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Ordinary

Teil 4

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Ich zuckte bei dieser Stimme zusammen und drehte mich abrupt um. Und sah Kai an einen Brückenpfeiler gelehnt.

"Was machst du denn hier?" Fragte ich geschockt.

"Dieselbe Frage könnte ich dich fragen."

"Ich war nur spazieren." Erwiderte ich knapp.

"Siehst du ich auch."

"Und wo ist Martin?", fragte ich neugierig, ohne überhaupt nur daran zu denken, was ich da eigentlich sagte.

"Ich habe keine Ahnung. Vielleicht zu Hause im Bett oder bei irgendwem anderen im Bett oder vielleicht auch am Aachener Weiher." Kai zuckte mit den Schultern und schaute mich dabei eher gelangweilt an.

"Wieso ist er nicht mit dir zu Hause in deinem Bett?"

"Weil ich das nicht wollte."

"Warum?"

"Und da wären wir schon wieder bei dem „Warum“, mit dem du die Tauben hier aufschreckst." Lächelte mich Kai an. Auch wenn mir bei diesem Lächeln innerlich richtig warm wurde, merkte ich, dass sich die Luft in der Nacht doch ziemlich abgekühlt hat. Ich begann zu frieren und schlang somit die Arme vor der Brust zusammen.

Kai kam auf mich zu, stellte sich neben mich und starrte in den Rhein.

"Schön nicht?", ließ er nach einer kleinen Ewigkeit des Schweigens fallen.

"Was?"

"Köln zu so einem Zeitpunkt. Die meisten Menschen, selbst wenn sie in Köln geboren sind, wissen nicht, wie schön es hier sein kann. Sie laufen achtlos am Dom vorbei oder auch über die Rheinpromenade und vergessen, wie schön es hier sein kann. Vor allem um diese Uhrzeit, wenn kein Mensch hier ist. Im Winter, wenn es frisch geschneit hat, ist es hier noch schöner. Dicke Flocken die vom Himmel herabgleiten und das Licht der Laternen brechen und diese dann geschlossene Schneedecke, über die noch niemand gegangen ist. Unter dir knirscht bei jedem Schritt der Schnee, der zusammengepresst wird. Und vor allem du hörst das Knirschen.

Du hörst keine Autos, keine herumschreienden Menschen. Nur das Knirschen deiner Schritte." Kais Blick ging in die Ferne, so als wäre er schon gar nicht mehr da, sondern in längst vergangenen Winternächten.

Ich stand neben ihm und rieb mir die nackten Arme, da mir doch so langsam richtig kalt wurde.

"Hey, du frierst ja." Riss sich Kai plötzlich wieder aus seinen Träumen. Er zog seine dünne Jeansjacke aus, stellte sich hinter mich und legte sie mir über die Schultern. Bis heute verstehe ich nicht, woher ich dann den Mut nahm, aber ich ließ mich einfach nach hinten an seine Brust sinken. Kurzfristig irritiert, stoppte Kai in seiner Bewegung, mich in die Jacke zu Hüllen, aber dann kam für mich etwas unerwartetes. Er legte seine Arme um mich und zog mich so noch enger an sich heran.

Spätestens in diesem Moment war auch der letzte Rest an Alkohol verflogen. Meine Gedanken waren dennoch alles andere als klar. Alles schoss mir durch den Kopf, immer wieder neue Gedankenfetzen. Aber nie wirklich ein Gedankengang, der auch nur ansatzweise nachvollziehbar war. Wir standen einfach so da. Kai die Arme um mich geschwungen und er machte auch keine Anstalten sie dort wieder weg zu nehmen. Und ich hätte einen Teufel getan, dieses zu verlangen. Am anderen Rheinufer sah man jetzt deutlich, wie sich der rote Feuerball hinter dem Horizont hinaufquälte und den Tag einläutete. Der ganze Himmel war mit einem gelb-rosa-roten Farbgemisch angemalt.

"Martin war übrigens ziemlich sauer." Durchbrach Kai mit rauer Stimme die Stille.

"Wieso?"

"Weil ich ihn einfach stehen ließ." Wir schauten uns bei diesen Worten nicht an, sondern den Horizont auf der anderen Rheinseite.

"Wieso hast du ihn denn stehen lassen?", hakte ich mit kaum hörbarer Stimme nach.

"Weil es sowieso nur Spaß für eine Nacht geworden wäre."

"Und was ist daran so schlimm?"

"Ich hatte keine Lust auf nen One-Night-Stand. Ich konnte nicht mehr", erklärte er.

"Warum hast du dich dann mit ihm eingelassen?"

"Weil ich sonst auch nichts gegen nen One-Night-Stand hatte. Ich bin kein Moralapostel, aber auch niemand, der rausgeht mit dem Ziel, jemanden für die Nacht zu finden. Aber wenn es passiert, dann passiert es. Aber heute war es anders." Kais Stimme klang verträumt und warm.

"Was war denn anders?"

"Ich habe dich auf der Treppe gesehen!", sagte er kurz und knapp. Ich sah Kai daraufhin nicht an, aber ich wusste, dass trotz dieser selbstsicheren Aussage, sein Gesicht gerötet war.

"Und die Nacht von neulich kam mir wieder in Gedanken. Da konnte ich einfach nicht mehr, die Lust auf diesen Martin war vergangen. Ich wollte was anderes. Aber da ich dies nicht bekommen konnte, bin ich statt dessen durch die Stadt gelaufen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen." Er erzählte nicht weiter, da ich wusste, was er meinte. Er musste es nicht mehr aussprechen. Es lag einfach so zwischen uns, keiner musste es benennen und dennoch wusste jeder, was gemeint war.

"Und warum bist du um diese Uhrzeit hier?", fragte Kai nach einer längeren Stille.

"Weil ich dich auf der Treppe gesehen habe." Mehr gab es von mir nicht als Antwort. Statt dessen drehte ich mich zu ihm und schaute ihm direkt in die Augen. Und jetzt sah ich die Angst, die aus ihnen sprach. Er war ängstlich vor dem, was jetzt geschehen würde. Und es geschah: erst zaghaft, schon fast ängstlich. Aber wir küssten uns ...

... "Warum hast du so lange gebraucht?", hallte mir Kais Stimme immer noch im Ohr nach, während ich wieder alleine die Treppe zu meiner Wohnung hoch schlich. Draußen war es schon wieder dunkel geworden und das ganze Haus schien schon in Schlaf versunken zu sein.

"Wieso hast du so lange gebraucht", hörte ich immer wieder seine Stimme. Es war schon irgendwie merkwürdig. Wir sahen uns schon fast täglich, wenn auch nur für teilweise fünf Minuten, aber dennoch hatten wir mehr als ein halbes Jahr gebraucht, um soweit zu kommen. "Warum hast du so lange gebraucht?", hallte es erneut, als ich den Schlüssel in mein Schloss steckte und zu meiner Wohnung hinein ging.

Schon allein der Tag war merkwürdig. Wir hatten keinen Sex, wir saßen einfach nur eng aneinander gekuschelt auf den Wiesen am Rhein. Nur ab und an küssten wir uns. Sogar recht zaghaft, wenn nicht sogar noch ängstlich. Aber mehr geschah nicht. Weder Kai noch ich hatten auch nur je Andeutungen gemacht, dass man doch woanders hingehen könnte, oder gar zu einem von uns beiden gehen könnte. Und es war schön. Es ging endlich mal nicht nur um Sex und mir hatte es gereicht, einfach in seinen Armen den Tag zu genießen und meine dann doch kommenden Kopfschmerzen zu kurieren. Der Alkohol ließ grüßen.

Wir haben nicht einmal groß miteinander geredet. Wir haben uns eigentlich die ganze Zeit nur gelangweilt. Und es war schön, diese Langeweile genießen zu können. Schließlich muss man ja nicht jeden Tag etwas Besonderes unternehmen. Das geht auch gar nicht. Wie mir mal ein Freund gesagt hat, ist die größte Hürde für eine Beziehung, dass man sich gemeinsam langweilen kann, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben.

Und diesen Tag hatte ich es verstanden. Nein, nicht nur verstanden, sondern selbst erlebt. Und ich kann nur immer wieder sagen: Es war schön.

Ich ging durch mein Zimmer und sah den AB blinken.

"Hallo hier ist Greta ..." Ich ließ das Band laufen und ließ mich dabei selbst aufs Bett fallen. ".. Schade, dass du einfach so verschwunden warst. Ich hoffe dir geht’s gut und meld dich einfach mal, wenn du deinen Rausch ausgeschlafen hast." *Piep*

"Fritz? Immer noch nicht zu Hause? Ich bin’s noch einmal ..." schallte Greta aus dem Lautsprecher mir entgegen "... Ich wollte mich nur einfach mal bedanken. Ich hoffe du weißt wofür. Wir telepfonieren miteinander." *Piep*

"Hallo Fritz? Flo hier. Ich weiß zwar nicht, warum du abgehauen bist, aber ich hoffe dir geht es wirklich gut und ich denke einfach mal, wir müssen miteinander reden. Wie wär’s mit morgen Abend? Meld dich einfach nur kurz!" *Piep*

Erschrocken fuhr ich zusammen, als es plötzlich an der Tür klopfte. Mir waren eben beim Abhören des Anrufbeantworters die Augen zu gefallen und war schon fast eingeschlafen. Schlaftrunken rappelte ich mich auf und ging zur Tür. "Moment" rief ich noch entgegen, als erneut geklopft wurde.

"Wer stört denn zu solch einer Tageszeit?", fragte ich in dem Moment, als ich die Tür aufriss.

"Ich", kam es nur kurz und knapp von Kai, der dort stand und im gleichen Moment auf mich zustürmte, um mich abzuküssen. "Hey. Was machst du denn hier?", versuchte ich unter den Küssen herauszupressen. Ohne von mir abzulassen, antwortete er abgehackt: "Ich hab meine leere Wohnung nicht ertragen. Nicht fünf Minuten. Heute brauch ich dich einfach. Und nicht nur heute, sondern auch morgen und noch länger." Diesmal waren die Küsse jedoch anders. Sie waren fordernder. Sie waren forscher. Aber es war dennoch genauso schön. Ich ließ die Tür ins Schloss fallen, während ich Kai daraufhin in Richtung Bett dirigierte, ohne dabei das Küssen zu lassen. Nach und nach fiel auf dem Weg dorthin Kleidungsstück für Kleidungsstück ...

... Statt zu schlafen, lag ich lieber wach da und schaute Kai beim Schlafen zu. Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen. Ich lag wach in den Armen von Kai und meine Augen wanderten immer auf und ab. Von seiner sich immer wieder hebenden Brust, bis zu seinem Gesicht, das im Schlaf ganz anders wirkte. Es war viel entspannter, man könnte es vielleicht sogar mit sorgloser bezeichnen. Kai hatte sonst immer trotz seiner Gelassenheit einen sehr harten, unangreifbaren Gesichtsausdruck. Dieser war jetzt gewichen und es wirkte beinahe schon verletzlich.

Auch wenn ich es auch nicht definitiv wusste, aber irgendwie war ich in diesem Moment stolz. Mächtig stolz sogar. Denn so verletzlich lässt man sonst eigentlich niemanden an sich heran, und dass Kai mich dieses erleben ließ, darauf war ich stolz.

Es konnte Einbildung gewesen sein, es konnte aber auch wahr gewesen sein. Es war mir eigentlich egal. Ich genoss es, dieses zu sehen. Ich genoss es, in seinen Armen zu liegen und jetzt wieder meinen Kopf auf seine Brust zu legen. Das Herz schlug ruhig. Tock tock ... tock tock ... tock tock. Drang es immer wieder in mein Ohr. Ich schloss die Augen und hörte nur noch auf dieses "tock tock". Über diesem monotonen Geräusch wurden dann auch meine Gedanken schwerer und immer schwerer, bis ich schließlich selbst in die Traumwelt entglitt, in der Hoffnung auch dort noch in Kais Armen zu liegen und seine Nähe und Wärme genießen zu können ...

... "Hallo?"

"Flo? Hier ist Fritz!"

"Ah, hallo, hab mich schon gewundert, wessen Nummer das ist."

"Ich ruf dich nur kurz von meiner Arbeit aus an. Hatte vorher leider keine Zeit dich zurückzurufen."

