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Abseits

Teil 3

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Inhaltsverzeichnis

 

Die Möwen spieen ihre gehässigen Geräusche aus, während wir uns auf einem Schiff der Küstenwache befanden. Wir? Also Sean stand neben mir und neben uns noch mein Dad und Daniel. Die Möwen schrieen entsetzlich und hörten sich an wie das Kratzen einer Schellackplatte, die zu langsam lief. Nein, nicht ganz, eher wie ein Orchester, das keinen Dirigenten hatte. Nach dem Tod seiner Mutter und seines Freundes, war Sean nicht mehr da. Ich konnte es nicht anders ausdrücken.

Wir sprachen nicht mehr mit einander, hatten keinen Sex mehr, gut Okay das war verständlich. Aber das Reden fehlte mir unendlich. Es kam nichts mehr von ihm, nur Schweigen. Das Schiff hatte den Punkt des Unglücks wohl erreicht, da es seine Fahrt verlangsamte und ein Spielball der Wellen wurde. Außer uns vieren waren noch andere Angehörigen der Verunglückten an Bord und es wurde mucksmäuschenstill. Viele sahen gedankenverloren über die Reling und andere warfen ihre Kränze ins Wasser. Das Nebelhorn ertönte und viele zuckten vor Schreck zusammen. Es kamen bei dem Unglück fast 200 Menschen ums Leben. Außer wenigen Plastikteilen fand man nichts, was auf das Unglück schließen ließ. Das Meer schloss alle Menschen und Maschinenteile ein und verschlang diese.

Das war vor zwei Wochen. Ich wusste nicht, wie ich mit Sean darüber reden konnte, oder überhaupt sollte. Ich war mit dem Tod noch nie konfrontiert worden und konnte mich ihm nicht stellen, geschweige denn anderen helfen. Meine Hand hielt seine, die so eisigkalt war wie das Meer. Aber reden? Etwas tun? Was denn? Im Grunde genommen kann man in solchen Momenten wohl nur alles verkehrt machen. Es gab nichts Richtiges. Außer Schweigen. Alles Andere hätte wohl eine Menge zerstört. Obwohl ich schon von Trauernden gehört habe, die plötzlich am Grab loslachten, ohne selbst zu wissen wieso. Sean lachte nicht. Sean sagte nichts. Sean stand nur einfach da und sah mit einem leeren Blick hinaus aufs Meer.

Sean Kaiser - machtlose Gefühle-

Als ich Benny so mit Tränen in den Augen an der Wand des Kabinentraktes gelehnt sah, wusste ich sofort, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Schmidt stand bei ihm und sah die Decke an als suche er nach einem Fliegenschiss, den die Maler nicht entdeckt hatten.

„Es ist was passiert, Sean“.

Mehr sagte er nicht.

„Was Benny?“

Mein Herz rutschte in die Hose. So hatte ich ihn noch nie gesehen, nicht so ernst, nicht so angespannt.

„Was ist los Großer?“

„Es ist ein Flugzeug verschollen. Mit an Bord deine Mutter und dein Ex-Freund. Wir dachten es wäre eine gute Idee sie hierher zu holen zu deinem ersten Spiel. Es tut mir leid.“

Mir sackten die Beine weg. Ich konnte nicht mehr klar denken, und hätte Benny mich nicht gehalten wäre ich wohl auf den Boden geknallt.

Zwei Wochen später standen wir hier, auf dem Schiff, an der Unglücksstelle und es wirkte immer noch so unwirklich. Scheiße. Das war alles was ich in diesem Moment dachte. Nun war ich also alleine. ALLEINE! Nur auf mich gestellt. Kein zu Hause mehr. Keinen Zufluchtspunkt mehr, an dem man sich geborgen und beschützt fühlte. Allein in einer fremden Welt, die mir in diesem Moment vorkam als hätte sie alles verschlungen, meine Mutter, mein Leben, einfach alles.

Ich konnte nächtelang nicht schlafen, dachte daran, wenn ich bloß nicht gewechselt wäre, dann hätte ich meine Mutter noch. Und nun? Ich fing an alles zu verabscheuen, was damit zu tun hatte. Nicht zuletzt Benjamin. Ja, ich weiß. Ich war ungerecht, er konnte nun wirklich nichts dafür. Aber ich konnte nicht anders. Ich war aggressiv auf dem Trainingsplatz und bei den Spielen. Ich ließ keinen mehr an mich an ran. Ich wollte alleine sein, der einsame Wolf, der sich alleine beweisen musste, dass er es schaffen kann.

Es sprach in dieser Zeit keiner mit mir. Keiner aus der Mannschaft, keiner aus der Familie des Trainers. Benjamin hatte es anfangs versucht, ließ es dann aber schnell bleiben, und zog sich zurück. Mir kam es entgegen. Ich wollte in dieser Zeit keinen Menschen um mich haben, der mich bedauerte, bemitleidete und tröstete. Ich wollte wie ein Stein sein. Keine Gefühle. Das Moos sollte anwachsen und der Regen abtropfen, wie ein Stein halt.

Es gab einen Menschen, mit dem ich redete, das war Daniel. Ich wusste nicht wieso, aber Daniel war einfach da. Ohne was zu sagen gab er mir eine Nähe, die ich brauchte. Ich konnte es nicht genau sagen, warum er und nicht Benny. Oder wusste ich es doch? Bei Benny, wenn er mich umarmte, hatte ich immer diese Bilder im Kopf wie wir Sex hatten. Klar, es war schön. Zu der Zeit. Aber im Moment konnte ich nicht an Sex denken. Bei Daniel war ich mir sicher, dass er nichts von mir wollte, er war ja heterosexuell. Ich fühlte mich einfach sicher bei ihm. Ein absurder Gedanke bei Benny nicht sicher zu sein, aber ich konnte mich nicht dagegen wehren.

Ja, sicher war es unfair gegenüber Benny, aber war diese scheiß Welt fair zu mir?

Also stürzte ich mich ins Training. Ich machte Extraschichten, um meinen Frust zu bekämpfen.

Die Mannschaft benahm sich so wie immer. Sie lachten, machten Scherze, als wenn nichts geschehen wäre. Erst später, sehr viel später, schnallte ich, dass sie mir damit helfen wollten, mir etwas Normalität geben wollten. Ich war aber zu sehr verletzt und wohl auch zu jung, um es jetzt schon begreifen zu können. Wahrscheinlich wollte ich es auch nicht.

