finger über meinen Arm strichen.

„Ein geiles Tattoo. Von wem ist der Entwurf?“ Fast schon bewundernd zogen die rauen Fingerspitzen die Linien des Tribals nach, die am Oberarm ihren Anfang fanden und sich an der Schulter aufteilten. Von dort aus verzweigten sie sich über die linke Brustseite und einen Teil des linken Rückens. Freddy sagte mir mal, es erinnere ihn an einen düsteren Geist, dessen knochige Finger meine Schulter umklammern. Er hatte es sofort an mir geliebt.

„Mein Entwurf“, antwortete ich knapp.

„Das muss ja ein Vermögen ...“

„Es tat weh“, unterbrach ich ihn. Er war der Letzte, mit dem ich über Geld reden wollte.

„Dein Rücken sieht übel aus. Mac hat echt zugelangt. Aber es heilt wieder.“ Das Thema war vergessen.

„Wie lange ...“, begann ich eine Frage, von der ich nicht wusste, ob ich für die Antwort bereit war. Seit der Entführung war es das erste Mal, dass jemand zu mir sprach. Ich lebte hier in dunkler Schweigsamkeit. Hin und wieder bekam ich etwas zu trinken.

Meistens schien es Mac zu sein, denn der Griff war hart. Er riss an meinem Kopf und setzte die Getränke meist grob an. Tin schien mich zu mögen und ihre Berührungen unterschieden sich gravierend.

„Zwei Tage, fast.“ Er nestelte an meiner Hose herum. „Das stinkt vielleicht“, brachte er mit einem leichten Würgen hervor.

„Tut mir furchtbar Leid. Ich habe es nicht aufs Klo geschafft.“ Und wieder legte ich sämtlichen Sarkasmus in meine Stimme. Tin sollte nicht nett sein, ich wollte ihn hassen. Dieses Schwein.

Macs Brüllen scholl durch das Haus. „Ich muss mal weg, kann dauern!“

Er atmete befreit auf. „Ich besorge dir später etwas zum Wechseln. Aber jetzt haben wir wenigstens etwas Ruhe.“

Langsam stieg ich aus den nassen Hosenbeinen meiner knielangen und engen Jeans. Nun stand ich nackt vor ihm.

„Tin?“ Ob er mich anstarrte? Zumindest schwieg er lange und ich bedeckte meine Blöße notdürftig mit den Händen.

„Tin?“, setzte ich leise nochmals nach.

Ein Räuspern erklang. „Äh ... greif nach meinem Arm, er ist direkt vor dir. Ich helfe dir in die Kabine.“

Eine Hand verblieb im Schritt und ich ließ mir in die schmale Kabine helfen.

„Vorsicht, die Kante ist nah, heb die Füße höher“, wies er mich an.

An der Rückwand ließ ich mich zu Boden gleiten, meine Beine hatten ihre Kraft verloren. Mein Entführer nahm die Brause und stellte die Temperatur ein. Kurz darauf trafen die warmen Tropfen ...

... auf unsere Haut. Freddy quiekt auf und lenkt sein Fahrrad an den Unterstand am Waldrand. Der warme Regen hat uns völlig überrascht, ein heftiges und plötzliches Sommergewitter. Unsere Klamotten sind völlig durchweicht. Weit und breit ist niemand zu sehen, wir sind mutterseelenallein.

„Wir sollten raus aus dem Zeug. An der Sonne wird es schneller trocknen“, schlägt er vor und zwinkert mir zu. Ich weiß genau, was er wirklich vor hat. Deswegen dauert es auch nur wenige Sekunden und wir stehen uns unbekleidet gegenüber. Er drückt mich bestimmend zu Boden und ich liege auf dem Rücken. Die saftig grüne und feuchte Wiese kitzelt über meine Wange.

Freddy hockt sich breitbeinig über mich und verleibt sich mein bestes Stück ein, fixiert meine Augen mit seinem Blick und reitet zärtlich auf mir. Ein langer Kuss folgt. Er klammert sich fest an meine breite Brust und stöhnt laut.

Lange muss ich auf seinen Höhepunkt nicht warten und brauche mich selber nicht zurückhalten. Wie so oft fließen Tränen des Glücks aus seinen Augen.

„Ich kann mir ein Leben ohne dich überhaupt nicht mehr vorstellen“, flüstert er mit einem liebevollen Unterton. Die Stimme ist fast ehrfürchtig, er vergöttert mich und ich liebe ihn dafür. Auch ich vergöttere ihn, bete ihn an.

„Du bist mein Leben“, antworte ich und küsse ihn auf die Nasenspitze. Und morgen wird er sich mit meinem Vater unterhalten, ihn endlich kennenlernen, wenn sie aus dem Urlaub zurückkommen. Die Woche verging wie im Flug.

Wir ziehen uns wieder an und schwingen uns auf die Räder. Just in dem Moment kommen die ersten Spaziergänger an uns vorbei. Wir lachen.

„Das war knapp“, meint mein Freund.

„Und geil war’s auch“, erwidere ich.

Frederik wird rot und lächelt mich an. Dann fahren wir zu mir nach Hause.

„Ich gehe duschen, kommst du mit?“ Mein Süßer klimpert mit den Augenlidern. Wie soll man da noch widerstehen?

„Gleich, ich hole uns Champagner aus dem Keller, mir ist nach feiern.“

Seine Augen leuchten und er verschwindet im Bad. Kurz darauf läuft das Wasser.

„Fang nicht ohne mich an“, rufe ich und gehe noch schnell ins Wohnzimmer. Ich öffne die Terrassentür, um die Hitze entweichen zu lassen. Die Bäume im Garten werfen ihren kühlenden Schatten in den Raum.

Dann plündere ich das Lager meiner Eltern im Keller und bewaffne mich mit zwei Champagnerflöten. Meine Klamotten landen auf dem Fußboden und ich laufe zum Bad. Aber lief eben nicht noch das Wasser?

Ich stelle meine Mitbringsel auf das Regal neben der Tür und betrete meinen privaten Wellnesstempel. Freddy liegt am Boden, halb in der Dusche. Aus einer kleinen Wunde am Kopf fließt Blut. Ich schreie panisch, will zu ihm. Doch dann huscht etwas seitlich an mir vorbei. Alles wird ...

... dunkel. „Freeeedddyyyyyy“, schrie ich. Plötzlich lief ein Kribbeln durch meinen Unterleib. Eine Hand zog sich ruckartig von meinem Schwanz zurück und der Höhepunkt schüttelte mich durch. Ich fing an zu schluchzen und krabbelte weiter gegen die Rückwand. Meine Beine rutschten auf dem nassen Boden ab, Panik durchströmte mich.

„Shit, ... ich dachte ... du warst plötzlich erregt und ich dachte, du wolltest ... Jakob, ich ...“ Es war Tins Stimme. Alles war nur ein Traum und ausgerechnet dieser Kerl hatte mir einen runtergeholt. Hatte ich nun Freddy betrogen? Freddy ...

„Was habt ihr Schweine mit Freddy gemacht? Er war verletzt!“ Ich schrie.

„Ihm geht es gut. Mac hat ihn nur leicht erwischt, eine Platzwunde. Er ist im Krankenhaus, hieß es in den Nachrichten.“ Tin seufzte. „Es kommt fast stündlich was über euch.“

‚Wie es wohl meinen Eltern geht? ’, fragte ich mich, völlig aus dem Zusammenhang. Mein Verstand schien mir zu entgleiten.

„Du musst mir glauben, ich dachte du wolltest das. Sonst hätte ich das gerade nie getan.“ Tin klang fast flehend, schuldig. „Verdammt, was siehst du auch so gut aus“, sagte er fast mehr zu sich selbst.

Meine Emotionen kochten über. Wut, Verzweifelung, alles brach über mich ein. „Du bist doch krank. Geilt dich das auf, mich so zu sehen? Na los“, brüllte ich ihn an, „wer hält dich ab, dir alles zu nehmen?“ Meine Stimme war schrill und hysterisch. „Los, mach’s doch, du krankes Stück Scheiße!“

Der leichte Luftzug kündigte seinen nächsten Schritt an: die Hand traf mein Gesicht. Längst nicht so stark wie bei seinem Partner, aber es reichte, um mich wieder in die Realität zu holen. Die Tränen flossen unter der Augenbinde durch. Zwei Arme zogen mich fest an Tins Körper.

„Sag das nicht, bitte. Ich bin nicht so einer. Nicht gegen deinen Willen. Glaub mir das ... nicht so einer.“ Auch er kämpfte mit den Tränen, das konnte ich nicht überhören. Meine Worte hatten ihn tief getroffen.

Dann ließ er mich los. „Aber warum solltest du mir glauben. Ich wünschte, du wärst jemand anders, jemand, der ... ach, ich weiß es nicht. Bei so was bin ich zum ersten Mal dabei. Am Anfang klingt es so verlockend. ‚Tin, es ist leichtes Geld, aber ich brauche Hilfe. ’ Ich war hin und hergerissen. Klar, wenn du lange arbeitslos bist, dann fehlt die Kohle an allen Ecken. In der Theorie war der Plan klasse. Einfach zuschnappen, auf das Geld warten, dich freilassen und verschwinden. Doch so war es nicht. Wir haben euch observiert, fast zwei Wochen lang.“ Tin stockte.

„Und damit war die Einfachheit zu den Akten gelegt. Ich habe euch gesehen, oft genug. Am Anfang fühlte ich mich wie ein Spanner, aber es war zu erregend um wegzusehen. Dann ging es schleichend, irgendwann wollte ich an seiner Stelle sein. Deine Zärtlichkeiten spüren, so wie er.“

Freddy

Nach zwei langen Tagen war es endlich soweit und ich konnte das Krankenhaus verlassen. Der dumpfe Kopfschmerz war wieder unter Kontrolle und der Schock hatte nachgelassen. An viel konnte ich mich nicht mehr erinnern.

Jakob und ich hatten einen wunderschönen Nachmittag verbracht und ich war in seine Dusche vorgegangen. Die Tür zum Bad war nur angelehnt und ich hörte das leise Rütteln an der Kabinentür, als jemand den Raum betrat. Ich schaltete das Wasser aus, damit mein Freund zusteigen konnte und dann wurde die Kabine plötzlich aufgerissen.

Doch es war nicht Jakob, sondern ein maskierter Berg von einem Mann. Danach kam die Dunkelheit.

Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich im Auto von Jakobs Eltern, lag angezogen auf der Rückbank. Der Schmerz in meinem Schädel brachte die Dunkelheit zurück.

Es klopfte leise an der Tür. „Herein.“

„Hallo Frederik, bist du fertig?“ Es war Jakobs Vater.

„Hallo Herr ... Roman.“ Ich musste mich noch daran gewöhnen, ihn beim Vornamen anzusprechen. Seine Frau und er hatten mich abwechselnd besucht, damit immer jemand daheim war und auf Nachricht warten konnte. Jakobs Verschwinden hatte uns einander näher gebracht. Ironie des Schicksals. „Habt ihr was von ihm gehört?“

Er schüttelte traurig den Kopf. „Keinen Ton. Die Polizei meint, sie hätten eventuell etwas gefunden, einen Hinweis auf den Eindringling. Aber von Jakob selbst fehlt jede Spur. Es spricht alles für eine Entführung.“

Heiße Tränen stiegen auf, meine Stimme gehorchte mir nicht mehr. „Aber dann müsste doch etwas kommen, eine Lösegeldforderung ... irgendwas!“

„Wir bekommen ihn wieder, verlier nicht die Hoffnung“, versuchte er mir Mut zuzusprechen.

„Ich vermisse ihn ...“

Roman nickte. „Komm, wir fahren. Du bleibst selbstverständlich bei uns, in seinem Zimmer.“

Andrea erwartete uns bereits an der Haustür. Auch sie wirkte übernächtigt und eingefallen. Tiefdunkle Ringe verunstalteten ihr freundliches Gesicht. Seit ihrer Rückkehr aus dem Urlaub schienen beide um Jahre gealtert zu sein.

Ich selber sah auch nicht besser aus, wie mir der Spiegel im Flur zeigte. Außer einer feinen Narbe und einer dicken Beule an der Stirn hatte ich jedoch keine weiteren Spuren behalten. Die Ärztin hatte mir versichert, dass nichts zurückbleiben würde.

Der Weg in Jakobs Zimmer entwickelte sich zu einem albtraumhaften Spießrutenlauf. Mit Herzklopfen drückte ich die Tür auf, hoffte auf das vertraute Gesicht. „Hey Freddy, wach auf, du hast nur geträumt! “ Seine Stimme echote durch meinen Kopf.

Doch das Zimmer war leer, die Laken noch zerwühlt von dem Morgen, bevor wir zur Radtour aufbrachen. Dem Raum fehlte etwas, die Seele war verschwunden und ließ ein Vakuum zurück. Mechanisch steuerte ich auf das Bad zu.

„Fang nicht ohne mich an!“ Er lacht.

Ich schlüpfe aus meinen Klamotten und genieße das lauwarme Wasser auf meiner Haut. Überlaut knallt die Kellertür ins Schloss. Die Kabinentür rappelt und ein Schatten verdunkelt die trüben Milchglasscheiben.

„Das ging aber schnell“, sage ich und drehe das Wasser ab. Plötzlich dringt kalte Luft in das aufgeheizte Innere. Es ist nicht Jakob.

„Gute Nacht“, dröhnt eine grausame Stimme amüsiert und die Hand fliegt nach vorne, packt mich an den Schultern. Die geflieste Rückwand schießt mir entgegen. Blackout.

Plötzlich hörte ich Schritte, aufgeregte Stimmen. „Frederik, ist alles okay?“ Andrea stand abgehetzt in der Tür. „Du hast geschrien.“

„Ich ... es war so real, ich hab mich erinnert ...“ Mein Körper zitterte unter der Wucht der Bilder und die Beine hielten mich kaum aufrecht. Ich klammerte mich an der Dusche fest.

Die zierliche Frau griff mit einer Kraft nach mir, die ich ihr nicht zugetraut hätte. „Du gehst ins Bett.“

„Ich kann nicht“, wehrte ich mich schwach und sie zog mich vor den Spiegel. „Keine Widerrede, guck dich an, du bist weiß wie eine Wand. Die Ärztin hat Roman aufgetragen, gut auf dich aufzupassen. Mit einer Gehirnerschütterung ist nicht zu spaßen.“

Sie hatte Recht, der Kopfschmerz war zurück und rollte in Wellen durch mich durch. Ich realisierte nicht einmal, dass ich kurz darauf im Bett lag.

„Ich hole dir etwas gegen die Schmerzen.“ Sie hatte das Zimmer noch nicht verlassen, da war ich schon eingeschlafen.

Jakob

Er hatte Freddy und mich beim Sex beobachtet? Das war wahrscheinlich auch nicht schwer, wir fühlten uns unbeobachtet und hatten es überall dort getan, wo es uns überkam. Und das war oft genug.

„Wir waren mehr als einmal bei euch im Haus, du lässt immer die Terrassentür offenstehen. Von daher wussten wir auch, wann deine Eltern zurückkommen und haben einen Tag vorher zugeschlagen. Ihr kamt heim und wir gingen im Garten hinter dem Schuppen in Deckung, wissend, dass du bald die Tür öffnen würdest. Dann verschwandest du im Keller. Mac stürmte ins Bad und schaltete deinen Freund aus und ich wartete. Du hättest mich fast erwischt, als du die Gläser aus der Vitrine holtest. Bald darauf kam Mac zurück und schleifte dich ins Wohnzimmer, wo ich mit deinen Klamotten gewartet hatte und wir zogen dich an.“ Tin räusperte sich.

„Mein Partner ist ein ziemlicher Sadist ... ich mag es nicht, wenn er dir zu nahe kommt oder etwas antut.“

Gebannt lauschte ich der Erzählung. Der Kerl hatte sich in mich verknallt? Und dann zog er den ganzen Scheiß wegen dem Geld durch. Ich wusste nicht, wie es ist, wenn man kein Geld hat, bisher hatte es mir an nichts gefehlt. Aber deswegen durfte man trotzdem niemanden so behandeln, wie sie es mit mir taten. „Du bist erbärmlich“, flüsterte ich.

„Ich weiß.“ Er griff nach meinen Handgelenken und ich jaulte auf, die wunde Haut brannte noch stärker als vorher. Tin zurrte das Seil relativ fest und band mich an der Armatur fest. „Ich hol dir was zum Anziehen.“

Das entspannende Gefühl der Dusche verlor sich schnell wieder in der verkrampften Haltung. Einzelne Wassertropfen fielen in regelmäßigen Abständen vom Brausekopf und klatschten auf meinen Oberschenkel. Wie gerne hätte ich meine Blöße bedeckt, statt exponiert auf meinen ‚Gastgeber’ zu warten.

Seine Aktion hatte das aufkeimende Vertrauen jäh zurückgeworfen. Ich fühlte mich benutzt, Sex war für mich etwas Intimes und Wichtiges, ein Akt der Vertrautheit. Und ich wusste nicht einmal, wie Tin aussah.

Platsch. Platsch. Der Rhythmus der Tropfen veränderte sich, nahm mir wieder die Konstante und warf mich in die Einsamkeit zurück. Die Duschtasse kühlte allmählich ab und ich fror, Tin ließ sich offensichtlich Zeit. Vielleicht hatte ich mich wirklich getäuscht, er war nicht mal ansatzweise so nett, wie ich dachte. Alles, was er wollte, war mich anzufassen.

In einem der Nebenräume flog eine Tür gegen die Wand und jemand näherte sich mit kräftigen Schritten. Das war ...

„Ach, wen haben wir denn hier? Hat sich mein Kumpel doch nicht beherrschen können?“ Panik machte sich in mir breit. Macs Stimme klang gefährlich, lauernd, wie zuvor. Grob zerrte er an dem Strick und band mich ab. Scheinbar mühelos zog er mich aus der Dusche und schleifte mich über den rauen Boden hinter sich her. Weitere Schritte näherten sich.

„Zum Teufel, Mac, was machst du?“ Tin hörte sich erschrocken an, Sorge in der Stimme.

„Dein Spielzeug wegräumen. Du wolltest ihn zur Kooperation bringen, nicht ficken. Vergessen?“

„Gott, du dämlicher Idiot! Hast du seine Klamotten gesehen? Er hat gestunken und ich hab ihn duschen lassen. Hier, ich musste Kleidung organisieren, den anderen Fetzen kann er unmöglich noch mal anziehen.“

Alles andere verschwieg er. Mac ließ plötzlich meine Hände los und ich knallte mit dem Hinterkopf auf den Betonboden. Trotz der Augenbinde tanzten Sterne vor mir und ich stöhnte gequält.

„Gut, dann mach das fertig. Wir brauchen jetzt das Bild. Oder lass ihn so, dann bekommst du nen Abzug.“ Mac lachte dreckig und entfernte sich.

„Wo warst du so lange? Der Kerl macht mir Angst.“ Widerwillig nahm ich das Gefühl der Sicherheit an, das Tin mir gab.

„Sorry. Ich ... hatte was zu erledigen, damit ich dir wieder mit klarem Kopf gegenübertreten konnte.“ Er lockerte die Fesseln und half mir auf die Beine. Dann zog er mir irgendwelche Sachen über.

„Du hattest Recht, ich bin erbärmlich. Dein Körper, deine Wehrlosigkeit ... es hat mich angemacht. Ich wollte mehr.“

„Warum sagst du mir das?“

„Weil ich ehrlich sein will. Und es darf nicht passieren.“

„Danke für die Offenheit.“

„Schon gut. Wenigstens das bin ich dir schuldig.“ Seine Hand strich hauchzart über meine Wange. „Komm, ich habe noch eine andere Überraschung vorbereitet.“

Überrumpelt ließ ich mich von ihm ziehen. Der Rückweg war anders, wir liefen nicht in mein altes Verlies zurück.

„So, wir sind da. Es ist nicht das Ritz, aber es wird gehen.“

Ich zuckte mit den Schultern. „Nicht, dass ich den Unterschied sehen würde.“

„Doch, wirst du. Jetzt zumindest für einen kurzen Moment. Mac kommt gleich wieder.“

Bevor ich etwas sagen konnte, legten sich seine Hände auf den Stoff und zogen ihn ein Stück über die Augen. Überrascht blickte ich auf eine Matratze, nein, zwei Matratzen und ein kleines Chemieklo. Dann verdunkelte sich das Umfeld wieder.

„Es ist zumindest besser als vorher. Hier kannst du dann auch liegen.“

Ich war sprachlos. Das sorgfältig aufgebaute Hassbild brach wieder zusammen, Stück für Stück. „Warum zwei Matratzen?“

„Ich bleibe die meiste Zeit hier, damit ich dich losbinden kann, wenn du aufs Klo musst. Sonst bringt das nichts. Und dann bist du mit Mac nicht allein, er weiß schon Bescheid und ihm ist es egal.“

„Danke.“ Es war mir Ernst damit. Trotz des Zwischenfalls fing ich an, mich in seiner Nähe wohler zu fühlen.

Kurz darauf betrat sein Komplize den Raum und Tin führte mich zur hinteren Matratze.

„Dein Spielzeug soll den Kopf heben“, kommentierte dieser.

„Er ist nicht mein Spielzeug. Okay, Jakob ...“

Ich reagierte sofort, einen weiteren Tritt wollte ich keinesfalls provozieren. Das künstliche Surren einer Digitalkamera erklang. „Na geht doch.“

„Ich lass euch Turteltäubchen dann mal alleine. Wird ein paar Stunden dauern.“ Die Tür schloss sich und Tin atmete auf.

„Endlich Ruhe.“

„Und was jetzt?“

Stille. Dann ein Räuspern, gefolgt von schwerfälligem, nachdenklichem Atmen. Plötzlich hatte ich wieder Hände im Gesicht und einen Moment später schokobraune Augen vor mir. Ich zuckte erschrocken zusammen, schloss ruckartig meine Lider.

