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Anders als geplant

Teil 6

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Inhaltsverzeichnis

David

Ich starrte immer noch reichlich ungläubig auf das handbeschriebene Blatt Papier, das Chris mir geschickt hatte. Oder sollte ich sagen: die Dreistigkeit besessen hatte, es mir zukommen zu lassen. Ja, das trifft es definitiv besser. Es ging gar nicht um die Tonlage des Briefes oder ähnliches, sondern eher um den Tenor: Hier haste 10000 Euro, wenn du schon mich nicht haben kannst. Kauf dir was schönes. Lass dir was piercen. Geh spielen.

Ich war sauer und enttäuscht zugleich. Was bildete der sich eigentlich ein? Viel hätte nicht gefehlt und ich hätte ihn am Handy richtig zusammengefaltet. Aber das konnte ich dann doch nicht. Dazu hätte ich ihn nämlich anrufen müssen. Und dazu war ich definitiv noch nicht in der Lage. Wenn ichs überhaupt je sein würde. Ein Handgriff und der Brief war zerknüllt und in den Mülleimer befördert - da, wo er meiner Meinung nach hingehörte. Einige Minuten später hatte ich ihn allerdings herausgeholt. Man braucht ja Beweise. Und Lucas und Richie würden sich sicherlich sehr für den Brief interessieren. Da war ich mir sicher.

Den Rest des Tages verbrachte ich in dumpfem Brüten über mich und mein schreckliches Leben, bis es mir zu blöd wurde und ich mich langweilte. Lucas anzurufen war mir zu gefährlich, weil ich mir sehr sicher war, dass er mit Richie ihre Liebe "feiern" würden. Und auf glückliche Pärchen konnte ich echt gar nicht. Also Frieda. Die war nicht da. Wie doof. Gerade als ich ernsthaft erwog, Hannah anzurufen (etwas, das ich vorher nicht einmal in Erwägung gezogen hätte), schrillte mein Handy. Ich musste dringend meinen Klingelton ändern, fiel mir bei dem Gefidel wieder ein.

Matthes, mein Klassenkamerad. "Bist du krank?"

"Äh....sowas ähnliches."

"Soll ich nen Krankenbesuch machen?"

Naja, warum eigentlich nicht. Konnte mir schlimmeres vorstellen. Eigentlich war das sogar ne echt gute Idee. Wenn er wohl auch nicht der richtige Kummerkasten für mich war, so fiel er doch in die Kategorie Wichsvorlage. Und ein feiner Kerl war er ja auf jeden Fall.

Kurze Zeit später stand er dann vor unserer Haustür. Ich hatte in der Zwischenzeit zwar kalt geduscht und versucht, meine rotgeweinten Augen irgendwomit zu tarnen, aber das alles muss ziemlich erfolglos gewesen sein, denn als ich Matthes die Tür öffnete, entfuhr ihm noch vor einer Begrüßung nur ein erschrockenes "Oh!"

"Sehe ich so scheiße aus?"

"Ehrlich gesagt ja", sagte er und lächelte verlegen. Wäre Chris nicht gewesen, ich hätte ihm mein Herz geschenkt, so süß sah es aus. Aber da mein Herz noch gebrochen war, konnte ich es ja wohl kaum verschenken.

"Komm rein", sagte ich und trat beiseite. "Wie war die Schule?" Ich hatte keine Lust, ihm die Gründe für mein Aussehen darzulegen und lenkte lieber ab.

"Och...wie immer. Hab dir die Hausaufgaben aufgeschrieben. Wenn du sie machen willst, tu dir keinen Zwang an", er grinste schon wieder und zwinkerte mir zu.

Ich leitete Matthes ins Wohnzimmer, stopfte die beiden Briefe im Vorbeigehen in meine Hosentasche und holte erstmal was zu trinken.

Als ich wiederkam, hatte mein Gast sich auf die Couch gesetzt und sah mich erwartungsvoll an. "Nun mach die Tür zu und den Mund auf. Was ist los?"

Ich ließ mich neben ihm aus Sofa fallen und überlegte, ob und wo ich anfangen sollte. Ich entschied, dass er eigentlich ein Recht darauf hatte, es zu erfahren.

"Das klingt jetzt alles etwas unwahrscheinlich, aber...naja, du erinnerst dich doch noch an das US5-Konzert, oder?"

"Ja klar," er grinste, "Wie wars eigentlich?"

"Das Konzert?...Laut. Also, wegen der Mädels...naja, also....ich hab da jemanden kennengelernt."

Er grinste. "Lass mich raten, du hast eine wilde Affäre mit einem der Stars, richtig?"

"Ich HATTE", sagte ich trocken.

Matthes sah mich an, als sei ich völlig bescheuert.

"Bevor du mich jetzt für durchgeknallt hälst, lass es mich von vorne erzählen", sagte ich und begann stockend, die ganze Geschichte von vorne zu erzählen. Zum ersten Mal.

"Naja...und gestern hat er halt Schluß gemacht.", schloß ich.

Matthes sah mich entgeistert an. "Krass", sagte er nach einer Weile und sah so aus, als würde ihm dazu auch nicht viel mehr einfallen. Das sprach ja auch eigentlich alles für sich selbst.

Dann erzählte ich von den Briefen und legte ihm Chris´ Machwerk als Beweis vor. "Boah, was für ein Arsch", entfuhr es ihm beim Lesen.

Er hatte wirklich einen geilen Arsch, schoß es mir durch den Kopf und ich musste grinsen. Leider war es dann auch mit der Selbstbeherrschung vorbei und einige Tränen rannen über mein Gesicht.

"Hey", sagte Matthes und sah mich komisch an. "Wegen so einem Idioten muss doch jemand wie du keine Tränen vergießen." Er legte mir mit einer unsicheren Bewegung den Arm um die Schultern und zog mich leicht zu sich rüber. Ich ließ es geschehen. Gedrückt werden tat mir so gut, dass ich darüber direkt das Heulen vergaß, was er irgendwann zum Anlaß nahm, seine Umarmung zu beenden. Stattdessen guckten wir DVD. „Der Club der Teufelinnen“. Irgendwie passte der Film zu meiner Stimmung, es bestärkte mich und heiterte mich auf. Außerdem spielte Bette Midler mit. Die finde ich toll. Das ist zwar ziemlich klischeeschwul, mir aber sowas von egal.

Irgendwann am späteren Abend ging Matthes und mir war klar, dass es nicht sein letzter Besuch hier gewesen sein würde. Gott sei Dank.

Nun war es aber wirklich an der Zeit, Lucas anzurufen. Zu Hause erreichte ich ihn nicht, was um diese Zeit mehr als ungewöhnlich war und der Stimme seines Vaters zu urteilen, gar sehr nach Ärger klang. Dann halt über Handy.

Lucas

Ich saß wieder in der Bahn nach Bonn. Alleine. Richie war nach dem Vorfall auf der Toilette nur noch aufgescheucht rausgerannt und dann immer hin und her gelaufen, aber den Fotografen hatten wir so auch nicht mehr finden können.

Danach war er zu nichts mehr zu gebrauchen gewesen. Er rannte nochmal zurück aufs Klo, und kurz dachte ich, er würde sich übergeben müssen, aber er fluchte nur vor sich hin und trat gegen die Kloschüssel. Die zeigte sich nicht beeindruckt, und so stürmte er nach draußen.

Ich wollte schon hinterher, als ich die besorgten Blicke des Kellners bemerkte. Ich erinnerte mich also kurz daran, wo wir waren, zahlte, und lief erst dann Richie nach, der bereits ein gutes Stück die Straße entlang gegangen war.

Ich holte ihn ein und hielt ihn fest.

„Hey, sag mal wohin willst du eigentlich?“

Er blieb stehen und guckt mich an. Dann, vollkommen unvermittelt, riss er mich an sich ran und küsste mich wieder. Eher wild als zärtlich, aber vor Allem mitten auf dem Gehweg.

Der war doch echt verhaltensgestört heute Abend. Wenn der mit dem Handy jetzt noch irgendwo hier war?

Nach etwa einer halben Minute ließ er mich los, drehte sich wie suchend immer im Kreis herum und rief:

„So, jetzt habt ihr alle gesehen, ja? Seid ihr jetzt zufriedan? Lasst mich doch jetzt in Ruha!“

Dann wandte er sich wieder mir zu.