Ich wollte verletzt sein. Ich wollte der einsame Wolf sein. Scheiße.

Es kam wie es kommen musste. In einem Trainingsspiel foulte mich unser rechter Verteidiger. Es war kein schlimmes Foul und in einer anderen Verfassung wäre ich aufgestanden und hätte, ohne ein Wort zu sagen, weiter gespielt.

So aber sprang ich empor, packte ihn mit beiden Händen am Trikot und schubste ihn weg. Er bekam eine knallrote Birne. Man konnte die Spannungen in der Luft förmlich fühlen, wie vor einem Gewitter.

„Hast du sie nicht mehr alle?“, schrie mich Thomas, der rechte Verteidiger, an.

„Leck mich!“, schrie ich zurück.

„Kannst du haben, Schwanzlutscher!“

Ich weiß nicht mehr, wer dann wen als Erster geschlagen hatte, es ging alles zu schnell. Wir prügelten uns richtig heftig, bis die halbe Mannschaft dazwischen ging, um uns zu trennen.

Der Trainer kam dann mit gemäßigtem Schritt angewackelt, sah uns an und schüttelte den Kopf. Zu uns gewandt sagte er:

„So Mädels! Für euch ist heute Feierabend, geht Duschen, vielleicht kühlt euch das ja ab.“

Wir schlichen beide wie geprügelte Hunde vom Platz. Im Vorbeigehen sah ich aber noch wie der Trainer sich verschmitzt grinsend von uns weg drehte. Wieso grinste der?

Thomas und ich standen uns beide im Duschraum gegenüber, keiner sagte etwas. Es war schon eine unerträgliche Stille. Nur das heiße Wasser aus den Duschen rauschte. Bis er dann seinen Kopf hob und mich musterte. Ich sah ebenfalls auf und fragte was los sei.

„Was sollte der Scheiß ebengerade?“

Ich fühlte mich schuldig. Thomas hatte Recht. Ich bin völlig ausgetickt. Also musterte ich die Bodenfliesen und antwortete leise:

„Sorry. Ich weiß selbst nicht was los war mit mir. Es war nicht gegen dich gerichtet, wohl eher gegen mich selbst.“

Ich zählte noch immer die Bodenfliesen bis ich eine Hand auf meinen Schultern spürte.

„Hey, schon Okay. Was hältst du davon, wenn wir uns anziehen und noch zu Toni fahren?“

Toni ist der Stammitaliener bei uns in der Mannschaft. Ein kleines gemütliches Restaurant mit der besten Pasta der Stadt.

Ich sah ihn an. Und was erblickte ich? Zwei strahlend blaue Augen, die mich grinsend in ihrem Fokus nahmen. Also was konnte ich dagegen schon machen?

„Ja. Ok.“

Toni begrüßte uns, wie es wohl nur Italiener können. Überschwänglich und wild mit den Armen fuchtelnd kam er auf uns zu gerannt. Ja wirklich gerannt.

„Aaahh, bene, meine Lieblinsspiieler!“ Nun ja, Toni hatte nur Lieblingsspieler, es sei denn sie essen bei der Konkurrenz.

„Für eusch den bes-ten Tischhee in Lokale.“ Selbstverständlich waren alle Tische hier die besten im Lokal.

Toni verschwand, um kurz darauf mit zwei Grappas zurück zu kommen. Wir stießen miteinander an und tranken. Thomas bestellte einen trockenen Rotwein und Geschnetzeltes in Gorgonzolasauce. Ich nahm den Fisch in Zitronensauce und ebenfalls einen Rotwein.

Rotwein zu Fisch? Nun ja, ich mochte diesen Wein dazu und die Zeiten, dass man nur weißen Wein zu hellem Fleisch/Fisch bestellt, ist zum Glück schon seit Jahren passé.

Es schmeckte wie immer vorzüglich. Nicht überkandidelt, gute Portionen zu einem fairen Preis.

Wir führten nebenbei Smalltalk. Über Gott und die Welt.

Ich mochte Thomas. Er ist in Apenrade geboren, unweit der deutschen Grenze und sprach daher sehr gutes Deutsch, bis auf seinen lustigen dänischen Dialekt, der einem immer ein Lächeln auf den Mund zauberte, wenn er sprach.

Anders als die vielen geläufigen Vorurteile gegenüber Dänen war er kein Faxe trinkender, mit einem Wikingerhelm auf dem Kopf nur Party machender Chaot. Thomas war ein sehr introvertierter Mensch, der sehr belesen war und Bier nicht ausstehen konnte.

Innerhalb der Mannschaft genoss er größten Respekt, denn wenn er mal etwas sagte, hatte alles Hand und Fuß. Unsere Mannschaft hörte auf ihn, wenn der mittlerweile 30jährige etwas zu sagen hatte. Und seine Leistungen sprachen eh für sich. Kapitän der dänischen Nationalmannschaft und der wohl beste Rechtsverteidiger in Europa.

Er war so etwas wie die graue Eminenz innerhalb der Mannschaft. Ein Mensch, der genau analysieren konnte, und immer auf den Punkt kam.

So wie auch jetzt.

„Weißt du Sean, dass du der erste Mannschaftskollege bist, mit dem ich mich geprügelt habe?“

Nein, wusste ich nicht und umso betretener spielte ich mit der Tischdecke, um ihn ja nicht anzusehen.

„Aber ich muss dir auch etwas gestehen.“

Ich war verblüfft. Was denn gestehen? Und so sah ich ihn mit einem großen Fragezeichen im Gesicht an. Ließ die Tischdecke, Tischdecke sein und konzentrierte mich auf mein Gegenüber.

Thomas lief ganz leicht rot an und blinzelte mich mit seinen blauen Augen frech an.

