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Zwanzigzehn

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„Jedenfalls hab ich den Typen noch vorm Frühstück rausgeschmissen… he, hörst du mir überhaupt zu?“

Ehrlich gesagt… nein.

„Klar“, sage ich und blicke immer noch verstohlen zur Teenie-Meute rüber.

Als Jessi ihr Glas auf den Tisch knallt, schrecke ich filmreif zusammen.

„Bisschen jung, mh?“

„Was?“

„Die sind höchstens sechzehn. Also nichts für dich.“

Mich beschleicht das ungute Gefühl, dass sie mein Interesse eindeutig falsch versteht.

Aber ihr das zu erklären, würde vermutlich nichts bringen, weil… ich mein Interesse grad selbst noch nicht richtig einordnen kann. Dafür bin ich viel zu verwirrt. Der hübsche Junge, der da lässig auf seinem Stuhl hockt, hat mich volle Kanne ungefähr zwanzig Jahre in die Vergangenheit gebeamt. Logisch kann das nicht Martin sein, es sei denn, er hätte die sagenumwobene Quelle ewiger Jungend gefunden und ein Schlückchen daraus getrunken. Du meine Güte, die Ähnlichkeit ist echt unheimlich.

„Ich gehe kurz aufs Klo, in der Zwischenzeit kannst du dich etwas sammeln“, erklärt Jessi, stöckelt auf ihren kilometerhohen High Heels davon und lässt mich mit meinen Erinnerungen allein.

Martin. Augenblicklich bin ich wieder dreizehn Jahre alt, hänge mit Edgar auf dem Schulhof herum und glotze verknallt bis unter die Schädeldecke diesen Typen an. Manchmal glaube ich, dass ich überhaupt nur seinetwegen schwul geworden bin. Bestimmt bin ich aber seinetwegen in der gruftigen Szene gelandet… Martin war so ziemlich der erste Typ, der nur in Schwarz rumlief und sich die Haare gefärbt hat. Natürlich hat er mich nie beachtet, denn er war drei Klassen über mir. Okay, einmal hat er mich angesprochen. Auf dem Nachhauseweg. Gefragt, ob ich Kleingeld für den Zigarettenautomaten hätte. Ich bin rot geworden und hab wahrscheinlich irgendwas Blödes gestammelt. Kleingeld hatte ich nicht.

Und jetzt sitzt genau dieser Junge da in der Cocktailbar am Tisch in der Ecke. Schwarze Jeans, schwarze Kapuzenjacke und unter seiner Boy-London-Kappe hängen ihm schwarze Ponysträhnen seitlich ins Gesicht. Irgendwie erinnert er mich nicht nur an Martin sondern auch an dieses unverschämt hübsche Boy-London-Model aus der Bravo… früher, vor tausend Jahren.

Fuck! Jetzt hat er mein Geglotze bemerkt. Ich kucke so unauffällig wie möglich weg und fühle, wie meine Visage heiß wird. Zum Glück kommt Jessi zurück.

„Na? Alle Sinne wieder beisammen?“

„Hör schon auf“, murmle ich genervt. „Der da hat mich bloß an jemanden erinnert.“

Der da steht übrigens mit seiner Teenie-Meute auf, schlendert an uns vorbei und ist kurz drauf verschwunden.

„Das beruhigt mich. Alles andere wäre irgendwie eklig, oder?“

„Allerdings.“

„Ach so…“, fällt ihr plötzlich ein, „Edgar hat mich gebeten, dir auszurichten, dass du dich mal wieder in der Redaktion sehen lassen sollst. Und zwar Montagmorgen. Andernfalls schmeißt er dich raus.“

Na, wie schön für mich!

 


 

Montagmorgen sitze ich pünktlich und unausgeschlafen in meinem Kabuff und hämmere eine vernichtende Kritik in die Tasten. Es ist doch so: Es gibt einfach keine gute Musik mehr! Leider landen stapelweise CDs von wahnsinnig innovativen neuen Bands auf meinem Tisch, die allesamt scheiße sind. Ist es denn so schwer geworden, Musik zu machen, die inspiriert? Die nicht klingt wie schon hundertmal besser dagewesen, oder die man vielleicht sogar öfter hören möchte? Nostalghia kriegt das hin. Nostalghia ist ein echter Geheimtipp! Ganz im Gegensatz zu der Wir-machen-auf-Cure-Band, über die ich grad schreiben muss. Mein Fazit lautet: Lasst die Finger davon. Hört euch lieber das Original an!

„Erik? Was machst du denn hier?“

„Arbeiten.“

Edgar schaut sich nach allen Seiten um, bevor er sich setzt und lautstark seinen Union-Jack-Kaffeebecher auf meinen Schreibtisch stellt.

„Seit wann? Oder besser gesagt, seit wann machst du das ausgerechnet hier?“

„Seit Jessi mir gesagt hat, dass ich kurz vorm Rausschmiss stehe“, entgegne ich angepisst.

„Ja, tut mir leid, Junge, aber ich bezahl dich schließlich dafür, dass du ab und an mal vor Ort bist.“

„Bin ich doch. Sonst noch was?“

„Äh, ja. Wir haben einen neuen Praktikanten, also beweg deinen Arsch nach draußen, damit ich dich vorstellen kann.“

Auch das noch. Praktikanten gehen mir auf den Sack!

Lustlos trotte ich hinter Edgar aus meinem Kabuff und bin mit einem Schlag fix und fertig.

Der Praktikant ist natürlich der falsche Martin von Samstag. Ey, da will mich doch einer veräppeln!!

„Leute“, beginnt Edgar, „das ist Leander Zielke. Er wird ab heute mal so nach und nach in sämtliche Bereiche reinkucken.“

„Lenny“, lächelt der Praktikant.

„Ja, was auch immer“, zuckt Edgar die Schultern und stellt der Reihe nach seine Leute vor.

Ich überlege einen kurzen Moment, schnell aufs Klo zu verschwinden, bevor ich dran bin, entscheide mich jedoch dagegen, weil’s irgendwie sonderbar wirken würde. Na ja, und dann ist es auch schon zu spät.

„Und das ist Erik Sommer. Er ist so was wie mein Stellvertreter… wenn er mal da ist. Also wende dich ruhig vertrauensvoll an ihn… wenn er mal da ist.“

Der Praktikant hält mir strahlend seine Hand hin, die ich lahmarschig schüttle. Außerdem schaffe ich es noch, irgendwas wie „Tach“ zu nuscheln. Großer Gott, Erik, reiß dich verdammt noch eins zusammen!

„Okay, Schluss mit der Gruppenkuschelei, zurück an die Arbeit“, bestimmt Edgar und verschwindet in sein Büro.

Äh… wie jetzt? Hat der Arsch mir soeben den kleinen Praktikanten aufs Auge gedrückt??

Alle außer mir sind jedenfalls plötzlich unheimlich beschäftigt. Supi, was soll ich denn mit dem machen? Lenny steht in der Gegend rum und glotzt mich erwartungsvoll an. Ich hab keine Ahnung, was man als stellvertretender Chefredakteur für Aufgaben hat. Ich bin doch fast nie hier! Ich hab doch den Posten nur, weil das Magazin Edgars und meine Idee gewesen ist.

„Tja“, sage ich ein wenig hilflos.

„Ja?“

„Dann… äh… zeig ich dir vielleicht erstmal alles, oder?“

„Sie sind der Boss“, lächelt er.

„Wir duzen uns hier“, erkläre ich eisig, denn ich hasse es, gesiezt zu werden. Dann komme ich mir noch älter vor als ich bin. Dabei wird mir ständig von allen Seiten bestätigt, dass ich aussehe wie Mitte Zwanzig. Aber so’n kleiner, sechzehnjähriger Praktikant sieht in mir natürlich einen Erwachsenen… womöglich sogar einen Vatertypen. Wie furchtbar. Na ja, zu meiner Teenagerzeit waren Leute wie ich nicht mal mehr Vatertypen… das waren fast schon Opas. Also hab ich noch Glück.

 

Der Rundgang dauert gefühlte zwei Sekunden. Unsere Räumlichkeiten sind sehr beschränkt, weil Edgar es so haben will. Unabhängig und untergründig geht nicht in Großraumbüros… sagt Edgar. Dabei könnten wir uns mittlerweile echt mehr leisten. Unser „Independent“ verkauft sich in der Szene ziemlich gut, obwohl der Name reichlich unoriginell bis bescheuert ist, wenn man mich fragt. Aber Edgar hat mich leider nicht gefragt. Und da ich lediglich die Idee beisteuerte und Edgar die Kohle, um sie zu verwirklichen, hat er halt überall das letzte Wort.

Der Praktikant wartet in meinem Kabuff offensichtlich darauf, dass ich ihm eine Aufgabe gebe oder so was.

„Äh… eigentlich mache ich nichts Interessantes, also vielleicht kuckst du besser, ob du woanders…“

„Is okay“, behauptet er. „Ich war vorher bei einer Zeitung, da hab ich so wahnsinnig komplizierte Dinge wie kopieren und Kaffeekochen gelernt. Also ist das, was du machst, für mich grad vermutlich so aufregend wie’n Fallschirmsprung.“

„Ich zeichne kleine Comics und schreib Kritiken“, raube ich ihm seine Illusionen.

„Cool. Darf ich da mal reinhören?“, fragt er und deutet auf den CD-Stapel.

Ich reiche ihm meinen tragbaren CD-Player samt Ohrenstöpsel und bin zufrieden, dass er jetzt erstmal beschäftigt ist. Leider bin ich dann auch ziemlich beschäftigt. Artikel lesen und vorläufig absegnen, Fotos für die nächste Ausgabe aussuchen, Layout-Scheiße, von der ich null Ahnung habe. Und Edgar spielt sich derweil an den Füßen oder was? Mich beschleicht der Verdacht, dass er meine Kollegen extra angewiesen hat, mich zu nerven. Aus Gehässigkeit, versteht sich, weil ich so selten hier bin. Das hat aber einen guten Grund. Eigentlich mehrere. Erstens schreibe ich gerade meine Doktorarbeit und zweitens bin ich dabei, einen Verlag für mein Buch zu finden. Für mein zweites Buch wohlgemerkt. Das erste ist nach einem fulminanten Start mit ein paar Lesungen in der Pampa und wenigen Rezensionen auf verschiedenen Internetseiten direkt in der Versenkung verschwunden. Mein neues Buch will deshalb keiner haben. Ich dagegen finde mich als Autor großartig, wenn man bedenkt, was heutzutage für’n Scheiß veröffentlich wird. Die Twilight-Reihe steht beispielsweise ganz oben auf meiner Hass-Skala. Als Musiker fand ich mich eine Zeit lang auch großartig. Aber bis auf eine selbstproduzierte CD, die in den Verkaufsregalen verstaubt, ist aus meiner angestrebten Karriere auch nicht viel geworden. Wenn ich Jungs wie Lenny sehe, könnte ich kotzen, weil die noch alle Möglichkeiten haben. Ich bin sechsunddreißig und habe nichts vorzuweisen. Bei mir ist der Zug abgefahren.