"Kein Problem. Hab ja schon gemerkt, dass Kai nicht zu Hause war ..."

"...Lass uns das später besprechen", fiel ich ihm ins Wort.

"Ok, wann denn später?"

"Ich bin hier um 16 Uhr raus. Wie wär’s um 16:30 Uhr bei mir?"

"Klar, kein Problem. So kommt uns Kai zu mindest nicht in die Quere. Also bis 16:30."

"Tschöö.", reagierte ich etwas verdutzt und legte den Hörer auf. Aber wirklich zum Nachdenken über seine letzten Worte kam ich erst wieder, als ich auf der Heimfahrt in der U-Bahn saß.

Um ehrlich zu sein, hatte ich einfach Angst davor, was passieren würde. Was zwischen den beiden Cousins passieren würde und ich hatte Angst durch eine derartige Situation alles zu zerstören.

Ich stieg aus der Bahn und ging gedankenverloren in Richtung Wohnungstür.

Beim Umdrehen des Schlüssels im Schloss schrak ich zusammen, als plötzlich Kai hinter mir stand. "Hey was ist los mit dir? Bin ich so zu übersehen?"

"Bah, erschreck mich ja nicht noch einmal so!", erwiderte ich mit zittriger Stimme.

"Dann übersieh mich das nächste mal nicht!", antwortete Kai mit sanfter Stimme und hatte schon im gleichen Moment seine Arme um mich geschwungen.

"Klar versprochen. Aber ich muss jetzt auch schon wieder los."

"Hey so schnell versuchst du mich wieder loszuwerden?", empörte sich Kai.

"Nein natürlich nicht..."

"Hey keine Ausreden", grinste er mich an. "Aber ich muss sowieso noch was erledigen! Sehen wir uns heute Abend?"

"Wenn du magst?", schaute ich fragend und auch irgendwie ängstlich. Ich hatte immer noch die Angst, dass es wie schon das letzte Mal, nur für eine Nacht gereicht hätte.

"Natürlich. Wohin denkst du?"

"Ach nichts. Erklär ich dir dann heute Abend. Komm einfach vorbei. Ich werd heut sowieso nicht mehr rausgehen." ....

Ich schrak aus meinen Gedanken auf, als so plötzlich diese Stille durch ein schrilles Geräusch gestört wurde. Meine Klingel und hinter dieser Klingel sollte niemand anderes warten als Flo.

Als ich ein paar Minuten zuvor selbst erst nach Hause gekommen war, schmiss ich nur noch meinen Rucksack in die Ecke und stellte mich einfach auf den Balkon.

Ich sah in die Ferne, versuchte den Horizont abzutasten. Versuchte einfach zu entschwinden. Und gedanklich gelang es sogar. Ich entrann und vergaß meine Umwelt. Ich war förmlich nicht existent. Genau beschreiben kann ich es bis heute nicht. Aber gedanklich war ich nicht da. Ich schlief nicht, ich träumte nicht, ich starrte einfach gerade aus und sah doch nichts.

Erst durch dieses schrille Signal wurde ich wieder wach. Wer weiß, wie lange ich sonst so dagestanden hätte. Vielleicht bis in alle Ewigkeit?

Ich drehte mich um und schlich zur Tür und mit jedem Schritt wurden meine Füße schwerer. Ich hatte Angst vor dem, was jetzt passieren würde. Ich hatte mehr Angst vor diesem Moment, als vor meinem Coming Out, welches schon Jahre zurück lag.

Eigentlich hätte ich doch keine Angst haben müssen. Es war doch nix. Es war halt nur Kai, sein Cousin. Es war ... nichts. Und dennoch hatte ich Angst.

Meine Füße fühlten sich an wie Betonklötze, so als wollten sie mich vor der Situation bewahren, mich davor schützen. Aber irgendwann hilft auch kein imaginärer Beton, irgendwann hilft bloß der eigene Verstand. Und der sagte mir, dass es an der Zeit sei, klare Verhältnisse zu schaffen, bevor es wirklich schlimm wird.

"Hallo", streckte ich im gleichen Moment, wie ich die Tür öffnete, Flo die Hand entgegen und setzte dazu ein Allerweltslächeln auf.

"Hi Fritz."

"Komm erst mal rein."

Einsilbige Begrüßung. Und irgendeine Spannung lag im Raum. Sie war jedoch nicht zu beschreiben. Sie war da und wartete darauf zu verpuffen.

Flo ging direkt auf den Balkon und ließ sich dort auf einem Stuhl nieder.

"Ich hoffe dich stört es nicht, wenn wir draußen sitzen. Aber ich find das Wetter zu herrlich und vor allem ist der Ausblick von hier oben, einfach zu genial."

"Kein Problem", antwortete ich kurz und knapp und war leider schon wieder am Ende meines Vokabulars. Im Nachhinein muss ich mich angestellt haben, wie ein kleines, verschüchtertes Kind, das zum ersten mal in die Schule geht. Viel zu nervös, um auch nur einen Ton hervorzubringen. Und das, obwohl man viel zu viele Fragen hat.

"Beruhig dich mal ein bisschen", schaute mich Flo ernst an und ergriff meine Hand. Beziehungsweise, er versuchte sie zu ergreifen. Denn schon bei der kleinsten Berührung zuckte ich, wie vom Blitz getroffen zurück. So als wenn ich mich an einer heißen Flamme verbrannt hätte.

"Hey ganz ruhig. Ich wollte dir nicht zu nahe treten. Du scheinst wirklich arg neben dir zu stehen.", reagierte Flo.

"Sorry, aber ich bin nicht wirklich gut drauf. Ich habe einfach Angst davor, was heute alles geschehen könnte." Ich fand wieder zu Worten und konnte doch nicht formulieren, was mir auf dem Herzen lag. Irgendetwas in mir zwang mich, es nicht aussprechen zu können.

"Keine Angst. Ich hab es schon länger verstanden."

"Was verstanden?"

"Das du nichts von mir willst, bzw. je gewollt hast." Flo lehnte sich an die Brüstung, verschränkte die Arme vor der Brust und gab einen leichten Seufzer aus. "Und keine Angst, ich trauere nichts hinterher, was nie angefangen hat."

Ich war förmlichst erstaunt, wenn nicht sogar erschrocken darüber, wie erwachsen Flo wirken konnte. Er war vollkommen verändert. Aus dem Teenager entsprang der Mann. Und das viel Erstaunlichere: Ich erkannte Spuren von Kai in ihm.

Dieser Gesichtsausdruck, dieser durchdringende Blick und dennoch diese Zärtlichkeit, die in diesem Blick liegt. Es war, als würde ein jüngerer Kai vor mir stehen.

"Und jetzt beruhig dich erst mal." Er kam auf mich zu und versuchte mich zu umarmen, doch ich war nach wie vor wie ein Eisblock, der erst nach und nach in dieser Umarmung auftaute.

"Und keine Angst", säuselte er mir ins Ohr. "Es stört mich nicht, dass du etwas mit Kai angefangen hast. Es freut mich eher, dass er anscheinend wen gefunden hat, bei dem er länger bleiben kann ..." Der Satz schien grammatikalisch vollständig zu sein, aber irgendwie klang es, als war es dennoch nicht zu Ende gesprochen.

"Danke", erwiderte ich nur und drückte ihn noch einmal fest an mich, um mich schließlich wieder von ihm zu lösen.

"Alles wieder Ok?", fragte Flo nach einigen Momenten, als wir uns wieder gegenüberstanden, aber mit einer angenehmen Distanz zwischen uns.

"Klar, ich frage mich nur gerade, wie du darauf kommst, dass er bei mir länger bleiben kann, bzw. dieses will?"

"Ob er dieses kann, das kann ich natürlich nicht sagen. Ich glaube nur, dass er sehr wohl will. Er war schließlich nicht in seinem Bett die ganze letzte Nacht." Und ein verstohlenes Grinsen huschte über Flos Gesicht.

"Aber er war doch sonst auch öfter mit anderen Typen die Nacht über ..." ich geriet schon allein beim Gedanken daran ins Stottern.

"Du meinst, dass er sonst auch ab und an mit anderen Typen rumgevögelt hat.", grinste mich Flo erneut an und ich nickte nur etwas verschämt.

"Er hat zwar mit einigen rumgevögelt. Aber dabei blieb es auch. Er hat bei diesen Typen nie übernachtet. Es war immer nur Spaß, und wie er mir dann einmal erzählt hatte, ergreift ihn dann immer die Angst. Und auch eine Art Ekel. Er will dann einfach nur weg und geht schließlich auch. Er muss sich ja nicht weiter rechtfertigen, denn mehr als ein One-Night-Stand war ja nie anvisiert."

"Und letzte Nacht hast du auf ihn gewartet und er kam nicht.", führte ich seine Gedanken fort.

"Nein, dass ganz und gar nicht. Ich bin ja schließlich nicht sein Wachhund. Aber normalerweise werde ich wach, wenn er nach Hause kommt. Doch diesmal konnte ich von niemandem geweckt werden. Er kam ja schließlich nicht, und als ich dann sein unbenutztes Bett sah, da war es schon klar."

"Aber, wie kommst du darauf, dass er hier war?" Versuchte ich einen letzten verzweifelten Versuch, doch nicht direkt alles preiszugeben.

"Wo hätte er denn sonst sein können. Und so wie ihr euch am Wochenende angesehen habt, da war mir schon klar, dass da mehr im Busch ist. Besonders, als Kai immer unruhiger wurde und sich in einer etwas lauteren Auseinandersetzung von seinem Spielgefährten verabschiedete, war es klar."

"Was war klar?", wollte ich noch immer nicht alles unversucht lassen.

"Na, dass nicht nur du was von ihm willst. Sondern ihm auch was an dir lag bzw. liegt. Nun gib es doch endlich zu. Ich hab euch zwar nur aus der Ferne auf der Treppe gesehen, aber was ich gesehen hab, das war eindeutig. Und letztendlich bist du ja schließlich unmittelbar danach auch ohne wirkliche Verabschiedung verschwunden."

Ich schwieg und versuchte meine Augäpfel von innen zu sehen. Ein Unterfangen, das zum Scheitern verurteilt war. Aber es half zumindest für einen Moment, sich abzulenken. Aber auch nur einen kurzen Moment. Bis schließlich Flos Bild auf meinen Sehnerv prallte.

"Und wie stehst du jetzt dazu, ich meine ... du hast mich damals geküsst ... beziehungsweise es versucht."

"Es freut mich. So hat Kai endlich wen, auf den er sich konzentrieren kann. Und glaub ja nicht, dass ich dir jetzt nachheulen werde. So gut bist du nun auch wieder nicht.", grinste er mich an.

"Das glaubst aber auch nur du. Du wirst noch sehen, was dir Kai weggeschnappt hat. So einen Superpreis wie mich, dass gibt’s nicht oft."

"Ich weiß ...", chaute Flo nachdenklich Richtung Horizont, "und auch ich werde so jemanden irgendwann mal treffen. Sicherlich nicht heute oder morgen. Aber irgendwann mit Glück vielleicht."

"Ich wünsche es dir."

"Und ich wünschte mir mehr Zeit im Leben.", schlug seine Stimme um. Verdutzt fragend schaute ich ihn an. "Ach ich muss nur schon wieder los. Hab noch etwas zu erledigen."

"Was denn?" Fragte ich rein aus Höflichkeit.

"Sorry ist etwas zu privat."

"Ach so. Eine neue Flamme also", entsprang es meiner Kehle ohne nachzudenken. Und letztendlich wurde ich feuerrot.

"Man kann es durchaus so nennen. Ja. Aber jetzt muss ich."

"Danke, dass du hergekommen bist", umarmte ich ihn noch einmal vor dem Gehen.

"Nichts zu danken. Ich wollte nur mal klare Fronten schaffen. Also bis bald."

"Bis die Tage", verabschiedeten wir uns und er verließ die Wohnung, wohin auch immer.

Gedankenverloren lehnte ich an der Tür und ließ noch einmal alles Revue passieren. Und ich war über Flo wirklich überrascht. Ich hätte ihm nie zugetraut, derartig aufmerksam zu sein. Und vor allem so feinfühlig, etwas Derartiges zu bemerken. Flo war doch weniger Kind, als ich gedacht hatte. Ich musste noch einmal über mich selbst schmunzeln, wie ich mir doch selbst die Hölle heißgemacht habe. Und warum? Wegen gar nichts. Wegen rein gar nichts. Kein Eifersuchtsdrama, einfach nur nichts.