„Ich hab dich nicht gesehen, ich schwöre es!“ Im Fernsehen war man seines Lebens nicht mehr sicher, wenn man seine Entführer sah.

„Jakob, mach die Augen auf. Sieh es als Beweis, dass ich dir vertraue und du vor mir keine Angst haben musst.“

„Aber ich könnte dich der Polizei beschreiben“, warf ich ein. „Willst du das Risiko eingehen?“

„Bis dahin sind wir längst verschwunden.“

Langsam öffnete ich meine Augen und sah mich um. Tin hatte sich auf die andere Matratze verzogen und blickte nervös zu mir rüber. Er sah gut aus. Jünger als gedacht, ein freundliches Gesicht, gut in Form.

„Es ist nur fair, nachdem ich dich vorhin noch ganz anders sehen konnte.“ Er errötete ein wenig, es schien ihm wirklich unangenehm zu sein. Nein, von ihm drohte mir keine unmittelbare Gefahr. Meine Musterung schien ihn zu verunsichern und er fuhr sich mit der Hand verlegen durch das hellbraune Haar.

„Du musst mich ziemlich abstoßend finden, oder? Für all das, was wir dir hiermit antun.“

„Ich weiß nicht, wie ich dich finden soll. Was du sagst und was du tust ... abstoßend trifft es jedenfalls nicht. Eigentlich kann ich wohl ganz froh sein, dass du auch hier bist.“

Tin lächelte ein wenig.

„Hast du einen Freund?“ Meine Enttäuschung über sein Verhalten war der Neugierde gewichen.

„Hat sich nie ergeben.“ Nun sah ich auch einmal das Gesicht zum Seufzen.

„Wieso? Unter anderen Umständen bist du wahrscheinlich noch netter, siehst gut aus.“ Ich hatte ihm ein Kompliment gemacht?

„Danke.“ Ein verlegendes Lächeln begleitete das Wort. „Die netten Jungs mögen meine Freunde nicht. Es ist noch nie einer besonders lange geblieben.“

„Vielleicht wärst du mit anderen ‚Freunden’ besser dran.“

„Wenn das nur so einfach wäre.“ Tin drehte den Kopf zur Seite. „Ich habe Schulden, hohe Schulden bei den falschen Leuten. Meine Kumpels ... na ja, die kleineren Jobs helfen mir ganz gut über die Runden. Und das hier“, seine Hand beschrieb einen leichten Bogen durch den Kellerraum, „du schaffst mir die Schulden vom Hals. Wir setzen uns ab und ich kann einen Neuanfang machen.“

„Verstehe. Ich bin nur der Jackpot.“

„Jakob, du musst mir nicht glauben aber es tut mir Leid. Es ist zu spät, um jetzt noch alles rückgängig zu machen. Ich werde dir den Aufenthalt so angenehm wie möglich machen.“ Er bedachte mich mit einem mitleidigen Blick.

„Am schlimmsten war bisher die Einsamkeit. Und nicht zu wissen, wer von euch nach unten kommt. Mac hat offensichtlich kein Problem damit, mir grundlos weh zu tun.“

„Nein, hat er nicht. Aber deswegen bin ich ja jetzt auch hier. Ich kann das nicht mehr mit ansehen. Wie schon gesagt, er ist ein Sadist. Deswegen hat er das Foto auch erst heute gemacht. Deine Eltern wissen noch nichts Genaues, er wollte erst, dass sie sich Sorgen machen. Durch Unwissenheit zermürben. Es erhöht die Zahlungsbereitschaft, meint er.“

„Aber Freddy ...“

„Dein Freund blieb zurück, damit sie wussten, dass etwas passiert ist. Aber eben nicht, warum.“

„Geht es ihm wirklich gut?“ Das Bild, wie er blutend am Boden lag, kreiste unablässig durch meinen Kopf.

„Er ist bei Bewusstsein. Laut den Nachrichten hat man ihn bei euch im Haus gefunden. Apathisch, unter Schock stehend aber er war wach.“

„Wann komme ich hier raus?“ Mein Magen hatte sich, bei den Erzählungen zu Frederik, in einen schmerzenden Klumpen verwandelt und Tin schien zu ahnen, was in mir vorging.

„Ich weiß es nicht genau. Mac kümmert sich um das ... Lösegeld.“ Das Wort fiel ihm schwer. „Vielleicht zwei oder drei Tage noch. Ich habe keine Erfahrungen mit so was.“

Eine Welle von Müdigkeit schwappte über mir zusammen, gegen die ich einfach nicht ankam. Und mit ihr kam die Angst zurück, die sich immer weiter in mir manifestierte. So sehr ich Tin glauben wollte, Mac löste Panik in mir aus. Der Kerl würde mich notfalls auch anderweitig beseitigen.

„Ich würde gerne schlafen.“

„Okay. Aber ich muss dich leider festbinden. Auch die Augen. Mein Kumpel sollte dich nicht so sehen.“

Ich nickte widerwillig aber meine Wahlmöglichkeiten waren begrenzt. Tin machte sich daran und band meine Hände hinter dem Kopf an einem massiven Rohr fest, bevor die Binde mir auch die Sicht nahm. Es war unbequem, aber viel besser als in dem anderen Raum, wo ich die Arme ständig über dem Kopf hatte.

„Geht es?“, fragte er in einem Tonfall, den man schon als besorgt bezeichnen konnte.

„Nein aber was bleibt mir denn für eine Wahl“, giftete ich zurück.

„Warte mal.“

Er schob die Matratze näher an das Rohr, damit ich die Hände über der Stirn ablegen konnte. Die Position war deutlich besser, wenn auch nicht optimal. Noch während ich darüber nachdachte, wie ich die Arme im Nacken verschränken konnte, hob Tin meinen Kopf an und schob seinerseits den Arm unter mich. Dabei musste er, zwangsläufig, auch seinen Körper näher an mich heranbringen. Die Intimität der Situation verwirrte mich, diese Geste war gleichermaßen bequem und überraschend. Hinsichtlich Freddy überkam mich ein abgrundtief schlechtes Gewissen.

„Soll ich dich lieber alleine lassen?“ Tin hatte den inneren Kampf wohl in meinem Gesicht ablesen können. So verrückt es mir auch erschien, ich zog seine Nähe der einsamen Dunkelheit vor. Es verströmte beinahe schon ein Gefühl von Geborgenheit.

Auch das erinnerte mich an meinen Freund. Jeder andere ging automatisch davon aus, dass mein Kleiner der passive Part unserer Beziehung war und ich den dominanteren Teil inne hätte, nur weil er eben zierlich und zerbrechlich wirkte. Damit war er körperlich gesehen das genaue Gegenteil von mir. Frederik war dafür sehr klar in seinen Vorstellungen und manchmal ein echter Dickkopf. Es gab keine definierten Rollen bei uns, jeder war mal stark und mal schwach.

In diesem Keller war ich schwach und sehnte mich nach Zuwendung, die mir Tin bereitwillig anbot.

„Es ist okay ... besser als vorher“, antwortete ich.

Er strich mir eine Strähne aus der Stirn. „Ich warte hier, bis du schläfst und geh dann rüber ...“

Seine Stimme drang nur leise durch die wattige Stille, die mich kurz vorm Einschlafen umfing.

„Alles in Ordnung mit dir?“ Frederiks Augen strahlen wie ein Sommertag. Ein warmes, blaues Leuchten streichelt besorgt über mein Gesicht.

„Ich weiß nicht. Es ist dieses Gefühl ... als ob irgendwas nicht stimmt.“

Er legt seine Hand auf meine Wange und küsst mich auf die Stirn. „Ich passe auf dich auf.“

Die Wärme seines Körpers liegt wie eine Decke auf mir, verströmt Zuversicht und Liebe , vermittelt mir das Gefühl, dass wir zusammen alles schaffen können.

Seine Hand gleitet forschend über meinen Bauch und verharrt in meinem Schritt. „Ich möchte mit dir schlafen“, haucht er mit seiner rauen, dunklen Stimme.

Dann rollt er sich auf mich drauf, drängt sich verlangend zwischen meine Beine. Ich betrachte sein Gesicht, sehe die Gier in den Augen.

Die Realität verzerrt sich, sein Bild flackert. Als ob sich eine parallele Welt über unsere legt. Fragmente dieser fremden Dimension überlagern sein Gesicht. Die lustvolle Miene weicht einer schmerzverzerrten Grimasse. Blut fließt von seiner Stirn.

Er lächelt und stöhnt, leidet und schreit. Immer schneller wechseln die Bilder. Ich bin voller Blut. Sein Gesicht wird zu einem Stroboskop aus Lust und Schmerz und ich erstarre, kann mich nicht rühren, nicht sprechen.

Mein Freund wird diffus, seine schlanke Form löst sich auf und wird zum Schatten. Ein massiver Schatten, aus dem rotglühende Augen auf mich herabblicken. Böse, kalt und bedrohlich. ‚Du kommst hier nicht raus, ich mach dich kalt.’ Die Drohung ist ein Versprechen. Die schattige Hand legt sich eisern um meinen Hals und drückt zu, ich ersticke, will schreien, will mich befreien, schlage um mich, aber mein Körper rührt sich nicht. Meine Hände sind durchsichtig, schweben über meiner Hülle und verwischen in spasmischen Zuckungen.

‚Jakob ...’ Die Stimme ruft mich. ‚Jakob ... komm zu mir!

Ich will nicht gehen, nicht sterben. Ich kann Freddy nicht alleine lassen. ‚Jakob!’

Mein Gesicht schmerzt, etwas trifft mich, meine Hülle. Mein Geist beobachtet, wie der Kopf meines Körpers unter den Treffern hin und her geworfen wird. ‚Jakob ... komm!’

„Jakob, verdammt! Komm zu dir, du träumst!“ Die Stimme wurde klarer. Desorientiert schlug ich um mich und bekam etwas zu fassen. Warm und atmend, dicht an mich gedrückt. Freddy?

Ich umarmte ihn, dankbar, presste mein Gesicht an seine Brust und heulte. Es war nur ein Traum.

„Es ist alles gut, ich bin bei dir.“

Und dann fiel es mir wieder ein, Freddy konnte nicht hier sein. „Lass mich los, Tin. Sofort!“, zischte ich.

„Ich wollte doch nur helfen. Du hattest einen Albtraum.“ Meine Zurückweisung kränkte ihn.

„Helfen? Du hast Schuld an dem Albtraum. Du und Mac. Ich hasse dich“, hörte ich mich flüstern. Meine Nerven spielten nicht mehr mit und ein regelrechter Heulkrampf überkam mich. Fühlte sich so Todesangst an?

Der Traum hatte mir sämtliche Hoffnungen, hier lebend rauszukommen, geraubt. Verzweifelt ergriff ich die Initiative und klammerte mich erneut an Tin fest. Erst da wurde mir bewusst, dass ich nicht mehr gefesselt war. Die Gelenke schmerzten und an den roten Striemen war Blut.

„Ich musste dich losmachen, sonst hättest du dir noch die Hände abgerissen“, sagte er, als ob er meine Gedanken erraten hätte.

„Ich hab ne scheiß Angst.“

Statt einer Antwort streichelte er meinen Nacken und es war mir in der Situation egal. Nein, es war nicht egal: ich spürte Dankbarkeit. Ausgerechnet Tin hatte sich zu einem Anker entwickelt, der mich von der Schwelle des Wahnsinns fern hielt. Es dauerte nicht lang und meine Augen fielen wieder zu. Ich bekam nur noch mit, wie er mich auf die Matratze zurücklegte und mit seiner Jacke zudeckte. Meine Hände fesselte er nicht mehr.

Freddy

Gebannt starrten wir auf den Monitor. Entsetzen mischte sich unter die Gewissheit, die von der E-Mail ausging. Jakob sprang uns riesenhaft entgegen, mit blauen Flecken und blutigen Striemen übersät. Darunter prangte die satte Forderung von vierhundertfünfzigtausend Euro.

Die Mail kam über einen anonymen Proxyserver, wie wir bald feststellen mussten.

Er sah so schrecklich aus, das Bild brannte sich auf unseren Netzhäuten ein. Andrea fing an zu schluchzen und von Roman vernahm ich nur das Mahlen seiner Kiefer. Niemand brachte ein Wort hervor. Fast schon war ich froh, dass seine Augen verbunden waren und wir nicht den Ausdruck darin sehen mussten.

„Diese Schweine!“ Meine Stimme zerriss die Stille im Raum. „Was machen wir jetzt?“, fügte ich leiser hinzu. Diese Summe erschien mir so unvorstellbar gewaltig.

„Was wohl? Wir zahlen natürlich. Ich telefoniere mit der Bank.“ Roman sprach gefährlich leise, mit unterdrückter Wut. Die Polizei hatten wir bereits informiert, kurz nach Eingang der elektronischen Post. Vielleicht würden deren Experten noch etwas über den Absender herausfinden.

Bald darauf läutete es an der Tür und drei Polizisten in Zivil traten ein.

„Van Bergen“, stellte sich einer der Herren vor, der Jüngste aus der Riege. „Ich leite die Ermittlungen. Bitte zeigen Sie uns den Computer mit der E-Mail.“

Wir scharrten uns zu sechst um den PC. Unsere Besucher machten ein betroffenes Gesicht.

„Bringen Sie mir bitte meinen Jungen zurück!“ Andrea war fast schon hysterisch.

„Frau Raller, wir werden alles tun, was in unserer Macht steht, damit er wohlbehalten zurückkommt.“

„Wohlbehalten?“ Roman grollte dunkel. „Er sieht nicht wohlbehalten aus.“

„Natürlich verstehen wir Sie aber wir müssen die Nerven behalten. Können Sie das geforderte Lösegeld auftreiben?“

„Ja, die Bank hat es bis morgen.“

„Gut. Wir werden versuchen, ob sich anhand der E-Mail etwas zurückverfolgen lässt. Ansonsten holen Sie morgen das Geld. Meine Kollegen fahren nachher zu Ihrer Bank, wo wir einen präparierten Geldschein hinterlegen werden. Dieser ist mit einem Sender ausgestattet, den man nicht ohne Weiteres erkennen kann. Damit werden wir den Weg verfolgen können. Außerdem steht eine Spezialtruppe bereit, sobald wir nähere Informationen über die Übergabe haben. Machen Sie sich nicht noch mehr Sorgen als sowieso schon. Vertrauen Sie uns, wir geben unser Bestes.“

„Und was wird aus Jakob, wenn plötzlich überall Polizei auftaucht?“ Der Plan gefiel mir nicht, die Verbrecher könnten vielleicht in Panik geraten und dann ...

„Ich verstehe Ihre Sorge ... Frederik?“

Ich nickte. „Sie können mich aber ruhig duzen ...“

Er dachte einen Moment nach. „Dann nenn mich Fabian, ausnahmsweise“, bot er mir zur Überraschung aller an. „Erfahrungsgemäß stehen die Chancen gut, dass die Entführer ihre Geisel nicht töten, wenn sie umstellt sind. Es schwächt deren Position erheblich“, erklärte van Bergen. „Außerdem wird die Tasche mit einem Sender ausgestattet, den man relativ leicht entdecken kann. Vielleicht erreichen wir so, dass der Entführer denkt, er hätte uns ein Schnippchen geschlagen und er wiegt sich in Sicherheit.“

„Wenn Sie ihn nicht vorher schon umgebracht haben“, warf ich verbittert ein.

„Daran, junger Mann, darfst du nicht denken.“ Der Polizist verströmte so was wie Zuversicht, die sich auf mich übertrug. Sicherlich hatte er mehr Erfahrung damit, worauf ich nicht neidisch war. Dieses eine Mal reichte vollkommen.

„Wir bleiben in Kontakt, hier ist meine Karte“, wandte er sich an Jakobs Eltern. Roman nahm sie mit einem leichten Nicken entgegen und die drei verließen uns nach einer kurzen Verabschiedung.

Wieder waren wir zum Warten verdammt.

Jakob

„Was ist denn hier los?“ Lautes Gebrüll beendete meinen traumlosen Schlaf. Meine tastende Hand griff ins Leere, ich war allein auf der Matratze, Tin hatte Wort gehalten.

Dessen verschlafene Stimme drang durch den Raum. „Was brüllst du denn so rum?“

„Warum ist er nicht gefesselt, du Idiot?“ Mac war außer sich, grollte wie ein Gewitter. Bevor Tin antworten konnte, landete etwas gewaltig Schweres auf meinem Becken und pinnte mich fest. Grobe Hände rissen meine Arme nach hinten und kurz darauf drückte sich wieder das Seil auf mein wundes Fleisch. Ich hätte schreien wollen, doch der massive Körper drückte mir sämtliche Luft aus den Lungen.

„Mac, lass die Finger von ihm. Ich kümmere mich schon darum.“

Die Knie des Kerls drückten mir unbeeindruckt weiter gegen die Rippen, während die massiven Arme meinen Brustkorb quetschten. Im Geiste hörte ich beinahe schon das Knacken.

„MAC! Du bringst ihn um!“ Tins Stimme war verzweifelt, die Sorge um mich körperlich spürbar.

„Du hast Recht, jetzt noch nicht.“ Die Stimme des Kerls war eiskalt, zitterte aber mit einer unterschwelligen Erregung. Es machte ihm Spaß, ohne Frage.

„Was meinst du? Hey, das gehört nicht zum Plan! Du hast versprochen ihn gehen zu lassen!“

Der Berg von Mann erhob sich von mir. „Vielleicht, vielleicht auch nicht. Hab du deinen Spaß, vielleicht nehm ich mir meinen. Als kleinen Bonus.“

Die Panik kehrte zurück. Tin war relativ schmal und deutlich leichter. Mac schien gewaltig zu sein. Wenn der es darauf anlegen würde, dann könnte mich mein Aufpasser nicht mehr schützen. Die Gewissheit kam: Die Sache war für mich gelaufen.

„Ich bin im Puff. Euer bekackt schwules Weichgespüle kotzt mich an.“

Das Monster ließ uns allein und die Luft strömte langsam in meine Lungen zurück. Meine Hände wurden taub, der Strick saß viel zu fest.

„Tin? Bist du noch da?“, fragte ich krächzend.

„ Ja, bin ich.“ Er war sofort bei mir und band mich los. „Das ... wollte ich nicht.“

„Lass mich gehen, bitte. Ich will nicht draufgehen“, flehte ich ihn an.

„Jakob ... ich kann nicht. Dann macht er mich kalt und sucht dich. Wir müssen das durchstehen, nur dann ist es wirklich vorbei.“ Die Verzweiflung in seiner Stimme war echt. Tin war nicht der Drahtzieher und schon gar nicht der, der hier die Kontrolle hatte. Auf eine perverse Art war er auch gefangen, wie ich.

„Wir“, flüsterte ich ungläubig.

„Ich will auch, dass es vorbei ist. Das ist alles so falsch, nichts läuft, wie ich es mir vorgestellt hatte.“

Mittlerweile saß ich und Tin hielt mich an den Wangen fest, wischte meine Tränen weg. Die warmen Hände vermittelten mir Zuversicht. Er würde alles tun, damit ich den Albtraum lebend überstand.

Wie von selbst wanderten meine Hände in seinen Nacken und zogen ihn näher heran. ‚Es tut mir leid, Freddy’. Der Schmerz und die Angst verlangten eine Balance, ein positives Gefühl. Meine Lippen zogen den Ausgleich von seinen. Ein ungläubiges Geräusch entwich seiner Kehle, gefolgt von einem glücklichen Seufzen. Doch so unerwartet dieser Kuss begann, so plötzlich endete er auch wieder.

„Lass das. Das ist nicht richtig!“ Tin stand auf und lief im Raum auf und ab, sichtlich erregt. Ich erkannte ein verzweifeltes Aufbäumen gegen seine eigene Entscheidung.

„Ich dachte, du wärst in mich verknallt?“, fragte ich irritiert.

„Aber du nicht in mich! Du hast einen Freund, den du liebst. Ich will nicht der Notersatz sein.“

„Tin, ich komme hier doch nicht raus. Wenn Mac es nicht will, dann hast du keine Wahl. Lass mir wenigstens noch die Geborgenheit bei dir.“

„Thomas.“

„Was?“

„Ich heiße Thomas. Und du kommst hier raus. Alles wird gut.“

„Das glaubst du doch nicht wirklich“, schnaubte ich.

Er trat auf mich zu und ging in die Hocke. „Hör auf damit, klar? Gib dich nicht auf. Du wirst hier rauskommen, es verarbeiten und irgendwann vergessen, hoffe ich. Dir passiert nichts, dafür sorge ich.“

Thomas tigerte auf und ab, fluchend. Er würde die Sache beenden, wenn er gekonnt hätte und ich war ihm dankbar. Dann stutzte ich. Thomas?

„Wieso hast du mir deinen Namen verraten?“

„Macht es denn noch einen Unterschied? Du weißt sowieso schon zu viel von mir. Zu viel für eine einfache Geisel, was du für mich nicht bist, nicht mehr. Hör zu, ich werde wirklich alles tun, was in meiner Macht steht. Aber du solltest noch etwas über Mac wissen ...“

Freddy

„Es gibt neue Erkenntnisse im Fall Jakob Raller. Wie uns aus einer unbestätigten Quelle mitgeteilt wurde, scheint einer der Entführer identifiziert zu sein. Der mutmaßliche Täter, dessen Namen wir gegenwärtig nicht nennen können, gilt als unberechenbar, verbüßte bereits mehrjährige Haftstrafen wegen schwerem Raub, Körperverletzung und Totschlags. Weitere Details folgen, sobald die Ermittlungsbehörde uns die Informationen bestätigt.“

Die Nachrichten trafen mich völlig unvorbereitet.

Andrea und Roman waren zur Bank unterwegs und ich bewachte das Telefon und den Computer. Wie konnten die Idioten jetzt so was bringen? Dieser beschissene Radiosender machte noch alles kaputt.

Fast schon panisch griff ich nach meinem Handy und wählte die Nummer, die auf einer schlichten Visitenkarte stand.

„Van Bergen“, meldete sich die sympathische Stimme des Polizisten.