„Nun, ich wollte dich provozieren. Das Foul war beabsichtigt und als du dann drauf einstiegst, war ich regelrecht froh.“

„Was? Ich verstehe nicht. Warum denn das?“

„Ich sehe doch wie sehr du dich einigelst und nichts mehr an dich ranlässt. Ja ich weiß das es eine Schutzfunktion ist, allerdings eine falsche. Als mein Bruder vor zwei Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam, ging es mir ähnlich wie dir jetzt. Er war mein Zwillingsbruder und wir standen uns sehr nahe. Ich wollte nichts und niemanden an mich heranlassen, schottete mich von meiner Umwelt ab. Bis dann ein guter Freund mir auf die harte Tour klar machte, dass ich etwas ändern musste.“

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und in meinem Gehirn kämpften wohl gerade Engelchen und Teufelchen miteinander. Aber ich war neugierig geworden und fragte dann doch:

„Was passierte dann?“

„Nun ja, nachdem mir mein Freund den Kopf wusch, nahm er mich mit in ein Lokal und ich lernte dort die Liebe meines Lebens kennen.“ Thomas strahlte mich an.

„Sintje?” Sintje ist mittlerweile Thomas Frau und die beiden haben einen zwei Monate alten Sohn. Und sie ist das genaue Gegenteil von Thomas, ich lernte sie damals auf der Grillparty beim Trainer kennen. Sie ist ein Kopf kleiner als Thomas und ein Wirbelwind, den man einfach gern haben musste.

„Ja, Sintje. Und von da an veränderte sich mein Leben. Ist schon komisch das Leben, der eine geht, die andere kommt. Natürlich denke ich noch oft an meinem Bruder, aber der Schmerz, den ich hatte, ist weg. Und ich hoffe, du packst es auch. Was ist denn eigentlich mit Benny und dir?“

Puhh, ja was ist eigentlich mit Benny? Treffer! Ich wusste es nicht. So abweisend wie ich ihm gegenüber war? Ach, scheiße.

„Ich weiß nicht, ob es jemals wieder so werden kann, wie es mal war. Ich habe mich wie ein Arschloch benommen, obwohl er nur für mich da sein wollte. Und jetzt haben wir wohl so einen Punkt überschritten.“

„Diesen berühmten No-Return Point? Wenn du wirklich willst, hast du immer eine Chance. So wie ich Benny kennen gelernt habe, wird er es verstehen.“

„Hmm, vielleicht? Ich weiß nur nicht, ob ich es überhaupt noch will.“

„Wie jetzt?“

„Nun, alles, was ich in Benny sehe, hat nun plötzlich solch einen bitteren Beigeschmack bekommen. Wenn ich ihn sehe, muss ich zwangsläufig daran denken, wie er es mir sagte. Und diese Bilder zu verdrängen, kann ich halt nicht von heute auf morgen.“

„Dann ruf dir die Bilder in deinem Kopf ab, als ihr noch glücklich wart.“

„Wenn das so einfach wäre.“

Thomas seufzte und sah mich nachdenklich an.

„Wenn du Probleme hast, dann komme zu mir, okay? Und bitte tue mir einen Gefallen?“

„Ja, und der wäre?“

„Hänge dich nicht zu sehr an Daniel, mit dem stimmt irgend etwas nicht. Ich weiß nicht was es ist, es ist nur so ein Gefühl. Bitte tue mir den Gefallen, mir zu liebe und dir auch. Ach so noch was: Sorry wegen dem Schwanzlutscher!“

Ich sah Thomas an und er mich. Ich konnte nicht anders und musste lachen.

Das erste Lachen wohl seit Wochen. Menno, tat das gut.

Nun lag ich wach in meinem Bett und dachte darüber nach, was Thomas gesagt hatte. Was hatte er gegen Daniel? Nebelschwaden in meinem Gehirn. Ich konnte es mir nicht erklären. Daniel mochte ich, vertraute ihm, merkwürdig. Was sollte das?

Ich wachte früh auf an diesem Morgen. Hatte einen schalen Geschmack im Mund. Einen Geschmack der salzig wie Tränen, bitter wie Schmerz schmeckte. Meine Augen waren verklebt von der Nacht. Meine Gedanken immer noch vernebelt von den Träumen.

Langsam, nur ganz langsam löste sich dieser Nebel. Ich ging, oder besser, kroch ins Bad. Durch das Zimmer von Benny. Benny lag nicht in seinem Bett. Er war im Bad unter der Dusche. Ich ging zum Becken, ließ Wasser ein und tauchte meine Hände in das kühle Nass.

Nervös und aufgewühlt wie ich war sah ich zum Spiegel, dann zurück ins Waschbecken.

Ich hatte schon die Befürchtung, dass meine Hände das Wasser dermaßen aufheizten, so dass ein Blubbern erscheinen würde. Nun, das kam dann doch nicht. Es kam etwas anders, oder besser gesagt, ein Er.

Benny!

Er sah mich an. Schnappte sich ein Handtuch. Und sah mich fragend an.

„Hi!“

„Hi, du!“

„Alles klar bei dir?“, fragte mich Benny. Alles klar? Bei mir? Das wäre wohl so als wenn Deutschland keine Schulden mehr hätte. Nein. Shit. Bei mir war alles andere als alles klar. Eigentlich gar nichts.

Nur wusste ich nicht, wie ich es Benny sagen sollte, und so entschied ich mich für ein Grummeln und ging unter die Dusche.

Ich brauchte Benny gar nicht anzusehen, um zu wissen, dass er enttäuscht war. Ich lehnte mich an die Wand und ließ mich von dem warmen Wasser berieseln. Eine Ewigkeit, bis ich die Tür hörte, die sich schloss. Wie sollte das nur alles weiter gehen?

Scheiß drauf. In einer Stunde war Training angesagt und ich war eh schon spät dran.

So zog sich Tag für Tag, Woche für Woche dahin. Der Nebel lichtete sich einfach nicht. Ich fühlte mich gefangen in ihm, eingehüllt wie in Watte und so spielte ich auch. Ich war total von der Rolle.

Es kam der Tag, an dem ich auf die Auswechselbank musste. Von Anfang an. Normal war ich eigentlich gesetzt. Aber der Trainer hatte Recht, ich erkannte mich selbst kaum wieder, so ohne Elan, ohne Esprit.

Ein scheiß Gefühl, das Spiel von Außen ansehen zu müssen. Noch beschissener war, dass die Mannschaft richtig gut spielte. Sie gewannen hoch verdient mit drei zu null. Ich fühlte mich außen vor. Wie ein Anhängsel.

Auf der Ersatzbank ist es so als wenn man als Passagier in einem Flugzeug sitzt. Man hat keine Kontrolle, kann nur zusehen und dem Piloten dann bei geglückter Landung zuklatschen. Das Problem ist nur, dass ich selbst Pilot bin oder war. Ein Scheißgefühl.