„Die hier ist super“, reißt Lenny mich aus meinen Gedanken, „ich hoffe, du schreibst was Gutes über die.“ Er wedelt mit der Nostalghia-CD vor meiner Nase rum. Hm, vielleicht ist der Junge doch nicht so verkehrt.

 


 

„Tach, Herr Sommer“, begrüßt mich Lenny mit einem strahlenden Lächeln, „was machen wir heute?“

Ich hasse es, wenn er mich so nennt, das weiß der Blödmann ganz genau.

„Wir machen heute gar nichts. Geh andere Leute nerven, ich hab zu tun.“

„Ja?“ fragt er, setzt sich und schlürft ein Schlückchen Kakao aus seiner Tasse. Der süße Geruch verklebt mein Hirn. Und ich meine jetzt leider nicht den Kakaogeruch, verdammte Scheiße. Lenny riecht wahnsinnig gut.

„Dein Praktikum soll doch so umfangreich wie möglich sein, oder? Also macht es wenig Sinn, nur bei mir rumzuhängen.“

„Ich hänge gerne bei dir rum“, zuckt er die Schultern.

Ja, und zwar seit drei Wochen. Warum ich seit drei Wochen jeden Tag pünktlich zur Arbeit gehe, ist mir ein Rätsel. Ich kann es selbst nicht begreifen, aber irgendwas zieht mich förmlich hierher. Oder irgendjemand. Aber diesen Gedankengang verbiete ich mir. Obwohl ich inzwischen weiß, dass Lenny nicht sechzehn sondern zwanzig ist. Na und? Das ist noch lange kein Grund, ihn anzuschmachten. Ich schmachte ihn auch nur an, weil er mich an einen Typen erinnert, in den ich vor tausend Jahren mal unsterblich verschossen war. Ansonsten macht es manchmal einfach Spaß, sich mit ihm zu unterhalten. Er ist gescheit, lustig, hat einen sehr ähnlichen Musikgeschmack… blablabla. Jedenfalls macht es so lange Spaß bis ich merke, dass ich ihn aus Versehen anschmachte. Dann schicke ich ihn weg und hab wenigstens für eine Stunde oder so meine Ruhe.

„Ich hab mir übrigens dein Buch gekauft…“, erklärt er stolz.

Ach du Scheiße! Das ist mir in einem schwachen Moment wohl mal rausgerutscht. Na ja, vielleicht hat er es ja nicht gelesen.

„… und an einem Tag durchgelesen.“

Schade.

„Und?“, frage ich lahm.

Lenny sieht mich an und grinst gefährlich.

„Es war… aufschlussreich.“

Na toll, jetzt kann er sich denken, dass ich schwul bin… immerhin hab ich eine sehr dramatische Coming-Out-Geschichte geschrieben. Mir doch egal. Meine Homosexualität war nie ein Problem für mich.

„Du hast nie gesagt, dass du auf Kerle stehst.“

„So was erzähle ich für gewöhnlich auch nicht irgendwelchen dahergelaufenen Praktikanten, die ich grad mal drei Sekunden kenne.“

„Drei Wochen“, verbessert er mich.

„Was interessiert’s dich?“

„Ich weiß halt gerne, mit wem ich es zu tun habe“, behauptet er.

„Okay, ich muss jetzt einen Artikel schreiben, also...“

„Über was?“

„Hä?“

„Artikel über was?“

„Neue Band… Tribal Fusion. Frag mich nicht, ich hab keinen Schimmer, was das sein soll.“

„Das ist stark vereinfacht ausgedrückt orientalischer Tanz, auch Bauchtanz genannt, aber irgendwie sehr gothic-like.“

Ich hasse den Praktikanten.

„Woher zum Teufel…“

„Freundin von mir steht darauf.“

„Dann ist heute dein großer Tag“, beschließe ich und reiche ihm einen USB-Stick. „Hier ist das Interview mit der Sängerin. Schreib einen kurzen Artikel dazu und zeig’s mir anschließend.“

Arbeit auf andere abzuwälzen ist immer gut!

„Okay.“

„Such dir irgendwo einen freien Platz, ich glaub, Jessi ist grad unterwegs. Bring aber bitte nichts durcheinander. Und schnüffel nicht in ihren Sachen.“

Jessi wird mich köpfen, wenn sie das erfährt, aber Hauptsache, er ist aus meinem Blickfeld verschwunden.

 

Leider hab ich nicht so lange Ruhe wie gedacht. Und das, was Lenny geschrieben hat, ist auch noch gar nicht mal so schlecht. Jedenfalls brauche ich kaum was umzuschreiben.

„Was machst’n eigentlich, wenn du nicht arbeitest?“

„Bitte?“, frage ich etwas überrumpelt.

„Wochenende… wo gehst’n sonst hin, außer ins Caruso?“

„Was?“

„Das warst du doch, oder? Am Wochenende bevor ich hier angefangen habe. Mit Jessi.“

Fuck, er hat mich tatsächlich bemerkt.

„Ja. Na und?“

„Also… stehst du auf Kino? Oder auf tanzen?“, fragt er genervt.

„Ich kapier nicht, was das soll.“

„Meine Güte, ich will mich mit dir verabreden“, schnauft er.

Mir fällt fast die Kinnlade auf den Boden.

„So was mache ich nicht.“

„Dich mit Typen verabreden?“

„Mich mit Jungs verabreden. Noch dazu mit Praktikanten.“

„Du sollst mich nicht heiraten, Erik. Bloß was trinken, ein bisschen quatschen und…“

„Wir quatschen hier schon genug“, unterbreche ich seinen absurden Vorschlag.

„Alles klar. Dann halt nicht“, entgegnet er nicht sonderlich erfreut. „Jessi ist grad zurückgekommen und bearbeitet ihre Fotos, da werd ich mal zuschauen.“

Weg ist er. Gott sei Dank!

 

Lenny scheint echt beleidigt zu sein, denn in den nächsten Tagen kriege ich ihn kaum zu Gesicht. Kann mir nur recht sein. Will der mit mir ausgehen… hat wohl einen Anfall von Blödsinn, der Kleine. Zwar würde ich mich nicht strafbar machen, aber… wie sieht’n das aus?

Der alte Sack steht auf junges Gemüse. Ist doch ekelhaft! Nee, da käme ich mir total schmierig vor.

 


 

„Ich bin langsam zu alt für diesen Scheiß“, brülle ich gegen die laute Musik an.

„Dabei hab ich dich extra heute mitgeschleppt. Die Musik deiner Jugend“, grinst Edgar behämmert.

„Die Getränke gehen auf dich und das wird teuer“, warne ich ihn. „Nüchtern halte ich den Kindergarten hier nicht aus.“

„Du bist besoffen auch wesentlich amüsanter als im nüchternen Zustand“, rümpft er die Nase und kämpft sich den Weg zur Theke frei.

Ich bin echt ewig nicht mehr im Kristallpalast gewesen… zehn Jahre bestimmt. Das letzte Mal war kurz bevor der Schuppen den Besitzer gewechselt hat, an Silvester, da hab ich mich genauso gelangweilt wie heute. Nur, dass der Laden heute voll ist, im Gegensatz zu damals.

Meine Erinnerungen daran sind nicht die besten, weil einen Tag vorher mein damaliger Freund Schluss gemacht hat. Nach fünf Jahren. Einfach so. Blöde Pissbirne. Danach gab’s eigentlich keine nennenswerten Beziehungen mehr, bloß ein paar Typen für eine Nacht. Allerdings ist der letzte Kerl auch schon wieder einige Zeit her. Hab halt momentan einfach zu viel zu tun, um mich auf irgendwas einzulassen.

„Erik, das ist ja süß… was machst’n du hier?“

Auch das noch! Der kleine Praktikant strahlt mich an. Was laberte der überhaupt eben von süß? Und wieso muss er sich neben mich setzen und mir derart auf die Pelle rücken? Und wieso zum Teufel muss der so atemberaubend hübsch aussehen?

„Du bist immer noch sauer, weil ich dir einen Korb gegeben habe“, erinnere ich ihn an sein Verhalten der vergangenen Woche.

„Ich bin nicht nachtragend“, entgegnet er, „aber ich merke schon irgendwann, wenn ich jemandem auf den Sack gehe. Dachte, es ist dir so lieber.“

Sein Atem streift beim Sprechen meine Wange und meine Ohrmuschel. Das sollte mich nicht so kribblig machen. Tut es aber.

„Ich bin nicht allein hier, also wäre es besser, wenn du…“

„Du hast was mit Edgar?“, fragt er.

„Wie bitte?“

„Du bist mit Edgar hier. Ich hab ihn vorhin an der Theke getroffen.“

Shit!

„Edgar ist hetero.“

Übrigens passt es mir gar nicht, dass er meinen besten Freund, der locker sein Vater sein könnte, so vertraut beim Vornamen nennt. Hat offenbar keinerlei Respekt vor seinem momentanen Chef. Der kommt gerade mit unseren Getränken zurück. Ich hoffe, meins ist hochprozentig.

„Ach du Scheiße“, krakeelt er mir ins Ohr, „da lässt man dich eine Sekunde allein und schon reißt du unseren Praktikanten auf. Erik, was stimmt nicht mit dir?“

„Mit mir stimmt alles, Arschloch“, murmle ich und kippe meinen Jack Daniels runter.

 

Ich kippe im Laufe des Abends noch einige Gläser Jack runter. Ob die Duseligkeit im Kopf vom Whiskey kommt oder von anderen Dingen ist schwer zu sagen. Lennys Hand legt sich beim Reden wie selbstverständlich auf meinen Schenkel. Ganz sachte und ein bisschen streichelnd.

„Warum liegt deine Hand auf meinem Schenkel?“, schaffe ich zu fragen.

Lenny beugt sich zu mir rüber.

