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Ordinary

Teil 3

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... Der nächste Tag begann wie üblich. Vollkommen übermüdet unter die Dusche springen. Die Treppe hinunter rasen. Wieder fast über Kai stolpern, diesem schnell Hallo sagen und dann in Richtung U-Bahn und zur Arbeit. Dort verlief alles wie eh und je. Nur ab und an kamen die Gedanken an gestern Abend wieder, aber die waren dann auch schnell wieder aus dem Kopf vertrieben. Stattdessen stand heute die Arbeit im Vordergrund.

Nur die drückende Schwüle machte noch zu schaffen. Es hatte sich nichts verändert. Der Himmel war noch immer Wolken verhangen, aber laut Wetterbericht war noch kein erlösendes Gewitter in absehbarer Zeit zu sehen. Es würde irgendwann Donnern und zwar heftig, darüber war man sich einig, aber wann? Ob nun heute oder morgen? Dies vermochte niemand zu beurteilen.

Also hieß es wie gestern schon: bei jeder Bewegung schwitzen. Und so wurde es wieder zu einer Tortur, zu der sich nach einer Zeit auch noch Kopfschmerzen dazugesellten. Es war einfach zu drückend und heiß. Aber es ging ja zum Glück nicht nur mir so.

Aber eines ging mir wieder einmal durch den Kopf: Wie es wohl Frauen ab einem gewissen Alter mit derartigen Wärmewallungen aushalten, die sich wohl so ähnlich anfühlen mussten. Und mir war wieder einmal klar: Ich bin froh ein Mann zu sein.

Die Zeit schleppte sich wieder nur so dahin, aber irgendwann war es dann doch 16 Uhr und ich verschwand in Richtung zu Hause.

Auch der Weg mit der U-Bahn brachte keine Erholung, mein Kopf wummerte weiter, wenn nicht noch schlimmer. Auf dem Weg zur Haustür lief mir wie üblich Kai über den Weg. Wir grüßten uns wieder nur kurz. Er wirkte wie schon heute Morgen etwas verlegen dabei. Beim ersten Mal hatte ich es eher so gedeutet, dass er im Stress war und so eher kurz angebunden, aber so fiel es dann doch auf. Mit leicht gesenktem Kopf, kam nur ein kurzes und leises Hallo hervor. Doch die Kopfschmerzen hinderten mich vorerst daran, mir weitergehend darüber Gedanken zu machen. Ich wollte erst einmal einfach nach oben und nochmals eine Tablette einnehmen.

Ich kam in die Wohnung, warf mir eine Tablette ein und fiel dann auch gleich auf mein Sofa nieder und versuchte etwas Schlaf zu bekommen. Es blieb zum Glück nicht nur beim Versuch. Mein Kopf hämmerte zwar wie in einem Stahlwerk, dennoch schlief ich kurze Zeit später ein. Der Schlaf blieb jedoch nicht von langer Dauer. Schweißgebadet und mit immer stärker werdenden Kopfschmerzen wachte ich kurze Zeit später wieder auf. Jetzt mischte sich leider noch eine Übelkeit unter. Es wurde immer stärker und so konnte ich irgendwann nicht anders und stürmte nach draußen an die Luft.

Schon allein das Liegen auf einem Kissen verursachte höllische Schmerzen. Einfach an die frische Luft, vielleicht würde das ja helfen. Frische Luft konnte ich ja schon förmlich vergessen, nichts hatte sich draußen verändert. Es war immer noch schwül und stickig, aber durch das Gehen verspürte ich dennoch eine leichte Besserung und so beschloss ich etwas spazieren zu gehen.

Also ab in die U-Bahn, Richtung Hauptbahnhof und spazierte dann von dort aus über die Hohenzollernbrücke in Richtung Rheinpark. Die Bewegung tat mir wirklich gut. Schon nach kurzer Zeit merkte ich, wie es deutlich besser wurde. Zuerst verging die Übelkeit und letztendlich reduzierten sich auch die Kopfschmerzen auf ein Minimum.

Ich schlurfte so vor mich hin, vollkommen gedankenlos. Nicht einmal der vorherige Abend kam mir in den Sinn. Nicht einmal die Umwelt nahm ich mehr wahr. Ich schlurfte und hoffte nur, dass auch der letzte Rest endlich vergehen würde.

"Fritz", rief dann plötzlich jemand und holte mich in die Realität zurück.

Ich drehte mich um und unter mir stand Thomas. Ich hatte wohl nicht einmal bemerkt, wie ich an ihm vorbeigegangen war.

"Hallo."

"Na wie geht’s? Siehst ziemlich blass aus?"

"Geht schon wieder besser. Hatte heute bei der Schwüle einfach wohl ein paar Kreislaufprobleme. Aber die sind jetzt schon fast wieder weg. Und selbst, was treibt dich hierher?", fragte ich zurück.

"Ich wollte nur ein bisschen alleine sein und nachdenken."

"Worüber? Wenn ich fragen darf?"

"Über David."

"Wieso? Was gibt es denn? Schon nach den wenigen Tagen Probleme?"

"Probleme? Weiß nicht? Aber anscheinend scheint er sich, was ich in den Tagen mitbekommen hab, ziemlich verändert zu haben!"

"Inwiefern?", stutzte ich. "Wollen wir ein Stück gehen?"

"Klar, gerne", erwiderte er und so gingen wir ein paar Meter stillschweigend nebeneinander her, bis er schließlich wieder zu Worten fand.

"Du weißt ja von seinem Umstylen?", fing er dann an und ich nickte nur fragend. Der Zusammenhang wurde mir nicht ganz klar.

"Ich weiß nicht, ob er früher schon so war. Aber seitdem rennt er jeden Tag auf irgendwelche Partys oder Veranstaltungen und lernt dort immer mehr Leute kennen."

"Ne, so war er bisher nie. Aber das ist doch ne schöne Entwicklung?"

"Irgendwie schon, aber irgendwie auch nein", erzählte er weiter und machte dann erst einmal wieder eine Pause, bevor er von Neuem ansetzte. "Er wirkt seitdem immer oberflächlicher, teilweise sogar arrogant. Seine neuen Freunde sind genau solche Leute, wie ich sie eigentlich nicht mag. Diese Schönlinge, die von sich glauben, sie würden fünf Meter über allem anderen schweben. Und teilweise wirkt David auch schon so. Besonders, wenn er mit ihnen zusammen ist."

"Das wäre mir neu bei ihm. Normalerweise ist er das ja nun gar nicht. Er hatte zwar bisher immer die Träume und Hoffnung einen absoluten Schönling abzubekommen, aber selbst einer zu sein? Das wäre mir wirklich neu!"

"Deswegen ja. So hab ich ihn ja auch nicht kennengelernt. Na gut, ich kenne ihn wahrscheinlich noch nicht einmal wirklich, es sind ja bisher nur wenige Tage. Aber seine Erscheinung von damals ist nicht die gleiche. Er wirkt komplett anders. Vor allem gestern, als ich einmal mit zu einer Verabredung gegangen bin."

"Wieso, was war da?", hakte ich nach, als er nach einer Weile immer noch nicht weitererzählte.

"Er wollte schon von Anfang an gar nicht, dass ich mitkomme, bis ich ihn dann schließlich so sehr nervte, dass er mich einfach mitschleifte."

"Und dann?"

"Dann ging er plötzlich ganz auf Distanz. Er sah mich teilweise bei seinen Freunden nicht einmal an. Geschweige denn, dass er zuließ, dass ich ihn berührte. Stattdessen begann er mit den anderen über gewisse Typen zu lästern, nur weil sie nicht so aufgestylt aussahen."

"Wow, das klingt überhaupt nicht nach ihm."

"Ich stand einfach nur daneben und fühlte mich auch richtig fehl am Platz. Niemand registrierte mich. Selbst als ich zwischendurch etwas sagte. Dann wirkte es eher, als würden alle die Stirn runzeln. ‚Was will denn der Kleine hier?’ Schließlich hielt ich einfach die Klappe und ließ sie lästern", sagte er resigniert.

"Ist er denn wenigstens ohne diese Leute anders?"

"Die ersten Tage ja. Aber danach wirkte er auch immer distanzierter. Es wirkte eher wie eine Pflicht, als er mich am Abend in den Arm nahm und der Sex mit ihm wirkte kalt. Eher so, als wäre es wie eine Routine. Kein Gefühl, keine Zärtlichkeit. Ums drastisch auszudrücken: Er ließ sich von mir f*****, kam dann kurze Zeit später, drehte sich um und schlief ein. Kein Kuscheln, kein Kuss, kein nichts. Er drehte sich weg und schlief ein", erzählte er mit einer doch zittrigen Stimme. "Am Ende fühlte ich mich eher benutzt als geliebt."

"Ich kenne zwar Davids Sexualleben vorher nicht, aber ich könnte mir nicht vorstellen, dass es vorher je so war. So wirkte er auch nie."

"Beim ersten Mal zwischen uns war es ja auch nicht so..", blieb Thomas in seinem Redefluss, "..er war viel aufmerksamer, viel liebevoller. Eigentlich das, was ich mir erhoffte. Er ließ sich in den Arm nehmen und es ging vor allem nicht um den eigentlichen Sex. Es ging um alles, Sex war nur ein Teil davon. Wir schliefen dann auch am Ende gemeinsam zusammengekuschelt ein und wachten auch so wieder auf. Aber wie gesagt, nur beim ersten Mal. Danach ging ich mit ihm ja shoppen und zum Friseur. Seitdem bekommt er nur noch Lob für seine Veränderung und hebt wohl vollkommen ab."

"Hm, irgendwie weiß ich jetzt nicht wirklich, was ich davon halten soll, beziehungsweise, was ich dazu sagen soll. So ist er mir ja nun gar nicht bekannt. Eher der umgängliche Mensch, der eigentlich immer mal von etwas Festem geträumt hatte. Und vor allem nicht so abgebrüht und kalt."

"Das glaubte ich ja auch", seufzte er und ließ die Schultern hängen. "Anscheinend hätte ich ihn lieber so lassen sollen."

"Wieso? Er muss ja letztendlich seine Entscheidungen treffen. Und wenn er jetzt seinen Höhenflug hat, wird er auch wieder herunterkommen. Hoffe ich zumindest für ihn. Wenn dies nicht jetzt gekommen wäre, dann irgendwann später."

"Glaubst du?", zweifelte Thomas.

"Sicher. Wärst du nicht gekommen, wäre später jemand anderes gewesen, der ihn verändert hätte. Denn an seinem Stil war ja durchaus ab und an rumzumäkeln. Menschlich war er immer top, aber ab und an hätten Greta und auch ich ihn gerne mal durch die Läden gezogen und gezeigt, dass er mehr aus sich machen kann. Doch er wollte nie. Und irgendwann hätte es halt jemand anderes geschafft, wenn nicht du."

"Aber sein Höhenflug", seufzte er weiter.

"Den hat er und von dem wird er auch hoffentlich wieder herunterkommen, wie gesagt. Und wenn nicht, so hat er sich für diesen Stil entschieden und wird damit leben müssen. Daran kannst dann auch du oder ich nichts ändern. Böse kann man aber niemandem dafür sein. Weder ihm, wenn er so bleiben möchte, noch dir, dass du ihm gezeigt hast, wie viel in ihm steckt. Und wenn es ihm so gefällt, müssen wir es akzeptieren. Auch wenn wir ihn wahrscheinlich dann alle verlieren würden. Was ich aber auch selbst nicht hoffe, ich mag den Kleinen ja auch."

"Ich hoffe es."

"Sicher, Kleiner." Ich nahm Thomas freundschaftlich in den Arm und hielt ihn einfach ein paar Momente. Er nahm diese Geste auch dankend an, schien ihm wohl doch gut zu tun.

"Gib ihm einfach etwas Zeit. Er wird sich schon noch fangen. Und wenn nicht, dann müssen wir damit klarkommen. Und falls du mal was hast, dann kannst ja einfach bei mir vorbeischwirren. Letztendlich hat es doch etwas Gutes gebracht, dass er dich kennengelernt hat. Wir haben uns auch kennen gelernt. Kannst ja David das nächste Mal alleine losziehen lassen und wir unternehmen einfach mal was zu dritt?"

"Zu dritt?", runzelte er fragend die Stirn.

"Auf Greta wirst du dann auch noch treffen. Normalerweise sind Greta, David und ich zu dritt losgezogen und haben ein bisschen gefeiert. Aber wenn David jetzt seinen Höhenflug hat, wird er sich auch mit mir und Greta nicht abgeben wollen."

"Mal schauen", erwiderte er noch etwas zweifelnd.

Wir liefen noch eine Weile nebeneinander her, ohne weiter viel zu erzählen. Stattdessen hing jeder für sich seinen Gedanken nach. Ich konnte vor allem nicht fassen, dass sich David derartig in so kurzer Zeit verändert haben soll. Und wenn so eine Veränderung jemandem auffällt, der David gerade mal ein paar Tage kennt, wie wird dies dann erst auf uns, Greta und mich, wirken? Wahrscheinlich noch gravierender.

"Ich werd dann jetzt mal nach Hause", setzte Thomas zu einer Verabschiedung an, als wir zur Zoobrücke kamen.

"Dann mach’s mal gut. Ich werd noch ein Stück weitergehen. Wollen wir mal Nummern tauschen?", fragte ich ihn noch, bevor ich’s vergaß.

"Klar", und so speicherte ich noch schnell seine Nummer im Handy ab, bevor er dann verschwand und ich mich weiter in Richtung Norden aufmachte.

Zum Glück waren meine Kopfschmerzen jetzt wie weggeblasen, stattdessen schwirrte mir wieder der Kopf. Mal Greta und Tom, dann wieder David und Thomas, zwischendurch auch immer wieder Flo, Tim und Kai. Schließlich kam ich wieder auf die Frage, wieso es nicht einmal einfach sein konnte im Leben. Wieso immer derartig viele Probleme und Umwege ans Ziel zu kommen?

Über meinen Gedanken hängend bemerkte ich nicht, wie sich die Wolken über mir immer mehr verfinsterten und es nahezu stockdunkel wurde. Erst durch ein heftiges Donnern und das Aufzucken eines grellen Blitzes am Horizont wachte ich wieder aus meinen Gedanken auf und spürte, wie die ersten Tropfen auf mich niederfielen.

Ich sah erschrocken zum Himmel auf und war erst einmal zu einer Salzsäule erstarrt und verstand erst gar nicht, was da gerade in der Atmosphäre abging. Erst zögerlich begann ich mich wieder in Bewegung zu setzen und einen Unterschlupf zu finden. Ich ging erst zügig den Weg zurück, doch mit einmal begann es so zu schütten, dass ich anfing zu laufen, so schnell ich konnte. Kurze Zeit darauf stand ich schließlich mit nassen Klamotten unter der Zoobrücke und schüttelte mich erst mal.

Ich hatte noch Glück, dass ich so schnell die Brücke erreicht hatte, die Klamotten waren nicht ganz durchnässt, sodass sie immer noch schnell durch die warme Luft trockneten. Nur aus meinen Haaren tropfte das Wasser immer wieder nach, sodass mir kleine Rinnsale über das Gesicht flossen. Aber es hätte schlimmer kommen können.

Hier konnte ich wenigstens getrost warten, bis der Regen nachließ, um dann wieder nach Haus zu gehen. Ich setzte mich an einen der Brückenpfeiler und starrte in den dunklen Horizont, wo immer wieder neue Blitze aufzuckten und für Sekundenbruchteile alles hell erstrahlen ließen.

Ich zog die Beine an den Körper und schlang dann die Arme herum. Mein Blick wanderte immer wieder hin und her. Mal betrachtete ich das schäumende Wasser auf dem Rhein, das durch den aufgekommenen Wind aufgepeitscht wurde. Und dann starrte ich wieder in den Himmel, um die aufzuckenden Blitze zu bewundern, die wie kleine Wurzelgeflechte sich den Weg zum Erdboden suchten.