Es kotzte mich einfach an, dass andere die Tore machten. Ich sollte mich freuen für meine Kollegen, aber ehrlich gesagt konnte ich es nicht. Das mag jetzt egoistisch klingen. Für mich war es einfach ehrlich. Besser als dieses Scheinheilige. Denn im Grunde dachte jeder so: Warum Er und nicht Ich? Warum macht er jetzt das entscheidende Tor? Ach Müll.

Ich hängte mich noch mehr rein ins Training, wollte nicht kampflos aufgeben. Das Problem aber war weniger meine physische Kondition sondern wohl eher meine psychische Konstitution. Wie sagt man so schön? Ich war einfach nicht leer im Kopf. Diese Leere brauchte man, dieses -Nicht Denken-, um die Dinger machen zu können.

Nach dem Training kam Daniel auf mich zu.

„Sean, was ist nur los mit dir?“

Ich sah zu Boden und schüttelte den Kopf.

„Ich weiß es nicht, sag du es mir!“

„Pause? Mal Abschalten?“

Ja das klang gut, aber wie?

„Wie?“

„Lass mal einen drauf machen, dann wird das schon, okay?“

Also zogen wir los. Zu ihm. Mittlerweile wohnte er alleine, getrennt von seiner Freundin, und wir tranken Scotch, wir tranken Gin-Tonic und alles Mögliche. Bis ich nen Filmriss hatte. Ich erwachte am nächsten Morgen mit nem Kater, nein mit nem Rudel Raubkatzen, die es sich in meinem Körper gütlich taten.

Und Nackt. Und nicht alleine. Neben mir lag Daniel halb auf mir. Seinen Penis spürte ich an meinem Oberschenkel. Ich spürte meinen Kopf pochen und seinen Schwanz an meinem Bein. Letzteres fand ich doch wesentlich geiler.

In dem Moment wachte Daniel auf, sah mich, und schloss gleich wieder seine Augen.

Grummelnd Daniel: „Hey, schon wach?“

„Nein.“

„Ok.“ Und ließ sich mit seinem Oberkörper wieder zurück auf mich fallen.

„Ich auch nicht.“ Er kuschelte sich wieder enger an mich heran. Panik!

Daniel! Hallo! Shit. Einfach Shit!.

Ich zog mich am Bett empor. Suchte meine Klamotten, die im ganzen Raum unkoordiniert herum lagen. Meine Jeans in Nähe der Vase, die wohl schon einige Jahre auf den Buckel hatte, meine eine Socke nahe dem Bettpfosten aus Alu. Die andere am Rand des anderen Bettpfostens. Ich klaubte mir beide zusammen, suchte meine Shorts, meine Schuhe. Als letztes mein Hemd, mein verficktes Joop Teil. Ja Scheiße, ich liebe dieses Teil! Es ist eine sau geile Qualität, es fühlt sich nur einfach gut an. Ich habe nie solch ein Teil getragen. Und ich würde es am liebsten als mein Schnüffeltuch haben. So gut ist es.

So weich. So wolkig. So Benny? Benny.. Scheiße ich vermisse dich.

Die nächsten zwei Wochen waren Ok. Na ja, ok, soweit dass ich Ruhe hatte von Daniel und Benjamin. Ich wollte von Beiden nichts, nein, keinen Sex, keine Beziehung oder was weiß ich.

Nur einfach nachdenken. Für mich alleine sein. Ach mist. Ja, wenn dann Benny. Ja. Aber Wie? Ich habe ihn verletzt. Und außerdem..

Ach scheiße. ER IST SCHULD AN ALLEM!

Aber wie so oft im Leben kam es ganz anders.

Es war der 23.September. Ich werde es wohl nie vergessen.

Schmidt bestellte mich ins Büro.

Ich wusste nicht warum, kam mir deplaziert vor, sah mir die Tapeten an, die scheiße aussahen wie immer. Ich mochte diese Farbe nicht. Dieses Ockerbraun. Abgesetzt mit einem Olivgrün. Dazu Ahornschränke in verschiedenen Holztönen. Und knallrotes Irgendwas an den Wänden, das wohl modern sein sollte, aber nur einfach scheiße aussah. Seine Sekretärin, Karin, winkte mich in sein Büro.

Das Büro schien vollkommen losgelöst von dem anderen Stil, sehr modern, und geschmackvoll. Mit einigen Kunstdrucken – keine Ahnung von wem die waren – die mir aber sehr gefielen. Tolle strahlende Farben, die dem Raum Wärme gaben.

Ich grüßte Schmidt mit einem Nicken, der allerdings sah mich nicht an. Er telefonierte, sagte etwas, was ich nicht verstehen konnte. Endlich nach dreimillionnonen Minuten hatte er Zeit für mich.

„Seit wann dopst du?“

„Was?“

Schmidt drehte sich nun um und sah mir direkt in die Augen. Seine Augenbrauen verengten sich und ein – ich weiß nicht wie ich es beschreiben soll – kristallklares, ehrliches Funkeln in Schmidts Augen fixierte mich, ließen mich nicht mehr los.

Ich hatte das Gefühl, als wenn er versuchen würde in mein Gehirn hineinzusehen, und ich sah seine Augen. Unendlich traurig.

Einen Schimmer in seinen Augen, Spuren von Tränen, verrieten ihm. Shit.

Ich wusste, wenn es jemanden gab beim FC Bayern, der zu mir stehen würde, dann war es Schmidt. Er war so etwas wie mein Mentor. Der hatte mir die Wahrheit gesagt, mich angeschissen, mich aber auch aufgebaut. Und jetzt so etwas…

Gedopt, Ich? Wie denn?

Ich saß in dem Ledersessel wie ein Schieß und wusste nicht, was ich sagen sollte.

Und genau dieser Schimmer in seinen Augen war das Fiese was ihn verriet. Nämlich dass er es Ernst meinte.

Ich wusste ja, dass wir alle zwei Wochen auf Doping und Drogen geprüft wurden, das nannte man so schön Laktattest. Eigentlich um unsere Fitness zu prüfen, aber nebenbei natürlich auch, um andere Tests durchzuführen.