„Die spinnen doch!“, rief ich aufgebracht. „Die Idioten beim Sender!“

„Oh, Frederik. Ja, keine Sorge, die senden bald einen Widerruf. Offiziell tappen wir im Dunklen.“

„Stimmt es denn?“ Seine Aussage, dieses ‚offiziell’, trieb mir den Angstschweiß ins Gesicht.

Es blieb einen Moment ruhig. „Der Fingerabdruck, den wir im Bad gefunden haben, gehört zu einem Mark Carstens, der sich selber Mac nennt. Und ja, irgendwer hat interne Informationen herausgegeben.“

„Das beruhigt mich jetzt aber ungemein“, blökte ich sarkastisch ins Telefon. Innerlich machte ich mir gerade vor Angst in die Hose.

„Behalte bitte die Nerven. Wir kümmern uns darum. Und ich möchte dir ein Lob aussprechen, dass du so geistesgegenwärtig reagiert hast. Ich habe die Meldung nämlich nur zufällig mitbekommen. Du siehst deinen Freund wieder, ich glaube fest daran.“

„Danke“, entgegnete ich schwach. „Und Entschuldigung, ich wollte nicht schreien. Meine Nerven liegen einfach blank.“

„Es macht dir niemand einen Vorwurf, Frederik. An deiner Stelle wäre ich vermutlich auch etwas kopflos. Denke nicht, es würde mich nicht berühren, was ihr gerade durchmacht, aber diese Gefühle muss man in meinem Job hinten an stellen, damit keine Fehler passieren.“

„Okay, ich verstehe. Ist bestimmt nicht immer leicht.“

„Nein. Aber sei nicht böse, ich muss Schluss machen und mich um dringende Angelegenheiten kümmern. Melde dich, sobald eine Nachricht der Entführer eintrifft.“

„Mach ich. Bye ...“

Meine Gefühlslage war mehr als gespalten. Jakob befand sich in der Gewalt eines wahnsinnigen Schlägers und wir konnten absolut nichts dagegen tun. Niemals zuvor hatte ich mich so dermaßen hilflos gefühlt. Mühelos hatten die Verbrecher mich ausgeschaltet und ich konnte mich glücklich schätzen, dass sie mich nicht umgelegt hatten. Für sie war ich wertlos. Kein reiches Elternhaus im Hintergrund, noch nicht einmal lebende Eltern.

Fast schon konnte ich Roman verstehen, dass er dachte ich hätte es nur auf das Geld abgesehen. Zumindest am Anfang, aber nicht die ganzen zwei Jahre über. „Reg dich ab, er hat es ja eingesehen“, sprach ich zu mir selbst.

Zehn Minuten später korrigierte der Radiosender seine Schlagzeile, die Meldung über den Fall Raller sei eine Fehlinformation gewesen. Blieb nur zu hoffen, dass der Täter keine der Meldungen gehört hatte. Er würde sich bestimmt wiedererkannt haben.

Jakob

„Scheisse. Und so einen Typen bezeichnest du als Freund?“ Thomas’ Beschreibungen von Macs Vorstrafen jagten mir kalte Schauer über den Rücken.

„Ja ... nein. Er hat mir immer mit lukrativen Jobs ausgeholfen. Kleine Brüche und so was. Bisher hab ich ihn aber selber noch nie so erlebt. Mir macht er auch etwas Angst.“

Er hatte gut reden, Mac hatte ihn nicht bedroht.

„Du kannst mich nicht vor ihm beschützen, du weißt das.“

Tins Zuversicht bröckelte für einen Moment, doch dann kehrte die Entschlossenheit zurück. „Ich finde eine Möglichkeit.“

Er setzte sich neben mich und versank in stummer Grübelei, hielt seinen Arm aber schützend um mich. Ungeniert betrachtete ich, von der Binde längst wieder befreit, sein stoppeliges Gesicht. Er war so völlig anders als Freddy, in jeder Hinsicht Männlichkeit pur. Ich bildete mir ein, dass die Ringe unter den Augen meine Schuld waren, weil er über mich gewacht hatte. Seine Beharrlichkeit, mich schützen zu wollen, erweckte meine Zuneigung. Trotzdem, meine Zweifel blieben.

Mac machte keine leeren Versprechungen.

Viele Dinge beschäftigten mich. Vorsichtig schnüffelte ich an meinem Nebenmann. Ein Geruch, den ich durchaus ansprechend fand. Ganz im Gegensatz zu Mac, dessen fauligen Atem ich in voller Dosis abbekommen hatte, als er auf mir hockte. Die säuerlichen Ausdünstungen seines Körpers waren ekelerregend.

Und dann war da wieder Frederik. Sein süßlicher Duft, das Funkeln seiner Augen. Seine Verletzbarkeit, seine Überlegenheit. Ein Kerl voller Gegensätze. Ohne ihn war ich nicht komplett und ich sehnte mich nach Vervollständigung.

„Jakob, nicht ...“, holte mich Thomas Stimme ins Jetzt zurück.

Verwirrt sah ich ihn an und stellte fest, dass sich meine Hand verselbstständigt hatte und über seinen Oberschenkel strich, gefährlich nahe an einer wachsenden Wölbung. Er hielt sie fest.

„Unter anderen Umständen ... ich hab mir das so gewünscht. Aber du würdest es bereuen. Wenn das vorbei ist, dann bin ich weg und du musst mit deinem Gewissen kämpfen. Und das ...“

Er hatte es nicht begriffen. Freddy würde ich nicht wiedersehen. Warum sah er den Tatsachen nicht ins Auge? Meine Lippen versiegelten seinen Mund und der kurze Widerstand erstarb. Trotz der müden Knochen drückte ich ihn auf die Matratze und ließ meine Hände forschend unter sein Shirt gleiten. Ich ertastete weiche Haare auf dem festen Bauch und hörte sein verlangendes Stöhnen.

Meine Hand kämpfte sich in den Hosenbund vor und ich erlebte wieder eine Überraschung. Er hatte schon längst aufgehört meinen Kuss zu erwidern und hielt meine Hand fest. Er sah mich mit undefinierbarer Miene an, doch in dem Blick lag eine fast endgültige Entschlossenheit.

„Ich bin nicht so einer. Es geht einfach nicht“, flüsterte er und schubste mich sanft von sich herunter. Ich hinderte ihn am Aufstehen.

„Ich weiß das, du hast mir doch bewiesen, dass du anders bist. Und ich möchte mich lebendig fühlen.“

Sein Verlangen wuchs, er konnte es nicht verstecken aber noch kämpfte er dagegen an. „Du willst es wirklich?“ Ein letztes Mal flackerte unwilliger Widerstand auf, den ein einfaches Nicken endgültig kippte.

Ohne weitere Gegenwehr ließ er sich erneut auf die weiche Unterlage drücken und erwiderte den Kuss mit verlangender Leidenschaft. Ausgehungert beschrieb es noch besser.

Die Schmerzen in den Händen ignorierend, rieb ich über seine knallharte Ausbuchtung. Es folgte ein panisches Stöhnen und der Körper unter mir verfiel in Zuckungen, bevor er, schwer atmend, erschlaffte.

„Entschuldige“, wisperte er nach einer kleinen Weile. „Es war schon lange her.“

„Macht nichts.“ Ich nestelte an seinem Gürtel. „Aber ich möchte auch noch.“

Thomas half mir beim Entkleiden und zog sich dann selber aus. Sehnsüchtig glitten seine Hände über meinen glühenden Körper. Ich betrachtete den nackten Kerl neben mir mit großem Interesse. Er unterschied sich sehr von Freddy. Zwar war er schlank aber sehr drahtig und auch auf der Brust fand ich einen leichten Flaum. Normalerweise bevorzugte ich die glatte Haut, aber es passte zu Thomas. Es war auch nicht zu viel.

Als meine Hand seinen Hintern streichelte, drehte er sich mit dem Rücken zu mir und ich drängte mich gierig an ihn. Er genoss die Nähe, doch unterbrach mich, als ich versuchte in ihn einzudringen.

„Langsam, Sportsfreund“, sagte er mit zärtlicher Stimme und erhob sich, nach seiner Jacke Ausschau haltend, aus der er ein kleines Tütchen hervorzog. Kommentarlos rollte er mir den Latexmantel, Marke ‚Extrafeucht’, über die Erektion.

„Leg dich auf den Rücken und mach es dir bequem.“

Ich tat was er wollte und er hockte sich rittlings auf mich. Zwar verzog er kurz das Gesicht, doch ansonsten glitt ich problemlos in ihn hinein. Thomas übernahm die Führung und gab einen angenehmen Rhythmus vor. Sein Einfühlungsvermögen war fantastisch. Immer wieder beugte er sich für einen Kuss vor und sein vorschneller Patzer war bald vergessen, als sich sein kleiner Freund wieder nach oben streckte.

Mit zunehmender Dauer schien er nervöser zu werden und steigerte sein Tempo recht zügig, um den Akt nicht unnötig zu verlängern. Er half sich selbst mit der Hand nach und kurz darauf kamen wir, gleichzeitig.

Dann wollte er aufstehen, doch ich hielt ihn fest. „Was ist los?“

Sein Blick fiel auf die Armbanduhr. „Ich will nicht, dass Mac uns so überrascht. Du etwa?“

Der Wunsch, an seinen Körper gekuschelt einzuschlafen, löste sich schlagartig auf. „Nein, auf keinen Fall.“ Für einen Moment hatte ich die Situation um mich herum vergessen. Und mit der Ernüchterung kam das schlechte Gewissen.

Die Gewissheit, Frederik nicht mehr in die Augen schauen zu müssen, war nur mäßig beruhigend. Eigentlich gar nicht. Und plötzlich zerriss meine Gefühlswelt. Nichts war mehr sicher. Ich liebte Freddy, aber auch Thomas schlich sich in meinem Herzen ein, trotz der sehr unromantischen Nummer zuvor.

„Ich wusste, es war ein Fehler. Du wolltest ja nicht hören.“ Tin hatte sich unbemerkt erhoben und schaute, fast wieder vollständig angezogen, traurig auf mich herab.

„Es tut mir Leid, wirklich.“

Er entfernte das Gummi und zog mir die Klamotten wieder über. „Vergiss es einfach. Ich hätte stärker sein müssen.“

Plötzlich fing ich an zu kichern, welches sich langsam zu einem lauten Lachen entwickelte, was mir einen entgeisterten Blick einbrachte.

Das war alles zu absurd. Ich war entführt worden, wurde gefangen gehalten und war verletzt. Doch nun war ich es, der sich für sein Drängen entschuldigte und Thomas war es, der mir verzieh und sich die Schuld gab.

„Bist du okay, Jakob?“

Ich lachte nur noch lauter. Fühlte sich so der Wahnsinn an? Allmählich raubte mir der Schmerz im Magen den Atem, bis das Gelächter zu einer Mischung aus Glucksen und Stöhnen wurde.

„Hey, beruhige dich! Ist alles in Ordnung?“ Die Antwort gab er sich selber, nachdem er sich neben mich gesetzt hatte und über meine Stirn streichelte, was den krampfartigen Lachhusten wieder beruhigte. „Dumme Frage, natürlich ist nichts in Ordnung. Ach shit, ich hätte das nicht tun dürfen ...“

„Hör auf damit“, presste ich mühsam hervor. „Du hattest doch keine Wahl mehr.“

„Ich war grauenhaft“, grinste er ein wenig. „Hab mich wie ein Anfänger benommen.“

„Allerdings“, bestätigte ich ihm. Die verkrampfte Anspannung wich allmählich wieder.

Er griff nach meiner Hand. „Ich hab mich aber auch so gefühlt. Wie ein verdammter Teenie beim ersten Mal. Hat es dir wenigstens das gebracht, was du dir erhofft hattest?“

„Für einen Moment“, seufzte ich. „Und pass bloß auf, ich bin noch ein ‚verdammter Teenie’. Zumindest noch für ein paar Monate.“ Und mit dem Gedanken verflog die aufkommende Hochstimmung wieder. „Falls mir die Zeit bleibt.“

Diesmal war es Thomas, der sich an meinen Rücken kuschelte und mir Trost spendete. „Bitte, verrenne dich nicht darin.“

Er machte eine längere Pause, die nur durch unser ruhiges Atmen durchdrungen wurde. „Ich hätte mir hierfür gerne mehr Zeit genommen. Nicht für den Sex, sondern mit dem Zeitpunkt. Genaugenommen kennst du mich gerade mal einen Tag. Und eigentlich war es mir zu wichtig, um es an eine schnelle Nummer zu verlieren. Du bist ein verdammt interessanter Mensch. Mit dir als Freund wäre vielleicht vieles anders gelaufen. Doch als alles abwärts ging, da war ich allein, niemand, der mir einen Tritt verpasst hat, damit ich mich nach vorne bewege. Ich bewundere deine Energie.“

„Du kennst mich doch überhaupt nicht richtig.“

„Ich habe viel über dich gelernt, während der Observation.“

„Wann ging dein Abstieg eigentlich los?“, wechselte ich das Thema. Von der Vorbereitung zur Entführung wollte ich nichts hören.

„Vor gut fünf Jahren, nach meiner Lehre. Damals wurde ich nicht übernommen und das hat mich ziemlich runtergezogen.“

„Wie alt bist du?“

„28. Vorher war ich zwei Jahre beim Bund.“

„Dir ist schon klar, dass ich damals erst 14 war, oder? Ich war längst nicht so entspannt wie heute, war oft in Prügeleien verwickelt, hatte kein ernsthaftes Interesse an anderen Jungs, zumindest nicht für langfristige Beziehungen. Mädels kamen erst recht nicht in Frage. Erst als Freddy bei uns auftauchte, zweieinhalb Jahre später, änderte sich alles. Es war, als ob er meinem Leben einen neuen Sinn gab.“

Thomas räusperte sich vernehmlich. „Was war denn damals, wenn ich fragen darf?“

„Ich war leichtsinnig. Mir war wirklich schon früh klar, dass ich auf Kerle stand. Was aber nicht bedeutete, dass die anderen es auch wissen sollten. Doch dann hatte man mich mit einem Klassenkameraden auf dem Klo erwischt. Es gab eine riesige Szene auf dem Schulhof, eine kleine Gruppe Schüler fing an, uns quer über den Hof zu schubsen. Und ich hab ihnen bewiesen, dass eine Schwuchtel kein weinerliches, schwaches Mädchen ist. Es kam immer wieder vor, dass irgendwer sich einen ‚Spaß’ erlauben wollte und mich öffentlich angriff.

Ich selber ging, vielleicht aus Trotz, sehr offen mit meinem Schwulsein um. Was im Gegenzug wieder Ärger provozierte. Meine Eltern könnten dir Stories erzäh ...“ Innerlich verpasste ich mir mehrere Ohrfeigen. Falsches Thema, ganz falsches Thema.

„Vergiss den letzten Satz. Die anderen Jungs wurden zum Selbstzweck. Ich hatte einige flüchtige Abenteuer und immer so, dass es irgendwer mitbekommen musste. Irgendwann hat es keine Sau mehr interessiert und ... ich weiß nicht genau, wie ich das ausdrücken soll, plötzlich hatte der Sex seinen Inhalt verloren. Es war unvollständig. Und dann, eines Tages...“

„Du Matze, wer ist denn der?“ Ich deute heimlich auf einen unbekannten Schüler. Das goldblonde Haar strahlt in der Sonne und die schwarzen Klamotten betonen die honigfarbene Haut. Er ist zerbrechlich dünn, doch die blauen Augen, die sich aufmerksam umsehen, strahlen Stärke aus. Mein Herz klopft. Er spricht mit einem anderen Schüler und seine Stimme, samtig und rau zugleich, verursacht eine Gänsehaut.

Matthias ist immer bestens informiert, seine Mutter ist unsere stellvertretende Direktorin. „Ein Neuzugang. Eigentlich müsste er in unsere Stufe kommen, er wiederholt aber wohl das letzte Jahr. Warum fragst du?“ Er sieht mich an und fängt an zu grinsen. „Vergiss es. Selbst wenn der auch schwul wäre, dein Ruf eilt dir voraus. Hier lässt sich doch keiner mehr mit dir ein.“

„Ach halt die Klappe“, knurre ich ihn an. Aber Matthias hat Recht. Von den wenigen Jungs, die mit mir etwas hätten anfangen können, wollte keiner mehr.

„Und was passierte dann?“ Thomas lauschte gespannt.

„Matze behielt Recht, so schien es am Anfang. Frederik ging mir meist aus dem Weg, lächelte mich aber immer wieder an, wenn wir uns irgendwo trafen. Ich wurde fast zum Stalker, suchte die Nähe und beobachtete ihn. Dann stieg er bei der Schülerzeitung ein, schrieb ein paar Artikel, veröffentlichte Illustrationen.“ Ich unterbrach die Erzählung, um mein Herz wieder unter Kontrolle zu bekommen.

„Er ist ein begnadeter Zeichner ... und ich verliebte mich in ihn, in seine Worte, die Bilder. Wir hatten bis dahin noch keine zehn Worte gewechselt.“

„Wusstest du da schon, dass er auch schwul ist?“

„Nein. Ich glaube auch, dass niemand es wusste. Er blieb immer unverbindlich, war nett zu den Mädels und bei den Jungs verschlossen. Es machte mich wahnsinnig, eigentlich deutete alles auf hetero. Ein paar Monate später änderte sich dann alles. Ich ...“

... suche den Pausenhof ab, Frederik ist weiterhin verschwunden. Ich muss ihn finden, ihn sehen und Gewissheit haben. Seit Tagen lege ich mir die Worte zurecht, wie ich mein Problem möglichst locker zur Sprache bringen kann. Aber nicht zu cool. Ich halte es einfach nicht mehr aus! Mache ich die Augen zu, dann sehe ich ihn, träume von ihm.

Ich schleiche um das Gebäude herum und blicke auf den städtischen Park. Wenige hundert Meter nach der Schule liegt das südliche Ufer eines kleinen Sees. Es ist Mittag und die Sonne knallt mir ins Genick, kocht mich weich, während meine Beine mich zum Nordufer tragen.

Ich will aufgeben, doch da verfängt sich ein Lichtstrahl in einer goldenen Strähne, welche hinter einem Baum hervorlugt. Mein Herz klopft, ich schleiche auf den Stamm zu, der das Ziel meiner Begierde verbirgt.

Tatsächlich, es ist Frederik. Er sitzt auf dem Boden, den Rücken an den Stamm gelehnt. Auf den Knien liegt sein Block und er zeichnet konzentriert.

Meine Augen verschlingen das Bild. Er hat das Seeufer gemalt, in absoluter Perfektion. Doch das ist es nicht, was mir den Atem raubt. Vor dem See liegen zwei Figuren, eng umschlungen und nackt. Es sind Kerle. Jedes Detail ist zu erkennen.

Sein Stift fliegt über das Blatt, addiert die winzigen Blümchen, die auf der Wiese vor uns wachsen.

‚Er ist schwul’, durchfährt es mich. Und er muss wissen, dass ich es auch bin. Mein Mut sinkt, er ist nicht interessiert. Die Sonne schmilzt auch den letzten Rest Courage aus meinem Kopf und ich drehe mich leise um, verursache kein Geräusch.

„Willst du schon gehen, Casanova?“

Ich erstarre in der Bewegung. Seine Stimme klingt amüsiert. Ein rascher Blick über die Schulter zeigt ihn noch immer bei der Arbeit, den Kopf starr nach vorne gerichtet, den Stift in einem wahnwitzigen Tempo über das Blatt führend. Das Bild erwacht vor meinen Augen zum Leben. Die beiden Gestalten rollen balgend über die Wiese, küssen sich. Sie sehen aus wie wir, wie er und ich.

‚Es ist nur Einbildung, mein Kopf spielt mir einen üblen Streich’, rufe ich mich stumm zur Ordnung.

„Okay, vielleicht hab ich mich ja getäuscht und du willst nicht mit mir reden. Dann vergiss wenigstens nicht das Atmen, wenn du gehst.“ Er legt den Stift zur Seite und dreht mir sein Gesicht zu. Leichter Spott liegt in seinen Augen.

„Ich ... woher ...?“ Meine Lippen gehorchen nicht und produzieren wildes Gestammel.

„Dein Deo, oder dein Aftershave. Ich weiß es nicht genau.“ Frederik steht auf und klopft sich die staubige Erde von der Hose, dann kommt er auf mich zu, stellt sich auf die Zehenspitzen und schnüffelt. „Okay, dein Aftershave war es.“

Er dreht sich wieder um und läuft zum Ufer, lässt mich einfach wieder stehen. Mein Herz rast mittlerweile abartig schnell.

‚Ich will dich’, denke ich.

„Ach, sag mir was, das ich nicht weiß.“ Wieder trifft mich der sanfte Spott aus seinen Augen und er erkennt meinen erschrockenen Gesichtsausdruck. „Verstehe, du hast wohl laut gedacht.“ Er betrachtet meinen verhärteten Schritt. „Na ja, es sei dir verziehen. In deinem Zustand denkt es sich schlecht.“

Zum ersten Mal keimt Ärger in mir auf. „Sag mal, willst du mich verarschen? Für wen hältst du dich?“

Sein hintergründiges Lächeln zeigt ganz deutlich, dass er mich nicht ernst nimmt. „Ich schleiche dir nicht seit Wochen hinterher, wie eine rollige Katze, Casanova.“

Matthias hatte Recht behalten, mein Ruf war mir tatsächlich vorausgeeilt.

„Schon gut, vergiss es einfach. Ich höre damit auf.“ Ich meine es auch so und drehe mich um. Frederik erlaubt sich einfach nur einen Spaß mit mir.

„Wie du willst. Dann muss ich wohl annehmen, dass du nur eine weitere Kerbe für deinen Bettpfosten gesucht hast? Stellenweise war ich schon fast überzeugt, dass du ein ehrliches Interesse hast. Schade.“ Er kickt lässig einen Stein ins Wasser und sammelt seine Utensilien ein. Dann zieht er wortlos an mir vorbei.