„Weil ich mich höher nicht traue.“

Der hat wohl nicht mehr alle beisammen!

„Nimm deine Hand da weg“, fordere ich.

„Okay“, sagt er hastig und lässt mein Bein los.

Schwankend stehe ich auf und gebe Edgar ein Zeichen, dass ich nach Hause will. Lenny erhebt sich ebenfalls.

„In der Redaktion“, murmle ich betrunken, „es ist mir lieber so.“

„Alles klar“, nickt er und verschwindet im künstlichen Nebel.

 

Am nächsten Morgen hab ich Schädelschmerz der übelsten Sorte. Und ich beschließe bei zwei Aspirin, das mit dem Alkohol für immer sein zu lassen. Danach überfällt mich ein ekelhafter Nostalgietrip. Hat natürlich damit zu tun, wo ich gestern war und welche Musik gespielt wurde. Ich krame alte Fotos durch und finde sogar die Bilder von Martin, die ich mal heimlich gemacht habe. Mann, Lenny sieht ihm wirklich verdammt ähnlich. Weiterhin finde ich Fotos vom M‘era Luna mit Edgar und Jessi… als es zwei Tage lang durchgeregnet hat und wir noch mit dem Auto im Schlamm stecken geblieben sind. Das erste und letzte Mal, dass ich draußen in einem Zelt gepennt habe. Fotos von Auftritten mit meiner alten Band… vor drei zahlenden Gästen. Ich wüsste gerne, was aus den Leuten geworden ist. Irgendwie sind die Kontakte mit der Zeit verloren gegangen. Ist doch eigenartig, da hat man Leute, mit denen man sich total gut versteht, und plötzlich entwickelt man sich aus Versehen in verschiedene Richtungen und hat sich einfach nichts mehr zu sagen. Ich hab das nie so ganz begriffen.

Zum Glück ruft Jessi irgendwann an, um mir von ihrem gestrigen Date zu erzählen, und hält mich somit davon ab, noch weitere Ausflüge in die Vergangenheit zu unternehmen. Jessis Date war logischerweise ein Reinfall. Das war vorauszusehen, Jessi hat ein unglaubliches Talent, sich ständig die absoluten Supergraupen auszusuchen. Dabei gibt es einen vernünftigen Typen direkt vor ihrer Nase, aber den sieht sie leider nicht.

 


 

Vorhin flatterte eine weitere Absage ins Haus, meine Laune ist also nicht die allerbeste. Immerhin war es keine von diesen Standardabsagen, die man sonst so kriegt. Irgendjemand hat meinen Roman tatsächlich gelesen, fand ihn wohl auch recht gut, aber… ein wenig zu speziell und passt halt leider nicht ins Programm. Klar nicht, die haben wahrscheinlich bloß Heterogeschichten, in denen Schnösel-Vampire keinen Sex haben, dafür aber in der Sonne glitzern. Mein Vampirroman ist düster, sexy, schwul und ziemlich lustig. Offenbar ist diese Mischung niemandes Geschmack. Die haben doch alle keine Ahnung. Ich schreibe besser als die meisten anderen sogenannten Autoren! Einerseits ist es mir peinlich, dass ich tief in meinem Inneren größenwahnsinnig bin, andererseits… sollte man wenigstens selbst von sich überzeugt sein, oder?!

 

Da ich heute weder Lust aufs Independent noch auf den kleinen Praktikanten habe, rufe ich Edgar an und teile ihm mit, dass ich krank bin. Logischerweise glaubt er mir nicht eine Sekunde, aber das kümmert mich wenig. Ich hab genug mit meiner Doktorarbeit zu tun.

Außerdem muss ich mir einen Kerl suchen, damit ich nicht andauernd in unangebrachter Weise an den Praktikanten denke. Ich gebe es ungern zu, aber letzte Nacht hab ich von Lenny geträumt. Nicht versaut, zum Glück, allerdings eben auch nicht unbedingt besonders neutral. Das verwirrt mich total, weil ich, seit ich dem Teenie-Alter entwachsen bin, eigentlich nicht mehr von Teenies träume. Wobei Lenny strenggenommen kein Teenie mehr ist… trotzdem will ich mir lieber nichts mit ihm vorstellen.

Leider kann ich mich grad jetzt nicht auf Gothic Electro. Die Funktionalisierung von Technik innerhalb des subkulturellen Kontexts* konzentrieren. Stattdessen treibe ich mich ein bisschen im Internet herum und stelle überrascht fest, dass der Held meiner Kindheit offenbar bald für ein paar Konzerte nach Deutschland kommt. Mann, in Billy Idol war ich echt verschossen. Weil meine Schwester den toll fand. Marianne ist sechs Jahre älter als ich und wurde ständig zum Babysitten gezwungen, denn unsere Eltern haben viel gearbeitet und hatten deswegen kaum Zeit. Und da man als Kind nun mal noch keinen eigenen Geschmack hat, hab ich ihre „Stars“ einfach heimlich mit angehimmelt. Matt Dillon in „Kleine Biester“, Shaun Cassidy und ganz besonders Robby Bauer von den „Teens“. Ich fürchte, dass es nicht Martin aus meiner Schule war, der mich schwul gemacht hat, sondern Marianne. Hätte ich einen älteren Bruder gehabt, wäre ich vermutlich normal geworden und hätte Poster von… keine Ahnung… Suzie Quatro, Joan Jett oder meinetwegen auch Nena an die Wände gepinnt. Ganz ehrlich, ich bin manchmal durchaus der Meinung, dass früher alles besser war. Früher gab’s Disco und Hitparade, etwas später Formel Eins… da hat man sich noch total drauf gefreut, weil’s was Besonderes war. Früher gab’s auch viel coolere Süßigkeiten… Leckerschmecker, Bazooka-Joe, Bonitos mit kleinen Figürchen drin, Twix hieß noch Raider und es gab das geniale Eis in der Plastikorange. Es war einfach eine völlig andere Welt. Eine Welt, die der kleine Praktikant nicht kennt. Wenn ich dem erzähle, dass wir früher bloß drei Fernsehprogramme hatten und zum Umschalten noch aufstehen mussten, hält der mich doch für durchgedreht.

 


 

„Was zum Teufel willst du denn hier?“, frage ich völlig entgeistert. „Und woher weißt du, wo ich wohne?“

„Krankenbesuch. Edgar“, erklärt Lenny grinsend und erwartet offenbar, dass ich ihn reinlasse.

Ich bin über die Tatsache, dass er einfach so bei mir auf der Matte steht, dermaßen fassungslos, dass mein Hirn nicht richtig funktioniert und ich ihn herein bitte.

„Edgar weiß, dass ich nicht krank bin.“

„Ja, hat er mir gesagt“, entgegnet der kleine Praktikant und sieht sich ungeniert in meiner Wohnung um. „Hübsch“, lautet sein Urteil, „und so aufgeräumt. Also… was treibst du?“

„Doktorarbeit.“

Er verzieht ein bisschen das Gesicht.

„Klingt langweilig und nach null Spaß.“

„Ja. Und weiter?“

„Mal überlegen“, behauptet er und setzt sich auf die Couch, „du könntest mir was zu trinken anbieten.“

„Ich hab bloß Mineralwasser im Haus.“

„Nehme ich, danke.“

Ich stelle ihm also ein Glas Wasser hin und hoffe, dass er danach Leine zieht.

„Und… was macht die Verlagssuche?“

Ich bringe Edgar um. Mehrfach. Muss der ausgerechnet mit dem meine Angelegenheiten bequatschen? Dämliche Tratschtante.

„Nichts. Mein Buch ist den Verlagen zu speziell.“

„Die sind doch bescheuert. Du schreibst toll. Dein erstes Buch ist jedenfalls grandios. Ey, und du benutzt so coole Wörter“, kriegt er sich gar nicht mehr ein. „Genasführt, zum Beispiel, hab ich noch nie gehört.“

„Schön, dass ich deinen Wortschatz bereichern konnte“, murmle ich und setze mich neben ihn. Ein schwerer Fehler, denn augenblicklich steigt mir sein betörender Geruch in die Nase. Das ist so eine Mischung aus Waschmittel und Billigkaugummi. Viel zu süß, um einen klaren Kopf zu bewahren. Dazu noch sein hübscher Schmollmund, seine giftgrünen Augen, seine Hände, die unglaublich weich aussehen. Fuck, wenn er doch bloß nicht so jung wäre…

„Allerdings. Ich wette…“, er lächelt gefährlich, „du sagst auch noch bumsen.“

Was?? Ich glaube, ich werde vor Schreck rot im Gesicht.

Lenny rückt ein Stückchen näher an mich heran.

„Weißt du, was Edgar sagt?“

„Anstelle von bumsen?“, frage ich dümmlich.

„Er sagt, du hattest lange keinen Kerl.“

„Edgar spinnt“, brülle ich. „Wieso erzählt der dir so’ne Scheiße?“

„Ich hab ihn gefragt, warum du oft so miesepetrig bist, und er hat gesagt, das liegt daran, dass du lange keinen Kerl hattest“, antwortet er vollkommen ruhig und… legt seine Hand auf meinen Schenkel.

„Und wenn schon“, sage ich und schiebe seine Hand weg. „Die Betonung liegt auf Kerl. Sorry, aber ich stehe nicht auf Teenager.“

„Ich bin fast einundzwanzig.“

„Und ich sechsunddreißig.“

„Wo ist das Problem?“

„Wenn du das nicht siehst, tut’s mir leid.“

„Ich mag dich und ich glaube, du magst mich auch, also wen würde es stören, wenn wir…“, er rückt noch ein Stück näher und das ist mir jetzt zu nah.

„Lenny, das läuft nicht“, stelle ich klar und rücke von ihm weg.

„Okay. Wie du meinst.“

Was? Das war schon alles? Dabei hatte seine Verführungsnummer so vielversprechend angefangen. Ach du Scheiße, was zum Teufel denke ich da?

Lenny steht auf und nimmt seine Jacke.

„Bis dann“, lächelt er.

Drei Sekunden später höre ich die Tür ins Schloss fallen und bin völlig im Eimer. Natürlich ist es vernünftig, dass ich ihn weggeschickt habe. Andererseits… wäre ich wahnsinnig gerne auf ihn angesprungen. Weil er süß ist und weil ich tatsächlich lange keinen Kerl… ey, Edgar, die alte Arschgeige, der Typ kann sich auf was gefasst machen, wenn ich ihn das nächste Mal sehe.