„Es tut mich leid. Ich weiß nischt was... Isch war nur etwas stressed. Lass uns zu Hause gehen fur heute, okay? Ich rufen dich an.“

„Was glaubst du, passiert jetzt?“

„Isch weiß nischt. Vielleicht sie machen einen Story draus. Oder nur wieder rufen an bei die Plattenfirma und beschweren sich, dass wir gefährden Madschentraume. Isch weiss nischt.“

Dann winkte er einem heranfahrenden Taxi, guckte mich nochmal an, stieg ein und war weg.

Ich verstand das alles nicht wirklich, aber was sollte ich machen. Ich ging zur Haltestelle und fuhr zum Bahnhof. Als ich dort auf meinen Zug wartete piepste mein Handy.

Sorry fur alles. Ich war nicht sehr nett. Bitte warte auf mich anrufen. Love Richie.

Ich starrte noch verwirrt auf mein Telefon, als es wieder klingelte. David rief an. Gott sei Dank, wenigstens jemand normales.

„Hi.“

„Hi Lucas, na wie geht’s?“

Seine Schuld wenn er fragt. Also erzählte ich los. Vom Sex auf der Toilette über den Fotovoyeur bis zu Richies seltsamem Abgang und seiner SMS.

„Krass“, befand David. „Und jetzt?“

„Das weiß ich doch nicht. Richie war sich ja bisher ganz sicher, daß ihn nichts von... na von uns halt abbringen könnte. Aber jetzt ist er wieder so komisch.“

„Naja nur weil er nicht gerne mit dir in der Bild abgebildet sein will, heißt das ja nicht, dass er garnicht mehr mit dir zusammen sein will. Der wird nur etwas durcheinander sein, das wird schon.“

„Na hoffen wir. Und bei dir so?“

„Immer noch nicht so toll. Aber Matthes war vorhin hier, Hausaufgaben vorbeibringen und so. Hat mich etwas abgelenkt.“

Wir plauderten noch etwas, dann musste ich aussteigen. Ich lief den Weg nach Haus, oder eher ich rannte stellenweise, denn mir war durch die anbrechende Dunkelheit erst bewusst egworden, wie spät es war. Das würde kein schönes heimkommen werden.

Ich schloss leise die Tür auf, obwohl ich genau wusste, was nun kommen würde. Und schon, als ich nur zwei Schritte in die Wohnung gesetzt hatte, rief mich meine Mutter.

„Lucas. Kommst du mal bitte.“

David

Ich saß nackt auf meinem Bett und wusste nichts mit mir anzufangen. Ich war einfach total leer. Und wie immer, wenn ich mich total leer fühlte, begann ich zu trainieren. Schmunzelnd stellte ich fest, dass ich in den nächsten Tagen wohl oft zum trainieren kommen würde, denn trotz aller Ablenkungsbemühungen meiner Eltern, denen ich den ganzen Schlamassel gebeichtet hatte, als ich beim Klingeln des Telefons unvermittelt in Tränen ausgebrochen war, wollte ich einfach nicht auf anderen Gedanken kommen.

Nur Liegestützen und Kniebeugen, wie ich sie gerade betrieb, hielten mich davon ab, mir das Hirn zu zermartern oder mir die Augen auszuheulen. Nicht mal zum wichsen war ich in der Lage, deprimiert, wie ich war.

Nachdem ich von einer halben Stunde Training völlig verschwitzt war, ging ich ins Bad, den Schweiß wegduschen. Als ich wieder in mein Zimmer kam, fiel mein Blick auf zwei Dinge, die ich bisher übersehen hatte: Ein Pullover und ein Tshirt, die offensichtlich nicht mir gehörten. Sie mussten von Chris stammen. Ich unterdrückte meine Gefühle (und zwar alle!) und versuchte, klug nachzudenken. Dabei fielen mir dann allerdings zuerst die Worte von Chris Mutter wieder ein. Und ich beschloss zum ersten Mal seit längerem, freiwillig auf Erwachsene zu hören. Ich hatte einen Plan. Dann fielen mir die Augen zu.


Am nächsten Morgen stand ich auf und hatte grundsätzlich das Bedürfnis, Chris wehzutun. Aber vorher musste ich ja zur Schule Außerdem war es vielleicht durchaus sinnvoll, mal vorher mit jemand vernünftigem über meinen Plan zu reden. Mit diesen Gedanken beschäftigt, schlich ich zuerst zur Schule und dann vor dem Schultor auf und ab, bis ich irgendwann gegen eine Masse stieß. Lucas.

Lucas

„Pass doch auf“, fuhr ich meinen besten Freund an, als er mir gedankenverloren in die Seite rannte.

„Ja, schönen guten Morgen Lucas, wie geht’s dir, schön dich zu...“

„Jaa ich hab's kapiert. N'Morgen.“

„Stress?“

„Etwas.“ Stress war gar kein Ausdruck gewesen für das, wovon ich ihm jetzt berichtete. Als ich nach Hause gekommen war saß nämlich nicht nur meine Mutter, sondern auch mein Vater im Wohnzimmer. Die Beiden, bzw hauptsächlich er, machten mir dann mal klar, was sie davon hielten, dass ich einfach so lange wegbleiben würde.

Leider war ich durch die Sache mit Richie nicht sehr gut drauf gewesen, und hatte angefangen, ihnen wiederum klar zu machen, was ich davon hielt, mit 18 Jahren immernoch gesagt zu bekommen, was ich zu tun hatte. Das ganze führte dann in eine klassische „Solange du die Füße unter meinen Tisch steckst“-Debatte, deren Ende ich nicht mehr mitbekommen hatte, weil ich meinen Vater irgendwann mitten im Satz hatte stehen lassen.

Meine Mutter war mir noch bis zur Treppe hinterhergelaufen.

„Junge, so kann es doch nicht weitergehen. Was ist nur los mit dir?“

„Mit mir ist überhaupt nichts los. Ich habe nur keine Lust mehr auf eure Pseudoerziehung. Und das schon länger nicht, es hat sich also nichts geändert. Bisher konnte ich es nur besser tarnen.“

„Aber was ist jetzt los?“ Sie hatte mir nicht zugehört.

„Vielleicht bin ich nur etwas gestresst weil....“ Nein. DEN Stress war es nicht wert. Ich ließ sie auch stehen und verrammelte mich in meinem Zimmer.

Leider hatte ich dabei auch meinen Autoschlüssel im Flur vergessen, und als ich morgens auf dem Weg zur Schule war, war er nicht mehr da, ebenso wie der Ersatzschlüssel, der in der Küche gehangen hatte. Und da meine Eltern beide schon weg waren musste ich wohl oder übel so zur Schule kommen.

Richie hatte sich auch nicht mehr gemeldet, obwohl er geschrieben hatte, dass er das tun würde. Nur wann, das hatte er natürlich offen gelassen.

Den Tag über merkten auch meine Mitschüler, dass ich nicht ganz normal drauf war. Einmal war ich deutlich missmutiger als sonst, außerdem starrte ich alle dreissig Sekunden auf mein Handy, obwohl sich das ja normalerweise selbst bemerkbar machte, wenn es nach Aufmerksamkeit verlangte.

In der Mittagspause schließlich hielt ich es nicht mehr aus. Ich rief Richie an.

Ein Klingeln. Noch eins. Ein drittes. Mailbox.

Ich legte auf und versuchte es nochmal.

Klingeln. Klingeln. Mailbox.

Das war doch so nicht normal. Der drückte mich weg.

Ich schrieb ihm fix eine Message.

DONT IGNORE ME!

und hypnotisierte den Rest der Pause das Telefon, aber es blieb still. Ich saß immernoch auf einer Bank auf dem Schulhof, als David mich an die Hand und mit in den Klassenraum nahm.

„Komm schon. Er meldet sich schon wieder.“

„Und wann?“ fragte ich. Lächerlich ich weiß. Woher sollte er das wohl wissen?

„Bald. Bestimmt.“

Ich war mir da nicht ganz so sicher.