„Warte!“, rufe ich ihm hinterher.

Thomas rutschte nervös hin und her, völlig gefesselt von der Erzählung. „Und hat er gewartet?“

„Nein“, erinnerte ich mich. „Der Drecksack ging einfach weiter. Ich bin ihm auch erst nicht hinterher. Nach der Aktion brauchte ich ein paar Tage, um meine Gedanken wieder in den Griff zu bekommen. Niemand zuvor hatte mich jemals so aus der Fassung gebracht. Und dann kam die Erkenntnis: der oder keiner. Ich fing an zu kämpfen.

Frederik ließ sich von mir hofieren, um mir dann wieder die kalte Schulter zu zeigen. Er spielte mich völlig aus. Ich wusste nicht, dass er sich schon längst in mich verliebt hatte und zog es wie einen Test durch. Gewissheit, darum ging es ihm.“

„Du hast es offensichtlich geschafft“, merkte mein Nebenmann an.

„Ja, nach insgesamt sechs Monaten war ich am Ziel, aber völlig anders als geplant. Er hatte jeden Versuch, ihn zu verführen, gnadenlos abgeschmettert. Und dann lud er mich, wie schon öfters, auf einen Filmabend bei sich ein. Ich war wahnsinnig frustriert, wollte aber auch nicht auf seine Gesellschaft verzichten und stimmte zu. Und dann drehte er den Spieß einfach um, so dass ich derjenige war, der verführt wurde. Er genoss es, mich wahnsinnig zu machen. Doch die eigentliche Überraschung kam erst noch: ich hatte es dem zarten Kerlchen nicht zugetraut, aber er übernahm den aktiven Part, völliges Neuland für mich. Und dann waren wir endlich fest zusammen.“

Die Geschichte hatte Tin erregt, ich spürte es überdeutlich. Doch mein Kopf schrie ganz deutlich ‚Nein!’. Alles war voll mit Freddy und mein Körper verkrampfte. Sofort ließ der Druck am Gesäß nach. Der Gedanke, dass Thomas mich auch so beobachtet hatte, hatte etwas Beängstigendes. Dieser Teil gehörte nur meinem Freund und mir.

Wie auf Kommando polterte es in den Räumen über uns.

Macs Anwesenheit überlagerte die entspannte Atmosphäre und rief den Albtraum wieder an die Oberfläche. Zu allem Überfluss löste sich auch der wärmende Körper von mir und überließ mich meiner inneren Kälte.

„Es tut mir Leid, aber wir müssen ... ich muss dich wieder festbinden, schnell!“ Das Geräusch von Türen, die sich öffneten und schlossen, kam näher.

Kaum lag Thomas wieder auf seiner Matratze, flog die Tür auf.

„Die scheiss Nutte hat mich rauswerfen lassen, weil ich angeblich zu grob war!“, lallte er lautstark. Er war betrunken.

„Mac! Mac, geh da weg, er kann nichts dafür!“ Offene Panik schwang in der Stimme und ging auf mich über.

„Doch, der hat Schuld! Euer dämliches Rumgeschwuchtel.“

Urplötzlich prasselte ein Hagel von brutalen Schlägen auf mich ein. Eine tiefschwarze Bewusstlosigkeit erlöste mich erst nach einigen Sekunden, und diese zogen sich wie eine Ewigkeit in der Hölle.


Ein unmenschliches Stöhnen drang durch meine Kehle. Mein Körper brannte, als ob ich in einem Bad aus Lava gelegen hatte.

„Jakob, mein Gott, du bist wach. Ich konnte ihn nicht rechtzeitig aufhalten, es tut mir unendlich Leid.“ Thomas aufgeregtes Geplapper dröhnte schmerzhaft in meinem Schädel.

„Alles ... tut ... weh.“

„Ich weiß ...“

Er steckte mir irgendwas in den Mund, Tabletten, wie ich vermutete und setzte vorsichtig einen Becher an, damit ich das Zeug schlucken konnte. Danach dämmerte ich wieder weg.

Beim nächsten Aufwachen ging es mir schon etwas besser. Endlich konnte ich die Augen öffnen und sah in das besorgte Gesicht von Thomas.

„Glaubst du immer noch, dass du mich retten kannst?“

Diesmal blieb er mir die Antwort schuldig und er befüllte den Becher neu. „Trink, du warst lange ohne Bewusstsein.“

„Wie lange?“

Er zögerte. „Fast zwei Tage.“

Mir blieb vor Schreck die Sprache weg. Letztendlich konnte ich froh sein, dass Mac mich noch nicht umgebracht hatte. Wobei sich die Frage aufdrängte, ob dies nicht der bessere Weg gewesen wäre.

„Jakob, wir werden es bald herausfinden. Er ist vorhin weggegangen, die Übergabe steht an.“

Bald war es also vorbei, auf die eine oder andere Art. Thomas verzichtete darauf, mich zur Beruhigung zu streicheln, um mir nicht noch mehr Schmerzen zuzufügen.

„Ich rufe dir einen Krankenwagen, sobald wir verschwunden sind. Mehr kann ich leider nicht mehr tun. Halte durch.“ Tränen kämpften sich ihren Weg aus seinen Augen.

„Was immer auch geschehen wird: ich verzeihe dir, Thomas“, flüsterte ich ergriffen. Nun brachen bei ihm alle Dämme und er heulte hemmungslos.

In bedrücktem Schweigen harrten wir aus, bis sich, Stunden später, etwas tat. Eilige Schritte stürmten auf unseren Kellerraum zu.

„Ich hab die verdammte Kohle! Los, nichts wie weg!“ Mac drückte Thomas etwas in die Hand. „Ich warte am Wagen, erledige die Sache hier.“

Fassungslos starrte ich auf den schwarzen Gegenstand in Tins Fingern: eine Pistole.

„Er ... erledigen? Wir haben alles!“

Mac lachte böse und zeigte auf mich. „Er kann mich sehen! Selber Schuld, warum musstest du ihm die Binde abnehmen.“

„Nein, ich werde ihn nicht umbringen!“

„Du Weichei, los, her mit der Knarre!“

Der brutale Riese stürmte nach vorne und beide kämpften um das mörderische Stück Metall. Ich schloss die Augen, wollte es nicht mehr mit ansehen. Dann löste sich ein Schuss. Der Knall echote an den nackten Wänden und nahm mir für einen Augenblick das Gehör.

Unter das laute Piepen mischte sich plötzlich eine Stimme. „Jakob, hoch mit dir, wir müssen raus!“

Thomas stand vor mir, die Pistole in der linken Hand und die Rechte hielt er mir entgegen. Aber ich konnte nicht aufstehen, der Schmerz war übermächtig. Mein Retter kniete nieder und legte das Schusseisen auf der Matratze ab, damit er mich in seine Arme ziehen konnte. Beinahe hatte er mich aufgesetzt, doch dann überschlugen sich die Ereignisse.

Tommy sackte zusammen und Mac richtete sich auf. Er hielt sich die angeschossene Schulter und aus der anderen Hand blitze eine blutverschmierte Klinge hervor. Das Schwein hatte Thomas erstochen!

Meine Finger tasteten über die Matratze und stießen auf den tödlichen Stahl. Der Mörder konnte es nicht sehen, der leblose Körper auf mir nahm ihm die Sicht.

„Bleibt mehr für mich“, ächzte er. Mit langsamen Schritten näherte sich der Koloss. Meine Finger umschlossen das Griffstück, mein Verstand setzte aus. Die erste Kugel ging daneben, doch die zweite malte ein rotes Loch auf die bullige Stirn. Roter Nebel sank hinter ihm zu Boden. Mein Finger zog weiter am Abzug, bis nur noch ein leises metallisches Klicken ertönte. Das Messer fiel zu Boden und der menschliche Berg sackte zusammen.

Mit letzter Kraft zog ich Thomas Körper zu mir, umarmte ihn, die Waffenhand auf seinem Rücken, bevor ich erneut in die Welt der Schatten eintauchte. ‚Du hast dein Versprechen gehalten’, war mein letzter Gedanke.

Freddy

Die Anspannung stieg ins Unermessliche, auf dem Display entfernten sich zwei winzige Punkte voneinander.

„Er hat die Tasche zurückgelassen, ganz wie erwartet, aber nicht den präparierten Schein“, erklärte mir Kommissar van Bergen, der mich nach einigem Drängen meinerseits mitgenommen hatte. Jakobs Eltern saßen im Einsatzwagen hinter uns und betrachteten wohl gerade dasselbe Bild.

Der Polizeitross setzte sich in Bewegung, leise und ohne Aufmerksamkeit zu erregen.

„Lebt er noch?“

Der Kommissar legte seine Hand auf meine Schulter und lächelte aufmunternd, doch seine Augen sagten mir ‚Ich hoffe es.’

Ein anderer Polizist glich das GPS-Signal mit einer Karte ab, nachdem der Punkt nur noch leicht herumzitterte. Sein Funkgerät piepte und er sprach in sein Headset. „Bestätigt. Er ist in dem stillgelegten Industriegebiet.“

Die Wagen hielten kurz darauf an und mehrere gepanzerte Polizisten schwärmten aus.

„Bleib unter allen Umständen im Wagen“, ermahnte mich Fabian.

Plötzlich hallten Schüsse durch das Gelände, die irgendwo von unten kamen. Mein Herz blieb stehen und ein gebelltes ‚Zugriff!’ kam über die Lautsprecher der Funkanlage.

Die nächsten Minuten zogen sich endlos dahin. Sekunden wurden zu Stunden. Ängstlich blickte ich zum Kommissar, welcher mich im Moment aber nicht beachtete, die Anspannung lag schwer über dem Areal.

„Zentrale, hier Einsatzleiter. Zwei Verletzte und eine Leiche.“

Ich übergab mich auf den Fußboden.

„Alles ist gut, dein Freund lebt.“ Van Bergen hielt mir eine Papiertüte hin, doch mein Magen hatte sich beruhigt, für den Moment.

„Ich will da runter, sofort!“

Der Polizist schüttelte den Kopf. „Es sieht schlimm aus. Warte, bis die Rettungskräfte hier sind.“

„Jacky braucht mich!“

„Frederik, er ist nicht bei Bewusstsein, du kannst jetzt nichts tun.“

Am Nebenwagen standen Jakobs Eltern und diskutierten heftig mit einem anderen Polizisten. Auch sie wollten nicht länger warten. Ich lief zu ihnen rüber.

„Sie lassen mich nicht runter.“

Jakobs Mutter nickte. „Ich weiß, wir dürfen auch nicht. Aber der Rettungswagen ist gleich da, alles wird gut.“ Die letzten Worte gingen in ihrem Schluchzen unter und Roman nahm uns beide in den Arm. In dem Moment ertönten die Sirenen der Krankenwagen, die mit hoher Geschwindigkeit auf das Gelände fuhren.

Van Bergen instruierte die Sanitäter und die Truppe verschwand in dem Gebäude, die nur wenige Minuten später mit der ersten Trage zurückkam. Es musste sich um einen der Entführer handeln, ein Kerl, um die Mitte Zwanzig. Er wurde sofort verladen und der erste Wagen machte sich auf den Weg.

Dann kam die nächste Trage, Jakob, kein Zweifel und sein Anblick jagte mir einen Stich durchs Herz. Das Gesicht war geschwollen und verfärbt, alles voller Blut, noch schlimmer als auf dem Bild aus der Mail. Eine stumme Maske des Leids war in den Zügen festgefroren.

„Jakob!“ Van Bergens Hand stoppte meinen plötzlichen Sprint nach vorne.

„Er muss untersucht werden, möglichst schnell. Wir fahren euch alle in das Krankenhaus.“ Sein Blick fiel auf zwei Kollegen, die die Eltern meines Freundes nur mit Mühe zurückhalten konnten. „Wir rücken ab. Ich komme später nach“, sprach er in sein Mikrofon. „Na dann komm, auf geht’s.“

Wenige Minuten später jagten wir mit Blaulicht dem Krankenwagen nach und näherten uns dem Ziel. Mein Freund wurde sofort in die Notaufnahme gebracht und wir wurden in den Wartebereich verfrachtet.

Roman und Andrea nahmen mich in die Mitte. Die angestaute Sorge der letzten Tage brach aus uns heraus.

Eine der Schwestern versorgte uns mit Tee, während der Uhrzeiger quälend langsam vorrückte.

Fast eine geschlagene Stunde hingen wir unseren Gedanken nach, bis ein Arzt den Warteraum betrat und uns mit einem aufgesetzten, unverbindlichen ‚Alles-wird-Gut-Lächeln’ bedachte.

„Mein Name ist Doktor Resch, ich behandele Jakob Raller. Bitte folgen Sie mir.“

Mechanisch standen wir auf und fanden uns in einem leeren Behandlungszimmer wieder.

„Nun, Sie haben sicher viele Fragen, doch lassen Sie mich erst meine guten Nachrichten loswerden. Ihm geht es, den Umständen entsprechend, gut. Zwei Rippen sind angebrochen, er hat einige Prellungen davongetragen und kleinere Platzwunden. Wir gleichen im Moment noch den Flüssigkeitsverlust aus. Körperlich wird er wieder völlig gesund. Er muss allerdings noch ein paar Tage hierbleiben und wir werden ihn von unseren Psychologen betreuen lassen. Wir haben auch einen Spezialisten für solche Fälle.“

„Mein armer Junge“, flüsterte Andrea schluchzend.

„Frau Raller, wir wissen nicht, wie er damit zurechtkommen wird. Es ist notwendig, dass er fachgerecht betreut wird.“

In mir verkrampfte sich alles. Mein Verstand gaukelte mir Jakobs Schmerzensschreie vor.

„Würden Sie bitte Ihre Eltern und mich einen Augenblick allein lassen?“ Der Doktor sah mich eindringlich an.

„Ich bin nicht sein Bruder. Wir sind zusammen.“

„Frederik kann bleiben“, mischte sich auch Roman ein, der seit unserer Ankunft keinen Ton gesagt hatte.

„Na schön ... ich habe Ihnen noch nicht alles erzählt. Es hat den Anschein, dass Jakob für den Tod des einen Entführers verantwortlich ist. Er hatte die Pistole, aus der vermutlich der tödliche Schuss abgegeben wurde. Genaueres kann Ihnen die Polizei sagen, wenn die Untersuchungen abgeschlossen sind. Wir wissen nicht, wie sich das auf Ihren Sohn auswirken wird.“

Das hatte gesessen. Mein Freund sollte jemanden getötet haben? Eine Welle des Hasses auf die Entführer schwappte durch mein Bewusstsein. Was hatten die noch alles mit ihm angestellt, um ihn so weit zu treiben?

„Wird ... wird das Konsequenzen haben?“ Roman rang mit seiner Fassung.

„Nur psychologische, im schlimmsten Fall. Die Polizei geht von Notwehr aus und ich bezweifele, dass ein Richter das anders sehen wird.“

„Eins der Schweine hat überlebt, wo ist der?“, brach es aus mir heraus.

„Darüber darf ich keine Auskunft geben. Es ist zu deinem und seinem Schutz.“

Jakobs Vater baute sich bedrohlich vor dem Arzt auf. „Schutz? Das Monster verdient keinen Schutz. Er hat meinen Sohn leiden lassen!“

„Herr Raller, ich verstehe Sie und auch dich“, er sah mich kurz an, bevor er sich Roman stellte. „Ich kann Ihre Gedanken gut nachvollziehen, aber das wäre keine Notwehr mehr. Jakob wird Sie um sich brauchen, nicht im Gefängnis. Konzentrieren Sie sich auf ihn, mit aller Liebe. Er wird es nötig haben.“

Er hatte Recht, so ungern ich es mir eingestehen wollte.

„Eine Schwester wird Sie gleich in sein Zimmer bringen. Es könnte nicht schaden, wenn er seine Familie bei sich hat, wenn er wieder zu sich kommt.“ Der Arzt drückte auf einen Rufknopf und die besagte Schwester kam herein. „Geben Sie nicht die Hoffnung auf. Mit Ihrer Hilfe wird er es wahrscheinlich gut überstehen.“


„Wenn Sie etwas brauchen, drücken Sie einfach den Knopf. Es wird sofort jemand zu Ihnen kommen.“ Die Krankenschwester ließ uns allein und wir standen unschlüssig vor dem Bett. Mein Casanova war mit Bandagen und Verbänden übersät und eine klare Flüssigkeit floss aus einem Tropf in den Zugang an seiner Hand. Die Haut im Gesicht war stellenweise rötlich-gelb von der Wundsalbe verfärbt, verdeckte aber nicht die zahlreichen Blutergüsse.

„Frederik, bleibst du bei ihm? Wir fahren schnell nach Hause und holen ihm ein paar Sachen.“

„Mich bekommen hier keine zehn Pferde mehr weg, Roman.“

„Gut. Wir sind bald zurück.“ Die Beiden gingen zügig zur Tür und ich zog mir einen Stuhl auf die andere Seite des Bettes. Diese Hand schien unversehrt und ich schmiegte mein Gesicht hinein. Der vertraute Geruch wusch alle negativen Gedanken fort und die schlaflosen Nächte forderten ihr Recht.

Jakob

Stille. Himmlische Stille. Helles Licht drang durch meine geschlossenen Augenlider. Die Schmerzen waren weg und mein Körper schwebte auf weicher Watte. So fühlte er sich also an, der Tod. Thomas hatte versagt, aber ich war ihm nicht böse, er hatte alles versucht.

Befreit atmete ich tief ein und staunte. Die Luft im Jenseits roch merkwürdig, fast wie Desinfektionsmittel. Ein merkwürdiger Ort.

Plötzlich hörte ich das Meer rauschen, es wurde immer lauter. Ich spürte meine Ohren pochen, und die Geräusche veränderten sich. Es klang so vertraut, wie das leise Schnarchen von Freddy. Hoffentlich ging es ihm gut, so allein. Auch ich hatte versagt, mein Versprechen gebrochen, ihn niemals allein zu lassen, ewig sein zu sein, nur für ihn.

Inmitten des Friedens, des stillen Dahintreibens, schob sich ein düsterer Schatten vor meine Gedanken. Der Schemen gewann an Konturen, formte sich zu einer starren Masse, bestehend aus toten Augen und ... einem Loch in der Stirn. Mac glotzte mich an.

Ich hörte mich schreien und riss die Augen auf. Verwirrt, zitternd und schwer atmend nahm ich meine Umgebung wahr. Helle Wände, blendendes Licht zwang mich beinahe die Lider zu schließen. Doch dann sah ich sie, diese warmen, blauen Augen unter dem goldenen Haar meines Engels.

Die Finger des göttlichen Wesens umschlossen meine Hand, verdrängten das Gefühl von kaltem Metall und Tod, segneten sie. Das Echo der Schüsse verhallte.

„Jakob?“ Der Engel sah nicht nur aus wie Freddy, er sprach auch so, trug dieselbe Liebe in den Augen.

Ich versuchte mich an einem Lächeln und der Schmerz kehrte zurück, ein kurzes Aufbäumen des Feuers. Die wolkigen Schwaden vor den Augen verblassten, die Wände gewannen an Struktur, wurden massiver. Ich lebte noch?

„Freddy, bist du wirklich hier?“

Er küsste meine Hand. „Natürlich. Ich bin so froh, dass es vorbei ist, du hast mir gefehlt. Hast du Schmerzen?“

Der Engel war tatsächlich Freddy. Kein plattes ‚Wie geht es dir?’, oder ‚Ist alles okay mit dir?’. Eine Eigenschaft, die ich sehr an ihm schätzte.

„Ich glaube nicht.“ Der Versuch, mich aufzurichten bewies mir das Gegenteil.

„Langsam, deine Rippen sind etwas angeknackt, bleib liegen.“ Freddy stand auf und beugte sich über mich. Seine Lippen küssten meine Stirn und ich fühlte mich elend, weil meine Gedanken bei Thomas waren, der sich für mich geopfert hatte. Er war tot, so wie Mac.

Wieder sah ich es vor mir, die Kugel glitt in Zeitlupe auf den Kopf zu, Haut und Knochen wölbten sich nach innen, die Stelle implodierte, hinterließ ein fransiges Loch und der rote Nebel verteilte sich im Raum. Mein Magen rebellierte gegen die Szene, nötigte mich zum Würgen.

Freddy griff nach einer Schüssel, die unter dem Bett bereit stand und hielt sie mir vor den Mund, gerade rechtzeitig. Dann sah ich Thomas, seine Augen bettelten um Verzeihung, verströmten die Liebe, die er für mich empfand.

Was stimmte nicht mit mir? Der Mann war ein Verbrecher, tot und doch ... er starb meinetwegen. Aus Liebe? Der schwere Duft des Wahnsinns drang durch meine Nase, griff auf meinen Geist über.

„Jacky, es kommt alles wieder in Ordnung. Deine Eltern und ich helfen dir und wir lassen dich nicht allein.

Knall auf Knall, der Schädel explodiert. Der riesenhafte Körper wird von Einschlägen durchgeschüttelt und die bluttriefende Klinge fällt scheppernd zu Boden. Ich kann nicht wegsehen. Thomas liegt auf mir, Blut strömt aus einer Wunde am Rücken. Viel Blut.

„Nimm es weg“, hörte ich mich flüstern.

Frederik wurde nervös, dass Gesicht war voller Sorge. „Was soll ich wegnehmen?“

„Nimm es weg! Ich will es nicht mehr sehen!“ Mein Schrei schmerzte.

Freddy

Blanke Panik stand in den Augen meines Freundes und ich war völlig überfordert. Er reagierte nicht mehr auf meine Worte. „Peng, tot“, brabbelte er vor sich hin. Meine Finger suchten den Notknopf und ein Pfleger stürmte herein. Er warf einen kurzen Blick auf Jakob.