Erleichtert ließ ich einfach an Ort und stelle meine Klamotten fallen und stieg unter die Dusche, um mich noch mal frisch zu machen. Ich duschte und duschte und zwischendurch schüttelte ich immer wieder den Kopf und lachte dabei. Was hatte ich doch für einen Bammel und wie musste ich mich wohl lächerlich gemacht haben. Aber mit jeder weiteren Minute unter der Dusche verflog der Gedanke. Über dem Duschen vergaß ich die Zeit und achtete gar nicht darauf, dass auch Kai irgendwann auftauchen würde. Fast schon zu spät registrierte ich ein leises Klingelgeräusch im Hintergrund.

So spät ich es auch registriert hatte, umso schneller reagierte ich. Wobei ich dann auch fast ausgeglitten wäre und mir wohl den Schädel aufgeschlagen hätte, wenn sich nicht noch eine Hand am Waschbecken hätte festhalten können. Ohne darüber nachzudenken, dass ich mich fast hingelegt hätte, ergriff ich ein Handtuch, wickelte es mir um die Hüften und sprintete zur Tür und riss diese dann auch auf.

"Hey was lässt du mich so lange Warten. Ich dachte schon, du hättest mich vergessen", hauchte er mir mit weicher Stimme entgegen und trat direkt vor mich, um mich in seine Arme zu schließen.

"Sorry, wie kann ich das nur wieder gut machen?", säuselte ich zurück und schaute ihn schuldbewusst an, während ich auch meine Arme um ihn schlang.

"Ich wüsste da etwas", funkelten mich seine Augen an, bevor der erste von vielen Küssen folgte und das Handtuch zu Boden fiel ...


"Wie soll es nun eigentlich weitergehen?", stellte ich die Frage einfach in den Raum. Es war in der Zwischenzeit schon dunkelgeworden und wir lagen kuschelnd nebeneinander auf dem Bett und starrten beide an die Decke.

"Wie meinst du das?", fragte er kaum hörbar zurück. Obwohl niemand weiter im Raum war, schien es so, als würde sich keiner von uns beiden trauen, richtig zu reden, und damit die Stille zu zerstören. Statt dessen flüsterten wir und starrten vor uns hin.

"Na ich meine, wie soll es mit uns beiden weiter gehen?"

"Reicht es nicht wie bisher?", fragte Kai etwas verdutzt.

"Wie geht es denn bisher?"

"Na wir machen das, wozu wir Lust haben."

"Also nur heimlich bei mir in der Wohnung ab und an mal Sex?" Im richtigen Ton hätte die Frage überspitzt und sogar verletzend wirken können. Doch zu dieser Tonlage war ich in diesem Moment einfach nicht in der Lage. Vielmehr säuselte ich es verliebt vor mich dahin, so als würde ich sagen ‚ich liebe dich’.

"Nein, so war das auch nicht gemeint", seufzte er.

"Wie denn dann?" Ich drehte mich zu ihm und sah ihm fragend ins Gesicht.

"Na ja, keine Ahnung. Ich denke nur es ist wohl das Beste, wenn es zu Anfang nicht unbedingt direkt jeder weiß."

"Du meinst also, dass es Flo nicht wissen darf?", fragte ich zurück, denn so langsam merkte ich, aus welcher Richtung der Wind wehte. Und er antwortete nicht, sondern nickte einfach nur.

"Und warum?"

"Weil ich nicht glaube, dass er das verstehen wird, beziehungsweise noch nicht bereit ist zu verstehen."

"Was zu verstehen?", hakte ich weiter nach.

"Das es da noch wen in meinem Leben gibt, der so viel Einfluss auf mich hat wie er. Ich denke nicht, dass er schon dazu bereit ist, mich loszulassen." Kai schaute mich mit ernstem Blick an, so als würde er erst mal keine Widerworte dulden. Und ich gab auch erst mal keine. Denn ich wusste sowieso schon nicht, wie ich hätte reagieren sollen. Schließlich hatte ich ja schon alles förmlich vor Flo gestanden. Wenn man es so ausdrücken kann.

Und in dem Moment befand ich mich dort, wo ich nie hinwollte. Ich befand mich zwischen den beiden. Zwischen Kai und Flo. Aber auf eine Art, wie ich sie nicht erwartete hätte. Ich konnte Kai nicht sagen, dass ich schon längst mit Flo über alles gesprochen hatte und gleichzeitig musste ich Kai anlügen. Aber diesmal hatte ich nicht so ein Gefühl wie den Nachmittag zuvor, dass ein Unwetter im Anmarsch war. Alles würde sich von selbst irgendwie lösen. Und so kuschelte ich mich lieber wieder an ihn und legte mein Ohr auf seine Brust.

Totock ... Totock ... Totock. Sein Herz schlug ruhig und gleichmäßig und unter diesem monotonen Geräusch entschwand ich wieder in einen traumlosen Schlaf ...

...“Warum?“ Schoss mir die schon so oft gestellte Frage durch den Kopf, während Tränen über meine Wangen glitten und nicht aufhören wollten zu versiegen...

Es war schon irgendwie Paradox. Ich saß bei dem wohl schönsten Sonnenuntergang am Rheinufer und heulte. Fühlte mich dreckig und vor allem schuldig. Und das schlimme, die Situation und der Sonnenuntergang verstärkten nur noch dieses Gefühl.

...“Warum?“, schoss mir die schon so oft gestellte Frage durch den Kopf, während Tränen über meine Wangen glitten und nicht aufhören wollten zu versiegen.

Die Bilder der vergangenen Stunden flimmerten immer wieder an meinem inneren Auge entlang. So wie eine Endlosschleife, nur um mich zu quälen.

"Wieso hast du das getan?", hörte ich Kai im Telefon.

"Was getan?", fragte ich ziemlich verdutzt und hatte doch eine Ahnung, worauf er hinauswollte.

"Wieso hast du es Flo erzählt?" Seine Stimme wirkte fest und entschlossen.

"Er hatte mich einfach ... einfach überrannt und ich konnte nicht mehr verneinen.", erwiderte ich mit zittriger Stimme.

"Also hast du mich mit Absicht gestern belogen. Du hattest mir was versprochen."

"Ich hatte ..."

"Red dich jetzt nicht raus." Seine Stimme war immer noch fest.

"Aber ..."

"Nein es gibt kein Aber mehr. So wird nichts aus uns?" Seine Stimme wurde weich und zittrig. Aber sie wurde scharf wie ein Messer, das sich in mich bohrte und mir so die Luft raubte.

"Tschö", hörte ich noch als letztes und direkt danach einen unterdrückten Seufzer und vor meinem inneren Auge, sah ich, wie er weinend am Telefon saß und im gleichen Moment auflegte.

"Aber warum?", flüsterte ich leise, während schon das Tuten der Telefonleitung an mein Ohr drang.

Im Moment des Anrufes war ich grad frisch von der Arbeit gekommen und stand noch mit Tasche auf dem Rücken mitten in meinem Appartement. Das Telefonat war kurz. Und mit jedem weiteren Satz von Kai verkrampfte ich innerlich. Und als er schließlich aufgelegt hatte, sank ich zu Boden und begann zu weinen. Im Grunde wusste ich nicht einmal, warum es zu diesem Anruf kam. Es war mir auch in diesem Moment egal. Das Einzige, was ich registrierte: Kai war nicht da. Kai wollte nicht wiederkommen. Kai war weg.

Ich lag einfach nur da und weinte ...

„Tschö“, hallte es immer wieder in meinem Inneren. Eine Floskel, die man zur Verabschiedung verwendet. Eigentlich liebevoll gemeint. Zu jemandem, den man eigentlich mag und den man wiedersehen mochte. Eine Form der kölschen Intimität. Aber es klang anders. Es klang hart, es klang endgültig, es klang giftig, es klang fies. Um mich herum schwirrten Gesichter, die immer wieder „Tschö“ sagten. Vor meinen Augen tanzten, hüpften, drehten sich die Gesichter hin und her. „Tschö“. Kalt, herzlos und immer lauter werden...

Dieses „Tschö“ ist nun schon vier Wochen her. Und was war in der Zwischenzeit passiert? Eigentlich nicht viel und doch so einiges. Mein Lebensrhythmus blieb gleich. Nur ich war verändert. Ich ging brav jeden Morgen zur Arbeit und traf mich auch weiterhin mit Greta und Thomas. Auch wenn ich versuchte, mich normal zu verhalten, merkten beide, dass ich die Situation noch nicht verstand und das Geschehene nicht verarbeitet hatte. Aber das Schöne an beiden war ganz klar, dass sie mich in Ruhe ließen. Sie bohrten nicht weiter nach, sie versuchten nicht auf Zwang mit mir darüber zu Reden. Sie ließen mich einfach in meiner Gedankenwelt und warteten einfach, bis sie bruchstückartig alle Details erfuhren.

Und was war mit Kai und Flo? Ich hatte ehrlich gesagt keine Ahnung. Von keinem von beiden hörte ich auch nur irgendetwas. Flo schien wie vom Erdboden verschluckt und Kai sah ich maximal für Bruchteile von Momenten in seinem Büro, bis er mich entdeckte und sich daraufhin so schnell wie möglich aus meinem Sichtfeld verzog ...

Und der Gedanke an ihn, der schmerzte. Selbst nach vier Wochen schmerzte es, und so vergoss ich einige Tränen in der Kölner Abenddämmerung. Aber ich wollte nicht mehr weinen, ich war es leid. Er konnte und durfte einfach nicht so über mein Leben verfügen. Es tat weh, aber mein Leben sollte weiter gehen. Ich wischte mir die Tränen aus den Augen und musste lachen.

Lachen darüber, wie ich mich so von einem Mann beeinflussen ließ. Wie er so mit mir spielen konnte ...

"Hallo, so alleine hier?", erschrak mich plötzlich eine Stimme von hinten.

Erschrocken drehte ich mich um. Ein verschmitzt dreinschauender Typ, so um die 25, lächelte mich an. "Ups sorry wollte dich nicht erschrecken!"

"Kein Problem, war nur grad in Gedanken vertieft.", erwiderte ich ihm.

"Darf ich mich dazusetzen und vielleicht mitschwelgen?"

Ich rückte nur ein oder zwei Zentimeter zur Seite, um zu zeigen, dass er sich setzen könnte.

"Ich bin übrigens Ralf", und streckte mir die Hand entgegen.

"Und ich Fritz."

"Hallo Fritz!", grinste er mich an und ich verspürte seit langem mal wieder so etwas wie Freude in mir, einfach mal wieder so zu lächeln. Nicht um nicht aufzufallen, sondern einfach, weil ich es wollte bzw. weil es aus mir heraus wollte.

"Und in welchen Gedanken schwelgtest du bis zu meiner Störung?", fragte Rolf und schaute auf den Rhein hinaus.

"Ach nur in der Vergangenheit. Also eigentlich nichts Besonderes."

"Wie kann die Vergangenheit nicht besonders sein? Jede Vergangenheit ist interessant."

"Schon ... aber ...", geriet ich etwas in Erklärungsnot.

"Aber sie tat weh", nahm Ralf mir die Worte aus dem Mund.

"Ja, aber wie gesagt es ist Vergangenheit."

"Und sie tut dennoch weh", entgegnete er mir ernst. Das Lächeln lag immer noch in seinem Gesicht, doch es war nicht mehr wirklich unbekümmert. Es wirkte sogar fast wie aufgesetzt.

"Warum tut sie denn weh?", fragte ich ihn.

"Weil irgendein Typ in dein Leben tritt, sich in deinem Herzen verewigt und letztendlich doch eine tiefe Narbe hinterlässt, die bis ans Lebensende wehtut."

"Und was kann man dagegen tun?"

"Nichts. Es akzeptieren, den Schmerz genießen. Schmerz gehört genauso dazu wie dieses schöne Kribbeln im Bauch."

"Aber es tut weh?!", erwiderte ich fragend.