Nach und nach begann sich auch die Luft abzukühlen und ich merkte, wie gut dieses meinen Lungen tat. Ich konnte endlich wieder tief ein und ausatmen, ohne gleich wieder Kreislaufprobleme zu bekommen, ohne dass die Kopfschmerzen auf ein Neues wiederkamen.

Dafür wurde der aufgekommene Wind immer kälter und heftiger, sodass es immer ungemütlicher wurde und ich anfing zu frieren. Meine Klamotten waren zum Glück längst wieder getrocknet, sonst hätte ich mir spätestens jetzt mit diesem Wind eine saftige Erkältung eingefangen.

Um mich herum war niemand mehr. Aus dem vorher noch belebten Rheinpark waren alle Menschen geflüchtet, die wohl alle rechtzeitig die tiefschwarzen Wolken zu deuten wussten.

Nur ich hatte es anscheinend nicht mitbekommen und musste nun so hier ausharren, bis alles vorbei war, und hoffentlich würde dieses Gewitter nicht die ganze Nacht andauern.

Über mir sausten die Autos über die Stadtautobahn hin und her, deren typische Geräusche sich mit dem Wind unter der Brücke vermischten und aus allen Ecken widerhallten. Der Regen wurde immer stärker, sodass man irgendwann nicht einmal mehr den Dom durch diesen Schleier erkennen konnte.

Aus der Ferne hörte ich ganz leise die Geräusche von laufenden Füßen. Sie wurden immer lauter und schienen auf mich zuzukommen. Anscheinend hatte noch wer das Wetter unterschätzt und suchte jetzt genauso Unterschlupf unter der Brücke.

Die Schritte waren schließlich auch trotz des prassenden Regens deutlich zu hören und zu diesen Schritten zugehörig sah man dann auch die dunklen Umrisse eines Menschen, der durch das Dunkle rannte.

Der Schatten kam immer näher und die Laufgeräusche immer lauter, bis er schließlich unter der Brücke stand und so vor dem Regen geschützt war. Da es hier unten kaum Licht gab, schien er mich nicht bemerkt zu haben, denn statt auf mich zu achten, ging die Person erst mal in die Knie und begann tief nach Luft zu keuchen.

Ich starrte die Person die ganze Zeit an, wie sie dort zu Boden kauerte und die ganze Zeit nach Luft schnappte, und versuchte trotz des spärlichen Lichts zu erkennen, wer da eigentlich nicht weit entfernt stand. Doch es war nichts zu erkennen, vor allem nicht aus dieser Position.

Das Atmen wurde ruhiger und die Person begann sich, zwar immer noch keuchend, wieder aufzurichten.

"Kai?", entfuhr es mir.

Der Schatten vor mir zuckte zusammen und drehte erschrocken den Kopf hin und her, bis er mich in etwa zehn Metern vor sich sah. Die Augen begannen mich zu fixieren.

Wieder schlug in weiter Ferne ein Blitz ein und erleuchtete alles und für Bruchteile von Sekunden konnte ich ihn jetzt klar sehen und somit auch er mich.

"Fritz?", fragte er leise zurück.

"Ja?"

"Was machst du denn hier?"

"Das Gleiche wie du! Schutz vor dem Regen suchen."

Es herrschte wieder Ruhe zwischen uns beiden und wir starrten uns einander nur an. Zwischendurch immer wieder die einschlagenden Blitze am Horizont, die uns immer wieder für einen Moment den Blick auf den anderen Preis gaben.

"Soll ich dich nach Hause fahren?", durchbrach Kai schließlich die Stille.

"Wie das?", fragte ich stutzig, ihn immer noch anstarrend.

"Mit meinem Auto", und deutete dabei auf einen alten Golf, der weiter hinten auf einem Parkplatz unmittelbar neben der Brücke stand. Ich nickte nur und starrte ihn weiter an. Auch er machte vorerst keine Anstalten sich in Bewegung zu setzen, sondern starrte zurück. Immer wieder mit den Blitzen am Horizont.

"Kommst du?", fragte er dann doch schließlich, als er sich aufmachte in Richtung Auto zu gehen. Schwerlich löste ich mich aus meiner Starre und ging in einem gewissen Abstand hinterher. Er schloss erst mir die Tür auf und ließ mich einsteigen, bevor er zur Fahrertür ging und sich dort selbst in den Sitz fallen ließ und die Tür hinter sich ins Schloss fallen ließ.

Hier sah ich ihn jetzt richtig, wie er mit vollkommen durchweichten Klamotten dasaß und durch die Frontscheibe starrte, auch wenn man kaum etwas erkennen konnte.

Der Regen prasselte immer noch so stark, dass sich die Tropfen auf der Scheibe in alle Richtungen verteilten und keinen klaren Blick auf irgendetwas zuließen. Unterlegt von diesem dumpfen Geräusch der auftreffenden Tropfen.

Ich bemerkte gar nicht, wie ich ihn die ganze Zeit anstarrte, bis er schließlich kicherte und sich in meine Richtung drehte und mir direkt in die Augen sah. Ein warmer Schauer kroch mir den Rücken hinab und ließ sich alle Härchen aufstellen.

"Warum lachst du?", fragte ich mit heiserer Stimme.

"Weil ich es komisch finde, dass wir uns erst hier bei so einem Unwetter treffen müssen, damit du mich so anschaust."

"Wie schaue ich denn?"

Statt mir eine Antwort zu geben, nahm er mein Kinn zwischen die Finger und begann mich zu küssen. Erschrocken über diese Reaktion zuckte ich bei der ersten Berührung innerlich zusammen. Es fühlte sich an, als wenn Tausende kleiner Nadeln in meine Haut stachen. Es war aber alles andere als unangenehm. Es war einfach nur so intensiv.

Nach diesem ersten Schock ließ ich einfach gewähren und erwiderte seine Küsse. Ganz vorsichtig begannen unsere Lippen miteinander zu spielen. Schließlich spielten nicht nur unsere Lippen miteinander ...

...In eine Decke gehüllt lagen wir schließlich eng aneinandergekuschelt auf den zurückgelassenen Sitzen und ich habe keine Ahnung, wie dieses damals funktioniert hatte. Auch wenn das Ambiente nicht gerade das Schönste war, so fühlte ich mich doch wohl. Ich genoss es einfach in Kais Armen zu liegen und seinen warmen Körper zu spüren.

"Was war das jetzt eigentlich?", durchbrach seine Stimme schließlich die Stille.

"Es war schön. Nimm es einfach so. Schön, mehr nicht."

"Ok, dann war es halt einfach schön", wiederholte er meine Worte. "Dennoch sollten wir jetzt nach Hause." Stillschweigend löste er sich von mir und zog sich seine nassen Klamotten über. Ich tat es ihm gleich und schnallte mich kurze Zeit später an, als er den Motor aufheulen ließ und anfuhr.

Das Gewitter hatte sich verzogen, die Dunkelheit war geblieben. Auch der Wind hatte sich wieder gelegt, aber die frischere, angenehmere Luft war zum Glück geblieben. Es fühlte sich schon förmlich an wie eine Erlösung, endlich wieder durchatmen zu können, ohne dass es in den Bronchien brennt und vor allem, dass man auch wieder einfach den kleinen Finger krumm machen konnte, ohne dass dabei Schweißflüsse ausbrachen.

Ich war so frei und drehte das Fenster des Golfs herunter und ließ mir die frische Luft um die Nase wehen, während Kai geradeaus starrte und auf den Verkehr achtete.

Die Straßen waren noch so übernässt, dass die Gischt der vor uns fahrenden Autos uns kaum etwas sehen ließen. Langsam ließ Kai das Auto vor meinem Haus ausrollen.

"Ich glaub, da wären wir", durchbrach er erneut als erstes die Stille.

"Ja ... ähm … ", geriet ich ins Stottern und wusste nicht, was ich sagen sollte, " ... dir noch eine schöne Nacht."

"Dir auch", lächelte er mich an und hielt mir seine Hand entgegen. Völlig verdutzt schüttelte ich diese und stieg aus, um dann noch einmal durch das geöffnete Fenster hineinzuschauen.

"Was war das jetzt?", fragte ich verdutzt.

"Wie du vorhin sagtest? Es war einfach nur schön", lächelte er mich an, trat auf das Gaspedal und fuhr davon. Verwirrt schleppte ich mich die Treppen hoch, kroch unter meine Decke und schlief ein....

Merkwürdigerweise verbrachte ich diese Nacht traumlos. Nichts, aber auch gar nichts blieb mir in Erinnerung. Dennoch wachte ich den Morgen darauf so munter auf, wie ich es selten war. Nichts mit Morgenmuffeligkeit oder ähnlichem. Ich sprang auf, unter die Dusche und wollte dann auch zur Tür hinauseilen.

Und erst in dem Moment, als ich die Türklinke schon fast hinuntergedrückt hatte, da fiel mir ein, was gestern eigentlich geschehen war.

Die Türklinge glitt fast wie von selbst wieder in die Ausgangsposition und meine Hand hing kraftlos auf ihr. Und jetzt schoss mir die Szene wieder durchs Gedächtnis, vor allem natürlich, was letztendlich im Auto geschah.

Wie jemand Fremdes schlich ich gedanklich ums Auto und konnte aus jedem Blickwinkel miterleben, was dort geschah, wie Kai und ich ... schnell schüttelte ich den Kopf, um diese Gedanken wieder loszuwerden. In diesem Moment hätte ich wohl alles dafür getan, um die Vorfälle wieder rückgängig zu machen, oder doch nicht? Ich war einfach zu verwirrt und fragte mich selbst, wie ich durch diese Tür gehen sollte und dabei vielleicht auf Kai treffen könnte? Wie sollte ich mit einer derartigen Situation umgehen?

Bevor ich auch nur weiter denken konnte, setzten sich meine Glieder nahezu von selbst in Bewegung. Mit einem harten Griff ging die Türklinke nach unten und ich ging voller Selbstbewusstsein und mit hartem Schritt die Treppe hinunter.

Zumindest musste es so gewirkt haben, während sich in mir alle Eingeweide zusammengezogen hatten und bei jedem Schritt davor Angst hatten, auf Kai zu treffen.

Und es passierte: Kai stand vor seiner Tür und werkelte mit dem Schlüssel am Schloss. Das Komische war nur, er wirkte genauso nervös, wie ich mich innerlich fühlte. Seine Hand glitt mit dem Schlüssel immer wieder hektisch und zitternd über das Schloss. Aber es dauerte noch eine kleine Ewigkeit, bis der Schlüssel einrastete.

Erschrocken drehte er sich in diesem Moment um, schließlich bin ich nicht stehen geblieben, um mir dieses Schauspiel anzuschauen, sondern bin selbst auch weiter vorangegangen. Dennoch hatte er mich wohl erst dann bemerkt, als ich schon unmittelbar hinter ihm stand und er so einen riesigen Schrecken bekam.

"Ähm ... Hallo", hatte er sich mit einem Satz herumgedreht. Seine Hände und seine Augen wirkten immer noch hektisch und vor allem wirkten sie auch so, als wenn sie nicht wüssten wohin. Mit seinen Händen strich er sich mal durchs Haar, mal steckte er sie für ein paar Momente in die Hosentasche. Seine Pupillen flackerten die ganze Zeit im Weiß des Auges. Mal sah es aus, als fixierte er mich für den Bruchteil eines Moments an, im gleichen Moment wirkte es so, als wenn sie auf den Fußboden starrten.

Ein nervliches Wrack stand vor mir, zumindest wirkte es so.

"Hallo", erwiderte ich. "Sorry, wenn ich dich erschreckt haben sollte."

Mit seiner rechten Hand strich er sich erneut durchs Haar, während seine Mundwinkel hektisch zuckten, und versuchten ein Lächeln zu formen.

"Kein Problem, ist ja halb so wild. Aber ich muss dich jetzt dennoch hier alleine lassen, die Arbeit ruft!" Und noch bevor ich darauf antworten konnte, war Kai auch schon hinter der Tür verschwunden und diese ins Schloss gefallen.

Schon seltsam Kai so erlebt zu haben. Derjenige, der sonst eigentlich immer der Schlagfertigere war, dieser jemand war jetzt so nervös und hektisch. Man konnte ihm förmlich ansehen, dass etwas nicht mit ihm stimmte und ich hoffte nicht, dass dieses irgendwas mit gestern zu tun haben sollte. Es war schon kompliziert genug, es musste jetzt nicht noch mehr gesteigert werden.

Doch etwas erleichtert, dass ich diesmal nicht die Nerven verloren hatte, ging ich weiter zur U-Bahn und somit zur Arbeit, ohne jedoch dabei den Gedanken daran zu verlieren, wie sollte es weiter gehen, bzw. was war das eigentlich?

Schon auf der Fahrt zur Arbeit blieb dieser Gedanke bzw. diese Frage penetrant im Vordergrund. Und je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr fragte ich mich, was denn allgemein besser wäre?

One-Night-Stand oder gar mehr? Und bei mir blieb der Gedanke hängen, dass es eigentlich am sinnvollsten wäre, diesen ganzen Tag zu vergessen und wieder zu einem freundschaftlichen Verhältnis zurückzukehren. Es war einfach falsch, was geschehen ist. Man konnte die Zeit zwar nicht zurückdrehen, aber man kann wieder auf ein normales Verhältnis zueinander kommen.

Und bei mir setzte sich dieser Gedanke immer mehr fest, dass es hätte nicht passieren dürfen und wir, also Kai und ich, diesen ganzen Zwischenfall vergessen müssten.

Und mit dieser Überzeugung fuhr ich dann auch nach Hause. Ich war mir sicher, dass dieses der einzige Weg war, und so schlenderte ich erhobenen Hauptes und mit einem breiten Lächeln auf den Lippen in Richtung Haus.

Kai machte sich jetzt wieder an seiner Tür zu schaffen, aber er wirkte diesmal weniger hektisch oder nervös. Kontrolliert und souverän wirkend kam er mir dann auch in der Haustür entgegen.

"Hallo Fritz ... Ich glaub wir müssen da mal über etwas reden!", setzte dann auch Kai an, bevor ich überhaupt zu Wort kommen konnte.

"Hallo ... Wollte dich auch grad für einen Moment beiseite nehmen. Anscheinend hätten wir besser gestern gleich darüber reden sollen."

"Hätten wir wohl ...", bestätigte Kai, "aber es ist ja noch lange nicht zu spät. Wie siehst du denn diese Geschichte?", schaute er mich jetzt fragend mit großen Augen an.

"Weiß nicht ...", und dahin war meine sichere Haltung. "Wie siehst du das denn?"

"Weiß ich genauso wenig. Aber im Grunde möchte ich unsere Bekanntschaft, oder gar Freundschaft und den Haussegen hier nicht gefährden."

"Genauso dachte ich auch", stimmte ich ihm zu.

"Ach und jetzt nicht mehr?"

"Doch, doch, ich wollte bloß nicht der Erste sein, der dieses ausspricht und den anderen dabei vielleicht verletzt."

"Oh wie feinfühlig", lachte Kai jetzt höhnisch.

"Nun mach dich auch noch lustig über mich! Na danke."

"Hey, war nicht bös gemeint, Kleiner", war dann seine Stimme von einem Moment auf den anderen wieder sanft wie ein schmeichelnder Wind. Er berührte daraufhin vorsichtig mit dem Daumen meine Wange und strich sanft hinüber. Ich konnte mich dieser Berührung nicht erwehren und bekam stattdessen eine Gänsehaut, die mir bis in die Haarspitzen kroch.

"So jetzt aber genug ...", riss mich Kai aus meinen Gedanken. Er wirkte aber komischerweise genauso verwirrt. "Ich muss dann jetzt auch los." Seine Stimme war auf einmal wieder leicht zittrig und auch seine Augen wichen meinem fragenden Blick aus.