„Ich hole einen Arzt, er hat einen Nervenzusammenbruch.“

Wenige Minuten später spritzte Doktor Resch etwas in ein Ventil am Tropf und Jakob entspannte sich schnell, schlief ein. „Ich hatte so was schon befürchtet. Er wird eine Weile schlafen. Wie ist das passiert?“

„Ich weiß es nicht. Er hat mich erst nicht richtig erkannt, dann war er fast normal, für einen Moment. Ich sollte irgendwas wegnehmen. Ich glaube, er hat ... es wieder gesehen, den Schuss.“

„Durchaus möglich. Ich werde nachher mit unserem psychologischen Berater reden. Dein Freund steht unter enormen Stress. Das wird sich mit der Zeit bessern, aber eine Therapie lässt sich wahrscheinlich nicht umgehen. Er hat eine Menge durchmachen müssen.“

Ich konnte nur beten, dass der Doktor Recht behielt. „Hat Jakob beide Entführer angeschossen?“

Resch zögerte. „Ich weiß nichts über die genauen Umstände. Und selbst wenn ...“

„Ja, Sie dürfen es mir nicht sagen.“ Es war zum Durchdrehen. Vielleicht würde ich von der Polizei mehr erfahren.

„Der andere hat eine Stichverletzung und die kann unmöglich von deinem Freund kommen. Ich versuche auch mir das irgendwie zusammenzureimen. Die Pistole musste irgendwo herkommen. Wir erfahren auch nur das Nötigste, damit wir schnell und richtig handeln können. Jakob hätte die Möglichkeit gehabt, beide zu erschießen, doch er hat es nicht.“ Er unterbrach sich selber. „Alles nur Spekulationen, die mich nichts angehen.“

Doktor Resch zog den Kittel glatt und setzte eine professionelle Arztmiene auf. „Wenn etwas sein sollte, klingle einfach wieder.“

Der plötzliche Wandel verwirrte mich etwas, aber er wollte sich vermutlich auf Distanz halten, um sich auf die Arbeit konzentrieren zu können. „Was ist nur mit dir passiert, mein Großer?“

Natürlich antwortete er nicht. Das Schlafmittel ließ ihn beinahe friedlich entspannt wirken. Ich lief auf den Gang, um mir etwas zu Trinken zu holen, als auch die Rallers um die Ecke bogen.

„Wie geht es ihm?“

„Nicht gut. Er war kurz wach und ist völlig ausgetickt. Der Arzt hat ihm was gegeben. Ich vermute, er hat den Todesschuss wieder durchlebt.“ Bleierne Müdigkeit erfasste mich plötzlich und ich gähnte.

„Geh nach Hause und schlaf dich aus“, meinte Andrea fürsorglich.

„Nein“, lehnte ich den Vorschlag ab. „Ich bleibe hier. Zur Not reicht mir der Stuhl am Bett.“

„Das wird nicht nötig sein.“ Roman drehte sich um und lief auf das Stationszimmer zu.

„Was hat er vor?“ Fragend sah ich Jakobs Mutter an.

„Ich hab so eine Ahnung, lass dich überraschen.“

Und dann dröhnte auch schon laute Stimme ihres Mannes über den Gang. „Ich zahle dieses verdammte Bett, wenn es sein muss!“

Es entstand eine kurze Pause, irgendwer antwortete, zu leise, um es bis hier zu verstehen.

„Sind Sie noch bei Trost? Was interessieren mich Ihre Regeln? Mein Sohn war fast eine Woche in der Gewalt von brutalen Entführern und ich will nicht wissen, was die alles mit ihm angestellt haben! Ich will sofort den Oberarzt sprechen!“

Wieder kam eine Pause. „Warum nicht gleich so?“

Roman kehrte zurück, den Kopf rot vor Zorn. „Verdammtes Pack. Gesunder Menschenverstand ist hier wohl kein Einstellungskriterium.“

Er senkte die Stimme ein wenig. „Frederik, ich habe viel bei dir gut zu machen und heute machen wir den Anfang. Du bekommst ein Bett in das Zimmer, solange es sein muss.“

„Danke, aber das haben wir doch schon geklärt“, antwortete ich gerührt.

„Nichts zu danken, ich wollte es nur noch einmal sagen. Es beruhigt mich, dass so immer jemand in seiner Nähe ist. Wir werden viel Geduld brauchen.“

Es war schon irgendwie traurig, dass es erst einer solchen Tragödie bedurfte, damit sein Vater mich akzeptierte. Aber wie hieß es doch so schön: erst in der Not erkennt man die wahren Freunde.

„Ich muss aber erst nach Hause, um ein paar Sachen zu holen.“

Andrea klopfte auf die Reisetasche. „Nicht nötig, wir haben auch von dir was mitgenommen. Nenn es Intuition.“

Ich lächelte dankbar, einen Teil meiner Klamotten hatte ich schon eine Weile bei Jakob im Schrank.

Zu dritt saßen wir dann eine Weile schweigend um das Bett herum, in stiller Kontemplation, bis Roman sich erhob.

„Ich muss leider in die Firma. Ruft mich bitte sofort an, wenn es etwas Neues gibt.“

Wir versprachen es und ich gähnte erneut. Andrea schickte mich unnachgiebig ins Bett, welches zwischenzeitlich hereingerollt worden war. Unter unseren strafenden Blicken hatte sich die Oberschwester für das Theater im Stationszimmer entschuldigt.

Ich hatte nicht die Absicht zu schlafen, nur die müden Glieder, welche durch den Mangel an Schlaf schmerzten, etwas entspannen, aber die Erschöpfung war zu mächtig. Als ich das nächste Mal die Augen öffnete, war es dunkel und ich mit Jakob allein. Erschrocken richtete ich mich auf und hielt den Atem an, als das Bett leise quietschte.

Doch das Beruhigungsmittel wirkte noch. Ich schleppte mich wieder zu dem Stuhl und bettete meinen Kopf in seine Hand. Sein Atem war ruhig und gleichmäßig. Was hätte ich darum gegeben, ihn einfach aufzuwecken, ihm einen guten Morgen zu wünschen und das alles nur zu einem schlimmen Traum erklären zu können. Die klaffende Wunde in unseren Herzen zu schließen, ihm die Angst zu nehmen und die Normalität zurück zu geben.

Ein leises Stöhnen riss mich aus dem Halbschlaf. „Jacky?“

„Wo bin ich? Freddy, bist du das?“ Mein Herz machte einen Hüpfer, er war wach.

„Ja, ich bin es. Du bist im Krankenhaus. Es ist vorbei.“

„Ich hab Durst.“ Er versuchte wieder sich aufzurichten und atmete zischend ein. „Oh Scheiße, tut das weh.“

„Bleib liegen, ich hole eine Schwester. Nicht bewegen, hörst du?“

„Verlass dich drauf, mein Bedarf ist gedeckt.“

Ich verließ meinen Platz und streckte mich kurz, was mein Körper mit diversen Knackgeräuschen quittierte. Die Nachtschwester war in ein Buch vertieft, bemerkte mich aber sofort.

„Ist alles in Ordnung?“

„Jakob ist wach, er hat Durst und ziemlich heftige Schmerzen.“

Sie nickte. „Geh ins Zimmer, ich bin sofort da.“

Mein Freund hatte sich wieder ins Kissen gleiten lassen. „Wie lange war ich ... weg?“

„Fünf Tage.“

„Wie bin ich da raus gekommen?“

Die Fragen behagten mir nicht. Wie viel durfte ich ihm zumuten, was würde ihn überfordern?

„Kannst du dich nicht mehr erinnern?“

Er schüttelte den Kopf. „Kaum. Fragmente.“

Seine Einsilbigkeit setzte mir zu. Er baute eine Mauer um sich auf, schuf Distanz. Ich schob es auf die Schmerzen, dennoch hatte ich mehr erhofft. Geduldig sein, hatte der Arzt gesagt.

Die Schwester kam leise ins Zimmer und hielt Jakob einen kleinen Becher hin. „Das ist gegen die Schmerzen.“ Dann stellte sie Wasser und zwei Gläser auf den Rolltisch. „Kann ich sonst noch was für euch tun?“

Wir verneinten und sie ging wieder. Vorsichtig griff ich wieder nach Jakobs Hand, doch er entzog sie mir mit einer hektischen Bewegung. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass da noch etwas war, etwas, dass er mir verschwieg.

„An was erinnerst du dich denn noch?“

Seine Reaktion war erschreckend. Die Augen füllten sich mit Tränen und er fing an zu zittern. „Ich kann nicht, jetzt nicht“, flüsterte er.

„Es ist okay, ich wollte dich nicht drängen. Jakob, ich liebe dich.“

„Gar nichts ist okay, verstehst du? Überhaupt nichts.“ Er schrie die Worte fast hinaus. „Ich hatte Angst um dich ... sah dich im Bad liegen. Ich hab nicht mehr daran geglaubt, dass wir uns je wieder sehen“, fügte er deutlich leiser an.

„Es war nur eine Kleinigkeit, wirklich.“

Er schnaubte frustriert. „Das hat mir Thomas schon gesagt. Aber das meinte ich nicht. Ich war mir sicher, dass ich sterben würde.“

„Wer ist Thomas?“

„Niemand, unwichtig.“ Und das glaubte ich ihm nicht. Aber auch sonst blieben mir die Worte im Hals stecken. Was sollte ich darauf antworten? Die Situation wuchs mir eindeutig über den Kopf.

„Geh bitte.“ Ein flehender, leiser verbaler Faustschlag.

„Aber ...“ Eine eiskalte Faust lag drückend um mein Herz.

„Hau ab! Lass mich allein!“

„Jakob, wir müssen zusammenhalten, oder nicht?“ Ich fing an zu heulen, doch er sah mich mit unbeteiligter Miene an.

„Es gibt kein ‚Wir’ mehr.“

Fassungslos suchte ich meine Habseligkeiten zusammen und lief zur Tür. „Ich werde dich nicht einfach aufgeben.“

Ich stürmte am Schwesternzimmer vorbei, rannte die Gänge entlang. Draußen rief ich seine Eltern an. Roman ging verschlafen ans Telefon. „Ja?“

„Ich bin’s. Er hat Schluss gemacht, ich kann ihm nicht mehr helfen“, schluchzte ich.

„Wo bist du?“

„Vor dem Krankenhaus“, antwortete ich.

„Bleib, wo du bist, ich komme.“ Das Gespräch war beendet und ich setzte mich auf die Bank neben dem Eingang.

Was hatte ich falsch gemacht?

Seit dem Tod meiner Eltern und dem Wechsel auf diese Schule, hatte er sich zu meinem Lebensmittelpunkt entwickelt, zu meiner Familie. Nie würde ich unsere ersten Begegnungen vergessen.

Schon am ersten Tag war er mir aufgefallen, mein absoluter Traumtyp. Zufällig bekam ich dann einige Gespräche mit und erfuhr, dass er so ziemlich alles nagelte, was nicht schnell genug fliehen konnte. Und trotzdem sprachen die anderen Schüler mit Respekt von ihm.

Und dann stellte er mir nach, was ich mir gerne gefallen ließ und tat so, als ob ich davon nichts merken würde. Aber ich wollte nicht als ein beiläufiges Schulhofgespräch enden, dafür empfand ich einfach schon zuviel.

Als er mich zum See verfolgte, da entschloss ich mich ihm ein Signal zu geben. Und eine Warnung, kein Spiel zu spielen. Dass er völlig verwirrt zurückblieb, gab mir Hoffnung, dass er wirklich Gefühle für mich hatte.

Und jetzt machte er einfach Schluss, ohne Erklärung. Was war in den letzten Tagen mit ihm passiert?

Das Geräusch von quietschenden Reifen erlöste mich aus der Grübelei. Roman schoss über den Parkplatz und stellte den Wagen ab.

„Komm mit“, forderte er mich auf und verschwand im Eingangsportal. Er hielt schnurstracks auf Jakobs Zimmer zu, die Stirn in sorgenvolle Falten gezogen.

„Warte hier, bitte.“ Dann ging er ins Zimmer.

Jakob

Seit Frederiks Verschwinden konnte ich nur noch heulen. Es war feige von mir, aber ich konnte ihm nicht mehr ins Gesicht sehen. Wie hätte ich ihm erklären sollen, dass ich mit Thomas geschlafen hatte und ... tatsächlich etwas für ihn empfunden hatte.

Hätte Mac mich doch bloß umgebracht, dann müsste Frederik niemals davon erfahren und hätte mich in guter Erinnerung behalten. Warum hatte ich das Schwein nur erschossen? ‚Wegen Thomas’, flüsterte ich mir zu. Er hatte Thomas abgeschlachtet. Es tat mir Leid, dass Mac so schnell sterben durfte, er hätte leiden müssen. So wie ich gelitten hatte.

Nach und nach schaltete mein Kopf die Erinnerungen wieder frei, die Schläge, die Misshandlungen und meine absolute Hilflosigkeit. Und dann Tin, der für mich da war, es aber nicht verhindern konnte. Er starb für mich und ich konnte ihm nicht mehr danken.

Ich bemerkte nicht, dass sich die Tür geöffnet hatte und mein Vater mich einen Moment schweigend betrachtete.

„Jakob?“

„Hi Dad. Wie war euer Urlaub?“, setzte ich im Plauderton an.

„Unwichtig. Wie geht es dir?“ Er trat näher ans Bett und legte unbeholfen seine Hand auf meine Schulter.

Wie ich diese Frage doch hasste. War es denn nicht offensichtlich, dass ich mich beschissen fühlte? „Sag du es mir. Sehe ich gesund aus?“

Mein Vater senkte betroffen den Blick. „Nein.“

„Was machst du hier?“, fragte ich eine Spur zu schroff. Der Schmerz, Frust und die Angst der letzten Woche brachen immer weiter an die Oberfläche.

„Frederik hat mich angerufen ... Was ist los?“ Ich konnte das Leiden in seinem Gesicht erkennen. Er ertrug es nicht, mich so zu sehen. Ich musste ein jämmerliches Bild abgeben.

„Ich kann nicht darüber reden. Es ist besser so, glaub mir.“

„Du kannst mir nicht erzählen, dass du ihn nicht liebst.“

„Und du hast keine Ahnung, wie ich mich fühle!“, schrie ich ihn an. Ich holte tief Luft und zuckte unter einem Schmerzimpuls zusammen, mein Brustkorb brannte.

„Beruhige dich doch, bitte. Wir wollen es verstehen und dir helfen. Warum lässt du uns nicht?“ Mein Vater hatte Tränen in den Augen, ein seltener Anblick. „Wir hatten solche Angst, als wir nach Hause kamen und deinen Freund bewusstlos im Bad vorfanden, von dir fehlte jede Spur.“

„Das ... verstehst du nicht. Bitte, lass mich allein, kümmert euch um Freddy. Er hat es mehr verdient.“

„Was redest du da für einen Blödsinn? Du hast nichts getan!“

‚Wenn du wüsstest’, dachte ich. „Gute Nacht, Papa.“ Ich drehte mich demonstrativ zur Seite, meine eigenen Tränen verbergend. Kein weiteres Wort hätte ich mehr sagen können, der Kloß im Hals schnürte mir fast die Luft ab.

„Gute Nacht“, seufzte er. Unschlüssig drehte er sich um und öffnete zögerlich die Tür. Im Flurlicht erkannte ich Frederik, der mich aus verheulten Augen ansah. Ein stummes Flehen lag in dem Blick. Papa schloss die Tür und ließ mich allein.

Einen weiteren Schlafversuch musste ich abbrechen, zu viele Bilder strömten auf mich ein. Szenen aus Sex und Blut, in wirrer Folge.

Irgendwann erwachte das Leben auf den Gängen, der Schichtwechsel stand an und das Personal fing mit den üblichen Voruntersuchungen an. Es dauerte nicht lange und auch ich war an der Reihe.

Eine junge Schwester grüßte freundlich. „Guten Morgen. Fühlen Sie sich etwas besser?“

„Sehe ich etwa so aus?“, gab ich bissig zurück. Meine Laune hatte einen absoluten Tiefpunkt erreicht.

Die Schwester verrichtete stumm ihre Arbeit, offenbar war sie beleidigt. „Die Visite beginnt bald“, sagte sie zum Abschied.

„Moment noch!“, rief ich ihr nach. Ein dringendes Bedürfnis hatte sich angemeldet, aber ich fühlte mich nicht in der Lage aufzustehen. „Ich muss mal ...“

Eine halbe Minute später kam sie zurück und hielt mir eine Flasche hin. „Einfach reinhängen und laufen lassen, ich hol sie dann später ab.“

Skeptisch betrachtete ich das Teil in meiner Hand. Der Gedanke daran war mehr als peinlich aber mir blieb keine andere Wahl. Es dauerte auch einen Moment, bis ich die Hemmschwelle überwunden hatte.

„Guten Morgen, Herr Raller. Mein Name ist Resch, vielleicht erinnern Sie sich?“ Das Gesicht des Arztes kam mir vage bekannt vor, das war es aber auch schon und ich schüttelte den Kopf.

„Macht nichts“, lächelte er freundlich. „Wie fühlen Sie sich?“

„Blendend. Ich könnte Bäume ausreißen.“

Der Sarkasmus prallte an dem Arzt ab. „Ja, das sehe ich, hier steht kein einziger mehr.“

Gegen meinen Willen grinste ich und der Arzt zwinkerte mir zu. „Aber daran werden wir noch arbeiten, bald ist kein Baum mehr vor Ihnen sicher. Lassen Sie mich mal ein paar Worte loswerden: Körperlich gesehen werden wir Sie wieder hinbekommen, da bleibt nichts zurück. Mehr Sorgen mache ich mir aber um Ihren Kopf.“ Er betrachtete mich eingehend. „Sie haben nicht besonders gut geschlafen?“

„Nein.“

Er nickte. „Es überrascht mich nicht. Deswegen habe ich auch einen Kollegen bestellt, der sich mit Ihnen unterhalten möchte. Sein Ziel ist es, dass Sie bald wieder schlafen können.“

Doktor Resch sah sich im Raum um und runzelte die Stirn. „Ich dachte, wir hätten einen Gast im Zimmer?“

Tränen kämpften sich an die Oberfläche, ich wusste worauf er anspielte.

„Nein. Er kommt nicht mehr“, antwortete ich mit belegter Stimme.

„Möchten Sie über irgendetwas reden?“

„Das würden Sie nicht verstehen, Herr Doktor.“

„Soso, junger Mann. Für jemanden, der sich nicht an mich erinnert, scheinen Sie ja eine ganze Menge über mich zu wissen.“

Ein leises Lachen entwich meiner Kehle. Seine ganze Art machte ihn sympathisch.

„Herr Raller, man erlebt hier eine ganze Menge. Vieles lässt man auch nicht an sich heran, weil es einen kaputt machen würde. Ich habe einen Sohn in Ihrem Alter und auf eine gewisse Art erinnern Sie mich an ihn. Glauben Sie mir, der Gedanke, dass ihm etwas zustoßen könnte, ist schrecklich. Vielleicht liegt mir auch deswegen in besonderer Weise etwas daran, dass wir Ihnen helfen. Aber dafür brauchen wir Ihre Mithilfe. Sie haben die schlimmsten Tage Ihres Lebens durchgemacht und wir müssen versuchen, das vernünftig aufzuarbeiten. Stimmen Sie mir zu?“

Die Art und Weise, wie er mich einbezog, gefiel mir. Er versuchte nicht, mir irgendetwas aufzuzwingen. Und Recht hatte er auch. „Hört das jemals auf? Wenn ich die Augen schließe, dann sehe ich es immer vor mir ... höre den Knall und ... Blut. Er verfolgt mich.“ Ich spürte ein wachsendes Bedürfnis über Thomas reden zu wollen, aber ich konnte es nicht.

„Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht. Aber sehen Sie es mir nach, das ist nicht mein Fachgebiet.“

„Aber Ihr Kollege?“, fasste ich nach.

„Ganz genau. Er betreut ausschließlich Menschen in Ihrer Situation. Es wird bestimmt nicht einfach, aber Sie können nur gewinnen.“ Er zögerte einen Moment. „Es geht mich eigentlich nichts an aber was ist passiert, warum kommt Ihr Freund nicht mehr?“

Sollte ich es ihm sagen? Dieses Geheimnis fraß mich auf. Ich entschied mich für einen Mittelweg.

„Ich kann ihm nicht mehr in die Augen sehen. Es sind Dinge passiert, über die ich nicht reden möchte. Wenn man mit dem Leben abgeschlossen hat ... Es ist egal, er ist tot.“

Doktor Resch sah mich verwirrt an. „Was meinen Sie?“

„Thomas ...“, gestand ich. „Er hat mich vor Mac beschützt, hat es mir versprochen und ich wollte es nicht glauben. Mac war ein Monster. Und am Ende hat er sein Versprechen gehalten. Aber zu welchem Preis? Beide sind tot. Es ist so ungerecht!“ Die Worte brachen durch die Mauer, die dem Druck nicht mehr standhielt. „Er hat mich geliebt und ist deswegen gestorben.“

„Sie meinen den anderen Entführer?“ Ich konnte sehen, wie die freundliche Souveränität des Arztes bröckelte und einer Unsicherheit Platz machte.

„Ja. Ohne ihn wäre ich tot. Er war kein schlechter Kerl, er ist nur irgendwann falsch abgebogen.“

„Er ist nicht ...“ Resch biss sich auf die Lippe.

„’Er ist nicht’ was?“

Der Doktor rieb sich über die Schläfen und stand auf. Auf dem Weg zur Tür drehte er sich noch einmal um. „Es gab nur eine Leiche.“

Thomas lebte? Aber wie konnte das sein? Ich sah es ganz deutlich vor mir, die tiefe Wunde im Rücken, das viele Blut und das furchtbare Messer. Meinem Kopf wurde es zu viel und dann legte sich die Dunkelheit um meinen Geist.

Freddy

Andrea und Roman hatten mich bei der Schule entschuldigt und waren ins Krankenhaus gefahren. Die Nacht über hatte ich mir die Seele aus dem Leib gekotzt und in mir klaffte ein gewaltiges Loch. Mechanisch zog ich mich an, schnappte mir meinen Block und wanderte zu ‚unserem’ See.