„Ich verstehe das nicht. Ich habe niemals gedopt.“

Schmidt stand auf, senkte seinen Kopf, sah mich an:

„Weiß du was das Schlimmste ist, Junge? Ich glaube dir. Ich könnte kotzen. Trotzdem bist du suspendiert. Du gehörst ab so fort nicht mehr zum FC Bayern. Es tut mir leid.“

Leere!!!! Leere. Im Grunde Genommen war man Sklave, wenn man bei einem Verein spielte, man musste mitspielen, bei Talk-Shows, bei Paparazzis, bei Sponsoren, und allem.

„Und jetzt?“

Ich spielte für Geld. SPIELTE! Ist es so? Was hatte ich bisher verdient? 500.000,- EUR, jo, das war viel. Dafür musste ein Facharbeiter in Deutschland verdammt lang arbeiten. Und die verdienten schon nicht schlecht.

Ich stand da, wie ein Regenbogen, strahlend, glitzernd, weit über dem Firmament, nicht greifbar, nicht antastbar, aber verletzlich.

„Sorry, aber du bist gefeuert.“, sagte Schmidt.

Und mein Regenbogen war nicht mehr da. Mein Stern hatte keinen Glanz mehr. So schnell kann es gehen.

Schmidt: „Es ist eindeutig. Du bist positiv getestet worden, du weißt dass wir dich nicht länger im Kader haben können.“

„Das war’s dann? Verdammte Scheiße Ich habe nie gedopt!“

„Die Werte sehen anders aus. Es tut mir leid.“

„Ich glaube es nicht. Ich will diese Ergebnisse sehen.“

Wir gingen gemeinsam zwei Räume weiter, wo unser Vereinsarzt sein Büro hatte. Und er war sogar mal da. Eine Seltenheit bei ihm, da er einen Terminkalender wie ein Regierungschef hatte. Sprich: Immer Randvoll!

„Ok, Dr. Frank, machen Sie es!“

„Kommen Sie Herr Kaiser, sehen Sie? Das ist das Labor, und das, Herr Kaiser, sind Ihre Proben.“

„Ja und? Dr. Frank, was sind jetzt meine?“

„Hähhmm, moment das haben wir doch gleich.“

„Also, Herr Kaiser…“

„Nun mach schon!“

Er fingerte in seinem PC herum und druckte es aus.

„DU BIST GEDOPT!“ Das ist der Test, positiv auf Amphetamine.

„Joo, das ist ein Witz, oder?“

„Nein! Die A-und B-Probe beide positiv. Das Ergebnis ist eindeutig, sieh selbst: Testosteron-Spiegel deutlich erhöht.“

„Oookayy.“

Wow. Ich gedopt. Shit. Das ist ein Alptraum. Oder doch nicht?

Ich wollte aufwachen, irgendwann. Irgendwo, auf Hawaii? Im Paradies? In der Hölle?

Was für ein schlechter Film. So etwas las man nur in Storys oder Romanen,

aber nicht in der Wirklichkeit. Nur war es so. Meine Synapsen im Gehirn lieferten sich einen heftigen Kampf, bei dem aber nicht wirklich viel herauskam. Es sei denn jemand hätte mich in diesem Augenblick berührt, der wäre wohl wegen einem Herzkasper eingeliefert worden.

Benjamin Degen - wie man einen Freund verliert-

Es kam über mich wie ein schlecht getimtes Gewitter. Mein erster Schultag in dieser Käthe-Kollwitz-Schule. Auf Privatunterricht mit den anderen Möchtegern-Profi-Spielern hatte ich keinen Bock mehr. Also her mit einer Schule. Neue Leute kennen lernen und vielleicht Abstand gewinnen zu Sean. Vielleicht.

Der Direx, ein Mann, nun Bayer, und ich glaube ein Schülerhasser, ekelhafter Typ, Besserwisser, konservativ bis in die Socken, kritikunfähig. Ok. Ich war voreingenommen. Aber wenn ihr diesen Menschen kennen würdet, hättet ihr dasselbe gedacht. Ohne Scheiß. Der Typ, nachdem ich ihn kennen gelernt hatte – das Kennenlernen war ein Nasenrümpfen – zerrte mich in die schlimmste Klasse dieser Bildungsanstalt.

Ihr kennt es sicher… ein Neuer, hinterher gezogen vom Direx, soll sich der Klasse vorstellen.

Bevor ich den Mund aufmachte, kam eine geistreiche Bemerkung aus der letzten Reihe:

„Hey Fußballficker, wir machen dich platt!“

Ich war also angekommen.

Der Typ, der das genüsslich von sich gab, sah aus wie ein Muttersöhnchen. Scheiße. So ein Spacko. Würde der in Hamburg wohnen, hätte er keine drei Minuten Zeit gehabt, um zu Mutti zu laufen. Ich musste grinsen. Also stiefelte ich ganz langsam zu dem Spacken hin, es wurde verdammt ruhig in der Klasse, und sagte zu ihm, leise, so leise dass nur er es hören konnte:

„Ich ficke keine Fußbälle. Es könnte allerdings sein, dass ich dich ficke, also halt die Schnauze. Angekommen?“

Ok. Es war super prollig. Ich gebe es ja zu. Aber ich hatte einige Schulen durchlaufen müssen, dank meines Vaters, und Hamburg machte hart. Bloß keine Schwäche zeigen sonst bist du tot. Nein. Nicht wirklich tot. Tot, indem man Außenseiter wurde. Und man brauchte Freunde.

Unser Klassenlehrer, ein Herr Dr. Jochens, sah erst irritiert zu dem Muttersöhnchen, dann zu mir. Bis er dann, nach einigen Atemzügen meinte, es wäre besser, wenn ich meinen Platz einnehmen würde.

„Und der wäre wo?“

„Ähm, hier Herr Degen.“ Und zeigte auf einen leeren Platz in der zweiten Reihe neben einem … hmm … ja was eigentlich? Er sah niedlich aus und könnte mit Sicherheit die eine oder andere, oder den anderen, ohne Probleme abschleppen. Aber seine ganze Haltung drückte etwas anderes aus, die eines Loosers. Die Augen nach unten gerichtet, die Schultern gedrückt, nervös mit den Fingern spielend.

„Ok!“ Ich pflanzte mich neben den Looser.

Ich sah ihn mir an. Er schien wohl meinen Blick bemerkt zu haben und machte sich schnurstracks daran, etwas aus seinem Rucksack zu kramen. Was ihm absolut misslang. Sein Taschenrechner fiel zuerst zu Boden, danach sein Mathe-Buch, von den Schreibutensilien ganz zu schweigen.