David

Ich klingelte, aber niemand öffnete. Danach schlich ich ums Haus herum, wartete mir eine Viertelstunde die Beine in den Bauch und klingelte wieder. Eigentlich war es logisch, dass dann immer noch niemand die Tür öffnete, denn ich hätte jeden Menschen, der sich dem Haus näherte, um es zu betreten, bemerken müssen, aber ich wollte einfach nicht wahrhaben, dass Familie Watrin nicht zu Hause war. Oder mir die Tür nicht öffnete. Es hatte mich zu viel Überwindung gekostet, mich an den Ort meiner Schmach zurück zu wagen, als dass ich so schnell aufgeben wollte. Außerdem war ich überzeugt davon, dass sich im Obergeschoss eine Gardine bewegt hatte, kurz nachdem ich geklingelt hatte. Nach dem dritten Mal Sturmklingeln gab ich allerdings entnervt auf und ging grübelnd den Weg zurück zur Bahn. Nachdem Lucas nicht ansprechbar gewesen war, hatte ich meinen Plan nur mit mir selbst erörtern können und war plötzlich gar nicht mehr so traurig darüber, dass ich Chris oder seine Mutter nicht erwischt hatte. Mein Plan erschien mir mit einem Mal weder tollkühn, noch edel. Im Gegenteil. Er erschien mir albern und kindisch. Ich würde es anders angehen müssen, wenn ich eine Chance haben wollte.

Chance....?

Chance, worauf denn eigentlich? Ich war mir weder sicher, ob ich Chris zurückwollte, noch sicher, ihm wehtun zu wollen. Ich hatte ihn wirklich geliebt, schloss ich messerscharf und tat es wahrscheinlich auf eine masochistische Art immer noch.

Seufzend trat ich gegen einen Mülleimer, der am Straßenrand stand. Das Geschepper, das ich verursachte, erregte einen älteren Anwohner, der anscheinend hinter einer Hecke gesessen und darauf gewartet hatte, sich bei irgendetwas gestört fühlen zu können. Jedenfalls ließ er eine Schimpfkanonade über die Jugend im Allgemeinen und mich im Speziellen ertönen, die mir irgendwie gerade recht kam. Jedenfalls antwortete ich ihm mindestens genauso unverschämt (okay, ich wurde noch deutlicher, als er) und erreichte damit immerhin, dass ihm die Spucke wegblieb und ich mich somit außer Reichweite bringen konnte, bevor er irgendetwas sagen konnte. Oder ich. Je nachdem. Außerdem fühlte ich mich irgendwie besser, jetzt, wo ich jemanden hatte beschimpfen konnte.

Langsam machte ich mir selbst Angst.


Als ich nach Hause kam erwartete mich Matthes. Auf meinem Zimmer. Auf meinem Bett. Meine Mutter hatte ihn hineingelassen, "zur Ablenkung", wie er mit amüsiertem Augenzwinkern berichtete - um sich danach lasziv auf meinem Bett zu räkeln und zu fragen: "Was machen wir jetzt?"

Ich unterdrückte das Wort "Ficken", das mir auf der Zunge lag und nuschelte stattdessen irgendwas von DVDs, die ich dringend mal hatte gucken wollen. Das war zwar nicht unbedingt die volle Wahrheit, aber immerhin hatte ich so die Chance, mich neben ihn zu legen und mir zumindest einreden zu können, es wäre mein Freund, dessen Wärme ich so entfernt neben mir auf meinem Bett spürte. Während ich darüber nachdachte, welchen Film wir schauen könnten, war Matthes bereits zu meinem DVD-Regal gesprungen und hatte sich umgesehen.

"Was davon kannst du empfehlen?", fragte er mich und hielt mir zwei DVDs unter die Nase.

Da ich kurzsichtig bin, musste ich sie erstmal in die richtige Entfernung bringen, bevor ich lesen konnte. In der linken Hand hielt er "Sommersturm" und in der rechten die Sammelbox der ersten Staffel von Queer as folk, die Frieda mir als "Gastgeschenk" von ihrem USA-Trip im letzten Jahr mitgebracht hat. "Die hier scheint auf Englisch zu sein", strahlte Matthes," das sollten wir eh mal wieder aufpolieren."

Ich schluckte.

"Äh...ja", sagte ich und guckte reichlich dämlich, wohl auch, weil ich mich fragte, wie ich die Sexszenen erklären sollte. Oder ob. Oder so.

Matthes hingegen legte mein Schweigen als Zustimmung aus und schob die erste DVD in den Player.

Lucas

Eigentlich wiederholte sich der gleiche Ablauf den nächsten Tag, und den übernächsten und auch den dritten. Schule, zu Hause, und ständig das sehnsüchtige Warten auf ein Zeichen.

Zweimal rief David an und versetzte mir beim ersten Mal fast einen Herzinfarkt. Beim zweiten mal beschränkte ich mich dann darauf, das Telefon vor Schreck drei Meter durch die Luft zu werfen. Aber wirklich aus meiner Apathie erlösen konnten mir auch diese Gespräche nicht.

Am dritten Tag klingelte es wieder. Diesmal schon fast drauf vorbereitet stieß ich mir bloß mein Schienenbein an, als ich durch mein Zimmer hastete.

Der Blick aufs Display sagte mir, dass es nicht David war. Es war allerdings auch nicht Richie. Die Nummer kam mir nicht bekannt vor. Ob er von einem anderen Telefon aus...?

„Ja?“

„Hi Lucas?“ Definitiv nicht Richie. Die Stimme war die von Chris.

„Hi Chris.“

„Wie geht’s?“

„Ging schon besser.“

Schweigen von seiner Seite.

„Was kann ich für dich tun, Chris?“ Wenn er jetzt glaubte ich würde irgendwie mit David vermitteln hatte er sich aber sowas von geschnitten.

„Naja für mich eigentlich nichts...“ Aha.

„Sondern?“

Er holt tief Luft.

„Vielleicht kannst du etwas für dich tun.“

Ich begann, genervt hin- und herzuspazieren.

„Und was wäre das?“

„Ruf Richie an.“

Seit wann das denn. Hatte er nicht gesagt ich sollte auf ihn warten?

„Wieso denn? Er hat mir gesagt, er ruft mich an“, hielt ich entgegen.

„Und reicht dir das? Gibst du dich damit zufrieden?“

„Was soll ich denn wohl tun?“, fragte ich. „Du weißt ja nicht was passiert ist, als wir uns das letzte Mal gesehen haben.“

„Doch, ich weiß. Er hats mir erzählt, an dem Abend gleich. Und seitdem rennt er nur noch apathisch rum. Wir sind jetzt in Hamburg zu Videoaufnahmen, und die Leute von der Firma drehen schon durch, sagen mit dem Pennerblick könnte er sicher keine Mädels mehr antörnen, das würde so nix...“

„Ach“, fiel ich ihm ins Wort, „soll ich jetzt dafür sorgen, dass eure Vermarktungsmaschinerie wieder in Gang kommt? Bin ich dem Management dafür wieder gut genug, Richie das Antörn-Lächeln ins Gesicht zuzaubern?“

Chris seufzte. „Nein. Die haben keine Ahnung was abgeht. Denken, es wär alles ok bei euch. Aber... aber mir tät's Leid.“

„Es täte dir Leid? Dir täte es Leid? Was glaubst du was es mir täte? Aber wenn... wenn ihm noch etwas an uns liegt...“ - der Gedanke, dass das eventuell nicht der Fall sein könnte, begann gerade erst einzusinken, entfaltete seine volle Wirkung und beraubte mich der Sicherheit in meiner Stimme - „dann hätte er sich doch mal melden können, wie er es gesagt hat. Oder?“

Chris brauchte einen Moment um zu antworten. „Ich glaube... ich glaube er hat einfach Angst.“

„Angst? Angst wovor? Kann er es sich nich in seinem Star Himmel bequem machen und...“

„Hey!“, fiel Chris scharf ein, „fang nicht so an, okay? Nur weil Richie auf dem Cover der Bravo landet heißt das nicht, dass es ihm nicht auch scheiße geht wenn er Stress mit seinem... Freund hat. Wenn er glaubt, ihn verletzt zu haben und nun nicht weiß, was er sagen soll. Wenn... ach, siehst du es nicht?“

Doch, ich sah. Allerdings...