Wie damals setzte ich mich unter den Baum, fern von den anderen Menschen, die das Ufer belagerten und fing an zu zeichnen. Ich erinnerte mich an den letzten Sommer, als wir auch hier lagen, uns die Sonne auf den Bauch scheinen ließen und uns manchmal im Wasser abkühlten. Dieses Bild hielt ich fest und brachte es auf das Papier. Jakob, wie er aus dem Wasser auftauchte, kraftvoll und sexy. Milliarden von feinen Tröpfchen stieben durch die Luft und brachen das Sonnenlicht. Mit einem strahlenden Lächeln fixierte er mich und forderte mich auf ins Wasser zu kommen.

„Wow“, ertönte es hinter mir. „Du hast ihn wirklich gut getroffen.“

Matthias setzte sich neben mich. „Ich störe dich hoffentlich nicht? Meine Mutter meinte, du seiest krank. Und wie geht es Jakob? Die Nachrichten sind ja voll von der ganzen Geschichte.“

„Er hat Schluss gemacht.“

„Scheiße ... aber wieso?“ Ich erkannte sein ehrliches Interesse und die Bestürzung in seinem Gesicht.

„Woher soll ich das wissen? Er hat mich rausgeworfen, ohne eine Erklärung. Ich hab mir die ganze Nacht über den Kopf zerbrochen, vergeblich. Er fehlt mir so wahnsinnig. Was haben die Schweine nur mit ihm angestellt ...“

„Tut mir Leid ...“ Matthias fand keine Worte.

„Wenn ich den einen Wichser in die Finger kriege, dann prügele ich die Wahrheit aus dem raus.“

Mein Freund legte seine Hand auf meinen Arm. „Mach bitte keinen Fehler. Vorhin kam was im Radio, er läge noch unverändert im Koma. Er schafft es vermutlich nicht.“

„Erwartest du Mitleid für ihn? Die Sau soll verrecken.“ Ich wollte nicht schreien aber die Emotionen brannten durch.

„Ich bin nicht dein Feind, Freddy. Du weißt, dass ich deinen Freund auch sehr gerne mag. Es wurde nie langweilig, wo er auftauchte. Und durch dich wurde er sogar ein halbwegs anständiger Kerl.“

Matthias lächelte aufmunternd. „Und deswegen glaube ich nicht, dass es wirklich vorbei ist. Ihr gehört einfach zusammen. Das erkenne sogar ich als Hetero. Du weißt ja, was man uns nachsagt, dass wir gefühlstechnisch blind wie ein Maulwurf sind.“

„Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll. Die Woche war die Hölle, ständig die Angst, ob ich ihn jemals wiedersehe. Dann wird er befreit, alles schien wieder normal zu werden. Und nun das ...“

„Gib ihm Zeit. Jakob ist stark, das hat er uns immer bewiesen.“

„Ich weiß ... aber er ist auch sehr sensibel. Was ist, wenn er es nicht bewältigen kann?“

„Daran solltest du am besten gar nicht denken. Vertrau ihm einfach, wie du es damals schon getan hast. Er hat dich nicht enttäuscht.“

Bei den Erinnerungen musste ich lächeln. „Nein, hat er wirklich nicht. Und es hat mir richtig Spaß gemacht, ihn immer wieder herauszufordern.“

„Oh man, ja. Ich erinnere mich noch gut daran, als er dann zu mir kam und sich erstmal richtig ausgekotzt hat, wie du ihn hast auflaufen lassen. Das hat er echt gebraucht. Vorher hat er immer seinen Willen durchgesetzt, aber du hast ihm die richtigen Dämpfer verpasst.“

„Er tat mir schon ziemlich Leid.“ Ich war Matthias dankbar, dass er den alten Zeiten wieder Leben einhauchte und damit meine Hoffnung weckte. „Was machst du eigentlich hier?“

„Ich wollte mir nur die Beine vertreten und nachdenken. Dann hab ich dich hier sitzen sehen.“

„Zum Glück. Vielleicht ist doch nicht alles verloren. Danke.“

Er schlug mir kumpelhaft auf die Schulter. „Wofür hat man denn Freunde? Wenn du quatschen willst, du weißt, wo ich wohne.“

„Gerne. Wie sieht es eigentlich bei dir aus? Ich habe gehört, da gäbe es vielleicht jemanden?“

„Ach“, winkte er ab, „das ist nichts Ernstes. Wir treffen uns manchmal aber außer Sex läuft nicht viel. Das reicht uns aber auch“, zwinkerte er mir zu. „Sie kommt übrigens am Freitag zu Besuch, wir wollen vielleicht ins Kino. Wenn du nichts Besseres vor hast ...“

„Danke aber ich glaube nicht. Es käme mir nicht richtig vor.“

Dafür kassierte ich einen strafenden Blick. „Denk wenigstens noch mal drüber nach. Es bringt nichts, wenn du im stillen Kämmerlein Trübsal bläst. Ändern kannst du die Situation nicht und du sollst ihn ja nicht in den Wind schießen.“

„Du hast Recht“, gab ich zu. „Ich gebe dir Bescheid. Aber da ist noch etwas ... kannst du mir den Unterrichtsstoff besorgen? Ich falle diese Woche bestimmt noch aus, ich kann mich eh nicht richtig konzentrieren.“

„Kein Thema. Meine Mutter kümmert sich um Nachschreibtermine, mach dir keine Sorgen. Jeder versteht, dass deine Situation schwierig ist. Die Stimmung an der Schule ist ziemlich unten ... meinst du, ein paar von uns können ihn besuchen?“ Matthias war zwar schon seit letztem Jahr kein Schüler mehr, hielt aber weiterhin engen Kontakt zu unserer Bildungsanstalt.

„Ich habe keine Ahnung. Er war gestern noch ziemlich durch den Wind. Vielleicht solltet ihr etwas warten.“ Die minutenlange Aufbauarbeit von Matthias ging innerhalb von Sekunden den Bach runter. Nie zuvor hatte ich einen Nervenzusammenbruch miterlebt und bei Jakob war es erschreckend.

„Okay, ich verstehe. Ist es in Ordnung, wenn ich dich alleine lasse?“

Ich nickte. „Klar, ich werde noch ein Bild malen und mach mich dann auch auf den Heimweg.“

Matthias verabschiedete sich und marschierte davon. Ich war dankbar, solche Freunde zu haben. Hier war alles ganz anders als damals an der alten Schule.

Unschlüssig zeichnete ich ein paar Linien auf das nächste Blatt. Ich ließ den Stift gewähren und nach und nach entstand ein Bild aus dem Krankenzimmer. Ich fing seine friedliche Miene ein, als er noch schlief. Das Graphit meines Stiftes formte die kräftigen Schultern nach, die in den definierten Brustmuskel überging, der dann unter dem weißen Laken endete. Die Arme seitlich auf dem Bettuch, der dünne Schlauch im linken Handgelenk, der zum Tropf führte.

Tränen liefen über mein Gesicht und ich klappte meinen Block zu. Der Bus brachte mich bald zu Jakobs Elternhaus. Dort kroch ich in sein Bett und vergrub mein Gesicht in seinem Kopfkissen. Obwohl er seit einer Woche nicht mehr hier gewesen war, haftete sein Geruch noch an dem Stoff.

Sehnsüchtig erwartete ich eine Nachricht aus dem Krankenhaus, doch mein Handy schwieg still. Die lange Nacht forderte irgendwann ihren Tribut und erlöste mich von den düsteren Gedanken.

Jakob

Die Schatten um mich verblassten allmählich und ich öffnete die Augen. Neben dem Bett saßen meine Eltern. Beiläufig registrierte ich, dass der Tropf verschwunden war.

Mama stand auf und umarmte mich vorsichtig, mit Tränen im Gesicht, doch sichtlich erleichtert.

„Hallo Mama.“

Sie verlor den krampfhaften Kampf um ihre Beherrschung und fing an zu schluchzen, unfähig, noch ein weiteres Wort zu sagen. Ich selbst wusste nicht, wie ich mich fühlen sollte. Zum einen Teil war ich natürlich erleichtert, aber da waren auch Wut, Scham und Gewissensbisse.

„Seid ihr allein hergekommen?“ Die Angst, dass Freddy da sei und ich ihm nochmals ins Gesicht schauen müsste war groß. Aber ich wollte mehr über ihn hören. Er fehlte mir.

„Ja. Deinem ... Frederik ging es nicht gut“, antwortete Paps mit einem undefinierbaren Unterton. „Aber er respektiert deine Entscheidung.“

Zu mehr Informationen war er nicht bereit aber das hatte ich mir selber zuzuschreiben. Es war nachvollziehbar, warum niemand Verständnis für diesen überraschenden Schritt hatte. Vielleicht verlor sich auch deshalb der Gesprächsstoff, als wir mit dem Thema durch waren. Meine Eltern wussten nicht, wie sie mit mir umgehen sollten, hatten Angst etwas falsch zu machen.

Und ich wäre sie am liebsten wieder los geworden, damit ich mehr über Thomas herausfinden konnte. „Ihr habt bestimmt noch viele Dinge zu erledigen, ich komme schon klar. Etwas Ruhe täte mir wirklich gut“, fügte ich schnell noch an, damit niemand zu beleidigt war. Die Reaktion ließ auch nicht lange auf sich warten.

„Bist du sicher?“ Meine Mutter wirkte schockiert, aber ich war zu aufgewühlt, um auf ihre Gefühle Rücksicht zu nehmen.

„Ja, wirklich. Die letzten Tage haben mir ziemlich zugesetzt.“

Mama wollte etwas erwidern, doch mein Dad hakte sich unter ihren Arm. „Lass den Jungen zu Kraft kommen. Jakob, bis bald. Wir haben dich lieb.“

Ich bereute mein Verhalten, doch sie waren schon zur Tür, Papa zog meine Mum mehr, als dass sie selber ging. Sie wollte nicht fort.

Unter großen Anstrengungen richtete ich mich auf und stellte meine Füße vorsichtig auf den Boden. Die Schmerzen bewegten sich gerade noch in einem erträglichen Level, wahrscheinlich hatte man mir noch ein starkes Mittel verabreicht, während ich ohnmächtig war. Auf dem kleinen Beistelltisch am Fenster lag das Ziel meiner Mühen: die Fernbedienung des Fernsehers.

Erschöpft schwankte ich zum Bett zurück und ließ mich, ebenfalls sehr langsam und vorsichtig, ins Laken sinken. Ich zappte mich durch die Kanäle, bis der erste Nachrichtensender auf dem Schirm erschien. Von dort erhoffte ich mir, die Informationen, die hier niemand zu geben bereit war. Und tatsächlich, nach einer Viertelstunde wurde das Warten belohnt.

Es folgte eine Zusammenfassung des Geschehens und ich betrachtete es fast schon neutral. Die Schilderungen waren nüchtern und enthielten nicht den Schrecken, den ich erleben musste. Dann kam der interessante Teil.

„Bei dem Toten handelt es sich um Mark Carstens, wie uns nun offiziell mitgeteilt wurde. Über die Umstände des Todes haben wir noch keine Informationen erhalten. Aber man kann davon ausgehen, dass es sich um Streitigkeiten zwischen den Entführern gehandelt haben muss, möglicherweise hatte es mit den 450.000 Euro Lösegeld zu tun.“

‚Falsch, ihr Idioten’, dachte ich nur.

„Der Zustand des mutmaßlichen zweiten Entführers, Thomas I., ist weiterhin kritisch. Es sei fraglich, ob dieser noch aus dem Koma erwachen werde.“

Da war sie also, die Bestätigung. Ich musste zu ihm. Erneut rappelte ich mich auf, diesmal tat es allerdings weh. Die Medikamente schienen nachzulassen. Trotzdem arbeitete ich mich zur Tür vor und trat auf den Gang. Vom Personal war niemand zu sehen und ich kam unbehelligt bis zum Stationszimmer, durch dessen Glasscheibe mich Doktor Resch fassungslos anstarrte, bevor er herausgestürmt kam.

„Herr Raller, Sie sollten noch nicht aufstehen. Kommen Sie, ich bringe Sie auf das Zimmer.“

„Nein“, entgegnete ich bestimmt. „Wo ist Thomas?“

„Ich darf ...“, setzte er an.

„Es kam gerade in den Nachrichten. Er liegt im Koma?“

„Ja.“ Der Doktor gab den Widerstand auf. „Ich ahne, was Sie vorhaben aber es ist keine gute Idee.“

„Dann halten Sie mich doch auf. Ich finde ihn, selbst wenn ich das gesamte Krankenhaus absuchen muss! Er hat niemanden, verdammt!“

Meine laute Stimme lockte andere Angestellte an, die mich ungläubig musterten. Die Schmerzen im Brustkorb nahmen zu und ich stütze mich schwer atmend an der Wand ab.

„Jetzt hören Sie mir mal zu! Sie sind in einer denkbar schlechten Verfassung. Wir gehen jetzt gemeinsam auf Ihr Zimmer und dann essen Sie etwas. Danach können wir uns gerne ausführlich über Ihr Vorhaben unterhalten, zusammen mit einem Kollegen. Sind wir uns einig?“

Der wütende Ausbruch kam überraschend aber ich musste mich fügen. Mit meinen Kräften schwand auch mein Mut. Alleine würde ich hier nicht weit kommen. „Okay“, antwortete ich matt.

„Gut.“ Resch ließ sich einen Rollstuhl bringen und er setzte mich hinein. Laufen kam auch nicht mehr in Frage.

„Ich entschuldige mich für den Aussetzer, Herr Raller.“ Er half mir zurück ins Bett. „Gibt es vielleicht etwas, dass Sie noch loswerden möchten?“

„Jakob reicht. Vielleicht gibt es da etwas aber das darf niemand wissen.“

„Ich unterliege der Schweigepflicht“, merkte er an.

Vielleicht war es gut, mich diesem Arzt anzuvertrauen, denn er konnte mir eventuell weiterhelfen. „Es ist etwas mehr passiert. Thomas und ich ...“

Resch verstand mein Zögern falsch. „Hat er Sie ...“

„Nein! Er hat mir nichts angetan!“, fiel ich ihm sofort ins Wort. „Die ersten beiden Tage waren schlimm, niemand sagte etwas und ich hockte in diesem Verschlag. Doch dann fing Thomas an mit mir zu reden. Er hielt mir Mac vom Hals, soweit er konnte. Wissen Sie, eigentlich war er kaum besser dran als ich. Thomas hat sich um mich gekümmert.“

Ich unterbrach die Erzählung, um mit einem Schluck Wasser meinen rauen Hals zu kühlen. „Er hat es auch ernst gemeint aber ich war mir sicher, dass er Mac nicht aufhalten konnte. Ich wollte nicht einsam sterben und ich war es, der Thomas ... ich habe mit ihm geschlafen, nicht anders herum. Er hat sich sogar dagegen gesträubt.“

Mein Arzt wurde zusehends blasser.

„Knapp zwei Tage vor der Übergabe hat Mac mir das hier angetan. Thomas sagte mir dann, dass es soweit sei, die Übergabe hätte stattgefunden. Ich wollte glauben, dass alles gut gehen würde.“ Die Erinnerungen an die letzten Momente trieben die Tränen zurück in meine Augen.

„Mac wollte Thomas zwingen mich abzuknallen, drückte ihm die Waffe in die Hand, doch er konnte es nicht. In den Nachrichten erzählen die absoluten Scheißdreck! Stattdessen schoss er auf dieses Monster und wollte mich da herausbringen. Doch Mac war nicht tot, er stach zu.“

Meine Nase war dicht und der Doc reichte mir wortlos ein Taschentuch.

„Dann wollte er mich auch abstechen. Die Pistole lag neben mir und ich drückte ab. Danach bin ich hier aufgewacht.“

Der Mediziner schwieg eine Weile, nachdenklich. „Das erklärt einiges. Jakob, das alles ist eine furchtbare Geschichte aber Sie trifft keine Schuld. Nichts von dem ...“

„Erklären Sie das Mal Frederik“, schnaubte ich.

„Eins nach dem anderen. Das Dilemma ist offensichtlich. Sie empfinden Dankbarkeit für den Mann, der Sie überhaupt erst in diese Lage gebracht hat.“

„Das ist mir auch klar“, blaffte ich zurück. „Die Sache war ihm eine Nummer zu groß und er hätte mich gehen lassen, wenn er die Wahl gehabt hätte. Macs Attacken gegen mich setzten ihm zu.“

„Ohne diesen Mac wäre es nicht zu den Übergriffen gekommen, nehme ich an. Hätte die Situation dann nicht anders ausgesehen? Herr Ingenberg hätte Sie nicht schützen müssen, es hätte keinen Grund gegeben, die Sache zu beenden.“

Die Worte ergaben einen Sinn, doch ich wollte es nicht wahrhaben. „Ich dachte, dass sei nicht Ihr Fachgebiet?“

„Ist es auch nicht. Ich habe nur laut nachgedacht. Jetzt essen Sie erstmal etwas, das ist wichtig. In der Zwischenzeit werde ich Ihr Anliegen abklären.“

„Danke. Ich erwarte nicht, dass Sie mich verstehen aber ich brauche Klarheit über meine Gefühle. Thomas bedeutet mir etwas.“

„Ich tue mein Möglichstes.“ Er lachte leise und schüttelte den Kopf. „Sie sind wirklich erstaunlich. Bis später.“

Innerlich spürte ich eine große Erleichterung, weil mein Geheimnis endlich heraus durfte. Mit meinen Eltern oder Frederik wollte ich darüber nicht reden.

Wenige Augenblicke später brachte ein Pfleger etwas zu Essen. Ich warf einen skeptischen Blick auf das matschige Etwas, was wohl einen Eintopf darstellen sollte. „Das hat aber vorher noch niemand gegessen, oder?“

Die mitleidige Miene des Überbringers verwandelte sich in ein Schmunzeln und er riskierte einen Blick. „Es sieht nicht so aus aber das ist wirklich frisch.“ Er ließ mich wieder allein und ich fing an, mir das Zeug in den Magen zu schaufeln. Wie lange hatte ich nichts mehr gegessen? Eine Woche musste es wohl gewesen sein und mein Appetit erwachte plötzlich.

Durch das Geständnis erleichtert und durch das Essen gesättigt, sank ich zufrieden auf mein Kissen zurück.

Ich überdachte nochmals die Worte meines Arztes. Ein Teil von mir wollte es als hypothetisches Gefasel zu den Akten legen, doch dann war da die leise Stimme in mir. Ohne Mac wäre es nie so weit gekommen, vielleicht hätte das alles auch nie stattgefunden. Unter normalen Umständen hätte ich Thomas nicht mal besonders beachtet, neben Freddy verblasste alles und jeder.

Mein Herzklopfen machte mir unmissverständlich klar, dass ich einen Fehler gemacht hatte, ein völliger Idiot war. Aber ich würde es nicht ertragen, wenn er mich deswegen hassen würde, nicht aus diesem Grund.

„Schwachsinn“, murmelte ich. Frederik wäre so oder so wütend und der Grund wäre jedes Mal derselbe. Die nächste Überlegung war naheliegend: wie sähe eine Zukunft mit Thomas aus? Wollte ich das überhaupt? Wenn er aus dem Koma erwachen würde, dann wäre ihm der Knast sicher, so viel war mir bewusst.

Die nächsten Tage verliefen relativ ereignislos. Die Besuche meiner Eltern wimmelte ich, mal mehr und mal weniger schnell, wieder ab. Mit ihnen würde ich mich noch früh genug auseinandersetzen müssen. Freddy war zwischenzeitlich in seine Wohnung gezogen und kapselte sich von meinen Eltern ab, wie mir Mama berichtete. Das tat mir Leid, ich hätte ihn lieber in Gesellschaft gewusst.

Auch der Psychologe besuchte mich regelmäßig aber mit ihm kam ich nicht besonders gut zurecht. Doktor Resch versuchte bei den Sitzungen dabei zu sein und die Gespräche verliefen dann besser.

Gesundheitlich ging es mir zu langsam voran, aber mein Arzt mahnte mich zur Geduld. Zumindest die schlimmsten Schwellungen klangen schnell ab. Zu Thomas durfte ich jedoch noch nicht, Resch wartete unerbittlich auf grünes Licht von Doktor Hagen, dem Psychologen. Also kooperierte ich. Die schlimmen Träume blieben zwar aber der surreale Schrecken war relativ schnell unter Kontrolle. Außergewöhnlich schnell, wie Hagen bestätigte.

Nach über einer Woche in dieser Einrichtung rückte der Tag näher.

Freddy

„Wenn etwas ist, dann melde dich. Wir sind für dich da!“ Dieser Satz von Andrea lag bereits sechs Tage zurück. Seither mied ich jede Kontaktaufnahme nach außen. Im Kino war ich auch nicht. Der Anrufzähler meines Handys kletterte ins Astronomische, bis ich das Gerät irgendwann einfach ausschaltete, um Zeit für mich zu haben.

Manchmal klingelte es an der Tür, doch das ignorierte ich geflissentlich. Zumindest bis zum nächsten Montag.

Jakob begleitete mich in meinen Träumen, alles war in Ordnung und ich wollte ihn küssen, bis mich ein störendes Geräusch aus seinen Armen riss. Langsam fand ich in die Realität zurück. Irgendwer hielt den Finger auf den Klingelknopf und ließ nicht mehr los. Ein Blick zur Uhr weckte leichten Ärger, es war gerade einmal fünf Uhr in der Frühe.

„Ja?“, schnauzte ich in den Hörer der Gegensprechanlage.

„Matthias. Mach auf!“

Die Überraschung hätte nicht größer sein können und ich drückte verblüfft auf den Summer. Eilige Schritte tönten durch das Treppenhaus und ich öffnete die Tür.

Mein Freund sah mich erst angesäuert an, doch dann wich der Ärger der Sorge.

„Freddy, du siehst beschissen aus!“ Er drängte sich an mir vorbei und zog mich in den Flur.