 

Das nächste Mal ist einen Tag später, als die alte Arschgeige mir Arbeit nach Hause bringt. Ich könnte ihm gut spontan in die Fresse schlagen.

„Hast du jetzt komplett den Verstand verloren?“, frage ich ohne Umschweife.

„Du bist nicht krank, du machst blau“, stellt er fest, „also kannst du auch…“

„Ich meine Lenny“, unterbreche ich ihn genervt.

„Wieso? Was’n mit dem?“

„Ich hatte also lange keinen Kerl, mh?“

„Ach das“, verdreht er die Augen. „Na und? Stimmt’s etwa nicht?“

„Und was geht das bitteschön den Praktikanten an?“, keife ich völlig außer mir.

„Er hat gefragt, warum du immer so miesepetrig bist“, entgegnet er unschuldig grinsend.

Reflexartig ballt sich meine Hand zur Faust.

„Meine Güte, der Kleine ist dir doch scheißegal. Was kümmert es dich, was ich ihm erzähle?“

„Vielleicht sollte ich Jessi mal was über dich erzählen?“, hole ich zum verbalen Schlag aus.

Der entlockt Edgar jedoch nur ein müdes Lächeln.

„Jessi weiß über meine schlimmsten Momente Bescheid… zum Beispiel, dass ich eine lange Zeit mit turmartig auftoupierten Haaren rumgelaufen bin und das völlig ernst gemeint habe.“

„Das hat echt scheiße ausgesehen“, stimme ich zu.

„Okay, also der Artikel muss bis morgen fertig sein. Schick ihn mir per E-Mail, wenn du dich zu krank fühlen solltest, um ihn persönlich vorbeizubringen. Gute Besserung“, wünscht er und geht.

 

Ich schreibe und schicke ihm den blöden Artikel. Allerdings nur, weil ich keinen Bock habe, gefeuert zu werden. Der Job beim „Independent“ ist eben immer noch besser als… alles andere, was man machen müsste, um Geld zu verdienen.

Als ich mich danach an meine Dissertation setze, klingelt’s an der Tür. Und wer steht da wohl schon wieder auf der Matte? Richtig geraten: der kleine Praktikant.

„Donuts“, krakeelt er, hebt die rechte Hand und wedelt mit einer Tüte vor meiner Nase herum, dann hebt er die linke Hand, die ein paar DVDs festhält, „Twin Peaks. Ich hoffe, du hast verdammt guten Kaffee im Haus.“

Unnötig zu fragen, woher er das weiß. Mein Leben ist ein offenes Buch, aus dem Edgar ihm offenbar reichlich vorgelesen hat.

„Ich hab keine Zeit“, murmle ich schwächlich, weil Lenny auch heute unbeschreiblich gut aussieht und ich auf gar keinen Fall kuschelig mit ihm auf der Couch hocken will.

Lenny ignoriert meinen letzten Satz, latscht ins Wohnzimmer, zieht Jacke und Schuhe aus und setzt sich aufs Sofa. Na ja, was soll’s?! Es ist fast Herbst, also die perfekte Twin-Peaks-Zeit. Der Kaffee, den ich ihm etwas später serviere, ist vermutlich so stark, dass der sogar Agent Cooper aus den Socken hauen würde. Lenny kippt ordentlich Milch hinein und süßt ihn zusätzlich mit einer geradezu schwindelerregenden Menge Zucker. Und dann spricht Pete Martell auch schon die magischen Worte: „She’s dead. Wrapped in plastic.“ Irgendwie find ich’s gut, dass Lenny sich Twin Peaks lieber auf Englisch ankuckt. Nicht, dass die deutsche Synchro schlecht wäre… im Gegenteil… aber original ist halt immer besser. Okay, Life of Brian ist eine Ausnahme, aber der steht heute ja nicht an.

Normalerweise ist Twin Peaks neben Weihnachten mein persönliches Jahres-Highlight, aber heute bin ich alles andere als entspannt. Lenny hat sich bequem an mich gelehnt, seine Haare duften schwach nach Fruchtshampoo. Außerdem kann ich wahrscheinlich nach der einen Tasse Kaffee monatelang nicht schlafen. Auf einmal grabbeln seine Hände an meinen Schultern herum.

„Mann, du bist ja total verspannt“, behauptet er und beginnt, meine Schultern zu massieren.

Ja, klar fühlt sich das gut an… trotzdem versuche ich, seine Hände wegzuschieben.

„Danke, das reicht schon.“

Lenny verdreht kurz die Augen.

„Das waren höchstens drei Sekunden. Die können dich unmöglich entspannt haben“, säuselt er und massiert weiter. „Ich wüsste da übrigens noch was, das dich richtig entspannen würde.“

„Hör zu“, sage ich und krame seine Hände unter meinem Pullover hervor, „vielleicht hab ich mich letztens unklar ausgedrückt, also noch mal… ich stehe nicht auf dich. Okay?“

Seine Hand legt sich auf meine Brust.

„Du lügst“, grinst er. „Dein Herz klopft total schnell.“

Fuck!!

„Das liegt sicher nicht an dir“, entgegne ich lahm.

„Erik“, schüttelt er den Kopf und streicht mir sanft eine Haarsträhne hinters Ohr, „du hast Bock drauf und ich hab Bock drauf. Warum machst du nicht einfach, was du willst?“

Scheiße, ja, warum eigentlich nicht?!

 


 

Montagmorgen, Redaktionssitzung oder so’n Scheiß. Hab ich grad überhaupt keine Lust zu und ich höre auch bloß mit einem Ohr hin. Mit meinen sämtlichen Gedanken bin ich bei Donnerstagabend. Und ich bereue, was mit Lenny gelaufen ist. Das heißt, ich rede mir ein, es zu bereuen. Wenn ich nämlich mal kurz ehrlich bin… es war der absolute Wahnsinn. Und natürlich war es nur deshalb wahnsinnig, weil ich eben lange keinen Sex hatte und dementsprechend ausgehungert war. Übrigens ist mir ein bisschen übel, okay, erheblich übel, weil ich keinen Schimmer habe, wie ich jetzt mit Lenny umgehen soll. Ich meine, es war eine einmalige Sache, das steht fest, aber ich weiß halt nicht, ob er das genauso sieht. Viel geredet haben wir nach dem Sex jedenfalls nicht, weil er ziemlich schnell abgehauen ist, was mir ganz recht war. Na ja, und vorhin hatten wir bloß Zeit für ein knappes „Guten Morgen“.

„Herr Sommer, weilen Sie noch unter uns oder schweben sie in irgendwelchen anderen Sphären?“, reißt mich Edgars Stimme aus meinen Gedanken.

„Ja“, grummele ich.

„Okay, Leute, das war’s. An die Arbeit. Du nicht, Erik.“

„Was mit dem Artikel nicht in Ordnung?“, frage ich, als wir allein in Edgars Büro sitzen.

„Hä?“

„Der Artikel, den ich letzte Woche…“

„Ach, scheiß drauf“, unterbricht er mich. „Es gibt ja wohl eindeutig wichtigere Dinge.“

„Gibt es?“

„Erik“, beginnt er ungewohnt ernst, „ich frage dich jetzt als Freund, als bester Freund seit Ewigkeiten… hast du unseren Praktikanten gebumst?“

Ich muss mich vor Schreck an meinem Kaffee verschlucken und huste mir einen ab.

„Wie kommst du denn darauf?“

„Du siehst aus, als hättest du endlich mal wieder Sex gehabt“, zuckt er die Schultern. „Aber was hast du dir bloß dabei gedacht, es ausgerechnet mit unserem Praktikanten zu treiben?“

„Eigentlich war es seine Idee“, röchele ich.

„So? Aber du hast offensichtlich nichts dagegen gehabt und mitgemacht, mh?“

„Sag mal, was zum Henker geht dich das überhaupt an?“

„Nicht das Geringste“, grinst er plötzlich. „Ich wollte es nur wissen. Und ich hab ein Abendessen gewonnen. Mit Jessi. Sie war der Meinung, dass Lenny dich nicht rumkriegt.“

Ich verschlucke mich zum zweiten Mal.

„Du hast eine Sexwette am Laufen… mit Jessi?“

„Yep.“

Na toll. Wer solche Freunde hat, braucht echt keine Feinde.

„Das ist krank, Edgar. Selbst für deine Verhältnisse. Konntest du dich nicht dazu durchringen, sie um ein Date zu bitten, wie es jeder normale Mensch getan hätte?“

„Viel zu unoriginell“, findet er.

„Ich hoffe, dir ist klar, dass sie bloß mit dir ausgeht, weil sie eine Wette verloren hat.“

Für zwei Sekunden wirkt Edgar tatsächlich leicht verunsichert.

„Was soll’s?! Ich bin charmant, weltgewandt und geistreich. Das wird sie schon überzeugen.“

„Du weiß doch nicht mal, was weltgewandt bedeutet“, lache ich ihn aus.

„Und… hast du jetzt vor, mit dem kleinen Praktikanten eine ernsthafte, erwachsene Beziehung zu führen?“

„Nein, Arschloch. Es war eine einmalige Sache. Nebenbei ist Lenny tausendmal erwachsener als du.“

„Seine Eltern werden dich bestimmt mögen… immerhin sind sie ungefähr in deinem Alter.“

„Wenigstens hat Lenny mit mir geschlafen, weil er es wollte, und nicht, weil er eine Wette verloren hat“, erkläre ich und gehe zur Tür.

„Bist du dir da sicher?“, ruft er mir nach.

 

Als ich mir in der kleinen Küche einen Kaffee hole, hantiert günstigerweise der kleine Praktikant an der Kaffeemaschine herum. Ich denke, jetzt ist ein klärendes Gespräch fällig.

„Kaffee dauert noch.“

„Ja, sehe ich. Hör mal… das letztens, also… es hat Spaß gemacht und so, aber…“

„Es hat weiter nichts zu bedeuten, oder? Keine Angst, ich bin vollkommen deiner Meinung.“

Ach so?! Na, dann ist ja alles in Ordnung.

 

Oder auch nicht. Denn bereits einige Stunden später steht Lenny wieder bei mir vor der Tür.

„Ich hab meine DVDs vergessen“, sagt er und latscht unaufgefordert ins Wohnzimmer. „Außerdem war das, was wir heute Morgen besprochen haben, natürlich Blödsinn.“

Äh…?!