„Ich habe versucht ihn anzurufen. Und er ist nicht rangegangen. Und hat meine Nachrichten nicht beantwortet. Was soll ich denn dann denken, was glaubst du was ich mir für Gedanken mache, wenn mein Freund einfach in ein Taxi steigt und danach den Kontakt meidet.“

Noch ein schwerer Seufzer von Chris. „Ich habe gestern Abend nochmal mit Richie geredet. Sonst hätte ich dich vielleicht vorher schon angerufen. Er weiß wie blöd das war. Und ich habe ihm gesagt, er muss sich jetzt bei dir melden. Aber ich war mir nicht sicher, ob er es tun würde. Und wie ich sagte, es täte mir einfach Leid, wenn ihr euch wegen so 'ner Kleinigkeit verlieren würdet. Verdammt, ich hab's doch schon vermasselt, lass mich euch wenigstens diesen kleinen Schubs geben. Ruf ihn an, ich glaube diesmal antwortet er dir. Bei David und mir is wohl nix mehr zu retten, aber ihr könnt das echt noch rumreißen.“

Und dann war die Verbindung tot.

David

Schon als Matthes sich neben mich aufs Bett legte, wusste ich, dass es passieren würde. Keine Ahnung warum, es war einfach klar. Die ersten eindeutigen Szenen der schwulen Soap Opera waren noch nicht vollständig von meiner Netzhaut verschwunden, als Matthes auch den Rest Höflichkeitsabstand, den er zwischen uns gelassen hatte, aufgab und sich förmlich an mich kuschelte. Mechanisch hob ich meinen Arm und legte ihn um seine Schulter. Dann zog Matthes mich an sich. Mich. An Sich.

Auch wenn das Alles irgendwie die Erfüllung eines feuchten Traums von vor einem Jahr zu werden schien, war ich mit dem Kopf mal wieder ganz weit weg. Irgendwo in einem Tourbus, bei einem blonden Jungen, den ich mal geliebt hatte. Matthes schob mir unsicher seine Hand unters T-Shirt. Ich sah ihm in die Augen und brachte nicht mehr als ein unsicheres Lächeln zu Stande, was ihn aber eher zu ermuntern schien, wenn er es überhaupt bemerkt hatte.

Langsam bewegte sich sein Kopf auf meinen zu. Ich drehte mich mechanisch auf ihn zu. Er schloss die Augen und noch während unsere Lippen und Zungen sich berührten, dachte ich an....Chris. Auch bei allem, was danach geschah, war ich körperlich auf der Höhe, geistig aber nie bei Matthes, sondern immer bei Chris. Ich kann nicht sagen, dass mir der Sex, den wir hatten, Spaß gemacht hätte. Auch wenn er schön war. Und auch, wenn damit ein Traum in Erfüllung gegangen ist, so war ich hinterher leerer als vorher. Chris hatte mir nicht nur sich genommen, er hatte mir auch die Kraft genommen, mich über die Tatsache, dass der Mensch, dem ich seit Monaten hinterhergeträumt hatte, anscheinend doch nicht ganz so verloren war, wie ich immer gedachte hatte. Ich fühlte mich, als hätte ich alles verloren.

Ich war verliebt. Und dann, als ich - lange nachdem Matthes sich verabschiedet hatte - alleine auf meinem Bett lag, wusste ich, was ich tun sollte. Plötzlich. Ich wollte Chris zurück und ich würde darum kämpfen müssen. Wenn selbst Matthes Astralkörper ihn nicht aus meinen Gedanken vertreiben konnte, wer dann?

Ich beschloss, Richie anzurufen.

Lucas

Es tutete wieder. Zum sechsten Mal. Zum siebten. Zum...

„Hi Lucas“, hörte ich Richie endlos leise sagen.

Ich schluckte. Fast hatte ich vergessen wie süß das klang.

„Hi“, brachte ich stockend hervor.

„Lucas, isch... I'm sorry.“

Ich atmete tief durch. Machs jetzt nicht kaputt, beschwor ich mich selbst. Jetzt keine Vorwürfe, kein „Ach, und das isses?“, kein Streit. Ich wollte ja wirklich wieder meinen flippigen Superstar im Arm halten.

„Lucas?“ Richies Stimme wurde unsicherer. Ich schluckte nochmal.

„Yes. I'm here. Ich bin da.“

„Was... Bist du sehr bosa?“

Irgendwie schon. Aber wie gesagt: Kein Stress. Außerdem war ich eh wieder am zerfließen.

„Richie, ich will dich sehen. Ich will das nicht am Telefon machen.“

„Yeah. But isch bin noch in Hamburg und das kann isch nicht weggehen.“

„Ich weiß. Ich komme zu dir.“

„Und dein Schula? Und Eltern?“

„Sind mir egal. Wenn ich heute noch 'nen Zug nehme, kannst du mich vom Bahnhof abholen?“

„I will. Isch komme, just schreibst du mir wenn du comst. Oh Lucas, isch...“

„Pscht. Nicht jetzt. Ich komme ja. Ich packe sofort.“

„Okay. Isch warte.“

„Richie?“

„Lucas?“

„I love you.“

David

Ich hatte ein ernsthaftes Problem. Ich wollte Richie anrufen und....naja....ich hatte die Nummer verloren. Innerlich teerte und federte ich mich selbst, denn als Richie mir am See seine Karte mit der Nummer gegeben hatte, hatte ich mir geschworen, sie zu Hause sofort in mein Handy einzuspeichern, aber dummerweise hatte ichs dann bei alldem Stress völlig vergessen. Und nun, wo ich ihn dringender als alles andere auf der Welt sprechen musste, konnte ich ihn nicht erreichen. Verzweifelt durchwühlte ich mein Zimmer, hinterließ ein völliges Chaos, in dem ich natürlich erst recht keine Chance hatte, irgendetwas zu finden. Nach einer halben Stunde warf ich mich frustriert auf mein Bett und heulte in mein Kissen - ausnahmsweise jedoch vor Wut. Da fiel mir ein: eine Chance hatte ich noch. Lucas. Wenn jemand die Nummer von Richie im Handy gespeichert hatte, dann Lucas.

Also wählte ich die Nummer meines besten Freundes.

Lucas

Meine Sachen zu packen ging schnell. Ich hatte sowieso aufgehört nachzudenken – sonst wäre ich sicher zu Hause geblieben. Aber so waren schnell einige Shirts, Socken und Unterwäsche in meinem Rucksack gelandet. Dann kam die moralische Hürde. Unter tiefsten inneren Schwüren, es ihr auf jeden Fall zurückzuzahlen, nahm ich hundert Euro aus dem „Geheimversteck“ meiner Mutter – einem alten Kochbuch.

Ich wusste es würde Ärger geben. Mehr als je zuvor. Aber ich konnte nicht anders. Ich zog meine Jacke über und wandte mich zum gehen.

Ich hatte schon die Türklinke in der Hand, als mein Telefon klingelte.

„Ja?“

„Hi Lucas, ich bin's.“ Hätte ich mir denken können.

„Hey David. Was gibt’s?“

„Äh... hast du vielleicht Richies Handynummer?“

„Was?“ Blöde Frage. „Natürlich hab ich die, wieso?“

„Weil ich hab sie nämlich nicht mehr. Und ich würde Richie gerne mal anrufen um zu fragen... naja ob er mal mit Chris reden kann.“

So wie ich das mitbekommen hatte, redeten die Zwei durchaus miteinander. Ob sie allerdings auch über David sprachen, wusste ich natürlich nicht.

„Äh, hallo?“ hörte ich es aus dem Hörer.

„Ja, ich bin noch da. Hör mal... was hast du plötzlich wieder mit Chris, und wieso rufst du ihn nicht selber an?“

„Ich weiß nicht. Vielleicht hab' ich Angst, wieder die Beherrschung zu verlieren. Deswegen will ich ja Richie fragen, ob er mal mit ihm redet.“ Und dann leiser: „Ich vermiss ihn halt immer noch.“

In mir keimte ein Gedanke.

„David. Vielleicht solltest du Chris einfach mal besuchen?“

„Ach, ich war ja bei ihm zu Hause, aber da war niemand, oder er hat nicht aufgemacht.“

Ich grinste „Nein, die Jungs sind ja auch in Hamburg.“

„Ach? Hast du wieder mit Richie gesprochen?“

„Ja. Und mit Chris.“

Ich spürte förmlich wie meinem Freund kurz der Atem stockte.