"Ja und? Es tut weh, genieße es, solange du noch leben kannst. Das Leben ist so kurz, und du weißt nicht, ob du danach noch etwas fühlen kannst. Viele können nicht einmal in diesem Leben fühlen. Sie tun nur anderen weh, ohne je selbst dieses Gefühl erleben zu müssen." Er machte eine Pause, nahm einen kleinen Stein und warf in ins Wasser. "Aber sie tun mir mehr leid, als ihre ‚Opfer', denn sie werden nie selbst erleben, was es heißt zu leben."

Ich saß schweigend neben ihm und sah auf die letzen Strahlen der Sonne, die sich endgültig hinter dem Kölner Panorama verabschiedeten.

"Willst ein Bier?", unterbrach er die Stille und kramte aus seinem Rucksack zwei Flaschen.

Er wartete gar nicht erst auf eine Antwort, er drückte mir einfach eine in die Hand.

"Prost", stieß er mit mir an. Ich nippte kurz an der Flasche und starrte auf den immer dunkler werdenden Horizont. Die ersten Sterne begannen schon durch die Wolkendecke zu funkeln.

"Und dennoch will man, dass das Leben weitergeht."

"Ja",erwiderte ich nur knapp.

"Aber verleugne nicht den Schmerz, sondern lass ihn zu." Ralf legte den Arm um mich und zog mich zu sich heran. "Trau dich endlich. Zeige auch anderen, was du fühlst", raunte er mir ins Ohr. Und mir traten die Tränen in die Augen. Ich wollte nicht weinen, ich wollte nicht weiter trauern, aber es kam und ich genoss es. Es schmerzte, die Erinnerung schmerzte, aber der Schmerz veränderte sich.

Ich merkte, dass es zum Leben dazugehört, dass es nichts Schlimmes ist. Und in dieser Nacht schien ich mich endlich lösen zu können, lösen von der Trauer, lösen von den finsteren Gedanken. Aber eines merkte ich gleich, die Narbe würde weiter bestehen und es würde lange dauern, bis sie verwächst. Wenn sie überhaupt je verwächst.

Ralf rückte wortlos näher und nahm mich jetzt richtig in die Arme. Er umschlang mich förmlich wie eine Krake mit seinen Armen. Ich ließ ihn gewähren und lehnte mich einfach zurück. In diesem Moment brauchte ich einfach die Nähe und ich weinte. Die Tränen liefen mir nur so über meine Wangen. Ich schloss die Augen und ließ mich fallen. Nicht nur körperlich, auch meine Gedanken entschwanden ...

Ich öffnete die Augen wieder. Ralf hatte immer noch seine Arme um mich geschlungen und hielt mich fest und warm. Doch eines war anders. Etwas Merkwürdiges. Ich war nicht mehr am Rhein, ich war in einer Wohnung. In Kais und Flos Wohnung.

Wir saßen auf deren Sofa und auf der anderen Seite ging Kai. Er ging auf und ab, die ganze Zeit, als würde ihn etwas bedrücken. Als hätte er vor etwas Angst. Seine Augen irrten durch den Raum, ohne auch nur irgendetwas zu sehen. Sie schienen ängstlich, aber auch irgendwie verbittert und leidend. "Kai?", fragte, ich, doch er reagierte gar nicht erst.

Kai blieb plötzlich stehen und Griff zum Telefon und wählte eine Nummer. Er atmete tief ein und sein Gesichtsausdruck verwandelte sich in reinen Zorn.

"Wieso hast du das getan?", sagte Kai, ohne das übliche Begrüßungsritual. Ein säuseln kam aus dem Hörer. Durch die Entfernung konnte ich nichts verstehen, aber dennoch ahnte und wusste ich, was gesagt wurde.

"Wieso hast du es Flo erzählt?" Seine Stimme war fest und entschlossen und seine Augen blitzten wütend. Wieder kam nur an Säuseln an meine Ohrmuscheln.

‚Kai' wimmerte ich, denn die ersten Tränen begannen zu fließen.

Aber er schien mich nicht zu hören.

"Also hast du mich mit Absicht gestern belogen. Du hattest mir was versprochen ... red dich nicht raus." Wurde Kai immer lauter am Telefon und schrie schon fast in den Hörer, um im gleichen Moment auf die Knie zu sinken. "Nein es gibt kein Aber mehr. So wird nichts aus uns?" Kais Gesichtsausdruck wurde auf einmal so weich, so verletzlich und gleichzeitig verletzend. Aus seinen Augen traten die ersten Tränen und man fühlte regelrecht mit, wie er versuchte, seine Gefühle nicht zu zulassen und nicht zu seufzen.

"Tschö" kam nur noch, gefolgt von einem tiefen Schluchzer, von Kai. Er ließ das Telefon fallen und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Er rappelte sich auf und schlich zu uns auf die Couch und setzte sich neben uns. Kai ließ sich zurückfallen und starrte mit verheulten Augen an die Decke. Immer wieder traten neue Tränen heraus und flossen seine Wangen hinunter. Ich wollte den Arm ausstrecken und sie ihm abwischen, wollte ihn trösten.

Doch Ralf hielt meinen Arm fest. Ärgerlich drehte ich mich um und wollte wissen, wieso?

Doch ich erschrak, denn ich lag nicht in Ralfs Armen, sondern in Kais, der mich anlächelte.

Ich schnellte mit dem Kopf wieder nach vorne und sah dort einen weinenden, am Boden zerstörten Kai. Ich fuhr wieder zurück und sah ihn lächelnd hinter mir. Immer und immer wieder fuhr ich mit dem Kopf hin und her.

"Mach dir keine Sorgen, das wird schon wieder!", raunte mir Kai plötzlich ins Ohr. Lass ihm einfach seine Trauer. ‚Aber worüber trauert er denn?'

"Du wirst es schon noch früh genug erfahren!",antwortete er, ohne dass ich die Frage offen gestellt hatte. "Lass ihn einfach. Lass mich einfach!" Kai öffnete seine Arme und stand auf, einen Blick auf mich gerichtet, als solle ich ihm folgen. Verduzt tat ich dieses, ohne jedoch zu wissen, was ich da eigentlich tat, beziehungsweise was um mich herum passiert.

Er ging zur Haustür hinaus und ließ sie einen Spaltbreit offen. Ich warf noch einen letzten Blick auf den weinenden Kai zurück.

Auch wenn in mir immer noch ein großes Bedürfnis war, ihn einfach in den Arm zu nehmen und zu trösten, widerstand ich und ging durch die Tür.

Die Tür fiel hinter mir ins Schloss und um mich herum war nur Dunkelheit und Schritte in der Ferne hallten an mein Ohr ...

Ein leichtes Rütteln ging durch meine Glieder. Meine Augen waren geschlossen, doch ich entriss mich wieder meiner Traumwelt. Der Klang von Schritten drangen aus der Ferne an meine Ohren, doch meine Augenlider waren noch zu schwer. So sehr ich mich auch anstrengte, sie blieben verschlossen. Die Geräusche der Schritte verschwanden, aber andere Geräusche kamen hinzu. Das Rauschen von Wasser, das Zwitschern von Vögeln. Und auch andere Sinne nahmen wieder ihre Arbeit auf. Der süßliche Geruch von Gras drang in meine Nase. Auf meiner Haut fühlte ich eine sanfte Wärme, wie Sonnenstrahlen die mich streichelten.

Es fehlten nur noch meine Augen, doch die Lider waren schwer. Sehr schwer, sie wollten sich nicht bewegen. Ich versuchte und versuchte, ich zwang mich förmlich die Augen zu öffnen. Ich wollte wissen, was um mich herum geschieht. Wo ich bin, was los ist.

Es tat weh und es kostete auch Unmengen Energie, doch letztlich öffneten sich meine Lider.

Zu erst nur zaghaft einen Spalt. Aber sie öffneten sich.

Verschwommen drangen grüne und blaue Farben auf meine Netzhaut. Wie ein Aquarell. Alles noch sehr verschwommen, zu unscharf um etwas zu erkennen.

Ich zwang mich, die Augen noch weiter zu öffnen. Das Bild wurde klarer und klarer, bis ich schließlich etwas erkennen konnte. Ich lag auf einer Wiese im Gras. Vor meinem Auge waren Grashalme, die sich der aufgehenden Sonne entgegenreckte, die anscheinend meinen Rücken durchwärmte.

Müde und verschlafen hob ich den Kopf und ließ ihn direkt wieder zu Boden fallen, als ich registrierte, wo ich war. Ich lag ihm Rheinpark im Gras, mit Blickrichtung auf den Rhein. Um mich herum niemand, nur ein paar Bäume und die Sonne, die den Himmel in dieses wunderschöne Blau verwandelte. Um mich herum keine Menschenseele. Nur Gras und ein Stück Papier.

‚Ein Stück Papier?', schoss es durch meinen Kopf und durch meinen Körper. Mit einem Satz war ich wach und saß im Gras, mit dem Papier in der Hand.

Es war wie man sich denken kann ein Brief:

Hallo Fritz,

Entschuldigung erst mal, dass ich mich nicht persönlich verabschiede, aber ...

... der Grund dafür ist zu langwierig, ihn hier zu beschreiben. Vielleicht trifft man sich

eines Tages wieder. Dann verspreche ich, werde ich es versuchen Dir zu erklären.

Aber nicht jetzt und so.

Falls du dich fragst, was letzte Nacht geschehen ist, so kann ich dich beruhigen.

Es ist gar nichts geschehen. Du bist letztendlich in meinen Armen eingeschlafen und ich habe mich nicht getraut, Dich zu wecken. Letztlich musste es doch zum Abschied kommen, aber ich traute mich auch heute morgen nicht, Dich zu wecken. Du sahst zu süß aus, wie Du da in meinen Armen lagst und einfach nur sorglos schliefst. Und so habe ich Dich einfach hierher gelegt ... Ich hoffe du nimmst es mir nicht übel, dass ich einfach so wieder verschwinde wie ich schon erschienen bin. Aber ich muss weiter. Vielleicht sieht man sich ja ein zweites Mal im Leben. Wer weiß.

Ich wollte Dir nur einfach noch einmal Danke sagen, dass ich Dir heute Nacht so nah sein durfte... Danke, es tat einfach nur gut. Liebe Grüße und ein schönes Leben.

Ralf

Ich ließ mich wieder auf den Rücken zurückfallen und starrte in den Himmel.

Was sollte ich davon halten? Sollte ich sauer sein, dass er einfach so gegangen ist? Nein, er war mir schließlich nichts schuldig, eher ich ihm. Schließlich hat er mir geholfen. Vielmehr wünschte ich mir, mich noch einmal von ihm verabschieden zu können.

Als ich mich an den Abend zurückerinnerte, so hätte ich mich fast in diesen Ralf verlieben können. Ich hätte, aber ich konnte und wollte nicht. Und es war richtig. Es war keine Liebe, es war nur der Wunsch nach Liebe, der Wunsch einfach geliebt zu werden. Und diesen Wunsch hatten wir uns beide für ein paar Stunden erfüllt ...

.....

...*brr...* *brr...* *brr...* vibrierte es in meiner Hose.

"Hallo Greta."

"Hey so gut drauf? Wie kommt's?", fragte sie etwas erstaunt.

"Hach weißt du ... ich weiß es selbst nicht. Ist es nicht auch egal warum?", antworte ich fast schon zu überschwänglich.

"Bist du grad bei der Arbeit, oder wieso ist es so laut?"

"Nein. Ich sitze grad in der U-Bahn. Hab mir vorhin kurzfristig freigenommen."

"Ähm Fritz ...", stockte Greta etwas, "geht’s dir wirklich gut?"

"Klar, die Sonne scheint. Ich hab frei. Gibt's bessere Gründe glücklich zu sein?"

Meine Worte klangen in meinen Gehörgängen nach und ich hörte mich selbst und verstand mich. Und ich verstand, dass es diesmal keine Ironie, keine Fassade war. Es war wirklich ernst gemeint. Ich war glücklich und das, ohne einen besonderen Anlass.

Na doch einen Anlass gab es, ich konnte mich von Kai lossagen. Beziehungsweise: Ich hatte gelernt mein Glück nicht von ihm abhängig zu machen.

"Wenn's dir so gut geht, haste dann Lust heute Abend was mit Tom und mir zu unternehmen?"

"Mit dir und Tom ...?", war ich jetzt doch etwas verduzt.

"Jep und es war noch nicht einmal meine Idee", fügte Greta hinzu.

"Wie, das wollte ... er?"