„Was willst du hier?“

„Ich hab beim Auslosen gewonnen. Mike, Lucy, Mareike, Gabriel und ich haben uns darum gestritten, wer dich wieder zur Vernunft bringen darf. Mensch Freddy, ich dachte du wolltest nicht aufgeben?“

„Tu ich doch gar nicht“, entgegnete ich schwach.

Matthias zog eine Augenbraue hoch. „Das sehe ich. Schluss jetzt damit. Ab in die Dusche, dann frühstücken. Danach bringe ich dich zur Schule.“

„Vergiss es. Der Kühlschrank ist leer und ich will nicht!“

Er kramte in seiner Tasche und zog eine Papiertüte hervor. Eine Warmhaltekanne folgte. „Kein Problem, der Bäcker am Bahnhof hatte schon auf. Und du hast keine Wahl mehr. Es reicht! Schlimm genug, dass wir uns um einen von euch sorgen müssen, bei dir können wir wenigstens etwas tun.“

„Wieso, was ist mit Jakob?“ Matthias klang so hilflos bei seinem Vortrag.

„Ich weiß es nicht. Wir waren zweimal da, doch er war nicht auf seinem Zimmer und niemand konnte oder wollte, uns sagen, wo er sei. Seine Eltern sind auch ratlos, er verschließt sich total.“

„Meinst du, es macht überhaupt Sinn, noch zu kämpfen?“ Die Mutlosigkeit hielt mich seit Tagen schon im Griff.

„Wenn ich du wäre, ja.“ Wirklich überzeugt schien aber auch er nicht zu sein. Wir alle kannten Jakob anders. „Los, geh unter die Dusche, danach können wir immer noch Pläne schmieden.“ Matthias rümpfte die Nase. „Du hast es wirklich nötig.“

Entschuldigend sah ich ihn an, die letzte Dusche lag tatsächlich schon ein paar Tage zurück.

„Und mach mal dein Handy an!“, rief er mir hinterher, als ich frische Klamotten aus dem Schrank holte.

Die Flut an Benachrichtigungen, nach der PIN-Eingabe, schien das kleine Telefon sprengen zu wollen. Der Speicher reichte nicht mehr aus. Angeblich warteten über fünfzig Sprachnachrichten auf der Mailbox. Das musste allerdings warten, Matthias drängelte unerbittlich.

Bald darauf kehrte ich erfrischt in die Küche zurück. Das Wasser brachte ein paar verschollen geglaubte Lebensgeister zurück. Ich beäugte die Auswahl an frischen Teigwaren kritisch, das Zeug sah schon pappig süß aus.

„Guck nicht so skeptisch, du verträgst das schon. Und ein paar Zusatzkalorien dürften nicht schaden.“ Mein Freund versuchte sich an einem lockeren Grinsen aber Sorge stand in seinen Augen. Zu Recht, befand ich, mein Körper hatte an Masse eingebüßt.

Mit jedem Bissen wurde ich hungriger und innerhalb von wenigen Minuten war alles verschwunden, begleitet von dem erstaunt bis zufriedenen Blicken meines Besuchers. Die zuckrigen Krümelreste spülte ich mit zwei Tassen des Kaffees aus der Kanne herunter.

Gegen meinen Willen entwich mir ein lautstarker Rülpser. Matthias kicherte und ich wurde rot. „’Tschuldigung.“

„Besser?“

„Ja, danke. Das war eine gute Idee.“ Ohne den gewaltigen Riss im Herzen hätte ich mich sogar richtig gut gefühlt.

„Wofür hat man denn Freunde?“, wiederholte er seine Frage vom See. „Wir wollen dir helfen, wenn du uns lässt.“

Nach ein paar Minuten entspannten Schweigens sah er auf die Uhr. „Wir müssen bald los. Ich werde heute noch einen Versuch bei Jakob starten.“

„Hältst du mich auf dem Laufenden?“

„Aber klar“, nickte er. „Und bis dahin werden dich die anderen schön auf Trab halten“, grinste er verschwörerisch.

Vielleicht würde die Ablenkung wirklich gut tun. Das einsame rumgrübeln hatte schließlich nichts gebracht, eher im Gegenteil: ich fühlte mich täglich noch schlechter.

„Bevor ich es vergesse: Pack Laufsachen mit ein. Ihr habt heute eine Freistunde und Gabriel will die Zeit nutzen, um mit dir ein paar Runden um den Sportplatz drehen.“

Entgeistert sah ich ihm in die Augen. „Das ist nicht euer Ernst, oder?“

„Todernst. Bringt den Kreislauf in Schwung und ist gut für die Konzentration. Denk dran, du steckst im Abi. Wir arbeiten auch schon an einem kleinen Lehrplan, damit du den versäumten Stoff nachholen kannst. Heute Abend geht es los.“

„Sonst noch was?“, seufzte ich genervt.

Er überlegte angestrengt. „Jetzt wo du fragst ... gib Gas, wir müssen los.“ Er quittierte mein angesäuertes Gesicht mit einem Lachen. Natürlich war ich nicht sauer, eher etwas überrumpelt.

Matthias hatte nicht übertrieben. An der Schule übergab er mich gleich dem Verschwörertrupp, der bereits vor dem Hoftor lauerte und von dem mich mindestens einer nie aus den Augen ließ.

Mareike hockte in den Stunden neben mir, stieß mich energisch an, wenn ich mal wieder zu sehr in den Gedanken abdriftete und gab leise Erklärungen ab, wenn mir der neue Stoff Probleme bereitete. Die Lehrer duldeten es kommentarlos.

In den Pausen versammelte sich die Gruppe und begann mit der Aufbereitung des verpassten Stoffs. Ein ganzer Stapel von kopierten Abschriften landete in meinem Rucksack. Dabei erhielt ich genaue Anweisungen, was ich für die kommenden Abende vorbereiten sollte. „Ihr seid schlimmer als die Lehrer“, stöhnte ich irgendwann, als mein Kopf zu rauchen begann.

Doch der Plan ging auf, ich ließ mich von ihnen anstecken und verdrängte meinen Liebeskummer für eine ganze Weile.

Gabriel mutierte auf dem Sportplatz zum Drill-Sergeant und jagte mich über die Aschenbahn, bis ich mich japsend auf den Boden fallen ließ. Ich war völlig ausgepowert, aber es fühlte sich gut an.

Abgekämpft schleppte ich mich auf den begrünten Randbereich und das verschwitzte Shirt landete auf dem Zaun dahinter, wo es in der Sonne trocknen konnte, während ich die warmen Strahlen auf der Haut genoss. Gabriel tat es mir gleich.

Mit geschlossenen Augen lauschte ich dem leisen Rauschen des leichten Windes, bis sich mein Nebenmann räusperte.

„Du hast länger durchgehalten als gedacht. Fühlt sich gut an, oder?“

Etwas schläfrig betrachtete ich meinen Schulfreund. Die Art wie er dort lag erinnerte mich an Jakob, eine Woche vor der Entführung, als wir uns nach dem Regen im Gras geliebt hatten. Die verschwitzte Brust hob und senkte sich im Sonnenlicht. Die Sehnsucht nach meinem Freund erwachte wieder, nach seinen zärtlichen Berührungen und seinen fordernden Küssen.

Gabriel war ihm nicht einmal unähnlich, was die Bilder in meinem Kopf nur noch verstärkte. Erst die Stimme holte mich aus den Tagträumen zurück.

„Muss ich mir jetzt Gedanken machen? Du guckst so ... hungrig“, stellte er etwas nervös fest.

„Nein. Ich hab mich nur gerade an etwas erinnert, mit Jakob“, seufzte ich.

„Das muss ja eine interessante Erinnerung gewesen sein“, schmunzelte er mit einem Blick auf meine untere Hälfte.

Ich zuckte mit den Schultern. „Wenn es dich stört, dann guck weg.“

„Ach quatsch, passiert halt. Du, sag mal ... äh ... tut es eigentlich sehr weh?“

Nun war ich verwirrt. „Was meinst du?“

Gabriel wurde rot. „Also ... wenn man das erste Mal ... von hinten ...“

„Gibt es da etwas, was ich nicht weiß?“

Seine Augen nahmen einen verträumten Ausdruck an. „Ich habe letzte Woche jemanden kennengelernt. Und ja, bisher weiß es niemand. Freddy, er ist wahnsinnig nett, ich hab mich total verknallt.“

„Wieso hast du vorher nie was gesagt? Hier hat doch kaum einer Probleme mit uns“, fragte ich verblüfft.

„Ich war mir selber nicht ganz sicher, bis ich ihn traf.“

Das Geständnis war eine echte Überraschung. „Ich glaub es ja nicht.“ Erleichtert atmete ich auf, für einen Moment befürchtete ich, er würde mich anmachen wollen.

„Tut es weh?“, wiederholte er die Frage.

„Wieso fragst du das ausgerechnet mich?“, zog ich ihn auf. „Nur weil ich schwächer als Jakob wirke, bedeutet das nicht automatisch, dass ich auch den passiven Part übernehme!“

„Echt? Oh ... sorry. Ich ...“ Sein Gestammel brachte mich zum Lachen.

„Wir teilen es gerecht auf“, erlöste ich ihn. „Deine Frage ist allerdings nicht so leicht zu beantworten. Kommt immer ein wenig auf den Partner an, wie vorsichtig er ist und wie stark er gebaut ist. Mein Casanova hat sich extrem viel Zeit gelassen und es tat überhaupt nicht weh. So hätte ich es mir auch für das erste Mal gewünscht. Aber mein damaliger Ex war etwas zu stürmisch und es tat weh, obwohl er längst nicht so gut bestückt war. Nun ja, wir hatten beide nicht besonders viel Erfahrung.“

„Arndt hat schon ... du weißt, was ich meine.“ Gabriel betrachtete interessiert die Grashalme, welche sanft in der Brise schwankten.

„Wenn es soweit ist, lass dich einfach ganz lieb massieren, damit du richtig entspannst. Ihr könnt vorher auch ein gemeinsames Bad nehmen. So etwas hilft. Und ausreichend Schmiere. Wenn Arndt mit den Fingern vorarbeitet und nicht gleich sein bestes Stück versenken will, dann stehen die Chancen gut, dass er den Spaß mit dir zusammen genießen will. Grundregel Nummer eins: niemals etwas überstürzen!“

Ich dachte über meine Worte nach. Nichts überstürzen, nicht vorschnell urteilen und keinesfalls aufgeben!

‚Jakob, egal was passiert ist, ich werde zu dir stehen, das schwöre ich’, flüsterte ich mir stumm zu. Meine Laune besserte sich.

„Danke, Gabriel“, lächelte ich und drückte dem völlig verdatterten Kerl einen dicken Schmatzer auf die Stirn. Beschwingt langte ich nach meinem Shirt. „Auf geht’s, die Freistunde ist bald rum!“

Die restliche Woche verbrachte ich mit neuer Energie und ungebremsten Enthusiasmus. Die Nachhilfestunden meiner Freunde halfen sehr und der versäumte Stoff bereitete mir keine Probleme. Einen Dämpfer erhielt ich erst, als Roman mich informierte, dass Jakob wieder daheim sei, verschlossen wie zuvor und ständig verschwunden. Keiner konnte sich einen rechten Reim darauf machen.

Dieser Rückschlag zog mich jedoch nicht mehr zu tief herunter: Ich würde warten.

Jakob

Seit zwei Tagen fühlte ich mich richtig mies. Alles war in Ordnung, bis Matthias zu Besuch kam. Die Stimmung zwischen uns war angespannt, er wusste nicht, wie er mit mir umgehen sollte. Als ich ihn nach Frederick fragte, da verfinsterte sich seine Miene und er antwortete ausweichend.

„Unerheblich“, hatte er gesagt, „wir bringen ihn wieder auf Vordermann.“ Es lag so viel Sorge in seiner Stimme, dass mir schlecht wurde. Dass mein Freund selber unter der Entführung leiden musste, hatte ich fast schon verdrängt. Doch auch er wurde bewusstlos geschlagen, war Opfer der ständigen Observation. Von der langen Woche der Ungewissheit ganz zu schweigen.

Matthias blieb nicht besonders lange und verließ mich mit einer stummen Anklage in den Augen, als ich weitere Gesprächsversuche abblockte.

„Guten Morgen, Jakob!“ Doktor Resch rauschte gut gelaunt in mein Zimmer. „Ich habe zwei Neuigkeiten für Sie.“

„Morgen. Ist das gut oder schlecht?“, fragte ich misstrauisch. Mittlerweile kannte ich den Doc gut genug um zu wissen, dass seine aufgesetzte ‚offizielle Fröhlichkeit’ meist etwas Gravierendes zu bedeuten hatte.

„Das liegt bei Ihnen. Wir werden Sie heute in die Obhut Ihrer Familie entlassen. Die Meisten würden das als eine gute Nachricht betrachten“, ergänzte er, als ich mein Gesicht verzog. „Sie dürfen zu Herrn Ingenberg. Doktor Hagen hat zugestimmt aber unter einer Bedingung.“

„Die da wäre?“, wollte ich aufgeregt wissen. Thomas lag zwar noch im Koma, aber sein Zustand hatte sich stabilisiert. So sehr mich diese Nachricht gefreut hatte, ein dunkler Schatten lag über ihm. Kommissar van Bergen, der unter Hagens Aufsicht erfolglos versucht hatte, meine Aussage aufzunehmen, hatte angekündigt, dass ‚Tin’ ins Gefängnis überführt werden würde, sobald er transportfähig sei. Seither litt ich unter einem unsichtbaren Countdown.

„Sie setzen die Behandlung in seiner Praxis fort. Das ist alles.“

„Okay. Hatte ich sowieso vor.“ Die Entlassung würde alles verkomplizieren aber daran konnte ich nichts ändern.

„Eine Schwester bringt Sie dann hinunter und ich kümmere mich um die Entlassung.“

„Doktor Resch, wie geht es ihm eigentlich?“

„Theoretisch gut. Die Heilung schreitet voran. Er hatte Glück im Unglück, dass die Klinge die Lunge nur gestreift und sein Herz verfehlt hat. In einer, maximal zwei Wochen können wir den Transport ins Gefängniskrankenhaus wagen.“ Resch wandte sich der Tür zu und drehte sich noch einmal um. „Er hat bereits nach Ihnen gefragt, Jakob.“

„Er ist wach?“

„Seit gestern Abend, halbwegs.“ Dann verschwand der weiße Kittel im Flur.

Meine Aufregung wuchs. Wie würde es wohl sein, außerhalb des Kellers mit ihm zu reden? Nervös lief ich langsam im Zimmer auf und ab, die Minuten vergingen und nichts geschah. Die Rippen schmerzten zwar noch, aber ich hatte mich strikt an die ärztlichen Anweisungen gehalten, so dass es erträglich blieb. Ich würde noch einige Wochen kürzer treten müssen. Die Platzwunden waren gut verheilt und auch die Fäden waren wieder draußen. Lediglich ein paar bunte Flecken waren geblieben, die aber langsam verblassten.

„Jakob, wenn du willst, dann können wir los.“ Schwester Marion wartete in der Tür, mit einem bedrückten Gesicht. Sie war anfangs in der Nachtschicht, als Freddy noch hier war. Mein kleiner Künstler fehlte mir. Vielleicht war die Trennung ein viel schlimmerer Fehler, verglichen mit der Wahrheit.

Marion führte mich in einen abgelegenen Trakt, es gab nur wenige Zimmer auf dem schmalen Flur. “Und du willst ganz sicher da rein?“

„Ja. Er würde mir nichts tun, selbst wenn er könnte.“

„Wie du meinst. Der Raum ist überwacht. Wenn was sein sollte, dann wird sofort jemand hier sein.“ Ihr Blick fiel auf die Tür gegenüber. Mit den Lippen formte sie lautlos ‚Po-li-zei’.

Ich nickte ihr zu und legte meine Hand auf die Klinke. Ohne es zu wollen, beschleunigte sich mein Herzschlag. Einen Augenblick später schwang die Tür leise auf und ich brauchte einen Moment, bis meine Augen sich an das dämmrige Licht des fensterlosen Raumes gewöhnt hatten.

Thomas lag mit geschlossenen Augen im Bett, umgeben von diversen Kontrollmonitoren, auf denen grüne Linien wie lautlose Schlangen hektisch umherwanderten. Über der Tür verrichtete eine einsame Kamera ihren Dienst, deren Objektiv den gesamten hinteren Raum erfasste.

Sein Gesicht wirkte bleich und die blinkenden Lichter der Geräte zauberten ein unheimliches Leben auf die ruhigen Gesichtszüge. Fast unmerklich bewegte sich der Brustkorb unter der Decke.

Ein Stuhl stand neben der Tür und ich zog ihn leise in das Blickfeld des gläsernen Auges, bevor ich mich darauf niederließ.

„Hi“, flüsterte er matt und ich erschrak leicht. Erst bei genauerem Hinsehen erkannte ich, dass er seine Augen einen kleinen Spalt breit geöffnet hatte, mit sichtbarer Mühe, sie auch offen zu halten.

„Hi auch“, antwortete ich ebenso leise.

„Schön, dass du hier bist. Ich hab nicht damit gerechnet.“

„Ich konnte an fast nichts anderes denken. Du hast dein Versprechen gehalten.“

„Und du hast mir nicht glauben wollen. Wenn ich jetzt noch wüsste, wie ich dich gerettet haben soll ...“

Ich fasste die Geschichte kurz zusammen, den kurzen, aber heftigen Kampf, der in einem kleinen Blutbad endete. „Und ich hab wirklich gedacht, du seiest tot.“

„Nicht alle Wünsche werden war“, murmelte er traurig.

„Ich hab mir deinen Tod nicht gewünscht, glaub das bloß nicht!“, rief ich entsetzt.

„Du vielleicht nicht. Aber hier gibt es einige, die hätten damit wenig Probleme.“ Er schien wohl keine guten Erfahrungen mit den Krankenhausangestellten gemacht zu haben.

Vorsichtig strich ich eine Strähne seines Haares aus der Stirn, welches fettig am Kopf klebte. „Ich werde allen erzählen, was du für mich getan hast.“

„Was nicht nötig gewesen wäre, wenn wir diesen Scheiß nicht gemacht hätten“, protestierte er.

„Das hat Doktor Resch auch gesagt. Aber du hast mir geholfen, nur das zählt!“

Thomas seufzte. „Weil ich mich in dich verliebt habe. Deshalb hab ich es nicht ertragen, wie Mac mit dir umsprang. Ohne mich hättest du niemals einen Menschen töten müssen. Jakob, ich bin ein verurteilter Verbrecher. Die kleinen Jobs waren nur die halbe Wahrheit, ich war schon im Knast.“ Das viele Reden strengte ihn an und sein Gesicht war von Schmerzen gezeichnet. Sein Geständnis hinterließ einen bitteren Nachgeschmack.

„Deswegen sind die netten Jungs nie geblieben.“

„Hast du ... jemanden verletzt?“, wollte ich wissen.

„Nein. Du warst der Erste.“ Schuld lag in seiner Stimme.

„Aber du hast mir doch nichts getan!“, rief ich gefrustet.

„Ich habe aber mitgehol ... vergiss es, ich möchte nicht streiten. Wie geht es dir überhaupt?“

„Na ja, eigentlich ganz gut. Ich werde heute entlassen. Nur die Rippen machen noch Probleme. Ich komme dich aber besuchen.“

Dem leichten Lächeln folgte ein nachdenklicher Blick. „Ich glaube nicht, dass dein Freund da mitspielt.“

„Ich habe Schluss gemacht.“ Der beiläufige Ton, den ich geplant hatte, blieb aus. Ein dicker Kloß bildete sich im Hals.

Thomas sah mich betroffen an. „Du wolltest ja nicht glauben, dass es ein Fehler war, mit mir zu schlafen.“

„Du weißt genau, dass das so nicht stimmt, was das eigentliche Problem war. Natürlich war es mir klar. Aber ...“

„Im Prinzip hattest du Recht. Sieh mich an, ich konnte dich wirklich nicht retten, du hast uns da raus gebracht. Mac hätte uns beide erledigt. Du bist der Held von uns.“

Wir schwiegen eine Weile. Thomas hatte mit seiner Erschöpfung zu kämpfen und war mehrfach kurz davor einzuschlafen. Währenddessen dachte ich über meine Gefühle nach. Nichts war mehr sicher, auch meine Empfindungen für Thomas waren diffus. Ohne ihn hätte ich die Geschichte nicht überlebt, unabhängig davon, dass er mit Schuld hatte. Doch seine verzweifelte Liebe ließ sich nicht wegdiskutieren.

Das änderte zwar nichts an meinem Betrug an Freddy aber vielleicht hätte er es verstanden. Ich hatte mich schlichtweg in eine ziemlich beschissene Situation manövriert. Gerade meinem Freund hätte ich vertrauen müssen.

„Was jetzt? Ich liebe ihn, aber ich habe es versaut, oder?“, fragte ich leise, doch eine Antwort blieb aus, Tin war eingeschlafen.

So saß ich noch eine ganze Weile nachdenklich vor dem Bett, bis mich ein leises Klopfen zurückholte. Es war Marion.

„Es wird Zeit, deine Eltern sind hier.“

„Okay.“ Ich warf einen letzten Blick auf das Bett. „Bis bald, ich komme wieder.“

Der Weg zu meinen Eltern entwickelte sich zu einem emotionalen Spießrutenlauf. Wie viel durfte ich ihnen anvertrauen? Diese Frage erübrigte sich allerdings, wie ich sehr schnell feststellen musste. Unsere Begegnung verkrampft zu nennen, wäre nicht genug gewesen.

„Was hast du mit diesem ... diesem ... Mann zu schaffen?“ Papa kämpfte sichtbar mit seinem Hass auf Thomas. „Reicht es denn nicht, was er uns allen schon angetan hat?“

„Roman, bitte ...“, unterbrach ihn Mama, die mich besorgt ansah.