„Mit Chris?“

„Ja. Und ich fahre jetzt hin.“

„Wohin?“

„Ja, zu Denen.“

„Nach Hamburg?“

„Nach Hamburg.“

„Wann?“

„Jetzt.“

„Jetzt?“

„Ja, jetzt.“

„Du bist jeck. Mitten in der Woche?“

„Na und? Wenn ich's nunmal nicht mehr aushalte? Glaubst du, in der Schule bekomme ich irgendwas mit, wenn ich die ganze Zeit nur an Richie denke?“

„Hm.“

„Und du kommst mit“, beschloss ich.

„Was? Ich kann doch nicht einfach...“

„Oh, ich glaube, du kannst. Wenn sogar ich das kann. Der Zug geht um viertel vor fünf vom Hauptbahnhof. Sei einfach da.“

David

Ich glotze den Hörer an, aus dem mittlerweile nur noch ein langgezogenes Tuten zu hören war. Lucas hatte nach seinem letzten Satz einfach aufgelegt und mich mit meinen Gedanken irgendwo zwischen "Ich tus" und "Ich tus nie im Leben" alleine gelassen. Einen schönen besten Freund hatte ich da.

Ich stiefelte in meinem völlig chaotisierten Zimmer auf und ab und dachte nach. Sollte ich...?

Unter normalen Umständen hätte ich mich weniger gefragt, ob ich den Trip hätte machen sollen, sondern eher, von welchem Geld ich Zug und Hotel hätte bezahlen sollen. Aber das hatte sich ja erledigt. Chris selbst hatte mir genügend Geld zukommen lassen, um mehrere hundert solcher Trips zu absolvieren. .

Aber das waren keine normalen Umstände. Was war, wenn er nicht wollte? Lucas hatte zwar gesagt, er habe mit Chris gesprochen, aber er hatte nicht gesagt, ob Chris was über mich gesagt hatte. Und wenn ja, was. Das war definitiv kein gutes Zeichen. Wollte ich unter solchen Vorzeichen nach Hamburg fahren? Dann war da noch die Schule. Und meine Eltern. Meine Eltern waren zwar mehr oder weniger tolerant, aber eine Städtetour ohne Rücksprache und mit Schuleschwänzen war ziemlich harter Tobak.

Ich setzte mich aufs Bett. Starrte aus dem Fenster, dachte nach. Und dann....begann ich mechanisch meine Sachen zu packen. Mir waren nämlich gerade die Minuten, die ich mit Matthes auf dem Bett verbracht hatte, wieder eingefallen. Damals hatte mich Chris keine Sekunde losgelassen, im Gegenteil. Er war mit jedem Atemzug, mit jeder Sekunde immer näher gekommen. Ich musste mit ihm reden, weil ich mir nie verziehen hätte, wenn ich es nicht noch ein letztes Mal versucht hätte.

Um zwanzig vor fünf stand ich am Bonner Hauptbahnhof, Gleis eins. Wenige Minuten vorher war ich noch auf der Bank gewesen, den Verrechnungsscheck auf mein Konto einzahlen. Die Schalterfrau hatte beim Blick auf den Scheck zwar komisch geschaut aber dank der Einverständniserklärung meiner Eltern nichts weiter gesagt. Und ja, ich habe die Unterschrift gefälscht. Das tat ich auf Entschuldigungen für die Schule bereits seit einem Jahr, mit stiller Duldung meiner Mutter. Dass das dieses Mal anders sein würde, war mir klar. Ich rechnete nicht mal mehr mit einem Donnerwetter, sondern mit einem Taifun. Um die schlimmsten Folgen abzufangen hatte ich ihnen einen Brief auf mein Bett gelegt, in dem ich das alles eher schlecht als recht erklärte. Aber sauer sein würden sie. Das war klar.

Lucas kam in letzter Minute auf das Gleis gerannt und grinste, als er mich sah. „Ich wusste, dass du es tun würdest“, sagte er und sah dabei so aus, als wüsste er nicht wirklich, was er da eigentlich tat. Er wirkte, als sei er nicht ganz bei sich. Der Eindruck bestätigte sich in den nächsten fünf Stunden, in denen wir im Zug nebeneinander saßen. Lucas sprach kaum ein Wort, sondern blätterte ständig mit glänzenden Augen die aktuelle Ausgabe der Bravo durch. Tourbericht von US5 inklusive. Ich selbst hatte mir mein Mathebuch mitgenommen. Und die Lektüre, die wir in Englisch gerade lasen. Wenn ich schon mit allen unausgesprochenen Regeln meiner Familie brach, so wollte ich mir doch nicht nachsagen lassen, ich würde die Schule vernachlässigen.

Ab und an wandte sich Lucas an mich und versuchte, ein Gespräch anzufangen. Ich blockte ab, weil ich zu sehr mit dem beschäftigt war, was auf mich zukam. Ich wusste ja noch nicht einmal, wie ich reagieren würde, wenn Chris nicht sofort mit mir sprechen wollte. Oder wenn er grundsätzlich abblockte. Wenn ich das Glitzern in Lucas´ Augen richtig deutete, dann würde ich auf ihn nicht wirklich zählen können, sondern würde ihn spätestens am Bahnhof an Richie abgeben müssen. In Lucas Augen spiegelte sich quasi das Portrait des jungen amerikanischen Boygroupsängers.

Irgendwann, kurz nachdem wir in Hannover den Zug gewechselt hatten, lachte Lucas plötzlich laut auf.

„Was ist?“

Aus seinem Lachen wurde ein Gackern.

„WAS?“

Mit einem breiten Grinsen drehte er sich zu mir um. „Ich hab mir nur gerade das Gesicht von Richie vorgestellt, wenn du gleich am Bahnhof auftauchst. Und dann das Gesicht von Chris. Und dann das Gesicht von dieser dämlichen Bandmanagerin, wenn ihr zwei euch glücklich in den Armen liegt.“

Da musste selbst ich grinsen, schüttelte zugleich aber ungläubig den Kopf. „Ich glaube das nicht. Was, wenn er nicht will?

Lucas legte mir die Hand auf die Schulter. „Mach dir nicht zu viele Gedanken. Der will. Da bin ich mir sehr sicher. Der ist feige – und er hat begriffen, dass er Mist gebaut hat. Aber er will.“ Dann gab er in kurzen Worten seinen Eindruck von dem Gespräch wieder – samt dem, was Chris gesagt hatte.

Danach ging es mir besser. Und ich war mir sicher, das absolut Richtige zu tun, als ich am Hamburger Hauptbahnhof den Zug verließ.

Am Reisezentrum wurden wir von einer kleinen Person in Sonnenbrille und Cap erwartet. Oder besser: Lucas wurde dort von Richie erwartet. Das war schon von weitem zu erkennen. Der junge Amerikaner war sichtlich nervös – und doch rutschte ihm, als er mich hinter Lucas auftauchen sah, das Herz gleich doppelt in die Hose. Lucas knuffte mich breit grinsend in die Seite. Er hatte Recht behalten: Richie sah einfach zu niedlich aus, wie er da völlig verdattert und schlecht getarnt mitten im Gewühl des Hamburger Hauptbahnhofes stand und offensichtlich nicht wusste, wie er reagieren sollte.

Nach einigen Schrecksekunden besann sich der Amerikaner und kam auf uns zu. Mir gab er die Hand und lächelte mich an. „Good to see ya!“

Bevor ich eine Antwort hervorbringen konnte, widmete er sich Lucas, indem er ihn – hola! - in den Arm nahm und ihm einen Kuss auf die Wange hauchte. Lucas wirkte da steifer, gerade so, als sei da irgendetwas ungeklärt und er könne sich noch nicht wirklich fallen lassen.

Ich kenne Lucas einfach zu gut, schoss mir durch den Kopf, als ich Lucas und Richie mit einigem Abstand Richtung Ausgang und Taxistand folgte.

Richie winkte ein Taxi und lotste uns zum Hotel. Während der Fahrt sprachen wir kaum ein Wort. Am Hotel angekommen bezahlte ich die Rechnung, was mir einen irritierten Blick von Lucas einbrachte und ließ mich dann von Richie in die Lobby des Luxushotels direkt an der Alster führen, in dem US5 residierten.