"Mach’s gut!", und verschwunden war er.

"Tschööö", wollte ich noch hinterher rufen, aber ich denke nicht, dass er es noch gehört hatte.

Ich stand noch ein paar Momente etwas verdutzt da und schaute Kai nach, bis ich mich dann doch zusammenriss und noch immer leicht in Gedanken nach oben ging. Hinter mir ließ ich erst mal die Tür ins Schloss fallen und mich aufs Sofa.

‚Heute ist Freitag’ ging es mir durch den Kopf. Und ich realisierte erst jetzt, dass ich heute endlich mal wieder ausgehen konnte, um mich abzulenken. Bloß mit wem und wohin? Mein Kopf schwirrte durch das Telefonregister und überlegte, wer denn alles in Frage kommen würde. Und noch bevor ich mich selbst entschieden hatte, ging auch schon mein Handy los.

"Hallo?"

"Fritz?", erklang es am anderen Ende der Leitung.

"Ja? Mit wem spreche ich?"

"Hallo. Hier ist Thomas."

"Ach hallo. Tschuldige, aber ich hab deine Stimme nicht gleich erkannt. Was gibt es denn?"

"Ich wollte mich vor allem noch einmal für gestern bedanken."

"Da gibt’s nichts zu bedanken ..."

"Komm. Nimm es einfach an und spiel jetzt nicht den Vornehmen!", fiel er mir ins Wort.

"Danke", konnte ich darauf nur antworten. Letztendlich hat er ja auch recht gehabt, jedem geht es runter wie Öl, wenn man derartig gelobt wird.

"Und dann wollte ich vor allem fragen, ob du Lust hast was trinken zu gehen?"

"Wieso nur trinken gehen? Können ja lieber gleich ein bisschen feiern gehen?"

"Na, wenn du meinst!", seine Stimme wurde etwas leiser.

"Vielleicht kommt ja auch David mit?", fragte ich weiter, schon den Abend verplanend.

"Denke ich nicht."

"Wieso das?", wurde ich jetzt stutzig.

"Weil er sich sicherlich wieder mit seinem neuen Fuckbuddy ..."

"Moment, für derartige Sachen ist das Telefon ungeeignet", unterbrach ich ihn diesmal einfach, da ich merkte, dass wieder mehr im Argen lag, als gestern noch erzählt wurde.

"Kannst ja erst mal vorbeikommen, dann erzählst du mir diesmal, was noch alles vorgefallen ist und danach gehen wir auf ne Party, um deinen Trübsal wegzublasen."

"Wenn du meinst", reagierte Thomas noch immer skeptisch.

"Jep, meine ich. Keine Widerrede! Also um 20 Uhr bei mir?"

"Ok. Und nochmals danke."

Wir verabschiedeten uns noch einmal schnell und dann war das Gespräch auch wieder beendet. Ich finde es oftmals einfach unpassend, über derartige Dinge am Telefon zu reden. Letztendlich hat man nie die Möglichkeit, die Gesten des anderen zu sehen. Jemandem dabei in die Augen zu schauen, oder gar jemanden zur Not in den Arm zu nehmen.

Somit hatte sich das Problem erledigt, was man diesen Abend machen würde und da auch nicht wirklich viel Zeit bis 20 Uhr blieb, machte ich mich dann auch gleich daran, mich herauszuputzen.

Und dazu gehört es nicht nur, wie bei so vielen anderen männlichen Wesen, die Seife drei Sekunden anzuschauen, sondern sie auch ausgiebig zu nutzen. Letztendlich stand ich dann wieder eine Dreiviertelstunde pfeifend und singend unter der Dusche. Und dies war wieder einmal fünf Minuten zu lang. Denn genau in dem Moment, als ich mich abgetrocknet hatte, klingelte es an der Tür. So hieß es nur noch schnell in die Klamotten zu springen und zur Tür zu eilen.

"Hallo Thomas. Komm erst mal rein, mach’s dir gemütlich, ich bin gleich wieder da."

Ich eilte zurück ins Bad, gelte mir noch die Haare, etc., etc., zehn Minuten später kam ich dann völlig außer Atem zurück in mein Wohnzimmer, wo Thomas es sich schon auf dem Sofa bequem gemacht hatte, sodass mir nur noch der Sessel übrig blieb.

"Willst du was zu trinken?", versuchte ich dann den guten Gastgeberstatus noch zu retten.

"Gerne."

"Was denn?"

"Was hast du denn?"

"Cola, Kaffee, Prosecco, Wasser?"

"Prosecco?” fragte er etwas stutzig und begann zu grinsen.

"Was gibt’s da zu lachen?"

"Ach nichts, nur ..."

"Ja, ja. Es ist das Tuckengesöff schlechthin. Aber was kann ich denn dafür, dass es so gut schmeckt? So etwas hab ich dann halt standardmäßig immer auf Vorrat hier. Also Prosecco?"

"Klar, wenn du es schon in derartigen Massen hier zu haben scheinst", grinste er mich weiter spitzbübisch an.

Mit einem mürrischen Gesichtsausdruck verzog ich mich dann in meine Küche und holte zwei Gläser und eine Flasche vom Tuckengesöff. Mit einem gekonnten Griff war die Flasche kurzer Hand geöffnet und dann standen auch schon zwei gefüllte Gläser vor uns auf dem Glastisch.

"Und nun erzähl. Was ist zwischen dir und David noch vorgefallen?"

"Gleich so direkt?", fragte er etwas überrascht.

"Gleich so direkt!", wiederholte ich seine Worte.

"Ich habe ihn gestern mit jemand anderem erwischt?"

"Wobei?"

"Beim F*****? Sorry für das Wort, aber da passt wenigstens die Härte des Wortes dazu!"

"Und jetzt noch einmal von vorne, damit ich auch die Zusammenhänge verstehe!", forderte ich ihn dann auf.

"Kannst dich ja sicherlich noch an gestern erinnern ..." Oh ja, und wie ich das konnte, so einen Tag hatte ich selten. Ich nickte ihm also einfach nur zu, wobei mir natürlich ganz andere Szenen durch den Kopf schossen, als er sicherlich meinte.

"... und irgendwann bin ich dann ja auch wieder weggegangen und dann wollte ich eigentlich auch direkt nach Hause. Aber als ich dann auf dem Bahnsteig stand, stieg ich doch in den Zug Richtung David. Irgendetwas führte mich instinktiv dahin. Ohne nachzudenken folgte ich dann auch diesem Instinkt und stand letztendlich vor Davids Wohnung. Ich drehte den Schlüssel um und ging hinein. Ich schlich durch den Flur und hörte aus Richtung Schlafzimmer immer heftiger werdendes Gestöhne ..." Thomas Pupillen hatten bei dieser Erzählung einen grauen Schleier angenommen und auch seine Gesichtszüge waren hart, fast unerbittlich geworden.

"... ich schlich also immer weiter heran. Immer so leise wie möglich, damit man mich ja nicht hörte. Keine Ahnung warum, aber irgendwas in mir sagte es mir und ich gehorchte.

Ich schlich also näher, bis ich durch einen Spalt in der Tür sehen konnte, was dort geschah." Er holte tief Luft und musste dann doch einmal heftiger Schlucken. Es berührte ihn doch mehr, als er sich selbst eingestand.

"Ich sah, wie David sich von irgend so einem Anabolikamonster f***** ließ." Seine Stimme war hart und zugleich reumütig. Es wirkte wie ausgespuckt. Ich ließ ihm jetzt erst mal die Zeit sich wieder zu sammeln und die Möglichkeit von selbst weiter zu erzählen, was ihm noch auf dem Herzen lag.

"Ich war erst einmal so von dieser Situation geschockt, dass ich wie festgefroren dastand und diesem Treiben ungläubig zusah. Mein Körper verkrampfte sich und ich konnte gar nichts mehr. Am liebsten hätte ich den Kopf sofort weggedreht, oder wäre davongelaufen, aber es ging nichts. Mir wurde mit jedem Moment übler, den ich diesem Treiben mitwohnen musste. Aber es ging nicht.

Erst als es nicht mehr auszuhalten war, riss ich mich aus meiner Starre und lief diesmal davon. Mir war gleichgültig, ob ich gehört wurde, oder ob sie in ihrem Treiben gar nichts mehr mitbekamen.

Ich schmiss den Wohnungsschlüssel einfach nur auf die Erde, zog die Tür hinter mir zu und rannte hinaus auf die Straße. Ich rannte und rannte und erst einige Häuserecken später blieb ich stehen und atmete erst einmal tief ein und aus, bevor ich dann nach Hause ging, einfach nur noch in mein Bett fiel und bis heute durchschlief. Prost!"

Thomas erhob das Glas und stieß mit mir, auf was auch immer, an.

"Und wie geht es dir jetzt?", fragte ich nach, vor allem in Bezug auf diesen Abend. Es klang nicht wirklich danach, dass er noch in Partylaune wäre.

"Eigentlich ziemlich gut. Letztendlich habe ich in der Nacht dann doch gemerkt, dass ich eigentlich sogar ziemlich froh darüber bin, dass etwas Derartiges so früh herausgekommen ist. Noch bevor irgendwelche Gefühle im Spiel waren. Wir kannten uns ja gerade mal eine Woche, als so etwas passierte und schlimmer wäre es garantiert nach ein paar Monaten gewesen. Aber wie ich ja gestern sowieso schon erzählte, war es ja absehbar, dass aus ihm und mir nichts werden würde."

"Geht’s dir wirklich gut?", fragte ich noch stutzig nach.

"Ja klar, sicherlich müsste ich lügen, wenn ich jetzt sage, es greift mich gar nicht an. Aber es ist halb so wild. Die Erleichterung überwiegt, dieses so früh wie möglich erfahren zu haben. Und somit geht es mir relativ gut. Ich bin nur etwas sauer auf mich, dass ich aus ihm diese Person gemacht habe ..."

"Und wie ich dir gestern schon versucht habe zu erklären, bist du nicht daran Schuld, was aus ihm geworden ist. Letztendlich war die Restauration seines Äußeren schon lange überfällig. Er hatte sich nur immer Greta und mir verweigert. War halt nur Pech, dass er es bei dir nicht mehr gemacht hat. Und es zeigt einfach nur leider seinen schwachen Charakter, dass er jetzt auf einmal dieser Droge Beliebtheit und Schönheit verfallen ist." Ich zuckte nur mit den Schultern. Letztendlich wusste selbst ich schon, dass Greta und auch ich den Kontakt in Zukunft verlieren werden, wenn sich David nicht wieder verändern würde. Und dennoch ist es sein Leben und ich konnte ihm nicht böse sein für seine Entscheidung so zu leben, wie er es jetzt tat. Vielleicht war das gerade diese Weise mit der er glücklich werden würde. Und so hatte er gottverdammt einfach noch einmal das Recht, sich so zu geben und so zu leben.

"Dennoch schade", zuckte jetzt auch Thomas mit den Schultern. "Jetzt muss auch ich wieder von ganz vorne anfangen. Egal, vielleicht ist ja heute Abend jemand für mich dabei, wenn nicht, dann wird er irgendwann kommen. Oder aber auch nicht. That’s life. Prost."

Thomas erhob das Glas und wir stießen noch einmal an.

"Auf uns und dass wir endlich auch mal Glück haben werden", gab ich dann noch zum Besten. Es klingt zwar im Nachhinein betrachtet, einfach und naiv, aber in diesem Moment passte es einfach. Schließlich wollte ich auch endlich mal wieder Ruhe in mein Leben bekommen.

Wir schlürften unseren Prosecco noch zu Ende, bevor wir uns dann doch auf den Weg machten. "Auf was für Typen stehst du denn?", fragte er mich in der U-Bahn.

"Kann man so nicht beschreiben. Es muss einfach funken."

"Keine Vorstellung? Rein gar nichts?"

"Natürlich hat man immer irgendwie einen Typus, auf den man besonders steht. Am Ende ist jedoch selbst dieses Bild hinfällig. Doch eines muss er haben, fällt mir grad so ein. Es muss ein Mensch sein, bei dem ich mich anlehnen kann, der sich aber auch gleichzeitig bei mir anlehnen kann und auch mag. Ich will weder ein Weichei, das sich immer nur bei mir anlehnen kann, noch nen Macho, der sich nie traut Gefühle zu zeigen. Einfach einen gewöhnlichen Typen", redete ich mich selbst in einen Schwall.

"Also keiner dieser Junghuschen", kommentierte Thomas weiter.

"Richtig. Lieber etwas älter, aber dafür mit der Gewissheit, dass diese Person weiß, was sie will und vor allem, dass diese Person sich nicht mehr hinter einer Fassade versteckt. Gleichgültig, ob diese Fassade nun einfach Make-Up, Szene oder vielleicht auch ein ungeoutetes bzw. verstecktes Leben ist. Wieso fragst du eigentlich?"

"Vielleicht finden wir ja heute Abend jemanden, der auf dich zugeschnitten ist!", grinste er mich an.

"Dazu brauch ich glaub ich weniger deine Hilfe, aber danke fürs Angebot. Schlussendlich weiß ich doch auch selbst, was, bzw. wen ich will. Dennoch danke."

"Ich halt dennoch mal Ausschau", grinste er mich von der Seite an, während wir in unsere Endstation einfuhren ...

... Der Gedanke an frühere Zeiten wird immer wieder aufs Neue erweckt, wenn man in diese ‚Kneipe?’, dieses ‚Lokal?’, oder was immer es auch sein mag, hineingeht. Immer noch steht vor dem Laden eine Art Türsteher, der darauf achtet, wer in diesen Laden hineinkommt und vor allem, dass es vor dem Laden nicht zu lauteren Auseinandersetzungen kommt.

Man geht durch eine schwer wirkende, schwarze Tür, bei der nur noch dieser Guckschlitz fehlt. Aber es erinnert zu stark daran.

Jetzt noch durch einen sehr kurzen, dunklen Flur und man läuft direkt ins tummelnde Leben. Eine große Bar erstreckt sich über den Raum und in einer Ecke gibt es eine winzige, improvisierte Tanzfläche. Nirgends gibt es Fenster, geschweige denn natürliches Licht.

Alles ist künstlich in dieser Welt, nicht nur die Menschen. Und falls es in diesem Laden wirklich mal Fenster gegeben haben sollte, so wurden diese schon vor Urzeiten zugehängt, vernagelt, oder gar zugemauert.

Aber in diesem kleinen Raum schimmert das Leben in allen erdenklichen Farben. Zum einen natürlich die überdrehten Tucken und Tunten, die in ihrer exaltierten Art versuchen, jegliches Interesse auf sich zu ziehen. Dabei vergessen sie immer wieder, dass den meisten hier im Raum ihre Erscheinung grundsätzlich egal ist. Mit etwas Derartigem kann man noch bei Oma zum Sonntagskaffee provozieren. Hier interessiert es einfach keine Sau mehr.

Auf der anderen Seite die von mir so bezeichneten Heten-Schwuppen. Diese wollen auf Teufel komm raus so maskulin wie möglich wirken. Am besten, man verwechselt sie sofort mit einem heißen Mädelsaufreißer. Komischerweise sind diese bis heute die begehrtesten Typen. Jeder will sie und jeder hat irgendwann mal einen Derartigen für fünf Minuten. Und wenn’s nur im Gebüsch ist.

Ab und an schwirren dann immer wieder ein paar Herren älteren Semesters durch den Raum. Es bleibt außer Frage, was diese Herren wollen. Sie müssen sich noch einmal ihre Jugend beweisen, indem sie sich für ein paar Euroscheine einen billigen Stricher anlachen.

Bezeichnenderweise mit Bierbauch und Halbglatze und einer beigen Regenjacke.