„Nein, ich will es endlich verstehen! Er schweigt sich aus, lässt uns im Dunklen. Ich halte es nicht mehr aus!“

Papa wurde lauter und lauter, unwillkürlich wich ich zurück, sah Mac vor mir und schloss die Augen, mein Herz pochte bis in den Hals hinauf. Doch sofort legte sich die Stimme meiner Mutter unter die grässlichen Bilder und sie umarmte mich vorsichtig.

„Jetzt sieh nur, was du angerichtet hast! Jakob, es ist alles in Ordnung. Wenn du nicht reden willst, dann musst du auch nicht. Aber wir machen uns Sorgen, die Situation ist für uns alle nicht leicht.“ Sie sagte einen Moment lang nichts, hielt mich nur fest und ich beruhigte mich langsam wieder. Ich hatte mir vielleicht etwas vorgemacht, war noch längst nicht so weit wie gedacht.

„Es ist, als ob du immer noch gefangen wärst, noch nicht bei uns“, sprach sie meine Gedanken aus.

„Vielleicht hast du Recht.“ Ich suchte den Blick meines Vaters. „Und du auch. Ich will nur nicht über Thomas reden. Noch nicht, außer einer Sache: Er hat mir geholfen. Ohne ihn wäre ich schlimmer dran gewesen. Du verstehst es vielleicht nicht aber ich bin ihm dankbar. Es hört sich wahrscheinlich verrückt an aber es ist so.“

„Es tut mir Leid, ich bin etwas angespannt“, entgegnete er deutlich leiser.

„Kommt, ich will hier raus.“ Über das Thema wollte ich vorerst nicht mehr reden, da ich mich bereits wieder schuldig fühlte. Das war ein Punkt, an dem Doktor Hagen bereits intensiv arbeitete, dass ich nicht der Täter war. Er erklärte mir auch, dass die seltsame Beziehung zu Thomas nicht ungewöhnlich sei.

„Habt ihr was von Freddy gehört? Matthias hat erzählt, er sei in seine Wohnung zurück, aber mehr wollte er nicht sagen.“

Mein Vater lenkte konzentriert den Wagen heimwärts und Mama antwortete. „Nein. Er hat die letzte Woche auf nichts reagiert, weder auf Anrufe noch Besuche. Willst du es dir nicht noch einmal überlegen?“

Wie gerne hätte ich das aber es lag nicht in meiner Hand. „Ihr werdet es vielleicht bald verstehen und dann macht er Schluss, glaub mir. Es ist zwecklos.“ Sie drängte nicht weiter und daheim verkroch ich mich sofort in meinem Zimmer.

Nach all der Zeit kam es mir fast schon fremd vor. Mac hatte sich hier aufgehalten. Vom Bett aus hatte ich einen direkten Blick auf die Tür zum Bad, wo alles passiert war.

Ich ging zum Schreibtisch und zog eine Mappe aus der Schublade, wo sich einige von Frederiks Zeichnungen befanden, die er mir geschenkt hatte. Damit zog ich mich unter die Bettdecke zurück, in deren Stoff sich unsere Gerüche vermischten. Tief sog ich diesen Duft ein und stellte mir vor, dass Freddy vor einigen Tagen dasselbe getan hatte.

Beim Durchblättern stieß ich auf das Bild vom See, von dem Tag, an dem er mich total durcheinander gebracht hatte. Das Ufer und die zwei Körper.

Bruchstückhaft erinnerte ich mich an einen Song, der auf der Heimfahrt im Radio lief. Besser hätte niemand meine Gefühle ausdrücken können...

I need another story
Something to get off my chest
My life gets kind of boring
Need something that I can confess
Till all my sleeves are stained red
From all the truth that I've said
Come by it honestly I swear
Thought you saw me wink, no, I've been on the brink, so

Tell me what you want to hear
Something that'll like those ears
Sick of all the insincere
So I'm gonna give all my secrets away
This time

(One Republic, Secrets)

Meine Eltern ließen mir die Zeit und Ruhe, die ich benötigte. Niemand drängte mehr, auch wenn es ihnen schwer fiel. Ich zog die Therapie weiter durch und machte allmählich wirkliche Fortschritte, nachdem mir klar wurde, dass ich mich bisher selber belogen hatte. Auch Thomas besuchte ich in der ersten Woche noch drei weitere Male, bis er mich beim letzten Besuch beinahe aus dem Zimmer warf. Ich solle mich endlich wieder um mein eigenes Leben kümmern und ihn vergessen. Dabei hatte er Tränen in den Augen.

‚Ich verdiene dein Mitleid nicht’, flüsterte er.

Doch montags drauf wollte ich ihm noch einen letzten Besuch abstatten. Mir wurde immer bewusster, dass ich ihn nicht liebte. Helfen wollte ich ihm, vielleicht ein Freund sein, aber keinesfalls mehr.

Das Zimmer war leer. Doktor Resch teilte mir dann mit, dass Thomas verlegt worden sei. Traurigkeit und Erleichterung breiteten sich gleichermaßen in mir aus. Es war vorbei.

Bald darauf trudelte ein Schreiben vom Gericht ein, eine Vorladung zur Verhandlung, die drei Monate später stattfinden sollte.

Zwischenzeitlich fühlte ich mich stark genug, um mein Studium wieder aufzunehmen. Jedoch blieb meine Angst vor Frederiks Reaktion stärker als die Sehnsucht nach ihm.

Die Zeit verging viel zu schnell und der Tag der Verhandlung rückte näher. Ich wusste, dass ich Freddy wiedersehen würde.

Freddy

„Herzlichen Glückwunsch, Freddy!“ Matthias kämpfte sich durch die anderen Partygäste und umarmte mich, nachdem nun sicher war, dass ich mein Abitur bestanden hatte. Etwas weiter weg standen Gabriel und Arndt, die nun schon seit einer ganzen Weile glücklich zusammen waren. Der Anblick versetzte mir einen Stich.

„Danke“, erwiderte ich matt.

„Denkst du an Morgen?“

Ich nickte abwesend.

Matthias legte seine Hand auf meine Schulter und brachte mich dazu, ihn anzusehen. „Du musst nicht alleine hin, ich kann mitkommen.“

„Nein. Da muss ich durch. Es ist vielleicht die letzte und einzige Chance.“

„Du tust es schon wieder“, meinte mein bester Freund. „Alles machst du mit dir selber aus. Wir wissen doch, wo es hingeführt hat!“

Ich fand seine Sorge rührend und lächelte ihn an. „Und du weißt, dass ich mich gebessert habe. Ich liebe und vermisse Jakob noch immer, aber ich will ihm zeigen, dass ich stark bin. Stark genug, um mit allem fertig zu werden, was sich morgen aus der Verhandlung ergibt.“

Er sah mich skeptisch an.

„Das ist so ein Männerding, das verstehst du nicht“, zog ich ihn mit einem Grinsen auf.

„Arsch, das sagt der Richtige“, lachte er. „Aber was machst du, wenn es nicht funktioniert?“

„Ich weiß es nicht. Darüber will ich auch nicht nachdenken.“ Ich gähnte und mir war ein wenig schwummerig, das letzte Bier war eins zu viel.

Matthias brachte mich nach Hause und ließ mich schweren Herzens alleine. Die Maske der Selbstsicherheit bröckelte etwas, aber es gab keinen Grund, alle Hoffnung fallen zu lassen. Andrea hatte mich regelmäßig auf dem Laufenden gehalten.

Ich wusste von den Besuchen bei seinem Entführer und ich hatte eine Ahnung, was vorgefallen sein könnte. Jakob blockte weiterhin alle Gesprächsversuche ab. Seine Mutter war sich aber sicher, dass er mich vermisste.

Die Party, der Alkohol und die ständige Tanzerei hatten mich müde gemacht. Es dauerte nicht lange, bis der Schlaf meine Grübeleien beendete.


„Und, nervös?“ Matthias suchte nach einem Parkplatz.

„Höllisch“, musste ich zugeben. Wider Erwarten hatte ich mich schon nach dem Aufstehen übergeben müssen.

„Soll ich nicht doch hier bleiben? Du siehst aus, als ob du Unterstützung nötig hättest.“

„Nein, wirklich nicht. Aber danke.“

„Okay, Freddy. Aber ruf an, wenn was ist. Mein Chef weiß Bescheid, ich kann dann los.“

„Deine zukünftige Freundin kann sich echt glücklich schätzen. Ohne dich ... und die anderen, hätte ich es bestimmt nicht so gut überstanden. Nochmals danke, ihr habt was gut.“ Ich schnallte mich ab und umarmte meinen Freund fest.

„Geschenkt“, erwiderte er gerührt.

„Wozu hat man denn Freunde?“, riefen wir gleichzeitig und lachten.

„Ich drück dir die Daumen. Viel Glück.“ Er klopfte mir auf den Rücken, bevor wir uns losließen und ich ausstieg.

Mit klopfendem Herzen näherte ich mich dem Portal des Gerichtsgebäudes und ließ die Eingangsprozedur über mich ergehen. Nachdem festgestellt wurde, dass ich keine Waffen bei mir trug, durfte ich zum Saal. Ich war überrascht, wie viele Zuschauer bereits auf Einlass warteten. Und in der ganzen Menge sah ich sie, Andrea und Roman.

„Hi“, begrüßte ich sie schüchtern.

„Frederik!“ Ich wurde stürmisch umarmt. „Schön dich zu sehen.“

„Danke, finde ich auch. Es ist schon eine Weile her. Wo ist ... Jakob?“

Roman deutete auf das WC. „Er versteckt sich schon eine Weile da drin.“ Die Türen zum großen Saal wurden geöffnet. „Komm, setz dich zu uns.“

Ohne meine Antwort abzuwarten wurde ich in den Sitzungsraum geschleift. Andrea setzte sich zwischen Roman und mich und somit bekam ich einen Platz direkt am Gang. Hier würde mich Jakob garantiert nicht übersehen. Ich sah fragend zu Andrea und sie schenkte mir ein verschwörerisch anmutendes Zwinkern.

Kaum war Ruhe eingekehrt, führten zwei Beamte einen Mann herein, den ich als Thomas Ingenberg identifizierte. Ich wollte wütend sein, aber er schien mich zu erkennen und warf mir einen ehrlichen, entschuldigenden Blick zu.

Dann füllte sich der Richtertisch, ein Anwalt kam hinzu und auch der Staatsanwalt. Meine Augen fixierten den Entführer und ich bekam die Verlesung der Anklageschrift nur am Rande mit. Der Inhalt war mir auch so bekannt, besser als einem lieb sein konnte.

Dann sprach der Anwalt. „Mein Mandant möchte sich dazu äußern.“ Doch dieser Ingenberg tuschelte mit seinem Vertreter und warf mir einen Blick zu.

„Mein Mandant hat seine Meinung geändert und wird keine Aussage machen.“

Der Richter rief den ersten Zeugen auf. „Jakob Raller!“

Das war der Moment. Mein Herz raste wie verrückt und ich drehte mich zur Tür um. Wie in Zeitlupe schwangen die Türflügel auf und mein Casanova betrat den Raum. Er sah, oberflächlich betrachtet, fantastisch aus, die Verletzungen schienen abgeheilt. Doch sein Gesicht wirkte leer, die Augen wie tot nach vorne gerichtet. Kein Feuer, keine Leidenschaft. Und dann sah er mich.

Für einen Moment spiegelten sich widersprüchliche Emotionen in seinen Zügen, bevor er schuldbewusst den Blick abwendete. Dann nahm er vorne Platz.

„Herr Raller, bisher haben sie die Aussage verweigert. Doch bei allem Verständnis für Ihre Situation, müssen wir heute darauf bestehen.“

Jakob drehte sich nervös zu mir um und dann zum Angeklagten, der das Wort ergriff. „Erzähl es ihnen, alles. Und lass deinen Freund entscheiden, wie er damit umgeht. Aber beende das Versteckspiel, bitte. Hör auf zu leiden und dich selber zu bestrafen!“

Meine Vorahnung wurde langsam zur Gewissheit. Zwischen den beiden musste etwas vorgefallen sein. Andrea griff nach meiner Hand.

Und Jakob erzählte. Mein Herz schmerzte, als er sein Leiden beschrieb, die brutale Behandlung des anderen Entführers und wie ‚Tin’ sich um ihn kümmerte. Dass die beiden uns so intensiv beobachtet hatten, war ein Schock.

Jakob unterbrach die Erzählung „Herr Richter, bevor ich weiterrede ... darf ich kurz ein paar Worte an Frederik richten? Er wurde damals ebenfalls niedergeschlagen.“

„In Ordnung“, antwortete dieser.

„Freddy ... ich wollte nicht, dass du das Folgende erfährst. Schon gar nicht hier und auf diese Art. Ich dachte, es wäre einfacher für dich, wenn ich dich fortschicke, ohne den Grund zu erfahren und ich habe es seit diesem Tag bitter bereut. Du fehlst mir.“

Tränen flossen aus meinen Augen. „Du hättest mir vertrauen sollen“, flüsterte ich.

„Ja ... aber ich war selber so verwirrt. Thomas war mir so nah, hat mich geschützt und ich war ihm dankbar. Doch ständig hatte ich den Tod vor Augen. Mac war eine Zeitbombe. Ich wollte nicht einsam sterben und habe ... mit Thomas ...“ Seine Stimme versagte für einen Augenblick. „Ich war mir nicht sicher, ob ich mich in ihn verliebt hatte. Aber das war es nicht. Doch ich habe dich betrogen.“

„Das ist alles meine Schuld. Ohne die Entführung wäre das nie passiert. Ich möchte mich bei allen entschuldigen und übernehme die volle Verantwortung für diese Dinge “, mischte sich Thomas Ingenberg ein.

Von plötzlicher Übelkeit überrascht, rannte ich aus dem Saal und schaffte es gerade noch rechtzeitig zur Toilette. „Du dämlicher Idiot“, fluchte ich, als ich endlich wieder Luft bekam. „Was denkst du nur von mir?“ All dieses Leid, über Monate hinweg, nur weil er den Mund nicht aufbekommen hatte. Er hätte wissen müssen, dass ich ihm alles verziehen hätte, nachdem er endlich wieder frei war.

Ich verließ den gekachelten Raum und wusch mir den bitteren Geschmack aus dem Mund. In weiser Voraussicht hatte ich Minzbonbons mitgenommen. Vor dem Gerichtssaal setzte ich mich auf die Bank und wartete.

„Alles in Ordnung?“ Roman setzte sich neben mich.

„Geht schon. Dein Sohn ist ein Idiot.“

„Er sitzt bei Andrea und ist völlig fertig, seit dem du raus gerannt bist“, erwiderte er matt und sichtlich mitgenommen.

„Das hätte alles nicht sein müssen. Wie konnte er nur glauben, ich würde ihm das nicht verzeihen können? Nach allem, was er dort durchlitten hat ...“

Die Türen öffneten sich und der Besucherstrom zog laut diskutierend an uns vorbei. Auch Jakob verließ den Saal und blieb unschlüssig auf dem Gang stehen, den Arm seiner Mutter um die Schultern.

„Showtime“, flüsterte ich und stand auf. Mit einem Nicken forderte ich meinen Freund auf, mir zu folgen, bis wir einen ruhigeren Platz erreicht hatten.

Eine gefühlte Ewigkeit standen wir uns wortlos gegenüber. Immer wieder wich er meinem Blick aus. ‚Sag mir, dass du mich liebst, Jakob, sag es, bitte’, wiederholte ich ein stummes Mantra.

„Freddy, ich war ein Idiot“, legte er los und ich sah ihn nur an. „Ich brauche dich. Mein Leben ist so unendlich leer geworden.“

Jakob

Er steht mir gegenüber und sagt keinen Ton. Seine Augen liegen auf mir, erfüllt von stummem Ärger. Meine Zuversicht schwindet, meine Einsicht kommt zu spät. Ich habe ihn zulange von mir weggestoßen.

„Ich verstehe, es ist zu spät.“

„Gar nichts verstehst du“, antwortet er aufgebracht. Seine Hände verkrallen sich in den Kragenaufschlägen meines Sakkos und er drängt mich gegen die Wand. Ich bin auf alles vorbereitet, nur nicht auf das, was dann folgt. Seine Lippen drängen sich verlangend auf meine. Der Kuss ist roh und sinnlich zugleich, voller aufgestauter Leidenschaft und Erleichterung. Atemlos lässt er von mir ab, meine Beine sind weich, doch er hält mich.

„Keine Erklärungen mehr. Ich will nur eins von dir hören.“ Sein Blick wird feierlich ernst und ich weiß genau, was ich ihm sagen soll, ihm sagen möchte.

„Ich liebe dich, Freddy! Komm zu mir zurück.“

Den letzten Teil dieser Erinnerung musste ich wohl laut ausgesprochen haben, denn das warme Gesicht an meinem Hals verzog seine Lippen zu einem Lächeln.

„Ich liebe dich auch“, murmelte eine verschlafene Stimme. Das zerzauste blonde Haar glänzte im Licht der Sonne, die durch das Fenster meines Zimmers strahlte. Seit der Verhandlung, vor drei Tagen, hatten wir es kaum verlassen.

„Ich hab dich gar nicht verdient, Freddy.“

„Fängst du schon wieder damit an?“, murmelte er genervt.

„Du kannst dir ja was einfallen lassen, wie du mich zum Schweigen bringst.“

Seine Augen öffneten sich und er warf mir einen verstehenden Blick zu. „Nach dem Kaffee.“

„Na gut“, gab ich mich geschlagen.

„Aber nur eine Tasse“, grinste er. „Ich hätte nämlich auch Lust.“

Wir machten uns elterntauglich und ich beobachtete ihn beim Anziehen. Das Lauftraining mit Gabriel hatte seinen zierlichen Körper etwas verändert, der flache Bauch hatte ein paar Muskeln hinzugewonnen, ein Anblick, den ich mir gerne gefallen ließ.

„Guten Morgen, Mama.“ Sie räumte gerade die Spülmaschine aus.

„Einen guten Mittag, ihr beiden. Schön, euch auch mal wieder zu sehen.“ Seit mein Vater eingesehen hatte, dass ‚der arme Schlucker’ nicht hinter unserer Kohle her war, hatte sich die Situation daheim angenehm entspannt.

„Ja, aber wir fallen dir nicht lange zur Last, wir brauchen nur einen Kaffee.“

Sie musterte uns skeptisch. „Unter einem Frühstück kommt ihr mir nicht davon.“ Dann wurde ihre Miene etwas ernster. „Es ist Post für dich gekommen. Aus der JVA.“

Freddy versteifte sich und atmete scharf aus. Dieses Kapitel wollte er einfach nur vergessen. Ich griff nach dem Umschlag und öffnete ihn.

„Hallo Jakob, ich wollte dir danken, dass du mir verziehen hast. Und du hast mir die Augen geöffnet, so kann es nicht weitergehen. Deswegen habe ich einen Antrag auf Verlegung gestellt, weit weg von allem hier und die Chancen stehen gut, dass dieser auch bewilligt wird.

Ich werde die nächsten drei Jahre nutzen und mich weiterbilden. In dem anderen Gefängnis kann man sogar eine Ausbildung machen. Irgendwann finde ich vielleicht auch einen netten Kerl, der dann bei mir bleibt.

Du bist einfach ein wahnsinnig toller Mensch, den man lieben muss. Dein Frederik kann sich glücklich schätzen. Zumindest hoffe ich, dass es bei euch wieder etwas wird.

Als ich ihn sah, da konnte ich keine Aussage mehr machen, die Entscheidung musstest du treffen. Aber nach allem, was du mir über ihn erzählt hast, glaube ich fest an euch.

Jakob, dieser Brief ist das Letzte, was du von mir bekommst. Ich werde aus deinem Leben verschwinden, wo ich niemals einen Platz hätte haben dürfen.

Danke, dass du mir trotzdem mein Leben gerettet, und mir den Mut für einen Neuanfang gegeben hast.

Leb wohl, ich werde dich niemals vergessen,

Thomas“

Freddy stand hinter mir und verschlang ebenfalls die Zeilen. „Ich wünsche ihm Glück“, flüsterte er. „Weißt du, was das bedeutet?“

„Ja.“ Ich küsste ihn. „Es ist endlich vorbei.“

Danksagungen

Nun, ich mache das hier zum ersten Mal ganz offiziell und der ein oder andere wird vielleicht überrascht sein.

Zunächst danke ich einem Leser, der mir überhaupt diese Idee eingepflanzt hat. Ich weiß nicht, ob ihm eine namentliche Nennung recht ist, also überlasse ich es ihm, sich zu ‚outen’.

Ich danke Gianna und Alex, die mir immer den Kopf gnadenlos zurechtrücken, wenn ich mich mal wieder in einem Loch verlieren möchte. Ohne Euch sähe einiges anders aus.

Silas danke ich für seine deutliche Kritik an der Story und die relativ schnelle Korrektur. Wer jetzt noch Fehler findet, der behalte sie für sich. ;)

Last but not Least ... ein blöder Spruch, eigentlich, danke ich meinem Ex-Freund. Du hast mir in unserer gemeinsamen Zeit viele neue Erfahrungen geschenkt, meinen Horizont erweitert und mir viele glückliche Momente beschert. Dir verdanke ich, dass ich meinen Weg wieder klar vor Augen sehe und zu mir gefunden habe. Irgendwann verstehst du vielleicht, wer ich wirklich bin.

Zum Schluss danke ich einigen Bands für deren Musik, die mir immer die richtige Stimmung für die Story gegeben hat. Für die Musik, die bei der Entstehung ständig im Hintergrund lief. Hier die Wichtigsten:

One Republic: Secrets, Linkin Park: Numb, OMD: Walking on the Milky Way, 4 non Blondes: What’s up, Aerosmith: I don’t wanna miss a thing, Lordi: Not the nicest guy, The Rasmus: In the shadows / Still standing und Ich&Ich: Pflaster.

Euch darf ich jetzt nicht vergessen. ;) Danke im Voraus, für die Feedbacks. Ich möchte wirklich gerne wissen, wie euch die Geschichte gefallen hat, ob sie euch berührt hat. Das Thema war schwierig aber ich hab mir Mühe gegeben.

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