„Ich nehm uns dann mal ein Zimmer“, sagte ich zu Lucas, der wiederum gar nix sagte und nickte. „Gib mir mal dein Gepäck, ich ziehe dann schon mal ein, bevor ich...“ Ich traute mich noch nicht ganz, auszusprechen, was mir bevor stand und wollte mich daher ablenken. Lucas schien das zu verstehen und zog Richie Richtung Hotelinnenleben. Bevor die Beiden im Fahrstuhl verschwanden, kam Richie noch einmal zu mir herüber, stieg auf die Zehenspitzen und flüsterte mir etwas ins Ohr: „Dreihundertvierundvierzich“. Ich nickte ihm dankbar zu und lächelte anscheinend so herzerweichend, dass er noch ein „Good luck“ hinzufügte und die Hand zum Victory-Zeichen hob.

Der Typ am Empfang schaute mich ziemlich irritiert an, als ich – ein Schüler mit zwei Sportrucksäcken über dem Arm – an den Tresen trat und etwas nassforsch „Ein Doppelzimmer bitte“ sagte.

„Und wer zahlt?“, fragte der Typ ziemlich von oben herab. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie fehl am Platz ich für diesen Menschen wirken musste.

„Ich?“ fragte ich ungeduldig. Mein Gemüt vertrug zur Zeit keine besonderen Strapazen.

„Bedaure, aber wir haben nur noch die kleinere 5-Sterne-Suite. Und die kannst du dir wohl kaum leisten“, sagte der Kerl immer unverschämter.

„Ich kann mir auch diese Suite leisten. Und wenn sie nicht sofort dafür sorgen, dass ich diese Suite bekomme, dann muss ich mich wohl etwas länger mit ihrem Chef unterhalten“, sagte ich giftig, denn ich hatte weiß Gott anderes im Kopf, als mich mit diesem Schnösel herumzuschlagen.

Der Mann hinter dem Tresen zögerte. Er schien mich mit einem Mal etwas ernster zu nehmen und wirkte plötzlich etwas freundlicher. „Nun gut. Aber nur gegen Vorkasse für eine Nacht“ Das war nicht weniger, als eine Unverschämtheit – und anscheinend musste man mir das auch ansehen, denn noch bevor ich etwas sagen konnte, nickte er nur, gab mir einen prunkvoll aussehenden Schlüssel und sagte: „Es ist Nummer 420, Sir“ Die Ironie war deutlich hörbar.

Ich schluckte meine Wut herunter und guckte nur böse.

Dann stieg ich zu einem älteren Liftboy in den Fahrstuhl und ließ mich nach oben kutschieren. Selbiger zeigte mir auch den Weg zu meinem neuen Domizil und öffnete schwungvoll und mit vornehmem Gesicht die Flügeltür, vor der wir zum Stehen kamen. Was ich sah, ließ mir den Atem stocken. Ich hatte bei den Worten „5-Sterne-Suite“ ja durchaus mit einigem gerechnet, das, was ich zu Gesicht bekam, ließ mir jedoch buchstäblich den Atem stocken. Es war purer Luxus! Ein großes, salonähnliches Wohnzimmer mit gigantischem Fernseher, von dem drei Türen abgingen. Zwei Schlafzimmer und das Bad, schloß ich und setzte vorsichtig einen Fuß auf das Holzparkett.

Hinter mir hörte ich ein räuspern. Der freundliche Liftboy wartete wohl. Wahrscheinlich auf sein Trinkgeld. Ich zog den einzigen Schein, den ich noch im Portemonnaie hatte, heraus und drückte ihn dem Hotelangestellten in die Hand. Zehn Euro Trinkgeld. Naja, vielleicht freute es ihn. Ich kannte mich mit den Größenordnungen von Trinkgeldern in der Luxusklasse nicht aus und anmerken konnte man ihm auch nichts. Er nickte nur knapp – und schon war ich alleine in meinem neuen Reich.

Ich beschloss, mich erst einmal umzusehen.

Die Schlafzimmer erwiesen sich als helle, geräumige Zimmer mit Parkettboden und riesigen, weichen Betten, die förmlich danach schrien, sich in ihnen zusammenzurollen und herrlich tief zu schlafen. Aber dafür war noch keine Zeit. Direkt zwischen den beiden Schlafzimmern befand sich das Badezimmer. Ich öffnete routiniert die Tür – und musste mich erst einmal setzen. Ich hatte ja von Marmor und goldenen Griffen gehört, aber gesehen hatte ich so etwas noch nicht. Bis dahin jedenfalls. Neben einer Dusche und einer Badewanne blubberte hinten in der Ecke – ein Whirlpool. Und alles sah aus, als sei es aus einem reichlich dekadenten Traum entsprungen. Auch wenn mich die Frage quälte, was das alles wohl kosten würde und – wichtiger! - was Lucas dazu sagen würde, beschloss ich, mich im Moment weder um das Eine, noch um das Andere kümmern zu wollen. Am Waschbecken erfrischte ich mir das Gesicht, packte pro forma ein paar Klamotten auf mein Bett, um Lucas zu signalisieren, wo ich zu nächtigen gedachte und stand dann mit klopfendem Herzen am Fahrstuhl, um mich zu Chris zu begeben.

Der Korridor, der mich zu Zimmer Nummer 344 führte, war ein breiter, fensterloser Gang, dessen rote Teppiche jedes Geräusch meiner Schritte sorgsam zu filtern schien. Hässliche goldene Lampen mit Milchglasschirmen erhellten den Gang. Rechts und links gingen in regelmäßigen Abständen schwarze Holztüren ab, die zusammen mit dem restlichen Interieur ein wenig Puff-Atmosphäre erzeugten.

Vor der Zimmertür angekommen, atmete ich tief durch und wischte meine verschwitzten Hände an den Hosenbeinen ab. Dann klopfte ich.

„Herein!“

Seine Stimme. Wie vom Donner gerührt stand ich da und trat eben nicht ein.

„Hallo?“

Er klang verwirrt.

Plötzlich ging die Tür auf. Ich hatte seine Schritte nicht kommen gehört. Anscheinend war das Hotel schallmäßig ganz gut isoliert.

Da stand er also, nur mit Trainingshose und Sportschuhen bekleidet. Und schaute mindestens schockiert. Um ehrlich zu sein war mir gar nicht bewusst, dass ein Mensch so schockiert schauen konnte.

Schweigen.

Wir standen dort und sahen uns an. Niemand sagte etwas. Lange.

Chris war zu geschockt, um sich zu rühren. Aber immerhin war er in diesem Zustand auch nicht in der Lage, mir die Tür vor der Nase zu zu schlagen, wie ich es insgeheim befürchtet hatte. Nein, er stand einfach da und sah mich unverwandt an.

Wie immer berappelte ich mich als erster und sagte: „Hallo!“

Also, zumindest wollte ich das sagen. Wirklich erfolgreich war ich in meinem Bemühen aber nicht, denn aus meinem Kehlkopf entsprang nur ein Gurgeln, das entfernt an einen defekten Abfluss erinnerte. Super, David!, schalt ich mich selbst. Jetzt hatte ichs total vermasselt.

Ulkigerweise schien meine zur Schau getragene Unsicherheit Chris aus seinem Schockzustand zu erwecken. Er trat einen Schritt zurück und winkte mich in sein Zimmer. Mit einem Nicken gab er mir zu Verstehen, dass er sich nur eben schnell etwas anziehen wollte. Was ich schade fand.

Bis er fertig war, schaute ich mich in seinem Zimmer um. Es konnte mit meinem Reich nicht Schritt halten, war aber dennoch deutlich mehr als nur „luxuriös“.

„So würde ich auch leben wollen“, sinnierte ich vor mich hin, während ich an der breiten Fensterfront auf und ab ging und schließlich die Balkontür öffnete.

Von draußen hatte man einen fabelhaften Blick über die Binnenalster, die Parks und die repräsentative Innenstadt Hamburgs. Und man hörte die Straße, die unten vorbeilief nicht mal mehr wirklich. Der Himmel war wolkenlos, man konnte die Sterne sehen. Das nächtliche Hamburg war mehr als prächtig. Wäre ich nicht bis zum Zerreissen angespannt gewesen, ich hätte den ausklingenden Tag genossen.

„Gehen wir ein Stück?“ fragte Chris und ich zuckte zusammen. Er hatte ja bisher noch nicht direkt mit mir gesprochen. Ich nickte.