"Jep. Er scheint sich zu bessern. Ich wusste schließlich, warum ich ihn mag."

"Ja natürlich war es klar, dass du ihn magst. Er ist einfach kompliziert und anspruchsvoll. Und vor allem noch erziehbar, wie ein Sch... "

"FRITZ", brüllte sie mir ins Ohr. "Du weißt genau, dass ich den Vergleich hasse. Ich bin nicht die Grand-Dame, seine Lehrerin. Hallo, soviel älter bin ich nicht!"

"Ja schon gut Kleines. Also ... ähm. Ok heute Abend. Und was?", versuchte ich das Thema abzubrechen.

"Keine Ahnung. Wenn Tom schon den Vorschlag macht, lass ich ihn entscheiden. Also lass dich einfach überraschen und vor allem rechne mit dem Schlimmsten. Es ist Freitag und die Schüler haben Ausgang."

"Ähm ... das mit den Schülern hast du jetzt gesagt."

"Ja ja. Lass uns jetzt mal beeilen. So viel Geld fürs Telefonieren hab ich nun auch nicht. Also, heute Abend gegen 22 Uhr?", fragte Greta.

"Kein Problem. Mach du nur."

"Oki wir holen dich dann ab. Also, mach's gut, genieße den Tag und versuch deine Stimmung zu halten."

"Das wird kein Problem sein. Machs gut meine Kleine." Lachte ich ins Handy.

"Tschöö." Und das übliche Tuten drang in meinen Gehörgang.

Ich steckte das Handy ein, schloss die Augen, ließ mich in meinen Sitz zurückfallen und genoss die Sonnenstrahlen, die durchs Fenster hereinfielen. Es kitzelte ein bisschen, so als würde man mit einer Feder über die Haut streichen, aber es fühlte sich einfach nur gut an.

"Fritz?"

"Äh wie?", schrak ich auf.

"Was machst du denn hier. Musst du nicht arbeiten?", stand Thomas vor mir und lächelte mich an.

"Ah hi. Sorry war gerade etwas in Gedanken und hatte nicht gemerkt, dass du auch zugestiegen bist", war ich noch etwas überrascht. "Hab mir heute kurzfristig freigenommen. Der Tag ist zu schön, um ihn mit Arbeiten zu verbringen. Und du? Heute keine Uni?"

"Nö, sah ich heute genauso wie du. Der Tag ist viel zu schön, um ihn in irgendeinem muffigen Gebäude zu verbringen. Wollte grad in der Stadt irgendwo frühstücken. Haste Lust mitzukommen?", fragte er etwas schüchtern.

"Wieso in der Stadt? Ich kenn da ne viel schönere Möglichkeit", lächelte ich ihn an und er schaute ahnungslos zurück. "Wie wär's mit meiner Terrasse? Brötchen können wir gleich noch beim Bäcker holen. Und der Rest steht bei mir im Kühlschrank."

"Klar gerne. Aber wie kommt's, dass du so gut drauf bist?", fragte nun auch er. Anscheinend wird das heute die Frage des Tages. ‚Warum ist Fritz gut drauf?'. Aber wirklich verübeln konnte ich es ihnen auch nicht. Schließlich ging es mir eine ganze Zeit lang ziemlich mies.

"Hm ...", begann ich zu überlegen, wie ich es formulieren könnte. Irgendwie fühlte ich mich verantwortlich, ihm darauf eine ehrliche Antwort zu geben. Schließlich war er die letzten Wochen die ganze Zeit für mich da und hat versucht, mich wieder aufzubauen. Wofür ich ihm bis heute dankbar bin und was ich nie wieder bei ihm gut machen kann. Zu mindest die Wahrheit hatte er verdient.

"Ich hatte heute Nacht einen Traum. Ähm ... Oder fangen wir anders an. Ich saß gestern am späten Nachmittag wieder einmal am Rhein und genoss noch die letzten Sonnenstrahlen des Tages und da lernte ich jemanden kennen ..."

"Also hast du dich wieder neu verliebt?", fiel mir Thomas ins Wort und machte dabei große Augen.

"Nein, nicht wirklich."

"Wie nicht wirklich?"

"Lass mich doch erst mal ausreden", runzelte ich gespielt die Stirn.

"Sorry", entschuldigte er sich und wurde hochrot. Ich musste grinsen.

"Hey halb so wild. Also, wo war ich ..."

"... Du hast jemanden kennengelernt."

"Ja richtig ..." So erzählte ich ihm auf der Fahrt zu mir noch einmal, wie ich Ralf kennen lernte und versucht meinen Traum irgendwie zu erklären. Was ich da gesehen und was ich gefühlt hatte. Wie ich noch einmal mein Telefonat mit Kai durchlebte, nur diesmal aus einer anderen Sicht.

"... und er war dann einfach weg?", fragte Thomas noch etwas ungläubig.

"Ja."

"Und du bist nicht enttäuscht?"

"Nein, wieso sollte ich. Schließlich hatten wir nie vor zu heiraten."

"Aber ..."

"Nichts aber. Es ist einfach so. Manchmal kennt man einen Menschen nur für ein paar Stunden. Und diese paar Stunden reichen aus, für ein ganzes Leben. Man muss nicht immer übertreiben. Besser diese wunderschönen wenigen Stunden, als ein ewiges Hick Hack."

"Schon aber ... dennoch ..."

"Kein Dennoch. Es war schön und es hat mir geholfen. Das ist das Einzige was zählt", beharrte ich auf meinem Standpunkt.

"Komm lass uns aussteigen." Die Bahn hielt an meiner Haltestelle und wir schlenderten nebeneinander die Straße entlang zum nächsten Bäcker und zu mir nach Hause.

"Und wie sieht's bei dir aus?", versuchte ich, während wir dahinschlenderten, etwas von ihm zu erfahren.

"Wie sieht was aus?"

"Na wie geht's in deinem Leben. Gibt's da schon wieder jemand neuen?", grinste ich ihn schelmisch von der Seite an.

"Nein nicht wirklich." Thomas schaute dabei auf seine voranschreitenden Füße und wirkte etwas nachdenklich.

"Nicht wirklich?"

"Nein eigentlich niemanden?"

"Wie niemand? Da wird's doch wohl jemanden geben, der so nen lieben Menschen wie dich sein eigen nennen möchte."

"Danke" Thomas lachte verschmitzt und musste leicht grinsen.

"Nichts zu danken."

"Aber im Moment will ich niemanden wirklich", fuhr er fort, während wir beim Bäcker ankamen.

"Vier Croissants und vier Brötchen, bitte", bestellte ich bei der Bäckerei. "Aha ... und wieso?", wieder an Thomas gerichtet.

"Das macht 2,35", erwiderte die Verkäuferin. Ich gab ihr das Geld und wir gingen weiter.

"Weil ich mich im Moment nicht wirklich danach fühle."

"Was ist denn auf einmal so anders?", fragte ich etwas verwundert. Er klang bei seinen Worten nicht wirklich fröhlich.

"Ich weiß es selbst auch nicht. Aber im Moment will ich mein Glück nicht von nem Typen abhängig machen. Das habe ich in letzter Zeit so oft gemacht und immer wieder ging es schief."

"Ja und. Durch das letzte Mal haste wenigstens Greta und mich kennen gelernt."

"Schon, dafür bin ich auch dankbar. Aber ... Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Aber das Glück in meinem Leben soll nicht immer nur von einem Typen abhängen. Es gibt so viele schöne andere Dinge. Viel simplere Dinge, die man einfach mal beachten muss, so wie das Wetter heute."

"Ja schon aber ..." Ich suchte selbst nach Worten. Schließlich dachte ich lange Zeit genauso.

"...Weißt du. Ich habe selbst lange Zeit derartig gedacht und auch so gelebt und dabei wirklich darauf geachtet, dass es auch nette Männlein um mich herum gibt. Ich hatte vergessen, wie es ist, sich wirklich zu verlieben. Ich hatte vergessen, wie man mit solchen Gefühlen umgeht."

"Was willst du mir jetzt damit sagen?", fragte Thomas etwas verwundert.

"Einfach nur, dass du nicht den Fehler machst, dieses zu einseitig zu betreiben. Genieße die kleinen Dinge und mach dein Glück nicht wirklich von Männern abhängig, aber verteufle sie auch nicht."

"Schon klar ..." Thomas wollte erneut ansetzen, aber in dem Moment erreichten wir meine Eingangstür und ein doch recht wütender Flo kam um die Ecke gestürmt. Er zuckte erschrocken einen Moment zurück, als er mich sah. Aber statt zu fliehen, kam er auf mich zu, nahm mich an der Hand und zog mich ins Haus.

Ich wusste nicht, wie mir geschah, aber ich ging einfach mit, auch wenn ich nicht wusste, wie mir geschah. Thomas folgte uns.

*Knall* Die Tür fiel ins Schloss. Sie fiel nicht nur, sie wurde von Flo geschmettert. Flo hielt mich noch immer an der Hand und stand wutschnaubend vor Kais Schreibtisch, der dahinter bei dem Geräusch zusammenzuckt.

Ich drehte mich um und schaute fragend zu Thomas. Dieser hielt sich etwas auf Abstand und schaute genauso fragend zurück. Mein Blick fuhr wieder nach vorn und ich schaute zu Kai, der sich widererwartend wegen des Überfalls nicht aufregte, sondern blass wie eine Leiche hinter seinem Schreibtisch saß und ängstlich zu mir und Flo schaute.

Seine Pupillen wanderten immer wieder hin und her.

Flo atmete erst einmal tief ein und versuchte etwas die Ruhe in sich zu finden. "Was ist hier vorgefallen?", fragte er plötzlich mit sachlich ruhiger Stimme.

Ich schaute Flo unwissend an, während Kai zusammenzuckte und auf seine Finger schaute, die er immer wieder ineinander verhakte. Sie zitterten. Es machte mir schon fast Angst, Kai so zu sehen. Ich drehte mich erneut zu Thomas um, der gegen die Tür lehnte und anscheinend verstanden hatte, worum es hier ging.

"Was meinst du?", fragte ich stotternd.

"Na, was hier vorgefallen ist? Seit wann seid ihr nicht mehr zusammen?" Seine Stimme klang vorwurfsvoll. Aber weniger in meine Richtung, als in die von Kai.

"Seit etwa nem Monat.", antwortete ich, obwohl Flo immer noch Kai mit den Augen durchbohrte und dieser immer mehr zusammenkrampfte.

"Und warum weiß ich nichts davon?", fragte er weiter und ließ keinen Blick von Kai. Die beiden wirkten wie das typische Bild einer Schlange und ihrem Opfer, dem Kaninchen, was ängstlich vor ihr saß.

Kai antwortete nicht, sondern wand jetzt seinen Blick ab und schweifte zum Fenster hinaus.

"Ich hab dich etwas gefragt", sagte Flo ruhig und gelassen.

"Weil ... weil ich es dir später erzählen wollte", stotterte Kai.

"Aber warum hast du dich dann getrennt? Ich vermute jetzt einfach mal pauschal, du hast dich getrennt", fragte Flo Kai weiter und ließ mich unbeachtet neben sich.

"Weil es einfach nicht passte", antworte Kai ernst, der wieder zu sich gefunden hatte und jetzt dem Blick von Flo versuchte stand zu halten.

"Was passte denn nicht?", hakte Flo nach, aber von Kai kam keine Antwort.

Flo ließ meine Hand los und ich machte einige Schritte zurück. Am liebsten wäre ich selbst so schnell wie möglich hier hinaus. Ich fühlte mich unwohl und übergangen, so wie ein kleines Kind, dass bei einem Gespräch unter Erwachsenen zuhört, aber selbst nichts sagen kann.

Vielmehr wie ein kleines Kind, das bei einem Gespräch zuhört, was auch noch über sich selbst ist.

Von Kai kam auf Flos Frage auch weiterhin keine Antwort. Statt dessen redete Flo weiter.

"Passte es vielleicht nicht, dass ich dann gehen wollte?"

Bei diesen Worten wurden meine Augen groß und ich begann zu verstehen. Flo sah sich in diesem Moment zum ersten Mal zu mir um und erkannte das Erstaunen in meinem Gesicht.

"Ach er wusste also nichts davon! Warst zu feige, ihm alles zu erzählen?"