Es kommt ab und an doch noch vor, wenn auch seltener, dass sich sogenannte Frischlinge unters Volk mischen. Simpel zu erkennen. Sie stehen erst einmal staunend da und können die Welt um sich herum noch nicht erfassen. Alles wirkt auf sie neu und dennoch versuchen sie bei ihrer inneren Erregung die Coolness heraushängen zu lassen. So stehen sie meist in der Ecke und starren die Leute an, die ihnen gefallen. Schaut jedoch jemand zu ihnen zurück, so verändert sich ihre Gesichtsfarbe in ein Purpur und die Augen schauen nicht zurück, sondern auf die eigenen Zehenspitzen.

Üblicherweise werden diese dann auch direkt von irgendwem angesprochen. Und sie glauben sofort die große Liebe gefunden zu haben. Zumindest so lange, bis sie am nächsten Morgen alleine im Bett liegen und letztendlich auch alleine frühstücken müssen.

Und schließlich gibt es noch die Langweiler, zu denen ich mich auch zähle. Dieses soll nicht heißen, dass wir wirklich langweilig sind, sondern einfach nur, dass wir nicht mehr auffallen, bzw. auffallen müssen, da wir wissen, was wir wollen. Wir stehen weder auf cool getrimmt in der Ecke und starren die Sahneschnitten an. Noch müssen wir uns durch unsere Coolness beweisen, dass wir immer noch hetero-like wirken. Noch müssen wir Geld dafür bezahlen, damit ein 18jähriger sich von uns f***** lässt. Wir tragen auch keine schillernden Strasssteine auf unseren Gürteln und brechen uns auch nicht bei jeder kleineren Bewegung das Händchen.

Wir sind einfach wir selbst. Weder prollig noch tuckig. Aber alle haben doch etwas gemein. Niemand in diesem Laden zeigt sein wahres Gesicht. Jeder steht hinter einem schützenden Wall. Bei dem einen ist es die Arroganz, bei einem anderen ist es ein Lächeln und bei wieder anderen ist es das Make-up, Geld, oder sonst irgendetwas.

Zeige hier etwas Persönliches und du wirst zerfleischt. Jeder weiß es, jeder hasst es, doch niemand kann etwas daran ändern. Also leben wir hinter unserer Maske.

Aber heute war es besonders erschreckend. Man kommt durch den kleinen Flur herein, wird erst einmal durch das grelle Licht geblendet, und als sich dann endlich meine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, da kam der wirklich große Schock.

David stand am anderen Ende des Raumes. Soweit kein Problem, aber er stand bei der Gruppe, bei der ich ihn nicht einmal in Ansätzen vermutet hätte. Er stand umringt von irgendwelchen Tucken, die sich allesamt das Händchen gebrochen hatten.

David war also seit neustem eine Tucke und sein Kleidungsstil ging auch ganz drastisch in diese Richtung. Es war noch nicht einmal der Stil, den er uns allen am Montag vorgeführt hatte. Es wurde immer extremer. Diesmal trug er ein bauchfreies Top von D&J. Erschreckend, wie sehr sich doch ein Mensch verändern konnte. Aber eines tat er genauso, wie man jetzt schon nach erst einer Woche bemerkte. Er ging regelmäßig Sport treiben. Sein Bauch wirkte schon deutlich dünner, würde er so weitermachen, könnte er sich bald absolut in die Reihe der Schönheitstucken stellen.

Eigentlich müsste mir das ja egal sein, schließlich war es ja sein Leben und nicht meines. Und ich hielt mir wieder einmal vor Augen, dass es allein sein Wille ist, nicht unserer, und solange er damit glücklich ist, so soll er auch so weiterleben.

Man konnte richtig sehen, wie ihre Blicke immer wieder durch den Saal wanderten und jeden einzelnen von oben bis unten musterten. Für das I-Tüfpelchen sorgte schlussendlich dann noch das Gezeter über deren Kleidung, oder gar deren Allgemeinerscheinung.

Und schließlich kam, was kommen musste. Ihr Blick blieb an Thomas und mir hängen und schneller als man erwarten konnte, steckten sie ihre Köpfe zusammen und berieten.

Im Grunde hätte es mir ja egal sein können, was sie über wen erzählten. Aber andererseits konnte ich nicht anders und wurde immer neugieriger, was sie über Thomas oder über mich losließen. Und so merkte ich gar nicht erst, wie ich immer mehr in deren Richtung starrte.

Bis dann einer dieser Tucken mir zuwinkte und ein Handküsschen rüberwarf.

"Hey, die stehen auf dich", knuffte mir Thomas in die Seite. "Aber bisher war mir nicht bewusst, dass du auf Typen wie diese stehst."

"Tue ich auch gar nicht!", erwiderte ich barsch.

"Dann starr lieber auch nicht so penetrant hin. Sonst könnte man etwas anderes denken. Noch viel schlimmer, sie könnten etwas anderes denken."

"Starre ich so sehr?", fragte ich verdutzt.

"Ja. Und man weiß nicht recht zu deuten, wie es gemeint ist."

"Ein Kölsch?", fragte ich dazwischen und Thomas nickte mir einfach nur zu.

Ich orderte zwei Kölsch und just in dem Moment, als ich mich mit Thomas an einen der Bistrotische verziehen wollte, stand dann plötzlich ein tuckiges Etwas hinter mir, das mit exaltierter Stimme nahezu fast schrie.

"HALLO FRITZ!", und als ich mich dann umdrehte, erschrak ich fast zu Tode. Dort stand David und lächelte mich an, als hätte man sein Grinsen im Gesicht fest getackert.

"Schön, dass du auch hier bist." ‚Seit wann ist Verona Feldbusch männlicher als David’, schoss es mir einfach nur durch den Kopf.

"Ja, ich freue mich auch, hier zu sein." Bei so etwas konnte man doch nur die Stirn runzeln. Und mit einem Mal war Davids Mund ganz nah an meinem Ohr und begann wieder in normaler Lautstärke zu reden.

"Spiel bitte einfach mit. Die sind fast alle scharf auf dich. Spiel einfach mit und du bekommst garantiert den schärfsten Feger des Ladens ab." Er ging mit dem Kopf wieder etwas mehr auf Distanz und drehte ihn dann zu seinen ‚Freunden’.

"Schaut mal, wer hier ist", rief er weiter, "der Fritz ist da." David ergriff meine Hand und zog mich wie ein kleines Hündchen hinter sich her.

"Darf ich dir vorstellen. Das sind Daniel, Nils, Benny, Stefan, Markus und Timo." Und zeigte dabei mit seinem abgebrochenen Händchen die Runde entlang. Das Problem, nahezu jeder dieser Geschöpfe zwinkerte mir zu und wedelte mit seinem Händchen.

"Hallo", erwiderte ich noch etwas unbeholfen und drehte mich einmal wieder um in Richtung Bar, wo Thomas immer noch stand. Dieser begann jedoch sich schon vor Lachen zu biegen.

"Heute so alleine hier?", fragte mich dann eines dieser Wesen.

"Nein, da hinten steht noch meine Begleitung, auch Thomas genannt."

"Thomas war das nicht ...", warf gleich eines der anderen Wesen, es könnte mal ein Nils gewesen sein, in Richtung David, der auch prompt darauf antwortete.

"... genau dieser Thomas. Ihr wisst ja schon."

"Was wissen sie?", interessierte es mich letztendlich doch, was David wohl alles erzählt hatte.

"Na, dass er ein kleiner Versager ist. Nicht einmal im Bett war er wirklich gut", gab es auf meine Frage eine Antwort. Jedoch nicht aus Davids Mund, den ich eigentlich angesprochen hatte. Sondern von einem der anderen Wesen.

"Ach so, er war also schlecht?", und schaute dabei immer noch David an. Der für einen Moment verlegen wurde, um gleich darauf eine Fassade aus Arroganz und Überheblichkeit aufzusetzen.

"Sicherlich war er das. Sonst hätte ich ja nicht mit ihm Schluss gemacht?", erwiderte er schnippisch.

"So, so, die Dame hat also mit ihm Schluss gemacht?", wiederholte ich seine Worte.

"Ja natürlich, wer denn sonst?", zickte David zurück.

"Vielleicht Thomas. Weil du ihn betrogen hast und im Grunde behandelt hast, wie Müll. Kleines, verdreh hier nicht die Dinge."

"Dann war es halt so, mein Gott", mischte sich jetzt dieser Timo ein "Hätte er etwa weiter mit diesem da zusammen sein müssen", bei diesen Worten vollführte dieser Timo nur eine abschätzende Geste in Richtung Thomas. "Schätzchen, reg dich ab und gesell dich zu uns. Du wirst schon deinen Spaß haben!", redete Timo weiter und zwinkerte mir zu.

"Mein Gott, wie billig", musste ich anfangen zu lachen.

"Wie bitte?", plusterte sich dieser Timo vor mir auf, wie ein Huhn, das kurz davor war, ein Ei zu legen.

"Wie billig, hast du schon richtig verstanden."

"Liebchen, wenn wir billig sind, was ist dann erst dieser Thomas", Timo sagte diesen Namen, als würde er sich dabei förmlich übergeben.

"Tja, dann ist er halt billig. Aber er hat eines mehr als ihr!"

"Was denn bitte?", mischte sich auch David wieder ein.

"Er hat mich an seiner Seite, Süße." Was diese beiden konnten, das konnte ich auch. In exaltierter Art und Weise drehte ich mich abrupt um und stolzierte wieder in Richtung Thomas.

"Sei froh, wenn du noch einmal eine Chance bei einer von uns bekommst!", schrie mir ein Etwas mit piepsiger Stimme hinterher. Ich drehte mich nur noch einmal um und zwinkerte den Damen, oder Herren, oder was auch immer, einfach nur noch einmal der Reihe nach zu.

Innerhalb weniger Momente stand ich wieder vor Thomas und raunte ihm ins Ohr, dass er einfach nur mitspielen sollte. Ich zog ihn zu mir hoch und gab ihm einen endlos langen Kuss. Und ganz ehrlich, ich muss zugeben, küssen konnte Thomas wirklich richtig gut.

Nach unserer filmreifen Szene drehte ich mich wieder zu der Gruppe um und sah die entglittenen Gesichter. Nahezu alle standen mit offenem Mund da und starrten uns an. Besonders natürlich David, in dessen Augen ich sogar einige Funken Zorn ausmachen konnte.

Dieses war somit wohl der Gnadenstoß für unsere Freundschaft. Seitdem haben wir uns auch nur noch ab und an mal wieder auf Partys gesehen. Zu Anfang grüßten wir uns nicht einmal, sondern sandten giftige Blicke hin und her. Irgendwann wurde dieses aber dann doch zu albern, und wir begannen uns wieder zu grüßen. Zumindest ein ‚Hallo’ bekommen er und ich seit Neuestem wieder heraus. Vielleicht wird aus uns ja mal irgendwann wieder einmal eine Freundschaft, aber bis dahin ist noch ein ziemlich weiter Weg.

Auf jeden Fall sah ich diese entglittenen Gesichter und war mir jetzt sicher, diese ein für alle Mal vom Hals zu haben. Und so drehte ich mich wieder Thomas zu, der vor mir mit zwei Kölschgläsern stand und mich immer noch fragend anschaute.

"Komm mit", flüsterte ich ihm ins Ohr und zog ihn hinter mir her an einen der Bistrotische, die etwas weiter in der Ecke standen, wo man sich unbeobachtet unterhalten konnte.

"Was sollte diese Aktion jetzt?", fragte mich Thomas mit großen Augen.

"Also erst mal. Ich will nichts von dir und ich hoffe, du auch nichts von mir. Sonst hätten wir nämlich ein Problem."

"Nein, keine Angst. Ich dachte, dieses wäre soweit auch klar", schaute Thomas immer noch fragend.

"Also David hat vor diesen Wesen dahinten ziemlich über dich hergezogen. Vor allem, dass du es im Bett nicht wirklich bringen würdest." Und erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich Thomas diese Details erzählte, obwohl sie eigentlich zu verletzend waren.

"Ach so", im gleichen Moment ließ er dann auch den Kopf hängen.

"Hey Thomas. Das ist natürlich nicht wahr. Niemand braucht eine asiatische Nähmaschine, außer vielleicht diese Lästertucken dahinten. Du bist garantiert kein schlechter Liebhaber. Und wenn doch, dann hat David noch lange nicht das Recht, so öffentlich über dich zu reden."

"Ändert das etwa was daran? Er ist schließlich deswegen weg!", wirkte Thomas immer noch etwas platt.

"Nein, deswegen ist er nicht weg. Die anderen hätten dich nie akzeptiert. Du fügst dich einfach nicht in ihr Weltbild ein. Das war Davids Problem. Sie hätten dich nie akzeptiert und er wollte von ihnen akzeptiert werden. Ganz klar, es ist derb und einfach unverzeihlich, so über jemanden hergezogen zu haben. Aber daran ändern konntest du aktiv auch nichts und so hab ich ihnen einfach mal gezeigt, wo der Hammer hängt." Thomas schaute mich verwirrt an.

"Sorry, wenn ich dich gerade etwas durcheinander bringe. Also noch einmal in Kurz, ich habe ihnen eine Lektion erteilt. Nahezu jede warf mir dort die ganze Zeit Handküsschen zu und dann hab ich sie doch alle abblitzen lassen und bin lieber zu ‚so etwas’ wie dir gegangen und habe dich abgeknutscht. Das brachte ihr Weltbild ins Wanken. Schließlich sind sie für sich immer noch die Schönsten und das Begehrenswerteste."

"Und stattdessen knutschst du eine derartige Schabracke wie mich ab, über die sich schon jeder Zweite hier im Laden das Maul zerrissen hat", formulierte er weiter.

"Wenn du es so hart ausdrücken willst, irgendwie schon. Wobei ich dich nicht als Schabracke bezeichnen würde", erwiderte ich und schenkte ihm das aufmunterndste Lachen, das ich besaß.

"Und um dir das zu beweisen, suchen wir heute noch einen schnuckligen Kerl für dich. Und wenn es nicht heute klappt, dann an einem der anderen Abende. Dies hier wird hoffentlich nicht das letzte Mal sein, dass wir uns gesehen haben."

"Ich hoffe doch nicht", schaute er mich noch etwas gequält lächelnd an.

"So und jetzt Schluss mit diesem Trübsal. Auf ex, oder nur noch schlechten Sex!", und hielt Thomas dazu noch das Kölsch zum Anstoßen hin. Ein Grinsen seinerseits folgte, genauso wie das obligatorische Klirren und binnen weniger Augenblicke floss das Kölsch unseren Schlund hinunter.

"Hui, noch mal Glück gehabt", stellte er sein leeres Glas wieder ab.

"Nicht nur du!", noch nach Luft schnappend stellte ich dann auch mein leeres Glas wieder auf den Tisch. "So und jetzt ab ein bisschen Tanzen", und mit dieser Aufforderung hatte ich bei Thomas vollkommen ins Schwarze getroffen. Tanzen war anscheinend nicht wirklich sein Ding. Und natürlich war mir dieses herzlichst gleichgültig, ich griff ihn am Arm und zog ihn hinter mir her bis auf die Tanzfläche.

"So, und ob du nun willst oder nicht, schwing einfach die Hüften im Takt." Man musste ganz klar sagen, die ersten Schritte wirkten bei ihm sehr hölzern und man sah durchaus, dass er sich nicht wirklich wohl dabei fühlte.

Schließlich legte ich ihm beide Hände auf die Hüfte und versuchte ihn ein bisschen zu führen.

"Mach einfach einmal nach. Es ist ganz einfach. Sieht zwar auch bei mir nicht atemberaubend aus, aber es geht hier schließlich nur um den Spaß." Gemeinsam übten wir so ein paar Schritte und mit der Zeit wurde Thomas glücklicherweise immer lockerer und vor allem auch unbekümmerter. Am Ende wirkte er dabei sogar deutlich besser als ich. Na gut, dazu braucht man nicht wirklich viel, aber für jemanden, der sich zu Anfang derartig ziert, hatte er nach so kurzer Zeit schon heftig viel drauf.