Bevor mir eine passende Antwort einfällt, hat er schon seine Arme um mich gelegt und ich hänge wie ein Junkie an seinen süßen Lippen. Scheiße, ey, der kann aber auch gut küssen!

Engumschlungen stolpern wir ins Schlafzimmer und reißen uns die Klamotten runter.

Okay, ein zweites Mal war nicht geplant, das erste Mal war’s schon nicht, aber jetzt aufzuhören wäre ja auch irgendwie unsinnig, oder? Zumal Lenny bereits dabei ist, mir einen zu blasen und… das kann er mindestens genauso gut wie küssen. Dass ich das auch nicht unbedingt schlecht mache, beweise ich ihm anschließend.

 

Als wir hinterher nebeneinander liegen, stupst er mir grinsend in die Seite.

„Gib’s zu, Erik, du verliebst dich gerade in mich.“

„Du solltest Sex nicht mit Liebe verwechseln“, raube ich ihm seine Illusion.

„Ja, das stimmt“, nickt er. „Aber da ist eine Sache, die du noch nicht weißt… ich hab bisher immer gekriegt, was ich wollte.“ Er drückt mir einen Kuss auf die Wange und zieht sich an.

„Wir sehen uns“, lächelt er.

 


 

„Und jetzt willst du mich fragen, ob ich dein Trauzeuge werde?“, lacht Edgar, nachdem ich ihm mehr oder weniger ausführlich von der Sache zwischen Lenny und mir berichtet habe.

„Genau das, Blödarsch.“

„Ich find den Kleinen irgendwie süß. Warum sträubst du dich eigentlich so gegen eine Beziehung?“

„Da gibt es so viele Gründe, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Wie war dein Abend mit Jessi?“

„Super“, lächelt er horrorartig und nimmt einen üppigen Schluck aus seiner Bierflasche. „Sie hat mir stundenlang von ihren miesen Dates erzählt. Ich nehme an, sie spricht mit dir auch über so was. Du weißt, was das bedeutet.“

„Ähem…“

„Dass sie mich als besten, schwulen Freund sieht… bloß ohne schwul.“

„Das ist übel“, stimme ich zu. „Was hast du jetzt vor?“

„Keine Ahnung. Vielleicht hole ich mir Tipps von Lenny, der scheint sich damit auszukennen, wie man Leute rumkriegt.“

„Können wir bitte das Thema wechseln? Danke.“

Den restlichen Abend besaufen wir uns gepflegt und führen tiefgründige Gespräche… wir zitieren aus unseren Lieblingsfilmen.

 

Am nächsten Morgen bereue ich, zur Arbeit erschienen zu sein. Auf meinem Schreibtisch liegt eine CD, an der ein Zettel von Edgar klebt, mit der Bitte, für die nächste Ausgabe was darüber zu schreiben. Sopor Aeternus… allein der Name verursacht ein Gefühl, auf der Stelle brechen zu wollen, denn die Texte handeln zu neunundneunzig Prozent von Leiden, Schmerzen, Sterben und Tod. Das ist so dermaßen düster und gothic, dass mir bis heute nicht ganz klar ist, ob das ernst gemeint ist oder vielleicht doch eher als… Witz oder so. Wie Rammstein oder Goethes Erben, die konnte ich nie ernst nehmen, auch wenn viele in der Szene da voll drauf abfahren. Schaut man sich allerdings Anna-Varneys Bilder an, passen die hervorragend zur Musik und ergeben ein… grauenvolles Gesamtkunstwerk. Aber man stellt sich unweigerlich die Frage, was Kunst ist und wo Geschmacklosigkeit beginnt?! Mag sein, dass ich besonders empfindlich bin, aber sich in Liedern mit gebrechlicher Stimme darüber auszulassen, dass man seinem dahinsiechenden Geliebten erst beim Sterben hilft, um sich dann noch mal eben nackig zu ihm zu legen und ihn zu liebkosen, bevor man den Leichnam im Garten verscharrt… so was kann ich persönlich mir nur schwer verpacken, und wenn das in poetischer Sprache geschieht, erst recht nicht.

Das darf ich natürlich alles nicht schreiben, weil die gesamte Gothic-Szene Sopor Aeternus total toll zu finden scheint, mich für eine negative Kritik hassen und unser Magazin nicht mehr kaufen würden. Wahrscheinlich würden auch einige Leute einen Shitstorm auf Facebook anzetteln, aber da bin ich zum Glück nicht angemeldet. Allerdings bin ich häufig als Leser und aus Recherchezwecken in Szene-Foren unterwegs und stelle fest, dass sich die Szene in den letzten zwanzig Jahren eigentlich kaum verändert hat. Man findet es als braver Gruftie offenbar immer noch chic, sich in einer Tour mit Tod, Vergänglichkeit und seiner traurigen Grundstimmung zu beschäftigen, und man hört immer noch beschissene Musik und alle Weiber lieben Unheilig, Blutengel und Sopor Aeternus. Ehrlich gesagt fühlten Edgar und ich uns auch früher schon innerhalb der Szene als Außenseiter. Wir hörten Death in June, Bauhaus, Christian Death und so, die anderen Goethes Erben, Das Ich und Lacrimosa.

Und ich würde grad echt lieber mit dem kleinen Praktikanten im Bett liegen, als mich mit den finsteren Ergüssen von Anna-Varney beschäftigen zu müssen. Da brauche ich nämlich bestimmt wieder mehrere Tage, um das Zeug aus meinen Gedanken zu bekommen. Das ist wie bei einem Unfall, wo man zwanghaft hinkucken muss, obwohl man’s gar nicht sehen will. Vermutlich hat Anna-Varney ein ähnliches Problem und verfasst deshalb so fiese Texte. Jedenfalls hat mir ein Psychologiestudent mal erklärt, dass das zwanghafte Befassen mit schrecklichen Dingen eigentlich was Gutes ist, weil man dadurch solche Dinge eben besser begreift und verarbeitet. Ich finde zwanghafte Gedanken unnötig und bescheuert. Damit will ich im Moment nix zu tun haben, weshalb ich mir eine Tasse Kaffee hole und eine Zigarette rauche.

 

In der Küche treffe ich Lenny, der mit seinem umwerfenden Lächeln sofort alles Unangenehme, was mir durchs Hirn geistert, wegwischt. In meinem Kopf summt es fröhlich wie auf einer bunten Frühlingswiese und in meinem Bauch erwachen die berühmten Schmetterlinge aus ihrem Dornröschenschlaf. Das alles schafft Lenny durch seine bloße Anwesenheit, es ist unglaublich. Auf einmal hab ich total Lust, ihn zu küssen… geht natürlich hier nicht.

„Hast du nachher schon was vor?“, frage ich.

„Hä?“

„Nachher“, wiederhole ich. „Hast du was vor?“

„Nee, wieso? Willst du mich um ein Date bitten?“

„Wir sind noch nicht mit Twin Peaks durch.“

„Verstehe“, nickt er. „Dann bis später.“

 

Später komme ich nicht mal dazu, den Fernseher anzumachen, weil Lenny mich anmacht. Außerdem war Twin Peaks lediglich ein Vorwand und das wussten wir beide. Es ist trotzdem nett, dass er die DVDs mitgebracht hat, um wenigstens ein bisschen den Schein zu wahren.

Ich muss es an dieser Stelle erwähnen, Sex mit Lenny ist atemberaubend. Er ist süß und weich wie ein Kuscheltier und in den richtigen Augenblicken irre versaut. Was soll ich sagen? Mir gefällt die Mischung.

 

„Und… schickst du mich gleich wieder nach Hause?“

„Ich hab dich nie nach Hause geschickt. Du bist einfach gegangen.“

„Aber heute nicht, oder?“

Ich muss kurz überlegen und mir wird klar, dass ich ihn tatsächlich gerne die ganze Nacht hier hätte.

„Nein, heute nicht.“

„Gut, draußen regnet es nämlich in Strömen“, seufzt er und schmiegt sich an mich.

Hm, wenn ich an meine letzten Aufrisse denke, also da kam es mir doch sehr gelegen, dass die sich alle relativ frühzeitig aus dem Staub gemacht haben. Es war halt Ficken, mehr nicht. Und im Nachhinein kann ich sagen, dass es bei einigen sogar besser gewesen wäre, wenn ich die nicht mit nach Hause genommen, sondern es mir stattdessen selbst besorgt hätte. Bei Lenny ist das irgendwie anders. Dass er altersmäßig immer noch mein Sohn sein könnte, ignoriere ich… für den Moment.

 


 

Mich beschleicht ein komisches Gefühl, so als hätte ich etwas nicht mitgekriegt. Ob Lenny irrtümlich denkt, dass wir „zusammen“ sind? Der ruft andauernd an, will mich sehen und so. In den letzten Tagen war ich nämlich kaum in der Redaktion, weil ich meine Dissertation fertigstellen musste und jetzt auf meine Prüfung warte. Einen verliebten Praktikanten, der sich eine Beziehung zusammenphantasiert, ist das Letzte, was ich grad brauche. Ich gebe zu, der Sex mit ihm ist nach wie vor phänomenal gut, und ich hab bestimmt auch mal über mehr nachgedacht… aber eine Beziehung mit einem Zwanzigjährigen ist halt nichts, was ich anstrebe. Edgar lacht mich sowieso schon aus, weil der kleine Praktikant mir nachläuft wie ein Hündchen. Als wäre das meine Schuld. Es war vermutlich ein Fehler, überhaupt was mit Lenny anzufangen, aber… ich kann schlecht Nein sagen, wenn er da ist und seine Anmache startet. Er ist einfach zu süß, verdammte Scheiße. Dennoch werde ich bei passender Gelegenheit mal ernsthaft mit ihm reden müssen.

 

Die Gelegenheit ist da, als Lenny am späten Nachmittag unangemeldet bei mir auf der Matte steht.

„Du kannst nicht immer einfach so hier aufkreuzen“, begrüße ich ihn.

„Wieso? Bist du etwa nicht zu Hause?“, grinst er und küsst mich kurz auf den Mund.

Das ist auch so eine Sache… Küsse zur Begrüßung… wir sind kein verliebtes Pärchen!

„Ich könnte ja mal Besuch haben.“

„Dann könnte ich ja einfach wieder verschwinden“, erklärt er. „Aber wie ich sehe… es ist niemand da.“

„Das heißt nicht, dass…“

Lenny schlingt seine Arme um mich und bringt mich mit einem ultrasüßen Kuss zum Schweigen.