Kais Augen wurden immer feuchter und die ersten Tränen kullerten langsam über seine Wange.

"Ich will jetzt nicht zu viel sagen ... aber", wieder an Kai gerichtet. "Egal wie dies hier ausgeht, ich werde gehen. Also versuch das beste für dich daraus zu machen." Flo ging zu Thomas rüber und hakte sich bei ihm unter. "Ich glaub, wir beide verziehen uns jetzt vor die Tür und lassen euch zwei mal alleine miteinander reden."

Flo zog Thomas mit nach draußen und ließ im Gegensatz zu vorher die Tür leise ins Schloss gleiten. Ich hörte nur noch, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte und wir nun wohl eingeschlossen waren.

Unsicher blieb ich mitten im Raum stehen und starrte noch die rettende Tür an, durch die gerade Flo und Thomas geflohen waren. Mein Blick wanderte ängstlich zu Kai hinüber. Ich traute mich zu Anfang gar nicht, ihn richtig anzuschauen. Ich hatte Angst vor seiner Reaktion, dass er wieder wütend auf mich wäre. Aber es war ganz anders.

Er starrte regungslos zum Fenster hinaus. Von draußen klang das Gelächter von kleinen Kindern herein, die wohl auf dem Fußweg in der Sonne spielten.

Über seine Wange kullerten immer noch dicke Tränen. Aber kein Schluchzen, kein Seufzen, nicht ein Geräusch.

"Was passiert hier?", fragte ich etwas ängstlich.

"Flo will nach Berlin", antwortete Kai kühl.

"Ja und? Was habe ich damit zu tun?", fragte ich etwas begriffsstutzig, auch wenn ich schon ahnte, aus welcher Richtung der Wind wehte.

"Flo denkt, ich hätte dich in den Wind geschossen, um ihn davon abzuhalten zu gehen."

"Und? Denkt er da richtig?", kam die entscheidende Frage.

Kai saß noch immer so da. Er starrte aus dem Fenster und starrte doch ins Leere, bis schließlich alles aus ihm herausbrach und er sein Gesicht in seine Hände vergrub.

Nur ein kaum vernehmbares "Ja" kam schluchzend von ihm.

"Und warum hast du so Angst davor?" Ich ging zu Kai hinter den Schreibtisch, kniete mich nieder und nahm sein Gesicht in beide Hände. Ich hielt es so, dass er mich ansehen musste. Vorsichtig wischte ich ihm mit dem Daumen die Tränen aus dem Gesicht.

"Weil er noch nicht soweit ist!", schluchzte Kai.

"Weil er wozu noch nicht soweit ist?", hakte ich nach.

"Auf eigenen Beinen zu stehen. Du kennst die Geschichte einfach nicht!"

"Welche Geschichte?"

"Weshalb Flo bei mir wohnt."

"Dann erzähl sie mir!", forderte ich ihn auf. Kai löste sich von mir und ging ans Fenster und schaute auf zwei kleine Jungs, die den Gehweg mit Kreide bemalten.

"Schau dir die zwei da an." Kai sprach mit ruhiger Stimme und lächelte sogar, als er auf die beiden zeigte. "So sind bzw. waren Flo und ich, seit wir Kleinkinder waren. Wir sind jetzt schon Ewigkeiten wie Pech und Schwefel und können eigentlich nicht voneinander lassen. Die Kindheit war wunderschön. Jeden Tag spielten wir zusammen, damals noch bei unseren Familien im Sauerland. Natur pur und als Kind war das auch schön. Am liebsten waren wir immer an so nem kleinen Teich angeln. Wir haben nie irgendetwas gefangen. Eigentlich wollten wir auch nie irgendetwas fangen. Letztlich galt nur die Zeit, die wir miteinander verbrachten und die Hoffnung auf einen guten Fang. Einmal zog sogar was an unserer selbst gebauten Angel. Zu mindest glaubten wir das. Aber letztendlich hatte sie sich aber nur am Grund des Teichs an irgendeinem Stein verhakt. Und Flo zog so heftig und ehrgeizig an der Angel, dass er irgendwann auf so einem glitschigen Stein ausrutschte und das Gleichgewicht verlor. Ich wollte ihn noch festhalten, aber es halft nichts, er fiel nach vorn in den Teich und ich hinter ihm. Das muss ein Bild für die Götter gewesen sein, wie wir dort in diesem modrigen Teich saßen. Von oben bis unten mit Schlamm und Schlick verschmiert und natürlich triefend vor Wasser." Man sah Kai an, dass er diese Erlebnisse alle erneut durchlebte und die Zeit am liebsten noch einmal zu diesem Zeitpunkt zurückdrehen würde.

"Wir sind dann zu seiner Mutter und die steckte uns direkt unter die Dusche und wickelte uns in dicke, warme Wolldecken und servierte uns dann warmen Vanillepudding. Es war echt schön, wie wir so nebeneinander in der Küche saßen und diesen Pudding ... egal. Ich will nicht zu weit abschweifen. Um es kurz zu machen: Irgendwann kam schließlich, wie du auch erwartest, der Knick. Ich machte mein Abitur und ging nach Köln, um zu studieren. In der großen Freiheit hatte ich dann den Mut gefasst, meinen Eltern zu erzählen, dass ich schwul bin. Meine Familie kam damit gar nicht klar. Es gab viel Streit und Tränen, sodass ich irgendwann für mich beschloss, dass es wohl besser ist, wenn man sich lieber aus dem Weg geht und so kappte ich den Kontakt. Auch zu Flo, was mir natürlich am meisten wehtat.

Es verging Jahr um Jahr. Ich war kurz vorm Abschluss an der Uni, als irgendeinen Abend jemand an meiner Tür klopfte und dahinter ein kleines Elend stand. Und dieses Elend war niemand anderes als Flo." Kai machte eine Pause und wandte sich vom Fenster ab und schaute mich tief an. In seinen Augen spiegelte sich die Verzweiflung von damals wieder.

"Du kannst dir das nicht wirklich vorstellen, wie verzweifelt er damals aussah. Wie fertig er war. Wie blass. Wie abgemagert. Seine Familie hatte genauso reagiert wie meine. Nur Flo war schon immer sensibler und er hatte das Problem, dass er damals noch bei seinen Eltern lebte und somit keinen Rückzugsraum hatte. So wie ich hier in Köln. Und trotzt der vielen Jahre, in der wir keinen Kontakt hatten, versuchte er doch zu mir zu finden, was für ihn schwer genug war. Ich war irgendwo seine letzte Hoffnung, die ihm zumindest etwas hätte helfen können. Er fiel mir in die Arme und heulte einfach nur stundenlang.

Das war damals so ein launischer Tag im Herbst, mit viel Regen und Gewitter, sodass er klatsch nass war, als er bei mir ankam. Zuvor war er noch eine halbe Ewigkeit durch Köln geirrt. Halt ein Bauer das erste Mal in der großen Stadt." Kai musste auch bei dem Gedanken daran wieder grinsen. Auf seinen Pupillen spiegelten sich die Bilder von damals wider.

"Irgendwann befreite ich ihn aus seinen Sachen und wickelte ihn in eine warme Decke. Wir saßen die ganze Nacht einander gegenüber in der Küche und erzählten, was uns passiert war. Flo und ich fielen aus allen Wolken, als wir voneinander erfuhren, dass wir dann doch beide schwul sind ... um die Sache jetzt etwas abzukürzen. Flo zog dann zu mir nach Köln und ich versuchte, ihn so gut wie möglich wieder aufzubauen. Dahin zu bringen, dass er alleine leben kann, ihn nahezu zu erziehen. Aber er ist noch nicht soweit. Soweit alleine zu leben." Kai war in der Zwischenzeit durch den Raum gewandert und lehnte nun weinend gegen die Wand.

Ich ging zu ihm und nahm seine Hand. "Und ist es nicht vielmehr doch die Sache, dass du nicht soweit bist, ohne ihn zu leben?" Verwirrt schaute Kai mich an. Er schien nicht zu verstehen. "Ich meine", versuchte ich zu erklären, "dass es vielleicht doch mehr so ist, dass du Flo nicht loslassen kannst als umgekehrt. Schau dir Flo an, wie er sein Leben im Griff hat. Schau ihn dir an, er ist erwachsen und er wird es auch schaffen, sein Leben allein zu meistern. Er wird Fehler machen. Aber man muss Fehler machen, man sollte sich sogar wünschen Fehler zu machen. Letztendlich kann man nur so lernen. Und lernen sollte man ein Leben lang."

"Ich weiß nicht", schluchzte Kai kaum hörbar. Ich zog ihn zu mir heran und schloss ihn in meine Arme und hielt ihn einfach fest. Wir standen einfach nur da und Kai weinte. Weinte über die vergangen Zeit, über die Erinnerungen und dass es jetzt an ihm lag. An ihm lag, loszulassen und Flo gehen zu lassen.

Irgendwann hörte man ein leises Klacken und schließlich öffnete sich die Tür einen Spalt und zwei Gesichter schauten herein.

"Und ist alles geklärt?", fragte Flo vorsichtig an. Ich konnte nicht antworten, denn ich wusste nicht, ob alles geklärt wäre. Kai starrte wieder tiefe Löcher in die Luft. Und fast schon autistisch antwortete er schließlich: "Ich glaube schon. Flo, kann ich dich mal kurz alleine sprechen?"

Dieser nickte nur und trat in den Raum. Ich wollte mich von Kai lösen und die beiden alleine zurücklassen. Aber Kai zog mich noch einmal eng an sich und raunte mir ein ‚Danke, wir sehen uns hoffentlich gleich' ins Ohr, bevor er mich gehen ließ ...

Ich stand erst einmal einige Momente vor der Tür und musste tief durchatmen. Irgendwie war das grad alles zu viel. "Und geht's wieder?", fragte Thomas neben mir.

"Ja danke. Wollen wir jetzt endlich frühstücken? Auch wenn's schon fast Mittag ist?", fragte ich ihn lächelnd und versuchte die Situation zu umgehen.

"Klar gerne. Ich war mit Flo vorhin auch noch mal beim Bäcker und wir haben noch ein paar Sachen mehr geholt." Stolz hielt er seine Beute nach oben ...


"... und dann war es mir nichts, dir nichts meine Wohnung. Ich hatte einfach Glück", erzählte Flo von seinem Ausflug nach Berlin, der nun mehr als ein Ausflug wurde. Er hatte sich nach meinem Treffen direkt in den Zug gesetzt und war erst mal für vier Wochen in Berlin unterwegs gewesen.

"Und die Wohnung ist einfach nur geil. Direkt in Pankow, in so nem Altbau. Außen bröckelt die Fassade und es scheint eher ein optimales Viertel für Ratten und sonstiges Gesindel. Aber einmal die Wohnung betreten und man ist hin und weg. Alles topp renoviert und das aller Genialste: Eine Terrasse, ähnlich wie du sie hast", dabei schaute er natürlich in meine Richtung, "aber über die Berliner Hinterhöfe. Einfach nur geil und im Vergleich zu Köln spottbillig."

Flos Augen strahlten vor Freude und in seinen Augen konnte ich erneut diese Freude erkennen, die ich schon damals bei unserem ‚Kuss' gesehen habe. Diese Freude von der Ferne, von neuen Abenteuern, von einem eigenen Leben.

Ich schaute zu Kai rüber, der bei diesen Erzählungen betont gelangweilt wirkte. Aber jeder von uns wusste, dass es nur ein Spiel war. Ein Spiel, um ja nicht zu zeigen, wie nahe es ihm ging. Ich ergriff Kais Hand unter dem Tisch und hielt sie einfach fest. Er zuckte zu Anfang etwas zurück. Doch als er merkte, wer und was das war, da entspannte er sich. Auch sein Gesichtsausdruck wirkte nicht mehr so aufgesetzt, auch wenn er immer noch versuchte vorzuspielen, wie wenig ihn das alles tangierte.

"Und was willst du dann dort machen?", fragte Thomas

"In wie fern, was machen?", wirkte Flo etwas begriffsstutzig.

"Na vor allem beruflich."