Und so ‚tanzten’ wir uns die Lunge aus dem Leib. Gleichgültig, was für Musik lief, wir blieben und machten weiter. Es war schon eine Art Rausch und die zwischenzeitliche Nüchternheit war verflogen.

"Hallo Fritz", tippte mir dann jemand von hinten auf die Schulter und erschrocken drehte ich mich um.

"Oh, hallo Flo." Eine der Personen, denen ich auch weiterhin am liebsten aus dem Weg gegangen wäre. Nicht, weil ich diese Person nicht mag, sondern einfach, weil mir die Situation in seiner Wohnung immer noch peinlich im Magen lag.

"Keine Angst, du musst heute keine Erklärungen dafür abliefern, was letztes Mal passiert ist. Das mach einfach irgendwann mal, wenn dir danach ist", schrie er mir ins Ohr, so dass ich es halbwegs verstehen konnte. Und kaum hatte er ausgesprochen, da bewegte auch er seine Hüften und zu dritt standen wir jetzt auf der Tanzfläche.

Nach und nach trauten sich dann auch schließlich weitere Gäste zu uns und die Stimmung wurde immer besser. Es war zwar die typische Musik für diesen Laden, alles von Madonna über Cyndi Lauper bis hin zu Kylie Minogue, aber das störte nicht. Die Stimmung wurde immer besser, bis zum Schluss sogar schon die Ersten anfingen, auf den Tischen zu tanzen.

Und auch ich kam dann noch auf meine Kosten, als ein etwa 23jähriger, großer, schlanker, leicht durchtrainierter Typ mich antanzte.

Erst versuchte er nur Augenkontakt zu halten, was er trotz Mangels an Alkohol schaffte, bis er dann offensichtlich mich antanzte. Es wurde von Lied zu Lied gesteigert, bis er schließlich sogar seine Hände auf meine Hüften legte und wir so im Gleichschritt tanzten.

"Lust auf ein Kölsch?", raunte er mir ins Ohr und schaute mich dann mit einem Blick an, bei dem ich hätte sofort dahinschmelzen können. Und er verschlug mir auch gleichermaßen die Sprache, sodass ich einfach nur noch nicken konnte und ihm Händchen haltend an die Bar folgte.

"Hallo, ich bin Dirk und mit wem habe ich die Ehre?", schaute er mich mit seinen großen, dunklen Augen an.

"Ähm ... Fritz." Und als ich mich so selbst hörte, gab ich mir selbst schon den Todesstoß. "Sorry, also ich bin Fritz. War nur gerade etwas überrascht."

"Über was denn?" schaute er mich fragend an.

"Über dich. Ähm anders gesagt, dass du mich einfach so angetanzt hast."

"Was hätte ich denn sonst machen sollen? Ein Briefchen schreiben mit ‚Ja, Nein, Vielleicht’ zum Ankreuzen?" Und ab diesem Moment war das Eis gebrochen. Beide mussten wir erst mal kurz auflachen und dann ging es ganz normal weiter.

"Und was machst du so alles?", stellte ich dann doch auch mal eine Frage.

"Im Moment ein Kölsch mit dir genießen, sonst bin ich Student."

"Für was denn?"

"Für mich und studieren tue ich Deutsch und Englisch auf Lehramt."

"Wieso denn Lehramt?"

"Wieso nicht?", konterte er spitz, aber immer mit diesem kleinen Schalk im Nacken, sodass man eher darüber lachte, als es ihm übel zu nehmen.

"Wegen den nervigen Kindern? Ich könnte mir nicht wirklich vorstellen, heutzutage an so vielen Schulen zu arbeiten. Das wird ja nur noch ein täglicher Spießrutenlauf."

"Sicherlich, wenn man es falsch macht schon. Aber ich habe irgendwo immer noch die Hoffnung, dass man Schüler dazu bringen kann, auch freiwillig zu arbeiten und vor allem auch den Lehrer zu respektieren. Und einen Vorteil werde ich auch haben, ich werde vorzüglich in der Sekundarstufe II unterrichten, falls ich einmal fertig werden sollte. Da sind die meisten nicht mehr ganz so überdreht und vor allem aus der schwierigsten Phase raus. Aber falsches Thema, wir sind hier nicht an der Uni. Erzähl mir lieber ein bisschen über dich."

"Was willst du denn wissen?" Während unserer Unterhaltung flog mein Blick noch einmal schnell in Richtung Tanzfläche und es beruhigte mich doch arg, dass Thomas und Flo dort immer noch ausgelassen tanzten. So konnte ich mich wenigstens Dirk gedankenlos widmen.

"Vor allem interessiert mich dann doch, wieso du hier alleine unterwegs bist?", und strahlte mich dabei an. Und in diesem Moment machte es bei mir Klick und ich wusste, er hatte es auf eine schnelle Nummer abgesehen. So offensiv ist eigentlich sonst niemand. Vor allem nicht, wenn die angesprochene Person, einem weiche Knie beschert.

"Wäre es dir denn lieber, ich hätte einen Freund mitgebracht?" Mit dem Wissen, um was es überhaupt ging, konnte ich viel sicherer auftreten und dieses kleine Spielchen mitmachen. Er sah ja auch ziemlich gut aus und man soll ja nicht jede Kost verächten.

"Das hinge davon ab", schaute Dirk mich mit funkelnden Augen an.

"Von was denn?" Unsere Gesichter kamen sich immer näher.

"Wie offen ihr gewesen wärt." Und unsere Münder trafen sich zum ersten Kuss, der dann auch immer heftiger wurde. Und nicht nur unsere Zungen gingen auf Wanderschaft. Seine Hände glitten erst vorsichtig, dann immer mehr Besitz ergreifend über meinen Rücken, bis sie schließlich unter das Shirt wanderten.

"Kommst du mit raus", raunte mir Dirk ins Ohr, als er kurz von mir ließ.

Mein Blick wanderte kurz in Richtung Tanzfläche, wo Flo mir den Daumen hochhielt und vor allem mich dabei angrinste.

"Ok", antwortete ich nur und ging hinter ihm her. Vor dem Lokal war die Luft schon etwas abgekühlt. Leise, ohne ein weiteres Wort zu wechseln, ging ich hinter ihm her. Nur die Tritte auf dem Asphalt verhallten in der dunklen Nacht und den leeren Straßen. Er führte mich zu seinem Auto, das er nur ein paar Straßenecken entfernt abgestellt hatte, und deutete mir einzusteigen.

Wie zwei schüchterne Jungs saßen wir für einige Momente stillschweigend im Auto und starrten aus der Fensterscheibe hinaus. Aber wie gesagt, nur ein paar Momente. Dann fielen wir übereinander her und ein Sturm an Hormonen machte sich in unseren Körpern startklar.

....

...Das Spiel zwischen uns war wunderbar. Fast schon zu gut für einen einfachen One-Night-Stand. Ich ließ mich fallen, ließ ihn gewähren. Leise begann ich zu seufzen und es ging immer mehr mit mir durch. Ich biss mir leicht auf die Lippe und dann passierte es. Meinem Mund entsprang ein Wort, mit dem ich gerade in dieser Situation nie gerechnet hätte. "Kai", brachte ich schon fast sinnlich flüsternd hervor und erschrak mich im gleichen Moment über mich selbst. Wie konnte ich nur? Ich schaute zu Dirk, doch zum Glück hatte dieser nichts gehört, so schien es zumindest.

Mit diesem einen Wort war bei mir die ganze Stimmung dahin. Ich war wieder mit den Füßen auf dem Boden der Realität gelandet. Ich erkannte auf einmal diese billige Situation. Vorher wäre mir das nie aufgefallen. Mir wurde klar, ich saß in einem Auto, mitten in Köln, mitten in der Nacht und vor mir war ein 23jähriger Student gebückt, der versuchte, mich zufriedenzustellen.

Ich fühlte mich in diesem Moment einfach nur noch unwohl. Am liebsten wäre ich sofort aufgesprungen und wäre davon gegangen, aber ich konnte nicht. Wie hätte ich dieses Dirk erklären sollen. So tritt man niemandem vors Schienbein. Ich war dann doch so blöd und zog es vor, die Sache durchzuziehen. So zog ich Dirk wieder hoch und begann ihn wie wild zu küssen ...

Die Autotür schlug mit einem dumpfen Knall wieder zu.

"War schön mit dir!", säuselte mir Dirk noch durchs Autofenster zu. "Hoffe, du bekommst deinen Kai noch." Und mit diesem letzten Satz entglitt mir mein Gesicht. Hatte ich es also doch nicht alleine gehört. "Mach dir keine Gedanken weiter. Ich wünsch dir nur viel Glück. Sollte er dich nicht wollen, so ist er selbst Schuld." Er griff noch einmal aus dem Auto, nahm meine Hand und drückte sie aufbauend.

"Mach’s gut", sprach er kaum hörbar mit rauer Stimme, ließ meine Hand wieder los und fuhr davon.

Ich stand nur wie benebelt da und schaute dem Auto hinterher, dessen Lichter hinter der nächsten Ecke verschwanden. Ich drehte mich um und ging wieder zurück. Meine ersten Gedanken waren zu wirr, um sich überhaupt daran erinnern zu können. Aber irgendwann kristallisierten sich zwei grundsätzliche Dinge hervor. ‚Hätte ich Dirk dafür böse sein sollen, dass er mich dennoch bis zum Schluss dazu gedrängt hatte?’ und vor allem ‚Warum Kai?’. Auf die erste Frage fand ich schnell eine Antwort. Ich konnte ihm natürlich nicht böse sein, wofür auch. Letztendlich war es meine Entscheidung nicht aufzuhören und vor allem hatte er seine letzten Worte nicht spöttisch gemeint. Dirk war da nicht mehr so provokant wie noch in der Bar. Jetzt im Nachhinein hallte seine warme Stimme mit seinen Worten in meinem Gehör nach. Und ich verstand, dass er es ehrlich und vor allem aufmunternd meinte.

Auf meine zweite Frage fand ich keine wirkliche Antwort. Ich hatte nicht einmal an Kai gedacht, ich wollte in dem Moment nicht einmal an ihn denken. Und dennoch kam er durch und ‚ruinierte’, wenn man es so bezeichnen will, die Situation.

Der Weg zurück in die Bar war zum Glück nicht weit, aber wirklich in Partylaune war ich nicht mehr. Stattdessen brauchte ich dann erst einmal etwas Härteres. Ich stellte mich an die Bar und bestellte mir erst einmal zwei doppelte Jägermeister und kippte sie mir, ohne dabei nachzudenken, hinter die Binde.

"Hey, alles ok?", lag jetzt Flos Hand auf meiner Schulter.

Ich drehte mich um und sah, dass auch Thomas besorgt hinter ihm stand und mich anschaute.

"Ja klar. Was sollte denn sein?", brachte ich in einem Ton, der nicht gerade angemessen war, hervor.

"Hey, nicht gleich so garstig", entgegnete Flo. "Wir wollten dir doch nichts Schlimmes."

"Sorry, ich bin wohl nicht mehr wirklich in Partylaune." Ich schaute von Flo zu Thomas und wieder zurück, von keinem kam auch nur eine Reaktion. "Das Bett ist, glaub ich, der beste Platz für mich, zumindest im Moment. Bleibt ihr mal noch hier und habt euren Spaß. Scheint euch ja auch gut zu verstehen."

"Wirklich? Oder sollen wir dich noch begleiten?", fragte Thomas besorgt.

"Nein, nein. Bleibt ruhig hier und habt euren Spaß", lächelte ich beide aufmunternd an. "Ich geh jetzt allein und ihr feiert hier noch brav weiter und erzählt mir dann brav das nächste Mal, was noch alles passiert ist."

"Wirklich?", fragte jetzt auch Flo noch einmal nach.

"Wirklich!", betonte ich noch einmal. "Also macht es gut. Wünsch euch noch eine wunderschöne Party, bis denne!", verabschiedete ich mich und drückte beide zum Abschied noch einmal.

"Und du schlaf dich mal gut aus", flüsterte mir Flo ins Ohr.

Noch ein kurzes Zunicken und ich verschwand aus der Bar.

Im Gegensatz zu vorhin traf mich die frische Luft wie eine Wand. Am liebsten wäre ich jetzt rückwärts hingefallen. Die frische Luft brannte wie die Pest in meinen Bronchien und auch die Straßenlaternen blendeten meine Augen.

Tief ein- und ausatmend stand ich noch vor der Eingangstür und versuchte mich wieder zu normalisieren. Zusätzlich schloss ich noch die Augen ...

... "Bitte nicht hier stehen bleiben", stieß mich überraschend der Türsteher von hinten an. "Sonst bekommen wir hier wieder Ärger mit den Anwohnern."

"Klar kein Problem", entgegnete ich nur und ging leicht schwankend vorwärts in Richtung U-Bahnstation. Mit der Zeit wurde aus meinem Torkeln wieder ein fester Schritt und auch meine Bronchien beruhigten sich wieder. Statt des unangenehmen Brennens genoss ich jetzt vielmehr die frische, klare Luft. Und immer wieder verfolgte mich dieses Wort, dieser Gedanke, dieses Bild: ‚Kai’. Und ich konnte es immer noch nicht deuten.

Ich setzte mich an der U-Bahnstation auf eine der Bänke und musste leider noch eine halbe Stunde warten, bevor ich dann nach Hause fahren konnte. Dort hievte ich mich nur noch die Treppen hinauf, fiel wie immer direkt ins Bett und versuchte Schlaf zu bekommen.

Bloß dieser Wunsch wurde nicht erhört. Stattdessen lag ich da und sah immer wieder dieses Gesicht vor meinem geistigen Auge. Was hatte dieses Gesicht, dieser Mensch in mir bewegt, dass ich nicht einmal an einem Typ wie Dirk meinen Spaß haben konnte? Was hatte er in mir bewegt, dass ich mich stattdessen billig und benutzt fühlte?

Wenn ich an die Situation im Auto dachte, da wurde mir eher übel. Mein Magen begann sich zu drehen und ich fragte mich, warum ich es nicht einfach abgebrochen habe. Warum musste ich so masochistisch sein und es bis zum bitteren Ende durchziehen?

Doch mir erschloss sich keine Frage, nicht eine Antwort wurde mir gewährt.

Mit einem Mal traten mir auch Tränen aus den Augenwinkeln und ich verstand nicht einmal warum dieses jetzt. Ich wusste nicht, warum ich weinte, ich merkte nur: Es tat gut. Ich fühlte mich besser und mit jedem Schluchzen, das meiner Kehle entsprang, wurde es besser. So schlief ich weinend, und schluchzend letzten Endes doch noch ein ...

Den nächsten Morgen wachte ich etwas missmutig auf. Zwar spürte ich, wie sich wieder Leben in meinen Gliedern sammelte, aber im Grunde wollte ich die Augen nicht öffnen. So lag ich letzten Endes einfach nur mit geschlossenen Augen da und hoffte irgendwie wieder einschlafen zu können und vor allem die Welt um mich herum vergessen zu können. Aber nichts dergleichen geschah. Ich lag mit vollem Bewusstsein da und hatte einfach Angst. Angst davor, mir selbst ins Gesicht sehen zu müssen. Auch wenn ich im Grunde nicht wusste warum.

Dennoch strahlte irgendwann die Sonne durchs Fenster genau auf mein Gesicht. Und da halfen dann auch die Augenlieder nichts. Ein bisschen Licht drang dennoch bis zur Netzhaut hindurch und dann gab ich meinen Kampf auf. Langsam glitten meine Augenlieder auseinander und schauten in diese verhasste Welt.

Doch es war nichts zum Hassen zu finden. Von draußen blinzelte mich die Sonne von einem azurblauen Himmel an, auf dem sich nur noch ein, zwei Schleierwölkchen tummelten. Und ein paar Spatzen hatten es sich auf der Brüstung der Terrasse bequem gemacht und zwitscherten gemeinsam ein Liedchen.