„Schön, dass wir das geklärt haben“, behauptet er. „Was machen wir heute?“

„Gar nichts.“

„Wie aufregend. Wenn ich was vorschlagen darf… zuerst Kirmes und danach…“, er kramt aus seiner Tasche ein paar DVDs, „Herbstfilme. From Hell, The Crow, Interview mit einem Vampir, Twilight.“

Er kennt Herbstfilme, okay, das ist natürlich ein Pluspunkt für ihn. Trotzdem. Ich hab keine Lust, mich bei nasskaltem Wetter durch angetrunkene Menschenmassen zu bewegen. Bei unserer alljährlichen Kirmes hat man den Eindruck, dass alles, was sich die übrigen Monate nicht nach draußen traut, an die Oberfläche krabbelt… und das ist laut, besoffen und ekelhaft.

Außerdem hat er mich letzte Woche schon zur Halloweenparty in den Kristallpalast geschleppt, wo nur Kiddies rumhingen. Äh… Moment mal.

„Twilight?“

„Bin halt auch bloß ein Mädchen“, zuckt er grinsend die Schultern. „Außerdem gehört der nicht mir sondern Isa.“

Who the fuck is Isa??

„So’n Mädel, mit dem ich manchmal rumhänge“, beantwortet er meine unausgesprochene Frage. „Was? Dachtest du, ich hätte keine Freunde in meinem Alter?“

„Ich bin eher schockiert. Ich meine… Twilight.“

„Na und? Was hast du gegen Vampire, die in der Sonne glitzern und bei Regen Baseball spielen?“

„Die Frage ist nicht ernst gemeint, oder?“, vergewissere ich mich sicherheitshalber.

„Logisch nicht. Twilight ist grottiger Kackscheiß. Los, Jacke anziehen“, kommandiert Lenny fröhlich, „ich kauf dir auch rosa Zuckerwatte, mein Herz.“

Na, wie schön für mich.

„Und wenn du brav bist, darfst du nachher in einer meiner Lieblingsphantasien mitspielen“, zwinkert er.

Au je, das klang irgendwie mehr nach einer Drohung. Ich war immer schon lieber skeptisch und vorsichtig, wenn jemand mit mir seine Phantasien ausleben wollte!

 

Hab ich’s nicht gesagt? Kirmes ist laut, besoffen und ekelhaft. Ein Typ kotzt bereits am Bahnhof in die Ecke. Dafür hab ich meine behaglich-warme Wohnung verlassen! Und jetzt will Lenny auch noch Händchen halten. Du meine Güte! Blöderweise erinnern mich die vielen bunten Lichter, die Musik von überallher, die süßen Gerüche von Mandeln und Zuckerwatte daran, dass ich Herbstkirmesbesuche eigentlich mag, und Lenny, der mir gebrannte Mandeln in den Mund steckt… wie soll einem da nicht romantisch um die Nase werden?! Früher sind Edgar, Jessi und ich zu dritt losgezogen und hatten eine Menge Spaß, allerdings hat das aus irgendwelchen Gründen, die ich grad nicht nachvollziehen kann, vor einigen Jahren aufgehört. Vielleicht fühlten wir uns für so was zu erwachsen, keine Ahnung. Kann man für einen Kirmesbesuch am Abend zu alt sein? Ich finde nicht. Meine Laune steigt jedenfalls augenblicklich aus der Hölle empor und in meinem Kopf vermischt sich die dröhnende Kirmesmusik mit dem Summen von besoffenen Bienen, was mich dazu verleitet, Lenny zu küssen, wann immer ich Lust dazu verspüre. Und, ja, ich lasse ihn rosa Zuckerwatte kaufen, die wir gemeinsam verspeisen. Wenn schon romantisch, dann auch richtig, oder?! Den Achtzigmeter-Freifallturm darf er aber allein ausprobieren. Erstens sind alle Fahrgeschäfte blödianistisch teuer und zweitens… achtzig Meter freier Fall… bin ich krank in der Birne??

 

Nach dem Kirmesbesuch hängen wir zusammen kuschelnd auf meiner Couch, trinken heißen Kakao mit Sahne und verfolgen den genialen Rachefeldzug des Eric Draven. Danach flimmert Twilight über den Bildschirm. Welcher Teil das ist, kann ich nicht sagen, weil ich die Scheiße noch nie gesehen habe. Was ich allerdings sagen kann… Scheiße ist für dieses Filmchen noch zu positiv. Lennys Hand wandert meinen Schenkel hinauf, seine Lippen nuckeln an meinem Hals und meine plötzlich auftauchende Geilheit tritt der Romantik der letzten Stunden kräftig in den Arsch. Ich will ihn. Jetzt und hier. Nur aussprechen kann ich es nicht… weil etwas in mir sich immer noch dagegen sträubt, weil etwas in mir sich immer noch komisch dabei fühlt, weil etwas in mir immer noch findet, dass Lenny viel zu jung ist.

„Erik?“, säuselt er in mein Ohr.

„Hm?“

„Sagst du mir irgendwann, dass du scharf auf mich bist und ich dich geil mache?“

Wow!

„Ja. Irgendwann.“

„Okay“, wispert er und küsst mich.

 

Eine Weile später kenne ich dann auch wenigstens eine seiner Lieblingsphantasien. Ficken, während in der Glotze ein schlechter Film läuft. Andere Leute wollen heimlich Windeln tragen, Master and Servant spielen oder weiß der Fuchs was. Ich hab mich mal vor Jahren mit einem Typen getroffen, der mir einreden wollte, dass ich Pinkelspiele ganz toll fänd, wenn ich sie bloß ausprobieren würde, und ich sollte mir doch keine Türen verschließen. Der Typ kann von mir aus bis zum berühmten Sankt Nimmerleintag darauf warten, dass ich diese Tür öffne. Jeder wie er möchte, oder? Ich bin allerdings sehr froh, dass Lennys Phantasien so harmlos sind.

 


 

Ach du Scheiße! Ich hatte meinen Freunden strengstens untersagt, mit Champagner und Plastegläsern bei meiner Prüfung aufzutauchen, aber selbstverständlich hat sich niemand dran gehalten. Edgar, Jessi, Lenny, Mama und ihr Lebensgefährte, Schwester und Schwager stehen auf dem Flur und starren mich erwartungsvoll an.

„Bestanden“, murmle ich fix und fertig, worauf Edgar den Korken knallen lässt.

Klar, freue ich mich, aber ich finde es irgendwie total anstrengend, mich in Gesellschaft freuen zu müssen. Lenny kommt strahlend auf mich zugerannt, überreicht mir ein Glas Fusel und küsst mich vor meiner Mutter auf den Mund. Na, vielen Dank auch. Jetzt kann ich Mama erklären, warum ihr sechsunddreißigjähriger Sohn offenbar einen Freund hat, der aussieht wie ein Teenager.

„Happy Birthday, Doc“, wispert er mir ins Ohr.

„Ich hab nicht Geburtstag.“

„Ich weiß“, säuselt er und küsst mich einfach noch mal.

Danach bricht die Hölle los, weil mir alle gratulieren und mit mir anstoßen wollen. Aber das Schlimmste kommt noch. Essen mit den Professoren und den Freaks, die sich Freunde und Familie nennen.

 

Professoren sind anscheinend ähnlich wie Pfarrer… wenn’s irgendwo was umsonst gibt, schlagen die gnadenlos zu. Bei der Hochzeit meiner Schwester nahm der Pfarrer jedenfalls von allem das Beste und davon reichlich. Meine beiden Professoren verfahren in der Edelpizzeria ebenso. Warum ‘ne ippelige Cola bestellen, wenn man auch teuren Rotwein saufen kann, oder? Mir wird ein wenig schwindlig, als die Speisen kommen, weil ich nachher den ganzen Spaß bezahlen darf. Danach wird mir unangenehm, weil ich die Professoren auf einmal duzen soll. Ich vermeide es einfach, sie persönlich anzusprechen. Das klappt den Abend über mal mehr, mal weniger. Meine Mutter schielt hin und wieder verstohlen zu Lenny rüber, der neben mir sitzt und mich mit Herzchenaugen anglotzt. Mamas Lebensgefährte findet mehr als einmal, dass es für November unnatürlich warm ist. Edgar labert über den Klimawandel, Jessi unterhält sich angeregt mit meiner Schwester über Freud und Leid der Pille. Zwischendurch sind alle furchtbar stolz auf mich. Lieber Gott, lass diesen Abend bitte schnell vorübergehen!

 

„Wann stellst du mir deinen neuen Freund vor?“, möchte Mama wissen, als der Abend endlich vorüber ist… jedenfalls offiziell.

„Lenny ist eigentlich gar nicht mein Freund.“

„Weiß er das auch?“

Gute Frage!

„Wie alt ist der überhaupt?“

„Alt genug.“

„Sieht mir nicht danach…“

„Fünfundzwanzig“, lüge ich.

„Erik, es ist dein Leben“, erklärt sie kryptisch. „Wir fahren jetzt.“

Bei der Verabschiedung sagt sie mir noch mal, wie stolz sie auf mich ist, es werden erneut Hände geschüttelt und Umarmungen verteilt, dann stehe ich mit Edgar, Jessi und Lenny allein draußen.

„Okay, wollen wir noch feiern?“, fragt Edgar. „Oder willst du gleich Teenagersexprobleme beantworten? Lieber Doktor Sommer, hilfe, mein Penis ist zu klein.“

„Erstens darf ich mich noch nicht Doktor nennen und zweitens…“, ich lege ihm pseudo mitfühlend meinen Arm um die Schultern, „ich hab mal gehört, dass es Frauen nicht auf die Größe ankommt. Im Endeffekt zählt der Charakter.“

„Haha“, ärgert sich Edgar über seinen misslungenen Scherz. „Da bist du ja wohl an beiden Stellen zu kurz gekommen.“

„Stimmt nicht“, mischt sich Lenny ein. „Die eine Stelle ist durchaus…“

„Halt den Rand“, unterbreche ich ihn.

„Wer von euch Pappnasen ruft mir ein Taxi?“, meldet sich Jessi genervt zu Wort.

„Ich bringe dich nach Hause“, erklärt Edgar galant. „Lenny, du kannst mitfahren. Der da“, er deutet auf mich, „kann den Bus nehmen.“

„Ich bleib heute bei Erik“, behauptet Lenny.

„Tust du nicht.“

„Doch, doch“, versichert er.