„Nervös?“

„Wer, was ich? Nein wieso?“

„Och, nur so…“

„Kein Prob.“

Nachdem er das Mathe-Buch das zweite Mal fallen ließ, raffte ich mich auf ihm behilflich zu sein. Nun ja, das Ende vom Lied war: Wir didschten uns unsere bescheuerten Schädel wegen nicht vorhanden mittelmenschlichen Koordinaten zusammen.

Es gab ein „Plong“. Das eines Toastbrots hätte nicht inhaltvoller sein konnte.

Und ein „Aua“. Von uns beiden.

Ich rieb mir meine angeditschte Birne und sah auf, zu ihm, der dasselbe tat.

„Wie heißt du?“

Erstaunt kam er empor sah mich an und fragte: „Wer? Ich?“

„Nein, dein Mathe-Buch!“

„Ach so, Moment. 5. Auflage. Kannst mich aber trotzdem gerne Tim nennen.“

Das war wohl der Moment, als ich beschloss Tim gern zu haben. Ich mochte witzige Menschen und Lachen… Ja, das hatte ich in der letzten Zeit zu wenig, viel zu wenig.

Tim reichte mir seine Flosse und ich nahm sie strahlend.

„Ich bin Benny.“

„Ich weiß. Du bist das Thema schlechthin in der Klasse oder besser gesagt in der Schule.“

„Warum?“

„Fußballficker halt.“

„Ach so. Mehr nicht?“

Dr. Jochens polterte dazwischen. Also in unsere Kennlernphase.

„Ruhe Mädels!“

Hmm… Komisch, das holde Geschlecht, welches sich lieber SMS ansah und austauschte, war doch recht ruhig. Und von der Milchbübchenfraktion kam höhnisches Gelächter. Das hieß also wir, Tim und ich, waren gemeint. Aber da er Mädels sagte, plapperte ich fröhlich weiter dahin.

„Ruhe jetzt, ihr beiden. Ich habe euch schon einmal ermahnt. Es reicht jetzt.“

„Wann haben Sie uns ermahnt? Als Sie Mädels sagten?“

„Ja! Oder seit ihr schwerhörig?“

„Hmm... Nein. Nur Titten haben wir keine. Also waren wir nicht gemeint, oder?“

„Herr Degen, Sie wissen genau, dass ich Sie gemeint habe.“

„Nein, weiß ich nicht.“

„Herr Degen, Sie sind auf meiner roten Liste.“

„Herr Dr. Jochens, Tiere sind auf einer roten Liste, die kurz davor sind auszusterben, aber Schwule sind nicht vom Aussterberben bedroht. Auch wenn Sie es sich wahrscheinlich wünschen würden.“

„So habe ich es auch nicht gemeint.“

„Wie denn? Herr Dr. Jochens?“

„Das, das ist sekundär und ich wünsche mir, dass sie am Unterricht teilnehmen.“ Räusper.

„Ok. Mache ich. Dann bringen Sie mir etwas bei, das ist Ihr Job. Und möglichst interessant, dann haben Ihre Schülerinnen auch etwas davon, und das wäre dann primär.“

Ich hatte eigentlich auf Gelächter gehofft, zumindest von den Mädchen, es kam aber nichts, Totenstille. Was geht denn hier ab?

Bevor ich mich weiter wunderte, haute mir Tim seinen Ellenbogen in die Seite. Und flüsterte mir zu, ich solle die Klappe halten. Okkaayy…!

Also Mathe. Kurvenberechnung. Ich kotz ab. Ich konnte es nie und werde es nie können.

„Herr Degen, kommen Sie mal bitte vor und berechnen Sie uns den Achsenabschnitt der X- und Y-Achse.“

Scheiße. Ich wusste nicht wo dieses verfickte X war, geschweige denn was Y sein sollte.

Und daraus den Achsenabschnitt? Joo.

„Herr Dr. Jochens, ich habe keine Ahnung. Ganz ehrlich.“

„Herr Degen, 99% der Schüler in dieser Klasse wissen es auch nicht. Aber, wie Sie so schön sagten, bin ich Lehrer und bringe es Ihnen nun bei! Also bewegen Sie ihren Hintern und kommen Sie an die Tafel. Keine Angst. Ich werde sie nicht lynchen. Ich habe einen verdammt guten Ruf an dieser Schule, und den bin ich gerade dabei zu verteidigen, also los jetzt!“

Shit. Wie ein Hornochse stand ich an der Tafel und versuchte es wie ich es gelernt hatte: Was ist gegeben? Lösungsweg, Lösung. Dafür schon mal drei Punkte von zehn.

Trotzdem hatte ich null Peilung. Drei Punkte waren eine glatte sechs. Erst ab fünf Punkten wurde es spannend, keine fünf mehr. Zumindest nach dem Prozent-System, nachdem 15-Punktesystem hätte ich schon jetzt eine 5. Scheiße. Ich hatte echt null Ahnung. Und die Klasse wusste es, Gelächter kam auf. Das sofort im Keim erstickt wird durch Jochens.

„Julian. Komm nach vorne und hilf Benjamin. Nach deinem Gelächter zu urteilen kannst du es ja.“

Julian! Das Alpha-Männchen dieser Klasse, der mich vorhin angegangen war.

Julian stand nun neben mir und sah genauso bescheuert drein wie ich. Willkommen im Club der Ahnungslosen!

Die Klasse johlte. Und plötzlich wurde mir bewusst, dass Julian nicht das „Alpha-Männchen“ sein konnte. Er versuchte es, aber war es nicht. Er sah Schweine gut aus, war muskulös also top, aber trotzdem nicht der Macho, den er gerne darstellen würde. Milchbubi halt.

Ihm fehlte einfach diese gewisse Coolness, die es ermöglichte, unscheinbar zu wirken, aber dennoch immer präsent zu sein. Dass die anderen über ihn redeten, er aber nie über sie. Einer, der diese völlige Gleichgültigkeit gegenüber den anderen Mitschülern ausstrahlte. Halt etwas Mystisches hatte. Geheimnisvolles. Dreckiges.

Julian stand an der Tafel und war am Schwitzen. Jochens heizte ihm ein.