Meine Augen glitten ganz auseinander und schauten jetzt doch schon etwas gelassener in die Welt. Langsam, aber immer noch missmutig, räkelte ich mich und stützte mich erst einmal auf meinen Ellenbogen auf. Erst als ich mit dem Arm über mein Kopfkissen glitt, spürte ich, wie dieses immer noch leicht feucht war. Anscheinend muss ich selbst im Schlaf weitergeweint haben und in diesem Moment kamen die Erinnerungen an den Abend davor auch wieder.

Mit einem Satz ließ ich den Kopf wieder in die Kissen zurückfallen und verkroch mich unter meiner Decke. Ich verstand es immer noch nicht. Was war da eigentlich los? Aber dennoch bekam ich keine Antwort, je länger ich auch grübelte. Es fiel mir nichts ein, stattdessen wurde es eher noch konfuser.

So lag ich unter der Decke und sah ins Dunkle. Es war schön diesen Schutzpanzer zu haben. Aber mir war natürlich auch klar, irgendwann müsste ich selbst diese Dunkelheit unter der Decke verlassen. Aber ich genoss es erst einmal, mich noch einmal vor der Welt zu verstecken. Diesmal nicht in meinen Träumen, diesmal unter der Bettdecke. Ich lag da und dachte einfach an nichts. Stumpf starrte ich ins Dunkle und merkte so natürlich nicht, wie nach und nach die Zeit voranstrich. Im Grunde störte es mich auch nicht wirklich, ich war froh, wenn ich dieses endlich hinter mich gebracht hätte. Diesen Abend aus meinem Gedächtnis streichen können. Aber so einfach würde das natürlich nicht gehen.

... Brrr … brrr ... brrr ... vibrierte es dann plötzlich irgendwo neben mir. Und verdattert schreckte ich innerlich auf und erst da fiel mir ein, dass auf dem Nachttisch mein Handy lag. Erleichtert fiel ich wieder in mir zusammen und dachte gar nicht erst daran abzunehmen. Nach dem vierten Male würde sowieso die Mailbox anspringen. Und so war nach dem vierten Vibrieren auch Schluss. Erleichtert atmete ich durch, so musste ich zumindest nicht noch mit irgendwem sprechen. Aber Pustekuchen. Nur wenige Momente darauf begann es von vorne.

Es zog sich jede einzelne Faser in meinem Körper zusammen und verkrampfte. Ich wollte nicht. Ich wollte erst nicht die Augen öffnen und musste letztendlich dann doch. Schließlich wollte ich nicht unter dieser Decke hervor und der Welt nicht unter die Augen treten.

Und bei diesem Vorhaben wollte mich nun doch jemand stören. Einfach dazu zwingen, wieder die Welt zu betreten. Aber ich wollte noch längst nicht.

Es vibrierte wieder viermal und dann war auch wieder für einige Momente Ruhe, bis es schließlich wieder anfing. Irgendwann war es mir zu viel. Unter der Decke hatte ich statt der Ermattung jetzt Wut in mich gefressen, dass die Welt mich nicht einfach in Ruhe lassen kann.

Vor Wut schnaubend sprang ich unter der Decke hervor, griff mein Handy und sah in diesem Moment, dass mich Greta versuchte zu erreichen. Statt das Handy wegzupfeffern, wie ich es eigentlich vorgehabt hatte, nahm ich das Gespräch an.

"Greta? Was gibt’s denn? Irgendwas Wichtiges passiert, oder wieso versuchst du mich so dringend zu erreichen?", sprach ich hektisch und vor allem auch besorgt in den Hörer. Schließlich war es sonst nicht Gretas Art so oft anzurufen. Normalerweise genügt ein Anruf, und wenn ich nicht sofort abnehme, spricht sie halt auf die Mailbox und wartet auf irgendeine Reaktion. Aber dieses ständige Anklingeln ließ auf nichts Gutes schließen.

"Nein, gar nichts ist gut", fluchte sie als Antwort zurück.

"Wie? Was ist denn los?"

"Tom wollte mir doch tatsächlich verbieten, mich weiter mit dir zu treffen. Dieser Idiot ..."

"Ganz ruhig, Kleine. Alles bitte von vorne."

"Nicht hier und jetzt", unterbrach sie mich wutschnaubend. "Hast du heute Zeit?"

"Ähm ja, irgendwie schon."

"Lust dich nachher zu treffen und dann heute Abend irgendwohin feiern gehen? Ich muss mich einfach abreagieren."

"Klar, kein Problem. Komm einfach vorbei!", erwiderte ich.

"Oki, dann bis gleich." … tut ... tut ...

Noch bevor auch ich mich verabschieden konnte, hatte sie schließlich aufgelegt. Dabei wollte ich ihr eigentlich noch sagen, dass es wohl noch etwas früh für ein Treffen wäre und erst dann fiel mein Blick auf meine Uhr und diese stand nicht bei so einer Zeit wie 11:30 Uhr, wie ich eigentlich erwartet hatte, sondern eher bei 18 Uhr. Ich hatte also den ganzen Tag geschlafen und unter der Decke in meinem Bett verbracht. Nicht nur mein normales Denken war abhanden gekommen, sondern jetzt auch noch mein Zeitgefühl.

Das Handy fiel mir aus der Hand aufs Bett und ich ging ins Bad, um mich etwas frisch zu machen. Ich sah in den Spiegel und fragte mich selbst, wie es ein Spiegel auch nur ansatzweise ertragen konnte, so einen Anblick wie meinen zu ertragen. Tiefste Augenränder gepaart mit blutunterlaufenen Augen und einer kalkweißen Haut. Mich starrte ein Geist an, mein Geist. Aber nicht ich mich. Das konnte ich nicht sein.

Ich tatschte mit meiner Hand auf die Wange und versuchte mich zu spüren. Und das Schlimme war: Ich spürte mich sogar. Dieser Geist da vor mir war wirklich ich.

Mit einem Satz drehte ich den Wasserhahn auf und ließ eiskaltes, klares Wasser ins Waschbecken laufen. Bis zum Rand gefüllt, steckte ich meinen Kopf hinein und genoss diese kalten Stiche auf der Haut. Ich spürte förmlich, wie das Blut wieder in meine Haut zurückkehrte. Kopf wieder aus dem Wasser und ich riskierte einen zweiten Blick in den Spiegel. Und mich schaute diesmal ein Geist mit roten Bäckchen an. Also folgte der nächste Versuch, wieder ins Wasser und erneut in den Spiegel schauen, bis ich mich schließlich wieder selbst ertragen konnte.

Man sah mir an, dass das nicht mein bester Tag war, aber ich konnte mich selbst ertragen und dann noch schnell eine Dusche und das Schlimmste war überstanden. Nach der Dusche wickelte ich ein Handtuch um meine Hüften und schaute erneut in den Spiegel. Und dann konnte ich sagen: ‚Ja das bin wieder ich selbst und kein Abklatsch meiner Selbst!’

"Dingdong", machte es dann auch schon an der Tür. Wie auch schon beim letzten Mal stürzte ich nur noch in meine Boxer, Shirt und Jeans und stand dann, immer noch die Kleidung richtend, vor der Tür und öffnete Greta.

"Hi Fritz", strahlte sie mich an. Aber irgendetwas an ihr wirkte dennoch anders.

"Hi Greta. Komm erst mal rein. Ich hol uns schon mal unseren Prosecco!" Sie kannte schließlich den Weg und so eilte ich erst mal gedankenlos und immer noch am Ankleiden in die Küche. Holte die obligatorisch kühlgestellte Flasche Prosecco aus dem Kühlschrank und ließ mich dann auf meinem Stammplatz auf der Couch nieder.

Greta nahm den Platz gegenüber im Sessel ein und schaute mich stillschweigend an.

"Nun erzähl! Was ist los mit dir?", fragte ich unumwogen, während ich mich daran machte, die Flasche zu entkorken.

"Ach Tom, wie also immer."

"Was ist mit ihm? Wo liegt diesmal das Problem?"

"Er wollte nicht, dass ich mich weiter mit dir treffe!", entfuhr es ihr kalt.

In diesem Moment knallte der Korken, während ich Greta verdutzt und erstaunt ansah. Zum Glück blieb das Flüssige in der Flasche und nur der Korken flog an die Decke.

"Bitte wie?", fragte ich ungläubig nach und schenkte dabei den Prosecco ein.

"Du hast schon richtig verstanden", wiederholte Greta "Er will nicht, dass ich mich weiter mit dir treffe!"

"Und wie hast du reagiert?", fragte ich, immer noch entgeistert, nach.

"Ich ließ ihn daraufhin einfach stehen und bin gegangen."

"Ok. Darauf brauch ich jetzt erst mal ein Glas!" Wir stießen gemeinsam an und in einem Zug waren unsere Gläser leer, sodass ich gleich wieder nachschenkte.

"Wie kommt er denn darauf?"

"Er hat ein Problem damit, dass du schwul bist", antwortete sie nur kurz und knapp. Ihre Haltung hatte sich während der ganzen Zeit nicht verändert. Sie wirkte immer noch sehr gefasst, so als würde sie das gar nicht wirklich interessieren. So klang ihre Aussage dann auch eher gelangweilt, so als würde sie dieses gar nicht wirklich berühren.

"Wie das? Ähm ... Wie soll ich fragen? Was für Probleme denn genau?", versuchte ich Genaueres zu erfragen, aber ich konnte einfach nicht in Worte formulieren, was ich eigentlich meinte.

"Er hat selbst keine Aussage wirklich dazu machen können. Er mag es einfach nicht. Er findet es, wie soll ich sagen, nicht wirklich in Ordnung. So etwas gehört nicht in seinen Bekanntenkreis und ihm wäre es wohl auch peinlich. Zum Beispiel, wenn man etwas mit dir unternimmt und er träfe auf Freunde und Bekannte von sich. Ihm wäre es einfach peinlich mit einem Schwulen gesehen zu werden. Warum, konnte er jedoch auch nicht erklären", versuchte sie es zu erklären. Aber es gab wie eigentlich immer keinen wirklichen Sinn. Das Argument, so etwas sei nicht normal, oder widernatürlich, konnte man in der heutigen Zeit ja zum Glück nicht mehr benutzen. Dennoch gab es immer noch Ablehnung gegenüber Homosexualität. Aber wirklich begründen konnte man es nicht mehr. Es war einfach so und jeder musste es hinnehmen.

"Prost", entgegnete ich da nur und goss mir das nächste Glas hinter die Binde. "Und dabei wirkte er letztes Mal gar nicht so ... wie sollte ich sagen ... Ich hätte auf jeden Fall nicht erwartetet, dass er derartige Probleme damit hat."

"Glaubst du ich?", warf mir Greta einen genervten Blick zu. "Eigentlich hätte ich sogar eher vermutet, dass er selbst genügend schwule Freunde hat. Er wirkte ja auch sonst immer so weltoffen. Anscheinend ist da wohl seine Grenze." Und sie zuckte gleichgültig mit den Schultern.

"Hey, so gleichgültig ist es dir gar nicht. Tu nicht immer so kühl!"

"Bin ich das? So kühl?"

"Du versuchst zumindest so zu wirken!", ging der Vorwurf an Greta.

"Wenn es dich nervt, dein Problem. Aber das ist nun mal meine Art und an der wird sich auch nichts ändern." Und bei diesen Worten rollte ihr eine Träne die Wange hinunter. "Scheiße, mein Make-Up", war ihre einzige Reaktion und mit einer schwarzen Eyelinerspur rann die Träne die Wange hinunter.

"Greta!", setzte ich mich zu ihr auf die Lehne. "Ich hab dir schon tausendfach gesagt, dass du dich bei mir nicht verstellen musst."

"Wer sagt, dass ich mich verstelle?"

"Wieso machst du dann erst auf kühl und weinst am Ende doch?"

"Hast du vielleicht auch einmal daran gedacht, dass ich einfach nicht weinen wollte? Dass ich jetzt schon lang genug geweint habe? Dass ich davon mal die Schnauze voll habe und heute einfach nur mal die Sau rauslassen will? Und vor allem will ich eines, mich nicht zwischen Euch beiden entscheiden müssen. Ich will beide und nicht nur jeweils eine Sparpackung", brach es schließlich aus ihr heraus.

"Sparpackung?", fragte ich verwirrt.

"Klar! Hab ich nur dich, so fehlt mir immer noch der Arm, in dem ich regelmäßig einschlafe und aufwache. Jemand, der mich auch körperlich begehrt und der dieses zu schätzen weiß. Du bist nun mal schwul, so hab ich zwar meine beste Freundin, aber dennoch habe auch ich Bedürfnisse." Greta stand auf und ging mit energischem Schritt ins Bad, um ihre Erscheinung wieder aufzubessern.

Ich schritt ihr nach und lehnte im Türrahmen, während ich sie im Spiegel beobachtete.

"Weißt du ...", setzte Greta erneut an. "...Wenn er mich dann vor die Wahl stellen wird, dann wird er verlieren. Es wird keine Wahl zwischen dir und ihm geben. Mich gibt es nun mal nur mit dir. So und jetzt endgültig Schluss mit diesem Thema ..." Sie drehte sich vom Spiegel weg und kam auf mich zu "..Ich will heute feiern, nicht noch lange über irgendeinen Typen heulen."

"Doch eines noch!" Erwartungsvoll schaute sie mich an. "Danke!" Und ich nahm sie dann nur noch strahlend in den Arm. Und nach einer kleinen Ewigkeit trennten wir uns wieder aus unserer Umarmung. Und versuchten uns dann wieder zusammenzureißen, was aber nicht wirklich gelang, sodass wir uns leicht beschämt zulachten.

"Willst du noch etwas trinken?", fragte ich sie schließlich und wir gingen zurück aufs Sofa, bzw. Sessel und stießen noch einmal mit unseren Gläsern an.

"Auf uns und diesen Abend!", setzte Greta als Trinkspruch hinzu.

Und mit diesen folgenden Schlucken Prosecco war dann auch das Thema Tom für diesen Abend gestorben.

"Hast du eigentlich schon gehört, dass Thomas und David wieder auseinander sind?"

"Waren sie denn je richtig zusammen? Diese paar Tage kann man ja nun nicht wirklich so bezeichnen."

"Das schon, im Grunde ist es letztendlich auch egal. Aber klein David hat sich jetzt in eine Supertucke verwandelt." Und bei meinem Wort, Supertucke, verschluckte sich Greta fast an ihrem Prosecco und bekam einen Lachanfall.

"Wie bitte? David ist zu einer Supertucke mutiert?" Greta bekam sich fast nicht mehr ein vor Lachen, als ich ihr weiterhin bejahend zunickte ...

Ab diesem Moment verlief der Abend wieder in heiteren Bahnen. Ich erzählte ihr von David und Thomas, auch vom gestrigen Abend. Wobei ich dabei dann natürlich gewisse Dinge, die geschehen waren, vorerst ausließ. Es war auch besser so, denn sonst wäre ich an der Reihe gewesen, dem die Stimmung verhagelt worden wäre. Und das wäre gar nicht so gut gekommen, schließlich wollten wir heute nicht weinen, sondern feiern und mal die Seele baumeln lassen.

Greta und ich quasselten noch ein bisschen weiter, bevor wir dann doch die Wohnung verließen und gegen 23:30 Uhr vor unserem Stammlokal standen. Bevor es durch die Eingangstür ging, musste ich nur noch einmal den dicken Kloß im Halse herunterschlucken und hoffte nur, dass der Typ von gestern Abend, heute hier nicht auftauchen würde.

Auch diesmal gab es wieder den Farbflash: Aus dem Dunklen des kleinen Flurs heraus stand man plötzlich in einer Schar funkelnder Lichter und laut erzählender, lachender und tanzender Menschen. Allesamt versuchend, den Stress des alltäglichen Lebens zumindest für ein paar Minuten hier zu vergessen.