„Auf keinen Fall.“

„Auf jeden Fall.“

„Meine Güte, ich bin im Kindergarten gelandet“, murmelt Edgar, der uns schließlich alle fährt und Lenny bei mir absetzt.

 

Am liebsten würde ich ihn vor der Tür stehen lassen… sich einfach so ekelhaft aufzudrängen… aber es ist spät und irgendwie doch recht kalt draußen. Na ja.

„Du hast ’ne echt nette Familie“, ruft er aus dem Wohnzimmer.

Ich stehe grad in der Küche und hole den heißen Kakao aus der Mikrowelle.

„Wieso war dein Vater nicht da?“, fragt er und nimmt das Heißgetränk entgegen.

Kennen wir uns so gut, dass ich mit ihm meine Familiensituation bequatschen müsste?!

„Weil ich kaum noch Kontakt zu ihm habe.“

„Weswegen?“, lässt er nicht locker.

Ich zucke bloß die Schultern, nehme einen Schluck Kakao und verbrenne mir prompt den Mund.

„Ist wohl ein schwieriges Thema, mh?“

„Geht so“, murmle ich grimmig. Ich vermute mal, dass Lenny total behütet in einer Bilderbuchfamilie aufgewachsen ist.

„Also, wenn das mit uns funktionieren soll, musst du dich schon etwas öffnen.“

„Was mit uns?“, entgegne ich dämlich.

„Na, das hier… du und ich. Was hast’n deiner Mutter gesagt, wer ich bin? Da du mich nicht vorgestellt hast, bin ich wahrscheinlich ein Bekannter, oder?“

Möglich, dass ich eine lange Leitung habe, aber…

„Warum hätte ich dich vorstellen sollen?“

„Höflichkeit?“, schlägt er vor. „Gute Manieren?“

„Ach so. Es zeugt wohl von guten Manieren, sich einfach dreist bei jemandem einzuladen, ja?“

„Manche Leute muss man halt zu ihrem Glück zwingen“, grinst er. „Oder sagen wir… ein bisschen in die richtige Richtung schubsen.“

Irgendwie fällt mir darauf nichts mehr ein. Ich meine, hey, ich hab heute meine Doktorprüfung gemacht, da hab ich keine Lust, auf solche Gespräche. Lenny offenbar ebenfalls nicht, denn er kramt geschäftig in seiner Tasche und drückt mir eine Schachtel Schokoladenherzen in die Hand. Ich bin ein wenig überfordert.

„Bleib locker“, lacht er mich aus. „Das ist nur Schokolade, kein Diamantring mit Heiratsantrag.“

„Danke.“

Die Schokoherzen verspeisen wir zusammen, das heißt, wir stecken sie uns gegenseitig in den Mund. Du meine Güte, ich bin der pure Kitsch auf zwei Beinen! Danach kommt der gemütliche Teil des Abends… Sex.

„Erik?“, beginnt Lenny, als ich grad schon abgehen will.

„Hm?“

„Sagst du mir irgendwann, dass du mich liebst?“

Ehrlich, ich überlege einen kurzen Moment in der Schokopackung nachzuschauen, ob da vielleicht doch ein Ring versteckt ist… aber, wie bereits erwähnt, wollte ich grad abgehen, also lasse ich es.

„Ja, irgendwann“, antworte ich stattdessen, damit er weitermacht.

„Okay“, lächelt er und küsst mich.

 


 

Ich habe beschlossen, mich auf Lenny einzulassen, nicht nur sexmäßig sondern überhaupt. Denn blöderweise ist mir aufgefallen, dass ich ihn echt vermisse, wenn er nicht da ist, und wenn er da ist… na ja, das volle Programm eben, Herzklopfen, Schmetterlinge, debiles Dauergrinsen, das Gefühl, wie eine besoffene Biene umherzulaufen. Gegen all das hab ich lange angekämpft, aber das funktioniert nicht mehr. Also warum nicht einfach sehen, wohin das führt, oder? Bis ans Lebensende allein zu sein, ist ja auch nicht unbedingt erstrebenswert.

Lennys Alter ist mir nach wie vor ein bisschen peinlich, besser gesagt, sein sehr jugendliches Aussehen. Immer überlege ich, was wohl andere Leute denken, wenn sie uns zusammen sehen, und in meiner Phantasie denken die nichts Nettes. Aber das sind nur meine eigenen Befürchtungen, die nicht der Realität entsprechen müssen. Leute denken immer irgendwas, man kann weder genau wissen, was, noch kann man es beeinflussen. Deshalb ist es wenig sinnvoll, den ganzen Tag darüber zu spekulieren. Aber alte Gewohnheiten sind schwer abzulegen.

Jetzt bin ich allerdings grad dabei etwas anzulegen, nämlich Kleidung, weil Herr Idol zwei oder drei Konzerte in Deutschland gibt und eines heute hier in der Stadt. Ist ja wohl klar, dass ich dahin muss, und Lenny sagte, er hätte nichts Besseres vor, also treffen wir uns gleich.

 

Leider ist es nicht ganz einfach, in dem Gewühle von Menschen, einen kleinen Praktikanten zu finden. Du meine Güte, ich wusste nicht, dass Herr Idol noch so viele Fans hat. Und zum Glück sind das wohl Fans aus den Achtzigern… nicht auszudenken, wenn hier bloß Kiddies rumlaufen würden.

„Ach du Scheiße, ist das voll“, begrüßt mich Lenny.

Komisch, normalerweise küsst er mich zur Begrüßung. Er sieht irgendwie auch nicht so fröhlich aus wie sonst.

„Ich hoffe, du willst nicht in der ersten Reihe stehen und den Typen die ganze Zeit anschmachten.“

„Hallo“, sage ich eisig.

„Mich hat grad im Gedränge einer mit seinem Getränk angeschüttet, also spar dir deine gute Laune“, muffelt er und zupft an seiner Klamotte.

„Du warst aber schon mal auf einem Konzert, oder? Da kann so was durchaus passieren.“

„Ach was? Denkst du, ich hätte bis jetzt in einer Höhle gelebt?“

„Okay, lass uns reingehen.“

Denn ich will selbstverständlich in der ersten Reihe stehen.

 

Die wird es nicht, weil ein paar hundert Leute die gleiche Idee hatten, aber wir haben trotzdem einen guten Blick auf die Bühne und so wahnsinnig ist das Gedränge auch nicht…

früher bei den Hosen war’s schlimmer. Jetzt wird mir doch langsam kribblig, immerhin hab ich Billy Idol noch niemals live gesehen, Mann, so langsam könnte der mal anfangen.

Als er dann endlich die Bühne betritt, bin ich von der ersten Sekunde an wieder sofort Fan. Die Leute um uns herum flippen völlig aus. Ey, wenn man das nach Jahrzehnten immer noch schafft, kann man doch zufrieden sein. Und wenn man mit Mitte/Ende Fünfzig noch SO aussieht… enge Lederhosen tragen kann, ohne dass es lächerlich wirkt… sein Hemd auszieht und die Weiber anfangen zu kreischen… jeder hier (außer Lenny) jede Textzeile mitsingt… was will man mehr?! Ich bin jedenfalls wie im Rausch und hopse und gröhle mit der Menge. Dafür hat mein mürrisches Anhängsel jedoch wenig Verständnis.

„Du benimmst dich wie ein Vollidiot“, schreit er mir ins Ohr. „Die Musik ist scheiße, der Typ da oben ist ein alter Opa… ich hau ab.“

Äh… wie bitte??

Und schon ist Lenny in der Menschenmenge verschwunden. Ich bin nicht versucht, ihm nachzulaufen. Entschuldigung, auf der Bühne steht der Held meiner Kindheit, da werde ich mich wohl kaum für die Befindlichkeit einer kleinen Pestbeule, die null Ahnung von Musik hat, interessieren! Ich bleibe bis zum bitteren Ende.

 

Einen Tag später schwärme ich zuerst Jessi am Telefon von meinem gestrigen Abend vor und danach Edgar. Letzterer hat meine Liebe zu Billy Idol noch nie verstanden und ist dementsprechend genervt. Zum Schluss behauptet er großmütig, dass in seinem nächsten Heft vielleicht noch fünf bis zehn Zeilen Platz ist für die kurze Mitteilung, dass der alte Sack noch lebt und öffentlich auftritt. Das kann mich jedoch überhaupt nicht in schlechte Stimmung versetzen, ich zehre vermutlich noch einige Wochen oder Monate von meinem einmaligen Erlebnis. Was mich allerdings in miese Stimmung bringen könnte, ist die Tatsache, dass Lenny sich nicht meldet. Normalerweise ruft er jeden Tag an, wenn wir uns nicht sehen.

 

Auch das gesamte Wochenende über, gibt’s keine Nachricht, also versuche ich ihn aufm Handy zu erreichen, aber entweder ist es ausgeschaltet oder er geht aus irgendwelchen Gründen nicht ran. Das wird mir irgendwann zu blöd. Ich sehe Lenny eh spätestens am Montag bei der Arbeit, da kann ich ihn immer noch zur Schnecke machen.

 

Montagmorgen hält Edgar eine unangenehme Überraschung für mich bereit, als ich frage, wieso Lenny noch nicht da ist.

„Der kleine Penner hat seine Praktikantenstelle an den Nagel gehängt“, erklärt Edgar finster. „Und zwar per E-Mail. Wer macht’n so was? Das ist ja wie Schlussmachen am Telefon. Die Kiddies heutzutage haben echt überhaupt keine Manieren mehr.“

„Warum?“

„Keine Ahnung. Hat vielleicht was Besseres gefunden. Ich dachte, du wüsstest davon, immerhin seid ihr in der letzten Zeit unzertrennlich gewesen.“

„Offenbar hat er nicht bloß einen besseres Job gefunden“, murmle ich.

„Hä?“

„Egal“, entgegne ich und verlasse sein Büro.

 

Die nächsten Tage wechsle ich fröhlich zwischen Sorgen machen und wütend sein hin und her. Ey, der kann sich doch nicht einfach so aus dem Staub machen. Nicht, dass wir jetzt total fest zusammen waren, aber… von jetzt auf gleich den Kontakt abzubrechen ist nicht gerade die feine Art, oder?! Okay, ich muss wissen, was los ist, also suche ich ganz altmodisch im Telefonbuch nach der Nummer seiner Eltern, weil er noch bei denen wohnt, und rufe da an.