Schweigend verließen wir das Hotel, schweigend liefen wir an der Alster entlang. Irgendwann kamen wir auf eine große Wiese direkt am Ufer und ließen uns – wie auf Kommando – nebeneinander auf einem Stein nieder und starrten in die Nacht hinaus. Es war seltsam. Wir waren uns so vertraut und denoch schien es, als sei er meilenweit enfernt.

Nach einiger Zeit sah Chris mich unvermittelt an. „David....ich.....“, er brach ab und schien wieder in Schweigen versinken zu wollen, als sich irgendwo drin in mir ein Schalter umzulegen schien. Immerhin müsste ich eigentlich sauer sein, ihm Vorwürfe machen, ihn hassen. Stattdessen saß ich friedlich neben ihm und sagte gar nichts.

„Ja?“, fragte ich in die Nacht und war erstaunt, wie hart meine Stimme klang.

Chris schluckte. „Ich weiss nicht, was ich sagen soll.“

Irgendwas in mir wurde aggressiv. Wie wäre es mit „Entschuldige“???

„Naja, du könntest mich um Verzeihung bitten“, sagte ich dann auch.

„Hätte ich denn damit eine Chance?“, fragte er und klang nicht so, als würde er sich da Hoffnungen machen.

„Was würdest du denn an meiner Stelle tun?“, fragte ich, ohne nachzudenken.

„Mich zum Teufel jagen“, sagte Chris – auch ohne nachzudenken. Er sah unendlich traurig aus. Und damit unendlich süß. Meine Wut schmolz wie ein Gletscher in der Sahara. Jetzt nur nicht weich werden!, rief ich mich selbst zur Ordnung.

„Genau deswegen bin ich hier“, parierte ich und musste innerlich schmunzeln, als ich Chris´ Reaktion auf meiner Worte mitbekam. Offensichtlich tat ihm das alles sehr weh. Und ich beschloss, ihn so einfach nicht davonkommen zu lassen.

„Also?“

„Ach David, ich war verzweifelt. Ich wusste nicht, was richtig ist. Ich bin nicht Richie. Für mich war neu, dass ich für mein Glück an manchen Ecken vielleicht mehr kämpfen muss, als Andere das vielleicht müssen. Und ich hab mich völlig falsch verhalten. Wenn es irgendwas gäbe, was das wieder gut machen könnte, glaub mir, ich würd es tun --“, Chris hatte immer schneller gesprochen und jede Silbe einzeln betont, gerade so als würde er hoffen, ich könnte mich durch einen überzeugenden Vortrag doch noch überzeugen lassen.

Ich holte tief Luft. „Chris, ich könnte dir verzeihen, dass du unsicher warst. Aber dass du mir diesen Brief geschrieben hast....das kann ich nicht verstehen.“

Chris sah mich zum ersten Mal direkt an. „Welcher Brief?“

Nur knapp verhinderte irgendetwas in mir, dass ich aufstand und ihm eine Ohrfeige gab. „Na, der Brief mit dem Scheck?! Dämmerts bei dir???“

Chris schüttelte verständnislos den Kopf.

Mechanisch schob ich meine Finger in die Tasche meiner Jacke. Ich hatte den Brief eingepackt, damit ich ihn damit konfrontieren konnte. „Willst du mir sagen, dass du diesen Brief nicht kennst?“, fragte ich mit ziemlich viel Aggression in der Stimme.

„Ja.“

Ich hielt ihm den Brief unter die Nase.

Mit einer schnellen Handbewegung entriss er meiner Hand den Brief, überflog ihn und drehte sich ruckartig zu mir um. „David....ich....ich habe das nicht geschrieben!“

Meine innere Stimme sagte mir, dass er die Wahrheit sagte. Nach allem, was passiert war, schien es nicht ausgeschlossen, dass diese Plattenfirma auch vor der Fälschung privater Briefe nicht zurückschrecken würde.

Chris wurde derweil vehement.

„David, ich hätte dir sowas nie geschrieben. Wirklich. Glaub mir das. BITTE!“

Und als ich ihm in die Augen sah, glaubte ich ihm.Versonnen starrte ich in die Landschaft. Was sollte ich tun?

Neben mir hörte ich Chris schluchzen. „Sie haben mir alles vermasselt. Ich habe alles vermasselt. Dabei liebe ich dich doch! Es tut mir leid, verdammt!“

Mit einer abrupten Bewegung sprang ich von der Bank auf. „Komm mal mit!“

Chris schniefte und sah mich an wie ein Auto. „Wo willst du hin?“

„Komm einfach mit!“

Es war einer dieser vergleichsweise warmen Tage im Herbst und ich hatte nach allem das dringende Bedürfnis, den Kopf wieder frei zu bekommen. Entschlossenen Schrittes ging ich aufs Ufer der Alster zu.

Am äußersten Rand – der Waterkant, wie ich mir schmunzelnd selbst zuflüsterte – blieb ich stehen und zog mit einem entschlossenen Lächeln zuerst Schuhe und Socken, dann meine Oberbekleidung und schließlich meine Hose aus. Dann ging ich, langsam ins Wasser. Es war weder sauber, noch wie erhofft angenehm kühl, aber es bewirkte immerhin, dass ich damit beschäftigt war, nicht auf dem glitschigen Boden auszurutschen und daher nicht mehr an Chris denken musste.

Als ich bis kurz über dem Bauchnabel im Wasser stand, drehte ich mich um und rief leise: „Kommst du?“

Chris fielen derweil spontan die Augen aus dem Kopf. Ich glaube, er hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit.

„Ja, warte“, in fliegender Hast zog er sich bis auf die Unterhose aus und kam mir nach.

„Sei vorsichtig, es ist glatt“, warnte ich ihn, als er sich auf den Weg zu mir in die tieferen Gefilde machte.

Wenige Zentimeter vor mir kam er zum Stehen. Wir sahen uns an.

„Und jetzt?“, fragte Chris.

Ich antwortete nicht, sondern grinste nur. Blitzschnell schob ich mir einem Ruck mein rechtes Bein hinter die Kniekehle seines linken Beines und holte ihn mit einem mehr oder weniger eleganten Hebel von den Beinen, so dass er im Wasser lag.

„Tu...das....nie...wieder!“, sagte ich grinsend und drückte ihn im Wortrhythmus unter Wasser. Ich ließ ihn wieder auf die Beine kommen und zog ihn zu mir heran. Küsste ihn. Einmal. Mehrmals. Länger.

-- Chris schob mich ein paar Zentimeter von sich weg. „Du bist also wirklich nicht mehr böse?“

Hmm....“Doch“, sagte ich und betrachtete mit Vergnügen Chris´ entsetztes Gesicht. „Aber ich bin auch in dich verliebt, verdammt. Aber wenn du dir jetzt einbildest, ich würde dir wegen jeden Streit, den du angezettelt hast, nach sonstwo hinterher reisen, da haste dich geschnitten!“ Sprachs und kniff ihm zur Verstärkung meiner Worte in die Brustwarze.

„Aua!“, protestierte er empört.

„Ach, stell dich nicht so an, stehste doch drauf!“, grinste ich und spürte gerade noch, wie er seinerseits zu einem Hebel ansetzte, bevor ich gänzlich im Wasser der Alster unterging.


Der Portier guckte etwas sprachlos, als Chris und ich das Hotel betraten. Es muss auch zu komisch ausgesehen haben: Zwei Jungen, denen die Klamotten am Körper kleben und deren Haut und Haar vor Algen leicht grünlich schimmert.

Die späte Stunde und die Diskretion des Personals verhinderten größeren Stress, glaube ich. Mal davon abgesehen, dass sie Chris sicher als Star identifiziert hatten und selbst keinen Ärger wollten.

Chris und ich wollten auf jeden Fall erst einmal duschen. Nicht nur, weil unsere Nasen es uns geboten, sondern auch, weil wir uns insgesamt etwas eklig fühlten. Deswegen hatten wir es auch nicht mehr lange am Alsterufer ausgehalten, sondern hatten nur ein paar Joggingrunden gedreht, um einigermaßen trocken zu werden, uns dann angezogen und uns dann auf den Rückweg gemacht.

Ich führte Chris zielstrebig Richtung Suite. Dabei schoss mir durch den Kopf, dass ich Lucas noch irgendwie begreiflich machen musste, wo wir eigentlich residierten. Der wusste das ja noch gar nicht. Chris wusste auch nicht, was er sagen sollte, als er das Wohnzimmer unserer Suite betrat.