Es war ein Kreis und ich flüsterte es Julian zu, als Jochens sich der Klasse zuwandte. Winkelfunktion und den ganzen Rotz. Julian, blickte auf und lächelte mich an. Er hatte eine Idee. Wir beide lösten dann die Aufgabe. Im Teamwork, das hätte ich auch nie gedacht nach der Begrüßung. Jochens lies sich in seinem Paukerstuhl nieder und war platt.

„Wow, ohne meine Hilfe. Ich bin sprachlos. Kompliment. Und für euch beide eine Eins, ist vermerkt.“

Julian sah mich an mit zusammengekniffen Augen, musterte mich von unten nach oben. Bis er dann sagte:

„OK, du hast 100 Punkte, verspiel sie nicht.“

Ich musste innerlich lachen, das war richtig süß von ihm. Aber Ok. Ich musste mitspielen.

Ich kniff meine Augen ebenso bedrohlich zusammen, wie er es tat, und meinte:

„Und wenn ich sie verspiele, was dann?“

Darauf war Julian nicht gefasst und schluckte.

„Julian, lass gut sein, du spielst nicht in meiner Liga. Du bist niedlich.“

„Ich bin nicht niedlich.“, schnippte er zurück.

„Ok. Bist du nicht und außerdem schlecht in Mathe.“, grinste ich zurück.

Ein Gutes hatte diese Aufgabe an der Tafel. Jochens ließ mich für den Rest der Stunde in Ruhe. Und ich konnte abschweifen in Gedanken. Zu Sean. Es kam in letzter Zeit immer häufiger die Frage in meinem Gehirn vor: Willst Du Sean noch? Ja! Oder? Mist. Ich wurde von Tag zu Tag, von Woche zu Woche unsicherer. Er entglitt mir. Er brach in dem Eis ein. Ich versuchte auf dem Bauch zu ihm zu robben, spürte seine Fingerspitzen an meinen. Und dennoch glitt er immer weiter unters Eis, das uns trennte. Ich konnte ihn noch sehen. Aber nicht mehr fühlen, riechen, geschweige denn hören.

Eine andere Frage brannte sich in mein Gehirn: Wollte er denn überhaupt, dass ich ihn rettete?

Konnte ich das überhaupt noch?

Die Schulglocke erlöste mich aus meinen Gedanken. Ich musste wohl recht bescheuert ausgesehen haben, jedenfalls sah Tim mich an:

„Na, aufgewacht?“

„Nein, haben wir den Andromedanebel schon verlassen?“

„Seit dem letzten Logbucheintrag, Käpt´n Picard.“

Irgendwie war Tim cool. Ich korrigierte meinen ersten Logbucheintrag und strich das „Looser“.

„Gut, dann gehen wir jetzt zur Bestandsaufnahme der Crew über. Sprich Pausenhof.“

Tim zog mich durch die Aula in den Hof. Er erklärte mir die Hierarchie dieses Raumschiffes. Ein Raumschiff wie so viele in dieser Galaxie. Die Dumpfbacken in der Ecke, die anderen in der, und so weiter.

„Ohh, und dort steht ein ganz besonderes Rudel der menschlichen Spezies. Die Offiziere, oder besser gesagt Möchtegern-Offiziere.“

In einem Quadranten dieses Pausenhofes standen neben Julian noch ein paar andere herum. Einige erkannte ich, da sie in meiner Klasse waren, andere nicht.

„Und dort, die wirklichen Bosse.“ Tim zeigte auf ein Mädchenrudel, das unserer Klasse.

„Die?“

„Ja, die. Jeder ist hinter denen her, nur sie kommen nicht ran. Abwarten. Du wirst es noch schnallen. Und hier ist meine Crew!“

Wir gingen zu einem Haufen, hmm, keine Ahnung. Freaks? Alle sahen anders aus. Der eine, Marcus – die Namen erfuhr ich später –, irgendwie normal. Der andere, Torge, irgendwie nicht von dieser Welt. Und Franky, nur einfach Gothic.

Tim machte mich mit den Leuten bekannt. Kurzes Handshake. Torge, der aussah als wäre er gerade aus einem Modemagazin entsprungen – wirklich, der sah so dermaßen gestylt aus- sprach mich als erster an.

„Dann also Willkommen bei uns. Wenn unser Tim schon jemanden mitschleppt, dann bist du in Ordnung. Das passiert nämlich eigentlich nicht. Never. Aber bei deinen Klamotten müssen wir was machen.“

„Hey, es muss nicht jeder so scheiße rumlaufen wie du!“

„Ach, deine Modefarbe ist auf schwarz beschränkt Franky, du zählst nicht.“

„Hey, das ist eine Lebenseinstellung!“

„Blöde Zicke!“

Die beiden grinsten sich an. Nahmen sich in die Arme und küssten sich auf den Mund. Ich war, sprachlos? Nein, erstaunt. Hier auf dem Schulhof, wo es jeder sehen konnte? Und die beiden küssten sich? Wow!

Tim nahm mich beiseite und flüsterte mir ins Ohr, dass seine Crew eher einem Raumschiff Surprise entstamme als Enterprise. Damit war das wohl geklärt. Tim war schwul.

„Aber nun erzähl doch mal etwas von dir! Wie läuft es mit dir und Sean?“ Marcus war es, der diese Frage stellte. Alle anderen sahen mich neugierig an. Ich fühlte mich irgendwie in eine Ecke gedrängt. Was sollte ich antworten? Es läuft super? Es läuft scheiße? Ich kannte sie doch kaum. Konnte ich denen wirklich vertrauen, ohne dass sie gleich zur Presse liefen? Ich erinnerte mich an meinen ersten Disco-Besuch, der diese ganze Lawine ins Rollen gebracht hatte.

„Wir sehen uns kaum.“ Das war nichts sagend genug. Hoffte ich.

„Wie jetzt, ich dachte der wohnt bei dir?“

„Ja schon Marcus, nur hat er Training, Spiele, Auslandsspiele, und ich Schule und so weiter.“

„Mit anderen Worten es läuft beschissen?“

Ich grübelte eine Zeit lang darüber, ob ich ihnen reinen Wein einschenken konnte. Ich sah sie mir an. Es waren Menschen, keine gelackten Affen wie sie so oft vorkamen. Menschen, die ein jeder für sich ein Unikat waren. Auf den ersten Blick hätte man meinen können, dass dieser Mikrokosmos irgendwie nicht lebensfähig sein konnte. So unterschiedlich wie alle waren. Aber auf dem zweiten Blick erkannte ich, dass es genau das war, was diese kleine Gruppe ausmachte. Individuen, die sich sehr bewusst waren, dass ein jeder einen Hackenschuss hatte, den es aber zu tolerieren galt. Es dauerte einige Zeit, bis mir bewusst wurde, dass es genau das war, wo nach ich suchte. Menschen. Mit Kanten, mit Fehlern, mit großartigem Potential.