"Hm" Flo zuckte mit den Schultern. "Ich werde wohl erst mal nur Jobben und versuchen mich einzugewöhnen. Mal schauen. Hab mir auch überlegt, vielleicht mit dem nächsten Semesterbeginn an die Uni zu gehen. Ich hab noch keine konkreten Vorstellungen." Er zuckte mit den Schultern und ließ sich in den Stuhl zurückfallen. Schloss die Augen und streckte provokativ der Sonne sein Gesicht entgegen. "Irgendwie wird das schon funktionieren. Man muss nicht alles durchplanen. Und vielleicht mache ich ja auch ne WG auf, groß genug ist die Wohnung schließlich."

Ich drückte Kais Hand, denn ich fühlte, wie sich alles in seinem Inneren zusammenstaute, wie die Angst um Flo gerade in solchen Momenten hochkam. Kai starrte ins Blaue des Himmels und wirkte abwesend, aber ich wusste genau, dass er jedes Wort mithörte und ihm einiges so gar nicht in den Kram passte.

"Und wie sieht's dort mit Typen aus?", fragte Thomas grinsend.

"Hm wie soll's da wohl aussehen?", grinste Flo zurück. Sein Selbstbewusstsein schien in den vier Wochen immens gestiegen zu sein. "Es gibt viele, viele gut aussehende, viele nicht so gut aussehende und einen großen Brei dazwischen. Manche schwul, manche hetero ..."

"Schwafel nicht.”, fiel Thomas wieder ins Wort. "Du weißt genau, was ich meine."

"Ähm nein", stellte Flo auf taub und blöd.

"Gibt's da nun schon wen für dich oder noch nicht?"

"Ähm, ja da gibt's wen, vielleicht. Man weiß es noch nicht, wird sich alles noch zeigen", kam er trotz des Selbstvertrauens jetzt doch ins Stocken.

"Wie heißt er denn, wie alt, was macht er?", wurde Thomas neugierig.

"Sei mir nicht böse, aber außer, dass er Mark heißt, möchte ich noch nicht viel dazu sagen. Ist noch alles etwas unsicher."

"Hm", gab Thomas als Einziger noch einen Ton von sich. Ein Schweigen kam in die Runde. Kein Unangenehmes, eher das Gegenteil. Es wirkte eher wie diese Stimmung am Meer. Alle lagen seelenruhig in der Sonne und relaxten, manchmal muss man einfach nicht viel sagen. Es fehlte eigentlich nur noch das Rauschen des Meeres, aber darauf konnten wir wohl auch mal verzichten. Alle hatten ihre Gesichter und Körper in Richtung Sonne gestreckt, um ein wenig von ihren Strahlen gekitzelt zu werden.

"So schön es hier auch ist. Ich muss los und noch ein bisschen was erledigen", stand Flo mit einem Satz auf und unterbrach die Stimmung.

"Ähm, ich werde dann gleich mit. Wird auch so langsam Zeit für mich", sprang auch Thomas einen Moment später auf, nachdem Flo ihn anfixiert hatte. Es war so unauffällig, dass man uns zwei alleine lassen wollte, dass man eigentlich nur noch eine Leuchtspur in Richtung Bett aufmalen musste.

"Wir sind dann jetzt weg. Und ich rechne heute Abend nicht mit dir", sah Flo drohend in Richtung Kai. "Und wehe ..."

"Ja ja", unterbrach dieser ihn sogleich, "mach du dir mal mehr Gedanken, wie du das alles in Berlin finanzieren willst. Hier wird das schon irgendwie laufen."

"Das hoffe ich für dich, sonst gibt's Ärger", drohte dieser nochmals spielerisch mit seinem Finger. "Und danke dir noch mal fürs Frühstück. Wenn es auch etwas spät wurde."

"Kein Problem immer wieder gerne", stand auch ich jetzt auf, um mich rechtmäßig zu verabschieden ...

Die Tür fiel leise ins Schloss und Flo und Thomas waren weg. Und genau vor diesem Moment hatte ich schon die ganze Zeit Angst. Das erste mal mit Thomas alleine zu sein. Ich lehnte mich gegen die Tür, atmete tief durch und schaute zum Fenster hinaus. Stille...

"Und?", fragte Kai etwas unsicher nach einer Weile.

"Wie und?" Ich starrte weiterhin aus dem Fenster und traute mich nicht, ihn anzusehen.

"Und was nun?"

"Ich habe keine Ahnung."

"Sollen wir so weitermachen, als wenn nichts geschehen wäre?", fragte er zögerlich. Seine Stimme klang dünn und zerbrechlich. Der sonst so imposante Kai war heute schüchtern und ängstlich, wie ein kleiner Junge.

"Ich denke eher weniger. Das geht nicht", antwortete ich und merkte, wie ängstlich ich genauso war. Nicht nur er war zu einem kleinen Jungen geworden.

"Wie soll es dann weitergehen?"

"Vielleicht sollten wir einfach von vorne anfangen?"

"Wie soll das gehen?", fragte er etwas verdutzt.

"Ich habe keine Ahnung." Ich war immer noch unsicher und traute mich nicht, ihn anzuschauen. Ich starrte ins Blaue des Himmels. Doch dann trat da ein lächelndes Gesicht genau in mein Sichtfeld.

"Ok dann fangen wir von vorne an." Kai räusperte sich, legte sein typisches Grinsen auf und streckte mir die Hand entgegen. "Hallo ich bin Kai." Anscheinend hatte er wieder zu seinem alten Ego zurückgefunden. Und nach dem kurzen Überraschungsmoment ließ ich es mir nicht nehmen, einfach mitzuspielen.

"Hallo Kai, ich bin Fritz." Und schüttelte seine Hand.

"Hallo Fritz. Ist heut nicht ein schönes Wetter?" Kai versuchte es mal wieder zu übertreiben.

"Jep, ist schließlich Sommer. Aber nicht nur das Wetter ist schön", antwortete ich und sah ihm dabei tief in die Augen, während wir immer noch die Hände schüttelten.

"Aha, was denn noch?", wurde seine Stimme belegter, oder bildete ich mir das nur ein?

"So vieles. Aber eines ist unübertrefflich ..."

"Was kann denn unübertrefflicher sein, als du. So etwas müsste verboten werden."

Er hörte auf meine Hand zu schütteln und zog mich statt dessen zu sich heran. Unsere Körper berührten sich und ich wusste wieder, warum sich dieser ganze Stress, diese ganze beschissene Zeit lohnt. Allein für dieses Gefühl. Für diesen einen Moment.

Unsere Gesichter waren nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt. Man konnte schon den Atem des anderen über seine Haut streicheln fühlen. Und bei diesem Gefühl huschte mir ein Schauer über den Rücken. "Dann solltest du beginnen, dich zu verbiet..." Doch bevor ich es aussprach, verbot er mir den Mund. Er küsste mich einfach ...

... Mein Ohr lag wie schon damals auf seiner Brust. Und wieder hörte ich dieses *tock-tock*, *tock-tock*. Sein Herz schlug ganz ruhig und sachte und es drückte immer wieder gegen mein Ohr. Ich hörte es nicht nur, ich fühlte es auch und es war schön, dass er mich so nah an seine empfindliche Stelle ließ. Seine Hose konnte er vor vielen runterlassen, aber sein Herz offenbart man hoffentlich nicht jedem.

"Und wie soll es jetzt weitergehen?", fragte ich, wie auch damals schon.

"Ich muss wohl Flo ziehen lassen. Leider."

"Freue dich lieber für ihn, dass er den Mut dazu hat."

"Wieso sollte ich mich freuen. Ich habe eher Angst davor."

"Musst du nicht!" Ich spielte verträumt mit seinen kleinen Härchen auf seiner Brust.

"Aber ..."

"Kein Aber. Er muss seine eigenen Erfahrungen sammeln. Ohne dass ihm einer sagt, ob das richtig oder falsch ist."

"Glaubst du, ich habe ihn zu sehr eingeengt?" Kai stützte seinen Kopf auf seine Hand und legte sich auf die Seite. So musste ich zwangsläufig von ihm lassen und ließ mich statt dessen zurück aufs Sofa fallen und versuchte in der Dunkelheit die Decke anzuschauen.

"Man engt zwangsläufig Menschen ein, die erwachsen werden wollen. Man kann sie nun mal nicht ein Leben lang unter einer Käseglocke verstecken und sie so vor allem Übel der Welt beschützen."

"Aber ..."

"Es gibt immer noch kein Aber. Flo muss einfach seine eigenen Erfahrungen sammeln und er muss einfach auch selbst Fehler machen. Wie soll er sonst lernen, wie soll er sonst verstehen, warum etwas so ist wie es ist."

"Und was passiert nach den Fehlern?"

"Er wird sich selbst helfen. Oder er wird es lernen, sich selbst zu helfen. Es heißt noch lange nicht, dass du ihm gar nicht mehr helfen sollst. So bald er um Hilfe bittet, ist es natürlich an dir zu helfen, aber lass ihm seine eigenen Versuche. Eine Vogelmutter kann ihren Kindern auch nur vormachen, wie man mit den Flügeln schlägt. Die Flügel müssen ihre Kinder letztendlich schon selbst bewegen."

"Aber, es tut weh." Kai ließ sich wieder rückwärts aufs Sofa fallen. Wir lagen jetzt beide auf dem Rücken und starrten an die Decke.

"Glaubst du, ihm tut das nicht weh?"

"Ich weiß es nicht.", wirkte Kai verunsichert.

"Natürlich tut es ihm weh. Aber mehr drängt ihn die Lust auf die neue Welt, auf Abenteuer, auf neue Menschen, auf ein eigenes Leben."

"Hm"

"Lass ihn einfach. Sonst verlierst du ihn wirklich. Jetzt ist er vielleicht in Berlin, wenn du ihn aber bei dir behältst, dann wirst du ihn vielleicht ganz verlieren."

"Ich muss wohl." Anscheinend hatte er endlich verstanden, dass es hier um Flo ging, dass er sein Leben meistern will. Und nicht darum, was wäre für Kai die bessere Entscheidung.

"Und letztendlich bin ich ja wirklich nicht alleine hier." Kai drehte sich bei diesen Worten auf mich und sah mir tief in die Augen.

"Das sowieso. Ich werde Flo sicherlich nicht ersetzen können ..."

"Du sollst es auch gar nicht versuchen. Jetzt will ich dich und nicht Flo. Und das auch des Nachts", funkelte er mich spitzbübisch an und ich wusste, was er jetzt wollte.

"Des nachts?", wiederholte ich seine Worte und saß mit einem Satz aufrecht im Bett, sodass Kai zwangsläufig von mir runterfallen musste.

"Na danke", murrte dieser neben mir beleidigt.

"Wie spät ist es?", fragte ich erschrocken.

"Ich vermute so kurz vor 10", murmelte er neben mir.

"Fuck", entkam es mir und ich sprang auf und wie ein wildgewordener griff ich mir Klamotten aus meinen Schränken und sprang ins Bad. Nur kurz Duschen und die Haare richten, mehr war heute nicht mehr drin ...

Als ich wieder aus dem Bad trat, saß Kai im Schneidersitz auf dem Sofa und schaute etwas verwirrt in meine Richtung. "Was ist denn mit dir los?"

"Sorry aber ich bin mit Greta und Tom um 10 verabredet. Die wollen mich noch einmal entführen."

"Ach und was ist mit mir?", setzte er einen beleidigten Blick auf.

Ich zuckte mit den Schultern und wusste es selbst nicht. "Sorry", kam es kleinlaut aus mir. "Aber Tom ist in der Beziehung noch etwas ... wie soll man sagen, kompliziert. Ich glaube es wäre nicht gut, wenn wir beide ... na du weißt schon. Greta ist schon froh, dass er so langsam akzeptiert hat, dass ich schwul bin und Greta damit kein Problem hat. Bitte ...", sah ich ihn flehend an.

"Ja ja. Verleugne mich ruhig."

"Hey ich verleugne dich nicht ...", versuchte ich zu erklären.

"... aber verarschen lässt du dich gut."

"Idiot" Kai hatte doch jetzt echt die Dreistigkeit über mich und meine Versuche zu beschwichtigen zu lachen. Ich sprang auf ihn und versuchte ihn durchzukitzeln.

"Hm hast du vergessen, dass ich nicht kitzelig bin?", schaute er mich an, als er so unter mir lag. "Damit erreichst du nur andere Reaktionen."

"Ähm, dann ist halt dass die Strafe." Ich beugte mich mit dem Kopf zu ihm herunter und gab ihm einen Kuss, der sich gewaschen hatte.