„Wow, krass“, staunte er. „Wo haste denn das Geld her?“

Ich erzählte ihm von dem Scheck, er grinste. „Wenn die wüssten, dass die uns die Nacht unseres Lebens finanziert haben...“ Er kam näher und küsste mich. Obwohl ich ihn wirklich wahnsinnig gerne küsste, zuckte ich zurück.

„Du stinkst nach Industriekloake“

„Hast du dich schon mal selbst gerochen?“ Okay, ausgekontert.

„Vielleicht sollten wir duschen gehen“, grinste ich und dachte an den Whirlpool neben der Dusche.

„Öhm....joah. Wo ist denn in diesem Palast das Bad?“

Ich zeigte es ihm und ließ noch an der Türschwelle vollständig die Hüllen fallen. Chris übrigens auch.

Zuerst duschten wir, gemeinsam natürlich. Danach putzte ich, begleitet von dämlichen Kommentaren meines Freunde, die Dusche, denn die grünen Striemen waren wirklich zu eklig. Während ich das Papier, das ich zum putzen verwendet hatte, entsorgte, machte es sich mein Begleiter im Whirlpool bequem.

„Kommst du mal?“, fragte er mit gespielt genervtem Unterton.

Ich bewarf ihn mit einem Batzen Papier und bekam zur Belohnung einen Schwall Wasser in den Nacken. Die Tropfen liefen mir den nackten Rücken herunter und verursachten eine Gänsehaut. Ohne mich länger mit den Resten meines Putzanfalles aufzuhalten, sprang ich ins Wasser.- -

Ich setze mich zunächst Chris gegenüber, merkte jedoch bald, dass Herrn Watrin das so nicht genug sein würde. Er wollte mehr. Versöhnungssex, wie ich vermutete. Irgendwann setzte ich mich also neben ihn und ließ meine Hand in seinen Schoß gleiten. Er stöhnte. Unsere Lippen berührten sich. Länger. Intensiver. Chris ließ seine Hand in meinen Schritt greifen und massierte mich langsam. Ich stöhnte auf. Sekunden später waren seine Lippen an meinem Hals und er auf meinem Schoß. Ich suchte seinen Blick, dann seinen Mund, glitt über seinen Hals zu seinen Brustwarzen und irgendwann – in ihn.

Chris stöhnte, noch bevor er sich zu bewegen begann. Ich presste mich an ihn und als er mich küsste, fühlte ich mich, als trennte uns nun endgültig gar nichts mehr. Nach endlos kurzer Zeit waren wir beide gekommen und verharrten in der Position, sahen uns in die Augen und versanken ineinander.

„Mich wirst du nicht mehr los“, sagte Chris unvermittelt. Und dann: „Ich liebe dich“

„Was wird Anjes dazu sagen?“

„Das wirst du morgen schon sehen. Ich sehe sie zwar erst am Set wieder, aber ich gehe mal davon aus, dass du kein Problem damit hast, dabei zu sein, oder?“

Ich war sprachlos. Mein ehemals feiger Freund wollte mich mit ans Set seines Videos nehmen. Mehr als ein zustimmendes Nicken brachte ich in der Situation nicht zu Stande.

Lucas

Ich war Richie zu dem Hotelzimmer gefolgt, das wie schon in Köln durchaus zum höheren Standard zählte. Nun saßen wir nebeneinander auf dem Hotelsofa.

„Wie geht es disch?“

„Viel besser jetzt. Hier.“ Sehr kitschig, aber so war es – ich hatte mich die ganze Bahnfahrt unruhig gefühlt, auch wenn ich versucht hatte, das nicht zu zeigen. Gegen jede Vernunft waren mir Gedanken gekommen wie 'Was, wenn er mich nun doch nicht sehen will?'

Aber nun war ich hier, und prompt gings mir besser. Und noch besser als Richie plötzich auf meinem Schoß saß und die Arme um mich schlang.

„Hier niemand kann uns Foto machen beim kussen“, sagte er, und nutze diese Intimität dann auch gleich ausgiebig.

Das hatte ich, glaube ich, am meisten vermisst.

„Richie?“ fragte ich irgendwann.

„Ja Lucas?“

„Habt ihr von dem Fotografen schon etwas gehört?"

"Nein. Keine Zeitung hat geschriebt oder etwas. Isch weiß nischt. Vielleicht den Bild war nicht scharf?"


Konnte ich mir nicht vorstellen. Ich war auf jeden Fall ziemlich scharf gewesen. Aber das führte vielleicht zu weit.

"Und wenn doch was kommt?“

„Wir mussen vielleischt gucken wenn das ist so weit, nischt wahr?“


Wir mussten schneller „gucken“ als uns lieb gewesen wäre. Nachdem wir die Nacht sehr zweisam in Richies großem Bett zugebracht hatten, weckte uns am nächsten Morgen viel zu früh das Telefon. Zu verschlafen um wirklich mitzubekommen, um was es ging, registrierte ich nur, wie Richie sich nach dem Telefonat schnell etwas überzog, mir noch kurz etwas zumurmelte und ging. Etwas irritiert war ich dann auch, aber noch zu müde um es recht wahrzunehmen.

Wirklich irritiert war ich dann erst, als er kurze Zeit später wieder neben dem Bett stand – aber nicht allein, sondern mit zwei Herren in dunklen Anzügen. Sie schienen mich zu betrachten und dabei leise miteinander zu sprechen.

„So... das ist also... Ja, da können unsere Bildspezialisten bestimmt was weg.... Sicher auch kein Verlust...“

Hallo?! Was ging denn nun ab? Ich starrte Richie fragend an.

„Lucas... jemand hat den Bildern geschickt... isch glaube. Sie sind nicht viel zu reden daruber. Isch denke sie wollen...“

„Wir werden“, fiel einer der Beiden ein, „versuchen, diese unglückliche Situation zu unserem Vorteil zu nutzen. Ich werde heute mit Marty reden. Er kennt die richtigen Leute bei den Medien, und auch einige Fachleute für die etwas... speziellere PR.“ Er wandte sich an seinen Begleiter, und zog ihn im Reden aus dem Raum. „Ich kann es schon vor mir sehen in der Zeitung, wie....“

Ich rieb mir noch mal die Augen.

“Richie... wer waren die?”

“Sie sind von die Management. Sie haben dort den Foto, aber irgendwie ist anders. Sie haben nicht unsere Bandmanager schon gesprochen. Isch glauba, sie wollen ihm nutzen fur eine PR, oder isch weiss nischt. Isch will nur Musik machen und... und mit disch zusammensein.”

Für den Kommentar musste ich ihn natürlich dringend wieder zurück ins Bett ziehen. Und an mich drücken und festhalten. Und eigentlich noch viel mehr, aber eigenartiger weise war ich dazu noch zu benommen, also blieben wir so liegen. Auch als es später an der Tür klopfte rührten wir uns nicht und sprachen auch kein Wort. Obwohl mir klar war, dass Richie jetzt weg musste.

Etwa eine halbe Stunde später bummerte es wieder an der Tür, und kurz darauf wurde sie aufgeschlossen. Anscheinend hatte sich da wer vom Management vom Hotelpersonal aufschließen lassen. Die Stimme, die dann erschallte, konnte ich eindeutig Anjes zuordnen.

“Richie! Richie for god's sake, GET UP!”

Der gerufene sah mich an.

“Isch glaube wir bekommen jetzt Argär.”

Na und? dachte ich mir und küsste ihn. Einmal weil ich eh Lust dazu hatte, und außerdem, um diesem Brüllaffen was zu gucken zu geben, wenn sie ins Zimmer stürmte, was sie dann auch prompt tat.

“Richie, what the... oh fuck. Was ist denn hier los?”

“Die Furie”, murmelte ich, bekam aber keine Antwort.

“Los jetzt, aufstehen, wir müssen lo-os”, drängte die Furie. Richie guckte sie nur stumm an.

“Ja worauf wartet ihr?”

“Wir warten, dass du vielleischt aus dem Zimma gehen mochtest, weil wir nischt ganz angezogen sind.”

Sie wurde rot, sehr sogar, und verließ mit einem “In zehn Minuten in der Halle, keine Zeit zum duschen, wirst eh wieder nass”, den Raum.

Was blieb uns da noch anderes übrig.

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