„Ja, es läuft beschissen, oder besser gesagt, eigentlich gar nichts mehr.“ Mir wurde in diesem Augenblick klar, dass ich keine Beziehung mehr hatte. Schon seit Wochen nicht mehr. Die anderen sahen mich nur an, keiner sagte etwas. Brauchten sie auch nicht. Es war als hätte ich mit meiner Aufrichtigkeit eine Linie überschritten, eine imaginäre Intimität, die mir erlaubte in deren Mikrokosmos einzudringen. Mich dazu gehörig zu fühlen.

Nach der Schule, die restlichen Stunden waren nicht wirklich interessant, nahmen mich Franky und Tim in die Mitte und wir trotteten langsam Richtung Bushaltestelle. Torge und Marcus, beide eine Jahrgangsstufe unter uns, hatten noch eine Stunde abzureißen.

An der Bushaltestelle verabschiedete ich mich von den beiden. Ich hatte es nicht allzu weit nach Hause und wollte zu Fuß nach Hause gehen.

Auf halbem Weg überkam mich ein seltsames Gefühl. Meine Nackenhaare stellten sich auf. Ich wurde beobachtet, verfolgt. Ein diffuses Gefühl von Schutzlosigkeit. Ich hasste dieses Gefühl, nicht Herr der Dinge zu sein. Ich bückte mich und tat so als ob ich mir meine Schuhe neu schnüren wollte, dabei sah ich mich um. Hinter einem Baum in dem Park, den ich gerade hinter mir gelassen hatte, sah ich eine Bewegung. Es war eindeutig. Keine Einbildung.

Jemand beobachtete mich. Ich ging weiter, um an der nächsten Kreuzung nach rechts, in die Seitenstrasse, zu gehen. Eigentlich hätte ich geradeaus gehen müssen, aber hier war eine Mannshohe dicht bewachsene Hecke. Ich blieb abrupt stehen. Versteckt hinter dieser Hecke.

Knirschende Schritte, auf dem frisch mit Sand gestreuten Weg, kamen näher. Es war glatt geworden heute Nacht. Die erste Nacht mit Minustemperaturen.

Eine Gestalt kam um die Ecke. Ich stellte mich ihr in den Weg.

Erschrocken sah er auf.

„Hallo Julian! Na spielst du gerade James Bond, oder was soll das werden?“

„Ähm, nein ich, ähm ich…“ Scheiße sah der Typ niedlich aus, wie er so da stand, rot anlaufend und stotternd.

„Ja? Ich höre.“ Grinsend sah ich ihn an.

„Och, Menno mach es mir doch nicht so schwer.“

„Was denn? Ich weiß ja nicht was du willst?“

„Dich kennen lernen?“

Es passierte etwas in ihm, mit ihm, schwer zu beschreiben. Er wurde Mensch? Ließ seine Fassade fallen und wurde verletzlich. Angreifbar. Dieses Möchtegern-Machogehabe war Sternzeiten weg.

„Und warum willst du mich kennen lernen?“

Er sah mir in die Augen und plötzlich war da dieses Funkeln, voller Leben, das ich vorher an ihm nie gesehen hatte.

„Weil du mich niedlich findest?“

Ich musste laut los lachen. Scheiße ist das genial. Nicht das ich viel Erfahrung mit Anbaggerversuchen hätte aber das hatte was.

„Na dann, was hältst du von nem Kaffee?“

„Ja, das wäre schön. Ich friere mir schon einen ab.“

In meinem Zimmer saßen wir uns gegenüber und schlürften Kaffee. Eine merkwürdige Situation. Ich konnte Julian überhaupt nicht einordnen. Vom Milchbubi zum Macho, die gesamte Palette. Meine Gedankengänge unterbrach dann Julian.

„Ich möchte nicht, dass du das jetzt falsch verstehst, also ich bin nicht schwul. Aber wie ist das denn so? Also jetzt schwul zu sein?“

„Ich finde es toll. Klar es gibt auch mal Tage, an denen wünscht man sich eine Hete zu sein, weil man doch kämpfen muss. Aber letztendlich macht genau das wohl auch jeden Schwulen aus. Man muss sich durchboxen, oder du gehst unter. Führst ein Zweitleben immer mit der Angst im Rücken ertappt zu werden. Aber wenn du es erst einmal geschafft hast, es für dich selbst zu akzeptieren, hast du gewonnen. Es bereichert das Leben ungemein. Ich weiß nicht genau, wie ich es ausdrücken soll, um es dir verständlich zu machen.“

„Und woran erkennt ihr euch? Ich meine du, und Tim ja eigentlich auch, seht doch sehr normal aus.“

„Ehrlich gesagt. Ich erkenne sie nicht. Es sei denn jemand kommt so affektiert auf einen zu, der es schon auf der Stirn zu stehen hat.“

Julian musste grinsen.

„Es war bei mir immer Zufall. Mit Sean. Aber so viele Erfahrungen habe ich noch nicht gemacht.“

„Und Sex? Ich meine man hört ja immer, dass es bei euch so wild hergeht.“

In dem Moment kam mein Bruderherz Leif wie Gipsie das Känguru auf Speed in mein Zimmer reingerauscht. Vor Schreck hätte ich mich beinahe verschluckt.

„Benny schon gehört?“ Vollkommen aufgelöst stand der Kleine, mit hochrotem Kopf, da.

„Leif komme mal runter. Auf welchem Trip bist du denn?“

„Trip? Was? Ach Scheiße. Sean ist weg!”

Irgendetwas schnürte mir meinen Hals zu. Außerdem bekam ich wohl gerade die Faust eines Riesen in meinen Magen.

„Was heißt das? Weg?“

„Dad hat ihn vor 2 Stunden rausgeworfen. Ich habe nur was von Doping verstanden. Und Sean lief auf sein Zimmer, packte seine Klamotten und weg war er.“

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Fortsetzung folgt.

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