"WOW und wo ist jetzt die Strafe?", fragte dieser etwas außer Atem und im selben Moment ging die Klingel.

"Die Strafe? Dass du jetzt mit deinem Blutstau warten musst, bis ich wiederkomme?" Noch ein kurzer Kuss und ich war schon zur Tür aufgesprungen und schaute noch einmal mit einem diabolischen Grinsen zurück, um noch rechtzeitig zu sehen, wie ein Kissen auf mich zu flog. Zum Glück konnte ich noch rechtzeitig ausweichen und war dann auch aus der Wohnung hinaus ...

... "Und ihr seid wirklich wieder zusammen?", fragte Greta etwas ungläubig.

"Klar, wenn ich dir das doch sage", schrie ich sie förmlich bei der Lautstärke an. Die Musik, oder was dafür gehalten wurde, dröhnte aus den Boxen und das Bier floss in Strömen. Entgegen meiner Erwartung war es dann doch kein Kinderschubserladen wie ‚Das Ding', wie es gewöhnlich für nen Schüler üblich war. Statt dessen erwartete mich der Roseclub und hier war's dann doch angenehmer.

"Und das ist so richtig verliebt?", fragte plötzlich auch Tom.

"Ja klar, wieso auch nicht."

"Und ich dachte schon bei Heteros ist das schon schwer. Du weißt schon, wegen dem Konflikt Frau-Mann. Eigentlich passt man ja nicht wirklich zusammen. Aber irgendwie ja doch", fing Tom an zu erzählen. Sowohl Greta als auch ich waren ziemlich erstaunt, wie locker er mit dem Thema auf einmal umging.

"Tom was für Medikamente nimmst du?", fragte Greta und fühlte an Toms Stirn, ob er vielleicht Fieber hätte.

"Ich? Nur die besten mein Schatz", lachte dieser schon leicht angeheitert und zog Greta zu sich heran und gab ihr einen Kuss in den Nacken.

"Aber jetzt mal ernsthaft, woher kommt dein Wandel so plötzlich ...", schaute sie ihn mit großen Augen an.

"Hey schau ihn dir an. Er ist doch schon irgendwie cool. Na gut und meine Mutter hat mir neulich den Kopf gewaschen ..."

"Ähm ach daher weht der Wind", ergänzte Greta nur.

"Und was ist dabei rausgekommen?", hakte ich nach.

"Dass ich aus dem Haus fliege, wenn ich noch mal so nen Mist erzähle. Schließlich war mein geheiligter Patenonkel schwul."

"Und was war so besonders an dem?", wurde Greta neugierig.

"Na ja, dass war damals so mein großer Freund. Bis ich 10 war. Er war alle paar Tage da und unternahm was mit mir oder passte einfach auf mich auf. Und wie meine Mutter erzählte, wurde ich schon immer quengelig, wenn ich nur hörte, dass er kommen würde. Doch leider ist er dann bei nem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Und seit dem aus meinem Leben verschwunden. To make a long story short: Er war damals mein großer Bruder, Freund, nenne es, wie du willst. Nur ich wusste nie, dass er schwul war."

"Eigentlich traurig, dass du erst so etwas erfahren musst, um dich umzustimmen. Hätte durchaus mal ein bisschen mehr Verstand von dir erwartet", wurde Greta etwas zickig.

"Ja meine Kleine. Du weißt doch, ich bin bloß ein Mann, wenn du in der Nähe bist, ist mein Gehirn doch sowieso nicht mehr so gut durchblutet ..." Und grinste dabei verschmitzt zu mir und Greta.

"Na das haste auch in der Gegenwart anderer nicht." Antwortete sie gespielt schnippisch.

"Ach mein Zickchen ...", setzte er jetzt seinen Versöhnungsblick auf.

"WIE NENNST DU MICH?", erboste sich jetzt Greta. "DU ALTER MACHO!"

"Jep und genau auf den stehst du." Er zog Greta zu sich heran und küsste ihren Hals, Ihre Stirn und über ihr Gesicht. Eine Geste bei der Greta sofort schwach wurde. Deswegen war Tom der Richtige. Er war zwar durchaus jünger, aber er war seit Langem der Erste, der sie im Griff hatte und nicht umgekehrt. Und genau das wollte Greta mal wieder. Sich einfach fallen lassen.

"Komm lass uns tanzen." Greta packte Tom an der Hand und zog ihn mit sich in Richtung Tanzfläche. Der sah Hilfe suchend zu mir, doch ich winkte ab. In diesem Moment hatte ich keine wirkliche Lust zu tanzen. Ich lehnte mich an die Wand und sah den beiden zu, wie sie miteinander spielten, wie sie miteinander harmonierten. Waren Kai und ich auch so? Harmonierten wir miteinander oder war es doch zum Scheitern verurteilt. Wie erwartet bekam ich darauf natürlich keine Antwort. Ich musste es schlichtweg ausprobieren. Und selbst wenn es scheitern sollte, so hatte ich eine weitere Erfahrung und hoffentlich eine weitere schöne Zeit in meinem Leben gehabt. Aber irgendwas in mir sagte genauso, dass es diesmal nicht so schnell scheitern würde, wenn überhaupt. Ich hatte dieses wohlig warme Gefühl im Bauch, diese Zufriedenheit, gefunden zu haben, was ich suchte. Ein Leben, mein Leben, zu leben. Ich wusste, wer ich war, wo ich war und was ich konnte. Was wollte ich mehr?

"Hey komm, wir holen noch ein paar Kölsch für uns." Tom schrak mich aus meinen Träumen hoch und zog mich in Richtung Bar, während Greta unseren Platz frei hielt.

"Hey nur mal unter uns. Du würdest doch jetzt lieber nach Haus und machst dieses jetzt nur aus Anstand?", fühlte mir Tom auf den Zahn.

"Wie kommst du darauf?"

"So wie du eben vor dich hingeträumt hast, warst du garantiert auf einem anderen Stern. So muss ich auch immer aussehen, wenn ich gerade an Greta denke. So sagen es zu mindest ein paar Freunde von mir."

"Na ja, ich wollte dich heute nicht enttäuschen. Wir hatten schließlich einen schlechten Start ...", versuchte ich zu erklären, aber Tom unterbrach mich.

"Hey jetzt zisch schon endlich ab. Die Nacht ist noch jung und Greta und ich werden uns schon nicht langweilen, keine Angst. Und das nächste Mal nimmst du einfach diesen Kai mit. Ist ja nett, dass du da auch erst mal Rücksicht auf mich nehmen wolltest, wie ich mir mal einfach denke. Aber ich denke die Schocktherapie hilft da mehr. Entweder ich kann es akzeptieren oder nicht. Das wird man erst dann sehen."

Ich fühlte mich ertappt und wurde etwas verlegen bzw. mir fehlten einfach die Worte, um zu kontern.

"Hey Mund zu. War echt nett, dich mal wiederzusehen. Und danke noch mal, dass auch du mir den Kopf gewaschen hast. Ich weiß zwar immer noch nicht, wie ich zu Schwulen stehen soll. Aber zumindest ist es mir schon mal egal, dass du es bist. Danke."

Tom bestellte zwei Kölsch, ging wieder zu Greta und ließ mich stehen. Er drehte sich noch mal um und zwinkerte mir zu. Greta schien davon gewusst zu haben und strahlte mich noch mehr an, mit einer Handbewegung, als wolle sie mich des Ladens verweisen.

Ich sah wohl erst etwas verdutzt aus, bis dann auch bei mir der Groschen fiel. Ich lächelte einfach nur zurück und ging auf die Straße.

Auch wenn es Köln ist, auch wenn es eine Großstadt ist, so ist Köln keine Stadt, die niemals schläft. Nur in der Nähe auf dem Ring fuhren noch wenige Autos umher. Hier war es schon ruhig, nur einige kleinere Gruppen standen vor dem Club und unterhielten sich. Wohl vielmehr nur, um mal an die frische Luft zu kommen.

Ich schloss die Augen und holte einmal tief Luft. Man spürte auch jetzt noch, das es Sommer wer. Die Luft war warm und durchflutete meine Bronchien ...

"Hey, nicht anfangen zu träumen beziehungsweise träum nicht im Durchgang!", grinste mich ein Punk von der Seite an.

"Oh sorry."

"Kein Problem noch nen schönen Abend", wünschte er mir und verschwand im Laden.

Noch etwas verdattert ging ich einfach drauf los. Na nicht einfach, ich wollte schließlich nach Haus, zu ... ja zu wem eigentlich. Zu meinem Freund.

Das klingt schon so komisch. "Mein Freund" sprach ich es einmal laut aus. Und es klang, es klang merkwürdig. Es klang fremd, es klang schön.

Ich konnte nicht anders, ich musst einfach lächeln bei dem Gedanken an ihn. Und ich stellte mir vor, was er genau in diesem Moment tat. Und ich hatte ein Bild von ihm, wie er auf meiner Dachterrasse steht, nur in Shorts und noch eine raucht. Sein Blick ging in die Ferne, nach Berlin und es lag immer noch die Sorge um Flo darin. Aber es war anders als noch gestern. Er hatte es verstanden, das fühlte ich. Er war endlich bereit ihn gehen zu lassen. Es war schließlich nur Berlin und nicht der Mars oder noch weiter weg.

Was hatte ich eigentlich alles die letzte Zeit erlebt. Erst diese Geschichte mit dem Sani, an dessen Namen ich mich noch nicht einmal erinnere, aber eigentlich auch unwichtig. Dann die ganze Geschichte mit Greta und Thomas. Meine Vermieterin. Eigentlich das ganze Leben in Köln. Ich hatte viele Fehler gemacht und ich hatte gelernt.

Ich hatte viel erlebt und ich bereute nichts. Ich bereute nur, dass es noch so weit nach Hause war. Der Weg zur Haltestelle schien noch so lang und immer wieder fuhren einige U-Bahnen an mir vorbei und in einer saß sogar ein bekanntes Gesicht.

Ich war mir sicher, er sah mich nicht. Aber ich sah ihn und ich grüßte ihn dennoch und bedankte mich noch einmal. Eigentlich hatte ich nicht mehr damit gerechnet ihn wiederzusehen, aber ... es war Ralf, der neben einem anderen Jungen saß und seinen Kopf auf dessen Schultern legte.

Anscheinend hatte nicht nur ich das Problem zu diesem Zeitpunkt gehabt. Auf seinem Gesicht war nicht mehr dieses Grinsen. Es wirkte nicht mehr aufgesetzt. Es war einfach nur ein müdes Gesicht, was sich einfach an eine starke Schulter anlehnte und auch sein Ziel gefunden hatte. Seine Erlösung.

Und durch ihn habe ich eines gelernt. Mein Glück ist nicht von einem Typen abhängig, aber ich sollte mich auch meinem Glück nicht verwehren. Gleichgültig ob es diesmal was mit Kai wird, oder doch in zwei Wochen wieder zerbricht. Es war es wert. Das heißt leben. Leben heißt fühlen. Leben heißt lieben, leben heißt leiden. Erst jemand der stumpf und eigensinnig durchs Leben geht, hat verlernt, dass es eigentlich kein Leben mehr ist. Auch wenn ich jetzt zurückdenke, es war eigentlich nichts Besonderes passiert, niemand hatte sich umgebracht, niemand stellte sich vor mich und schrie laut er sei schwul. Niemand schlug sich mit anderen, niemand tat nichts Besonderes. Es waren nur die Geschichten des Lebens. Und man braucht auch nichts Ungewöhnliches um glücklich zu sein. Man kann auch sein Leben mit gewöhnlichen Dingen füllen und damit glücklich sein. Kein Einzelkämpfer, niemand Besonderes. In der Gewöhnlichkeit liegt das Besondere. Sich einfach bei jemandem anzulehnen und sich wohl zu fühlen, jemandem einfach zu sagen man mag ihn. Ist daran etwas besonders? Eigentlich nicht. Nur in der heutigen Zeit wird das Gewöhnliche zum Ungewöhnlichen. Ich freute mich nur noch auf mein Bett und auf Kai, der hoffentlich noch in meinem Bett liegt oder mich einfach in seine Arme schließt. Ich stieg in die eingefahrene Bahn, die Tür schloss sich und trug mich davon, in mein gewöhnliches Leben ...

ENDE

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