"Hey, schau mal, dort ist unsere neue Supertucke", zeigte ich Greta den neuen David, der wie erwartet in einer Schar anderer Tucken in der Nähe der Tanzfläche stand, um von dort über alles und jeden zu lästern. Und als sie David sah, brach sie direkt in großes Gelächter aus, so dass die Menschen um uns herum verwirrt aufhörten zu erzählen und zu feiern und erst einmal nur uns, bzw. vor allem Greta anstarrten. Die war außer sich und bekam sich fast nicht mehr ein.

"Das ist nicht wirklich David, oder?", fragte sie nach Luft schnappend.

"Doch ist er!", bestätigte ich nur.

"Mein Gott, aus dem Kleinen ist ja eine gestikulierende Fummeltrine geworden. Wer hat ihm denn die Handgelenke gebrochen und vor allem diese Körperhaltung beigebracht?" Greta stand fassungslos neben mir und versuchte dabei, das zu imitieren, was sie gerade erst selbst beobachten durfte. Einen neuen David, mit angewinkeltem Bein, herausgestreckter Hüfte und zwei angewinkelten Armen und abgebrochenen Handgelenken. Auch wenn ich sie vorgewarnt hatte. Anscheinend konnte keine Erzählung über David dem gerecht werden, wie er schließlich dann doch wirkte.

Greta schnappte zwar noch immer nach Luft, aber sie hatte sich soweit beruhigt, dass sie nicht mehr wirklich durch ihr Verhalten auffiel.

"Hallo! Heute doch wieder da?", tippte mir ein Finger von hinten auf die Schulter und erschrocken drehte ich mich um. Hinter mir stand nicht der Allmächtige höchstpersönlich, sondern nur Flo und Thomas.

"Mein Gott, erschreckt mich doch nicht so.", fuhr ich ihn an.

"Entschuldige, aber hätte ich aus 30 Metern Entfernung mit Signalhorn kommen sollen?", grinste mich Flo an.

"Nein, natürlich nicht."

"Wer sind denn die beiden?", wurde Greta neugierig, die es dann doch geschafft hatte, ihren Blick von David zu lösen.

"Also das sind Flo und Thomas", stellte ich ihr die beiden vor. "Und das ist Greta!", stellte ich der Gegenseite vor.

"Mich hat er beim Kotzen kennengelernt", kommentierte Flo.

"Und ich war Davids Kurzzeitaffäre", streckte ihr darauf folgend Thomas die Hand entgegen.

"Oh hallo. Nett euch zu sehen, auch wenn ich von den Geschichten selbst noch nichts, bzw. nur wenig gehört habe." Und es setzte einen strafenden Blick von Greta in meine Richtung.

"Gab nun mal Wichtigeres zu besprechen", zuckte ich nur mit den Schultern.

"Wie, was Wichtigeres als uns?", plusterte sich Flo theatralisch auf.

"Wie wär’s mit 'nem Kölsch?", wollte ich mich jetzt mit aller Macht aus dem Fettnapf befreien und komischerweise, sobald es um Alkohol geht, werden sie alle handzahm. Und friedlich standen wir, zumindest für einen kurzen Moment, stillschweigend nebeneinander an der Bar und schütteten uns das erste Kölsch in die Kehle. Doch dann musste es wie eh und je kommen. Kaum bemerkte einer ein nettes Liedchen, schon stürmten sie alle auf die doch sehr, sehr, sehr kleine Tanzfläche. Und auch wir waren so deppert und versuchten so einigermaßen ansehnlich die Hüften kreisen zu lassen. Im Grunde hätte es uns auch egal sein können, ob wir gut wären oder nicht. Hauptsache man hat beim Tanzen seinen Spaß.

Und so verging Lied auf Lied und wir tanzten dann wohl schon Ewigkeiten. Aber irgendwann brauchte ich mal meine Pause. Und so verzog ich mich auf die Treppe vor den Toiletten und hockte mich dort nieder, um wenigstens wieder etwas zu Atem zu kommen.

"Na du Partyhengst. Hab dich noch nie so ausgelassen gesehen!", gesellte sich Flo neben mich.

"So oft hast du mich schließlich auch noch nicht gesehen. Vor allem nicht nüchtern", wollte ich kontern und merkte im selben Moment, wie der Schuss nach hinten losging. "Sorry, war nicht so gemeint", versuchte ich daraufhin direkt wieder alles zu besänftigen.

"Hey, hast ja schon recht. Ist ja auch halb so wild. Aber dennoch danke dafür, dass du mich den Abend damals so behandelt hast. Auch wenn ich das erst falsch interpretiert hatte", erklärte Flo mit gelassener und ruhiger Stimme.

"Inwiefern?", fragte ich stutzig nach.

"Wie soll ich sagen. Irgendwie hatte ich angenommen, dass du dies alles getan hast, also mich nach Hause gebracht hast, mich vor diesem Typen in Schutz genommen hast, na ja, weil ... weil du Interesse an mir hättest." Er stoppte und mir schnürte es die Kehle zu, denn genau vor dieser Auseinandersetzung hatte ich Angst. Es war fast genauso schlimm, wie der Moment, als ich mit meinem Ex Schluss gemacht hatte. Man musste versuchen ehrlich zu sein, aber dennoch darauf achten, den anderen nicht zu verletzen.

"Sorr..."

"Sag nichts. Alles was du sagen würdest wäre gelogen. Außer wenn du ganz einfach sagen würdest, dass ich nicht dein Typ bin."

"Sorry." Mehr brachte ich nicht hervor und dennoch wusste ich, dass Flo verstanden hatte, dass er mit seiner Meinung richtig lag.

"Ist schon Ok. Dennoch danke, dass du die Situation damals bei uns zu Haus nicht einfach ausgenutzt hast, um mich danach direkt wieder wegzuwerfen." Und bei diesen Worten legte er einen Arm um mich und versuchte zu lächeln. Und dennoch konnte man hören, dass seine Stimme leicht schwankte. So gefasst, wie er versuchte sich zu geben, war er dann doch nicht.

"Das hätte ich nicht tun können. Zumindest nicht in dem Moment, denn kurz davor war ich benutzt und weggeworfen worden."

"Scheiß Gefühl, oder?", schaute mich Flo mit zwei traurigen Hundeaugen an.

"Sehr sogar."

"Und deswegen hatte ich einfach gehofft, dass sich aus uns etwas Festes entwickeln könnte. Denn weggeworfen wurde ich genug ..."

"Hey, jetzt nicht weinen. Wir sind hier auf 'ner Party und wir sollen es uns hier gut gehen lassen. Hören will ich deine Erfahrungen und dein Leben, aber ich glaube nicht, dass hier der richtig Ort ist, geschweige denn die richtige Zeit."

"Das stimmt allerdings." Flos Blick war immer noch hinter einem Schleier voller Tränen versteckt, die sich aber zum Glück nicht auf den Weg machten, die Wange hinab zu kullern.

Stattdessen folgte jetzt ein entschiedenes Lächeln. Ich ließ ihn gewähren und nahm ihn einfach tröstend in den Arm. Dies war ich ihm zumindest schuldig, wenn nicht sogar noch mehr. Schließlich hatte ich nicht rechtzeitig die eindeutigen Signale gesehen.

"Hey, und jetzt zeig den Leuten hier dein umwerfendstes Lächeln. Vielleicht wird dann auch dein Mr. Right auf dich aufmerksam."

"Ach, den hab ich schon längst aufgegeben", erwiderte Flo mit einer wegwerfenden Geste.

"Wieso?"

"Weil ich auf diesen Mr. Right schon viel zu lange warte und er mir nie begegnet ist. Stattdessen immer wieder aufs Neue Personen, die ich nur noch als Mr. Ugly bezeichnen würde. Vor allem von der Persönlichkeit her. Alle sahen sie umwerfend und geil aus. Aber keiner hatte den Mumm mir ins Gesicht zu sagen, dass ich für ihn nur eine Notlösung war, um hormonellen Druck abzubauen ..."

"Nicht so deprimiert. Und wieso sollte es denn dann keinen Mr. Right mehr geben? Schon mal daran gedacht, dass man sich diesen erarbeiten muss? Dass man erst durch viele Hochs und Tiefs gehen muss, um ihn zu finden. Vielleicht sogar ihn zu erkennen, da er eigentlich schon die ganze Zeit vor deiner Nase umherschwirrt..."

"Versuch es gar nicht erst", grinste er mich an.

"Doch ich versuche es ..."

"Nein, lass es einfach und lass uns jetzt lieber feiern. Der Abend ist viel zu schön, um hier trauernd auf der Treppe zu sitzen", versuchte Flo mich anzulächeln, und mit jedem weiteren Moment, der verging, wurde dieses Lächeln auch wieder ehrlich. Das war wieder der Flo, den ich gerne sah. Der lächelnde Flo, der einfach so abschalten konnte und mit seiner vielleicht sogar naiv-infantilen Art alle mitreißen konnte.

"Los komm", stand Flo auf und hielt mir die Hand hin, um mich hochzuziehen. Ich ergriff diese und stand mit einem Ruck direkt vor ihm und raunte noch in sein Ohr, dass dieses Gespräch noch lange nicht beendet war. Nur unterbrochen, um es an einem günstigeren Ort und zu einer besseren Zeit wieder aufleben zu lassen.

"Und jetzt lass uns feiern!!!", grinste mich Flo jetzt wieder richtig freudestrahlend an. Mit einem Satz drehte ich mich um und wollte auf die Tanzfläche stürmen, als ich gegen etwas, beziehungsweise gegen jemanden stieß. Und als ich dann erst sah auf wen, war für mich von einem Moment auf den nächsten der Abend gelaufen.

"Kai?", entrann es mir kaum hörbar.

"Hi", war er selbst genauso still und anscheinend betreten. "Das ist Martin", stellte er verlegen den Typen neben ihm vor und wurde dabei leicht rot. Und eine drückende und unangenehme Stille entstand zwischen uns allen. Nur Flo und Martin schauten verdutzt von Gesicht zu Gesicht und verstanden gar nicht, was dort eigentlich vor sich lief.

Und erst Momente später bemerkte ich selbst, wie ich entgeistert Kai anstarrte und nicht verstand, wie er so was tun konnte. Und erst da merkte ich, wie weh es wirklich tun kann ...

... Ich ging durch die Straßen Kölns, von Tankstelle zu Tankstelle, mal eine Flasche Wein, mal eine Flasche Martini, oder so wie jetzt eine Flasche Wodka in der Hand. Ich wollte nicht mehr. Doch eines wollte ich, meinen Frust im Alkohol ertrinken

Was noch in der Kneipe geschehen war, weiß ich nur noch schemenhaft. Wir starrten uns entgeistert an und brachten beide keinen Ton hervor. Stattdessen reichten wir uns irgendwann stillschweigend die Hand und gingen aneinander vorbei. Wer dieses so beobachtet hätte, der hätte annehmen müssen, dass wir verrückt geworden waren. Und um bohrenden Fragen von Flo aus dem Weg zu gehen, griff ich ihn einfach an der Hand und zog ihn mit auf die Tanzfläche. Dort war es einfach zu laut, um sich auch nur irgendwie zu unterhalten. Ich setzte noch mein Allerweltslächeln auf und schon war die Stimmung irgendwie gerettet. Zwischenzeitlich verschwand ich immer wieder an der Bar und goss mir ein Kölsch nach dem anderen hinter die Binde. Und dann war ich irgendwann schon soweit, dass ich nicht mehr geradeaus gehen konnte, und setzte mich auf einen Hocker irgendwo in einer Ecke und ließ die anderen feiern.

Erst schaute Greta ab und an zu mir herüber, immer kontrollierend, ob es mir gut ginge. Aber nach 'ner Zeit verging selbst dieses. Und so nutzte ich die Chance und verschwand unbeobachtet aus der Kneipe. Vor der Tür schickte ich noch schnell eine SMS, dass alle sich bloß keine Sorgen machen brauchten. Ich wäre schon früher nach Hause aufgebrochen, da mir der Alkohol zu sehr zusetzen würde.

Natürlich war dieses gelogen. Aber so hatte ich jetzt wenigstens meine Ruhe. Ich musste mir nicht die ewig lächelnde Maske aufsetzen und ich musste niemandem Frage und Antwort stehen. Ich konnte einfach allein sein und umherwandern. Von Tankstelle zu Tankstelle, immer in der Hoffnung, irgendwo noch etwas zu Trinken herzubekommen. Es waren zwar immer wieder horrende Preise, aber das war mir egal. Der darauf folgende Kater war mir egal. Ich hatte nur noch ein Ziel, mir den Kopf frei zu saufen. Und so vollzog ich das dann auch. Ich war schließlich an der dritten Tanke vorbei und hatte auch nur noch eine halbe Flasche Wodka in der Hand, als ich über die Zülpicher Straße wanderte. Immer wieder an kleinen Grüppchen vorbei, die wohl aus irgendwelchen Kneipen oder Bars kommen mussten, um jetzt den Heimweg anzutreten. Und dazwischen immer wieder irgendwelche Pärchen, die Händchen haltend durch die Straßen liefen. Mal heterosexuell, mal homosexuell. Zum Glück interessierte es hier niemanden.

"Hey Schwuchtel!", schrie mir plötzlich jemand nach, an dem ich kurz zuvor vorbeigegangen war. Ich drehte mich um und sah einen stark schwankenden Tom, der genauso wie ich eine halbleere Flasche Wodka in der Hand hielt und zum nächsten Schluck ansetzte. Doch dieses bekam ihm gar nicht.

Er setzte die Flasche an den Mund und hob den Arm zum trinken. Jedoch verlor er dabei das Gleichgewicht und war dabei, wie in Zeitlupe umzufallen. Doch zum Glück konnte er sich mit einer Hand an einer Straßenlaterne festhalten, während ihm der Wodka weit übers Gesicht spritzte. Lachend rutschte er entlang der Stange zu Boden.

"Weißt du, warum ich lache?", fragte er schließlich auf dem Bürgersteig liegend.

Verdutzt schaute ich einfach nur, wie er dort wie eine Schildkröte auf dem Rücken lag und alle viere von sich streckte und einen Lachflash hatte.

"Weil ich an ne Schwuchtel meine Freundin verloren habe." Und sein Lachschwall wollte nicht enden. Stattdessen setzte er wieder die Wodkaflasche an um einen tiefen Schluck zu nehmen, um sich daran zu verschlucken und den Rest wieder auszuspucken.

"Komm hoch." Ich kniete mich nieder und versuchte ihm wieder soweit zu helfen, dass er zumindest sitzen konnte. Und wirklich einfach war das nicht, zumindest, wenn man selbst heftigst besoffen ist und genauso torkelt. "Hey, nimm deine Finger weg", schrie er zwischendurch immer wieder und wollte sich eigentlich gar nicht helfen lassen. Aber irgendwann war es ihm doch über und nach einer Weile Torkeln schafften wir es dann doch, dass er sitzend gegen eine Straßenlaterne lehnte.

Sein Lachflash war mit einem Mal vorbei und stillschweigend saß er da und nippte immer wieder an der Flasche, während ich hinter ihm auf dem Bürgersteig immer wieder hin und her schwankte.

"Warum musst du schwul sein?"

"Warum nicht? Was würde es ändern?", fragte ich zurück.

"Ich hätte Greta nicht verloren."

"Was hat das damit zu tun? Ich hab sie dir nicht weggenommen!"

"Wer dann?", fragte er in sich gekehrt.

"Du selbst!", erwiderte ich nur knapp.

"Wieso ich?"

"Weil du sie vor die Wahl gestellt hast."

"Was hätte ich sonst machen sollen?", wie apathisch starrte er den Asphalt vor sich an.

"Du hättest mich nie mögen müssen. Du hättest mich nie wieder sehen müssen. Aber du hättest Greta die Freundschaft lassen sollen. Mir ist es egal, ob du mich leiden kannst. Es ist mir egal, ob ich dich leiden kann. Wichtig ist nur, dass du ihr gut getan hättest. Und leider hattest du dieses, um sie zu enttäuschen."

"Hatte ich ihr gut getan?", schreckte er jetzt hoch und drehte sich zu mir um und sah mich dabei das erste Mal diesen Abend richtig an. In seinen Augen zeigten sich Zweifel und eine Art von Traurigkeit, die man gar nicht beschreiben kann.

"Das hast du!", wiederholte ich mit ernstem Ton.

"Und wieso hat sie sich dann gegen mich entschieden?"

"Sie hat sich nicht gegen dich entschieden. Du hast sie gezwungen zwischen zwei Sachen zu entscheiden. Und so was kommt nie gut. Hätte ich sie zu so etwas gezwungen, dann hätte sie sich gegen mich entschieden."

"Scheiß Frauen. Ich verstehe sie nicht", sagte er deprimiert und hielt mir erstaunlicherweise die Flasche zum Anstoßen hin.

"Scheiß Männer. Die verstehe ich nicht", setzte ich noch dazu, bevor die Flaschen klirrten.

"Wieso treibt sie sich so gerne mit dir herum? Was hast du so Besonderes?", fragte er nach einem großen Schluck weiter.

"Ich bin schwul und für sie somit ungefährlich. Und sie kann mit mir über Dinge reden, die sie mit dir nicht besprechen kann."

"Wieso kann sie dies nicht bei mir?", hakte Tom weiter nach.

"Frag nicht nach Dingen, die man einfach nicht in Worte fassen kann. Es gibt Dinge, die kann man nicht mit jemandem besprechen, der einen sexuell begehren soll", versuchte ich es dann doch in Worte zu fassen. "Das müsstest du doch genauso verstehen. Oder erzählst du deiner Freundin, dass du die dicken Titten deiner Mitschülerin schön findest?"

"Nein", kam es nur kleinlaut von ihm. "Aber wieso kann sie das nicht mit einer besten Freundin, wieso muss sie dafür einen Freund haben, der ... der ..."

"Schwul ist. Sag es einfach. So schwer ist das Wort nicht. Und es ist vor allem nicht so verletzend wie Schwuchtel!", unterbrach ich ihn.

"Ja aber ..."

"Nichts aber. Ich erwarte keine Wertung über meine Sexualität. Das ist mein Ding, das ist mein Leben und nicht deins. Und im Grunde müsste es für dich egal sein. Ich könnte genauso gut eine Freundin sein, oder einfach ein Tonbandgerät, dem sie alles erzählt."

"Naja, irgendwie bist du ja schon ne Freundin für sie. Bist ja schwul", ließ er mit einem schon fast gehässigen Ton fallen.

"Hey, ich bin genauso ein Mann. Und ich wollte nie eine Frau sein."

"Ach nein?", er wirkte erstaunt.

"Ach komm. So etwas kannst du doch nicht wirklich glauben, oder? Nicht jeder Schwule ist ne Fummeltrine oder ne Transe. Ich bin ein Mann und hab damit kein Problem. Ich saufe genauso wie du Bier, oder sonstiges. Und das nicht in Maßen sondern in Massen, wie man heute wieder sieht. Ich kann genauso Furzen und Rülpsen wie du und ich lackier mir nicht die Fingernägel." Bei diesen Worten musste ich selbst schon lachen.

"Ja. Aber dennoch bist du schwul", drehte er sich mir zu und brüllte es nahezu heraus.

"Hey, der Herr schafft es mal, einfach nur schwul zu sagen. Was ein Wunder. Aber dennoch ginge es dich eigentlich nichts an. Im Grunde müsste ich für dich wie jeder andere auch asexuell sein. Aber da ja jeder Mensch voyeuristisch ist, interessiert es dich halt doch, was in meinem Schlafzimmer geschieht."

"Hey, um eines klarzustellen. Ich will mir gar nicht ausmalen, was in deinem Schlafzimmer geschieht. Ich finde es eher ekelhaft", erwiderte er entsetzt.

"Und wieso interessiert es dich dann, dass ich schwul bin? Und im Übrigen schau ich mir auch keinen Heterosex an, da ich dieses genauso visuell ekelig finde."

"Scheiß Schwule. Prost." Und wieder hielt er mir die Flasche zum Anstoßen hin.

"Scheiß Heteros." Und unsere Flaschen klirrten wieder. Wieder saßen wir einige Momente stillschweigend nebeneinander und tranken jeder aus seiner Flasche.

"Weißt du was?", fing er wieder an.

"Nein. Woher auch."

"Ich verstehe nicht, dass ich hier grad mit ner Schwuchtel ... Pardon, mit nem Schwulen sitze und über meine Beziehung rede."

"Wo ist da das Problem?", fragte ich zurück.

"Keine Ahnung", erwiderte er und grinste mich dabei breit an. "Irgendwie bist du ja schon cool. So auf deine Art. Auch wenn du schwul bist."

"Ich fasse das jetzt mal als Kompliment auf."

"Darfst du auch."

"Prost", und diesmal war ich es, der die Flasche hinhielt.

"Prost auf coole Schwule", musste er natürlich wieder einen Trinkspruch ablassen. Und wieder saßen wir schweigend nebeneinander, während sich die Flascheninhalte nach und nach dem Ende näherten.

"Hab ich eigentlich noch eine Chance bei Greta?", fragte er jetzt mit einer ängstlichen Stimme.

"Ja, hast du."

"Wirklich?", fragte er erstaunt.

"Ja."

"Und was muss ich dafür machen?", wurde Tom neugierig.

"Du musst einfach nur die Freundschaft zwischen Greta und mir zulassen. Wie schon einmal gesagt: Du musst mich nicht mögen, du darfst mich hassen. Du darfst meine Sexualität hassen, aber lass Greta ihr eigenes Leben neben dir."

"Hm", hörte ich nur neben mir.

Und plötzlich wurde direkt hinter uns eine Tür aufgerissen und wie eine Dampframme kam eine Druckwelle an unsere Ohren, die wohl irgendwie Musik darstellen sollte. Zugleich stürzten drei Typen auf die Straße.

"Hey Tom. Etwa schon breit?", kicherte einer von ihnen und zeigte damit eindeutig, wie besoffen auch er war.

"Hey Leute", erhob sich daraufhin Tom mit wackeligen Beinen. "Darf ich euch Fritz vorstellen?" Und mit besoffenem Kopf und ziemlichem Schwanken schüttelten wir uns irgendwie die Hände.

"Und wisst ihr was. Der ist richtig cool und das obwohl er schwul ist." Und bei diesen Worten schaute er anerkennend in meine Richtung. Und trotz der etwas komischen Wortwahl fühlte ich mich doch sehr geschmeichelt.

"Ja und?", fragte der eine der Dreien. "Gibt viele coole Schwule! Schau dir meinen Bruder an." Und die anderen Zwei pflichteten ihm bei. "Oder mein Arbeitskollege. Der ist voll korrekt", gab noch einer aus der Runde ein Beispiel ab. Und während dieser Worte fiel Tom vor Erstaunen nur die Kinnlade herunter und er starrte die Drei an.

"Aber sonst lästert ihr doch nur über Schwuchteln. Auch dein Bruder", wandte Tom schließlich noch etwas erstaunt ein.

"Ja und?", versuchte der Erste wieder zu erklären. "Das sind nur Sprüche. Du lieferst doch auch öfter welche ab, wenn du ein geiles Mädchen auf der Straße siehst. Aber dennoch würdest du sie nie so behandeln, wie du von dir gibst. Das sind Sprüche mehr nicht. Man macht sich darüber lustig, aber im Grunde ist es uns vollkommen Wurst."

"Mein Gott, du hast doch nicht echt geglaubt, wir hätten irgendetwas gegen Schwule?", fragte ein anderer aus der Gruppe noch einmal nach.

"Doch hatte ich eigentlich", erwiderte Tom immer noch erstaunt.

"Dann verabschiede dich mal ganz schnell von dem Gedanken und auch von deinem Bekannten hier. Denn so langsam glaub ich, wird’s für uns alle Zeit, dass wir etwas ausnüchtern und ein bisschen Blut im Alkohol zulassen." Dabei musste er selbst kichern und verlor fast sein Gleichgewicht. Zum Glück konnte er sich noch an der Straßenlaterne retten.

"Ich glaub, so langsam wird es wirklich Zeit, dass ich hier mal wegkomme und nen klaren Gedanken finde." Verwirrt torkelte Tom über den Bürgersteig langsam davon. Die anderen Drei schafften es noch, sich bei mir zu verabschieden und schwankten hinterher. Nach ein paar Metern blieb Tom noch einmal stehen, drehte sich um und rief mir noch zu: "Hey, gib mir Zeit. Vielleicht komme ich ja wirklich irgendwann einmal damit klar."

"Sag nicht mir dieses. Sag es Greta", rief ich zurück.

"Danke!"

"Gern geschehen." Immer noch benebelt drehte Tom sich wieder um und torkelte um die nächste Häuserecke davon. Ich blieb stehen und schaute in meine Flasche mit Wodka. Zumindest in die Flasche, in der mal Wodka gewesen sein sollte. Nur noch ein letzter Schluck war drin und den goss ich mir dann hinter, bevor ich die Flasche einfach auf dem Bürgersteig stehen ließ, da ich nicht mehr dazu in der Lage war, einen Mülleimer zu suchen.

Im Hintergrund hörte ich, wie irgendwo in der Ferne die Glocken einer Turmuhr schlugen und ich versuchte mich darauf zu konzentrieren diese mitzuzählen. Es war verdammt schwer, aber am Ende hatte ich dann doch drei gehört. Ich schaute zur Kontrolle noch auf meine Uhr und glaubte auch dort so etwas wie eine Drei zu entziffern.

Entziffern ist dabei wohl der richtige Ausdruck. Denn lesen konnte ich es nicht mehr. Die Anzeige schwamm vor meinem Auge und verwischte immer wieder alles. Aber anscheinend muss es tatsächlich drei Uhr gewesen sein und ich verspürte nicht wirklich die Lust, jetzt nach Hause zu fahren, um mich im Bett auszunüchtern. Die Entscheidung war also gefallen. Irgendetwas unternehmen. Aber mein Kopf, bzw. mein Gehirn war nicht in der Lage darüber nachzudenken, was man tun könnte. So übernahmen reflexartig meine Beine die Entscheidung und liefen einfach los. Na gut, es war eher ein Schwanken. Immer wieder mal nach links gegen die Häuserwand und dort eine Art Punkt zum Festhalten finden und dann hielt ich mich aber auch immer wieder an irgendwelchen Laternen fest.

Ich lief einfach los. Einfach irgendwohin. Ich lief und lief und lief. Mein Zeitgefühl war verloren gegangen und meine Fähigkeit die Umgebung wahrzunehmen auch. Vor meinem Auge hatte ich zu diesem Zeitpunkt immer nur noch die Fliesen der Bürgersteige gesehen, über die ich flanierte. Ich lief und lief und lief und mit der Zeit wurde mein Schritt immer kontrollierter, sodass man irgendwann behaupten konnte, dass es sich wirklich wieder um ein Gehen handelte und nicht mehr um ein Schwanken. Zum selben Zeitpunkt kam auch mein Denken wieder zurück. Ich hob den Kopf und betrachtete zum ersten Mal seit Stunden wieder bewusst meine Umwelt. Es war zwar noch dunkel, aber am Horizont war schon ein kleiner, schmaler, silberner Streifen zu sehen, der den Tag einläuten sollte.

Ich blieb daraufhin erst einmal stehen und sah mich um. Wo war ich jetzt eigentlich gelandet. Neben mir realisierte ich eine Straße, auf der schon wieder die ersten Autos entlang rasten. Ich schaute auf und sah nur eine alte Konstruktion aus Stahl und Stein. Ich lief weiter, bis ich ein paar Meter weiter erkannte, dass ich unter der alten Eisenbahnbrücke im Süden Kölns stand. Und dann wurde meine Vermutung dadurch bekräftigt, dass ein Lastenzug der Bahn über die Brücke fuhr und dabei einen ohrenbetäubenden Lärm verursachte.

Ich konnte zwar schon wieder etwas besser gehen und auch schon wieder denken, aber davon wieder nüchtern zu sein, davon war ich noch sehr weit entfernt. Diesmal entschied ich mich jedoch bewusst dafür, dass ich entlang des Rheins Richtung Norden ging.

Ich ging, hob den Kopf gen Himmel, schloss die Augen und atmete erst einmal wieder richtig tief ein. Der Sauerstoff drang durch meine Nase bis in die Bronchien, wo sie einen brennenden, aber angenehmen Schmerz verursachten. Es tat gut, sich wieder selbst zu spüren und vor allem zu spüren, dass die Welt immer noch existierte. Trotz einer derartigen Nacht.

Ich steckte mir die Hände in die Hosentaschen und schlenderte sehr langsam am Rhein entlang. Es war eine ungewöhnliche Stimmung. So wie man eine Großstadt sonst eigentlich kaum erlebt. Es hatte schon fast etwas von einem Kleinstadtflair. Kaum Menschen auf den Straßen, im Grunde war ich die einzige wirkliche Person und nur ab und an ein paar Autos, die auf der Straße an mir vorbei fuhren. Im Hintergrund zwitscherten schon die ersten erwachenden Vögel, aber sonst nur Stille. Man hörte sogar das Strömen des Rheins, das sonst vom Stadtlärm übertönt wird.

Es war besonders und ich genoss es. Ich genoss es so, als wenn es mein letzter Tag wäre. Und so schlenderte ich am Alten Hafengeländer vorbei, unter der Severinsbrücke hindurch in Richtung Deutzer Brücke. Und mit jedem Schritt genoss ich mehr diese Atmosphäre, dieses Besondere. Nur ab und an hörte ich das Klingeln der U-Bahn, die über die Straße entlang fuhr und sich somit Aufmerksamkeit verschaffte.

Aber mit jedem weiteren Schritt kam auch die Erinnerung an die letzte Nacht wieder. Es war eigentlich nur eine Erinnerung, die sich immer mehr Platz in meinen Gedankengängen verschaffte. Es war dieses Bild, wie Kai mit diesem ... diesem Martin. Bei dem Namen stieg mir schon die Übelkeit bis in den Rachen und am liebsten hätte ich mich dabei übergeben. Wieso musste er diesen Typen anschleppen? Ich verstand es nicht ... Doch ich verstand es, ich verstand zum ersten Mal, dass ich eifersüchtig war. Dass diese eine Nacht mit Kai nicht bloß schön war. Sie war etwas Besonderes, zumindest für mich. Und ich wollte sie nicht nur einmal. Ich wollte ihn und mit jedem Schritt wurde mir dieses mehr klar.

Die Umgebung nahm ich nach und nach immer weniger wahr. Diesmal jedoch nicht aufgrund des Restalkohols, der noch in meinem Blut schwamm, sondern einfach nur durch die Gedanken an Kai und an diesen Martin. Ich wollte ihn, aber er musste sich ja irgend so einen Typen anlachen. Es tat weh, es tat richtig weh. Und ich lief und lief und lief.

"Warum?", flüsterte ich erst leise vor mich her.

"Warum?", wurde es immer lauter und schließlich schrie ich. Und dieses ‚Warum’ erhellte die ganze Umgebung, sodass die ersten Tauben davon aufgeschreckt wurden und wie wild durch die Luft flatterten. Ich sah nach vorn und bemerkte, dass ich jetzt schon bis unter die Deutzer Brücke gegangen war und mein Ausruf deswegen so hallte. Ich schaute auf den Rhein hinaus und lehnte mich dabei auf die Brüstung. "Warum", fragte ich noch einmal leise für mich.

"Warum was?", fragte eine Stimme direkt hinter mir.

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