Vielleicht hab ich ja Glück und er geht ran.

Nein, ich hab das Pech mit Löffeln gefressen. Es meldet sich eine männliche Stimme, die ich als seinen Vater identifiziere. Ich stelle mich höflich als Erik Sommer, stellvertretender Chefredakteur des Independent-Magazins, vor, frage nach Lenny, der leider grad nicht da ist, und bitte darum, ihm auszurichten, dass er mich anrufen soll.

Dann kann ich nur noch warten.

 


 

„Sag mal, hast du den Arsch auf?“, brüllt Lenny durchs Treppenhaus, stürmt in meine Wohnung und feuert seine Tasche in die Ecke.

„Hallo. Bitte, komm doch rein“, entgegne ich und schließe die Tür.

„Was soll’n das, bei meinen Eltern anzurufen? Geht’s noch peinlicher?“

„Hätte alles nicht sein müssen, wenn du an dein beschissenes Handy gegangen wärst. Wieso hast du dich nicht gemeldet?“

„Sind wir verheiratet, oder so’n Scheiß?“

„Wird das hier ein Frage-Gegenfrage-Spiel?“

„Meine Eltern finden es eh schon nicht so toll, dass ich’s mit Typen treibe, da möchte ich ihnen nicht noch erklären müssen, dass mein Freund zwanzig Jahre älter ist als ich.“

„Sechzehn Jahre“, ärgere ich mich über seinen Fauxpas, „außerdem hab ich deinem Vater gesagt, dass es um deinen Job beim Magazin geht.“

„Du bist nicht mein Freund“, stellt er klar, „deswegen ist es auch total unnötig, dich so an mich zu klammern. Ich stehe da echt nicht drauf.“

Der hat wohl einen Anfall von Irrsinn. Schließlich wollte er mich andauernd sehen und hat mich ständig angerufen. Das, was zwischen uns gelaufen ist, ging hauptsächlich von ihm aus, also was redet der für einen Müll? Und woher kommt die Schramme unter seinem Auge, verdammt? Hat der sich geprügelt oder was?

„Du bist mir doch hinterhergerannt.“

„Weil ich mit dir ficken wollte. Das haben wir getan. Mehr war nie zwischen uns.“

„Du hast in meinem Arm gelegen und dich von mir mit verdammten Schokoladenherzen füttern lassen…“

„Das bedeutet noch lange nicht, dass ich in dich verliebt bin“, unterbricht er mich.

„Ich bin ich dich verliebt“, plappere ich plötzlich ohne nachzudenken.

Scheiße, wie konnte mir denn so was passieren?

„Dein Problem“, zuckt er die Schultern.

Diese abgewichste Art passt absolut nicht zu dem Lenny, den ich kennengelernt habe. Hier stimmt was nicht. Ach du Kacke… wenn sein Vater was gegen einen schwulen Sohn hat… vielleicht hat er ihm die Schramme zu verdanken… vielleicht verhält er sich aus diesem Grund so. Weil er Angst hat.

„Lenny, was ist los?“, frage ich sanft.

„Du gehst mir auf die Eier, kapierst du das nicht?“

„Und um mir das zu sagen, kommst du extra her? Das hättest du auch am Telefon erledigen können.“

„Ich wollte sicher sein, dass du’s raffst und nicht wieder meine Eltern anrufst.“

„Okay, das tut mir leid, aber…“

„Ich muss aufs Klo“, sagt er auf einmal und verschwindet ins Badezimmer.

Supi, wir sind mitten in einer Diskussion und er geht strullen?!

 

Weil er eine gefühlte Ewigkeit wegbleibt, klopfe ich an die Badezimmertür.

„Alles in Ordnung?“

„Kann ich nicht mal in Ruhe pissen?“, schreit er von der anderen Seite.

Schon, aber warum braucht er dafür seine Tasche? Die hat er nämlich eben ziemlich hastig mitgenommen. Und da ich wahrscheinlich alle möglichen Drogen-Filme der Welt gesehen habe, beschleicht mich ein sehr unschöner Verdacht. Bestimmt zieht er sich grad irgendwas rein. Ich öffne die Tür und sehe meinen Verdacht als bestätigt, denn er schreckt zusammen und versteckt blitzschnell etwas hinterm Rücken.

„Was auch immer du für’n Zeug nimmst, verschwinde damit aus meiner Wohnung.“

„Scheiße“, zischt er und glotzt betreten zu Boden.

„Hast du nicht gehört? Raus!“

„Du denkst, ich knall mich in deinem Badezimmer mit Drogen voll“, lacht er hysterisch.

„Ja, und das…“, ich greife nach seiner Hand, die eine Schachtel Pillen festhält.

„Das ist ein Medikament, das ich nehmen muss“, erklärt er müde.

„Nette Umschreibung für einen Pillen-Junkie.“

„Das ist ein Schmerzmittel, du Vollidiot. Ich hab… Rheuma.“

Okay, jetzt kriege ich einen hysterischen Lachanfall.

„Ach so, du meinst, Rheuma ist was für alte Leute, ja? Hier, lies doch den verfickten Beipackzettel, Arschloch“, brüllt er und flitscht mir den Zettel ins Gesicht. „Danke, für dein Verständnis, Wichser. Schönen Tag noch.“

Shit, da steht tatsächlich was von Rheuma und Gelenken und so drauf.

„Hiergeblieben“, rufe ich und renne Lenny zur Wohnungstür nach.

„Was?“

„Wieso sagst’n mir das nicht?“

„Hey, ich würde gerne mit dir ficken, aber das geht leider nicht, weil ich grad einen verdammten Rheumaschub habe und vor Schmerzen kaum Laufen kann. Klingt irre sexy, mh?“

„Du hast wirklich…“

„Ich will es nicht noch mal wiederholen müssen.“

„Okay, ich will jetzt alles wissen“, beschließe ich.

„Und ich hab keine Lust, dir meine gesamte Krankengeschichte zu erzählen“, beschließt Lenny.

„Das wirst du wohl müssen, wenn es mit uns weitergehen soll.“

„Es gibt kein uns.“

„Und ob es das gibt“, rege ich mich auf.

Fuck, er scheint wirklich Schmerzen zu haben, den er jault kurz auf, als ich ihn unsanft ins Wohnzimmer auf die Couch schubse und er leicht ins Straucheln kommt. Besorgt greife ich vorsichtig nach seinem Arm.

„Ich brauche deine scheiß Hilfe nicht“, schreit er und flitscht meine Hand weg.

„Hör auf, dich wie eine verdammte, kleine Pussy zu benehmen“, platzt mir jetzt auch der Kragen. „Sind dir die Pillen aufs Hirn geschlagen? Also, ich höre.“

Lenny schweigt finster.

„Du kommst hier nicht eher weg, bis du mir erzählt hast, warum du dich aufführst, als hättest du einen Dachschaden“, erkläre ich und setze mich neben ihn.

 

Es dauert eine Weile, aber dann redet er doch. Okay, Lenny leidet an Gelenksentzündungen, oder Wirbelentzündungen, genau hab ich’s nicht verstanden, jedenfalls wird das wohl allgemein als Rheuma bezeichnet. Es fing an, als er sechzehn war, die Ursache ist unklar. Mit Medikamenten und einer speziellen Therapie hat er die Krankheit einigermaßen im Griff, die Schübe treten auch seltener auf, als am Anfang, was eigentlich ein gutes Zeichen ist. Trotzdem sind diese Schübe mit heftigen Schmerzen und logischerweise erheblichen körperlichen Einschränkungen verbunden. Jetzt kann ich mir auch ungefähr vorstellen, warum er beim Konzert einfach abgehauen ist. Stundenlang herumzustehen oder von einer Menschenmenge hin und her geschoben zu werden, war für seine Wirbel und Gelenke sicher nicht spaßig. Na ja, und in seinem Alter geht man mit so was auch nicht unbedingt hausieren, das ist schon klar, aber warum er mir nichts gesagt hat… keine Ahnung.

„Mann, es ist schon für mich ätzend genug“, murmelt er, „wenn man andauernd irgendwas nicht machen kann, was andere machen, weil man Schmerzen hat und… wer will denn so jemanden haben?“

Wow, das ist das erste Mal, dass ich ihn dermaßen traurig und verzweifelt erlebe. Wie ein Häufchen Elend sitzt er auf der Couch, zuppelt unsicher an seinen langen Ärmeln herum, knibbelt an den Fingernägeln und traut sich nicht, mich anzusehen. Ohne groß nachzudenken, stehe ich auf, gehe vor ihm in die Hocke und lege meine Hände auf seine.

„Ich, Lenny. Ich will dich.“

„Aus Mitleid“, behauptet er verbittert.

„Nein, du Vollidiot. Weil ich in dich verliebt bin. Du hast die letzten Wochen dafür gesorgt, dass das passiert. Also denkt nicht mal dran, dich jetzt zu verpissen, Schätzchen.“

„Soll ich vielleicht warten, bis du die Schnauze voll hast? Danke, hatte ich alles schon.“

„Das würde dann aber ausschließlich an deinem Verhalten liegen“, entgegne ich.

„Weil ich mich wie eine verdammte Pussy verhalte?“, lächelt er und schnieft verstohlen.

„Genau. Und wenn du jetzt auch noch anfängst zu heulen, mache ich sofort Schluss mit dir.“

„Es gehört schon ein bisschen mehr dazu, mich zum Heulen zu bringen.“

Ich setze mich erstmal wieder neben ihn.

„Was’n?“

„Club der toten Dichter, zum Beispiel.“

„Das ist ja wohl logisch“, finde ich.

„Ist das Leben nicht schön?“

„Aber so was von.“

Da wir gerade bei Weihnachten sind… es schneit seit einer Weile.

„Sieht aus, als würdest du heute hierbleiben.“

„Dann mach schon mal den Glühwein heiß, Schatz“, säuselt Lenny.

„Ich hab leider keinen gewürzten Fusel im Haus.“

„Kakao ist mir eh lieber.“

 

Als wir kuschelig unter einer Flauschidecke sitzen, beschließe ich, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist, nach seiner Schramme am Auge zu fragen.

„Darüber will ich nicht reden“, lautet Lennys Antwort.

Alles klar, sein Vater ist ein mieser Schläger und ich muss ihn dringend aus dieser Horror-Situation retten. Möglicherweise, ganz sicher sogar, prügelt der Scheißkerl seinen Sohn schon jahrelang. Fuck, was macht man denn da? Jugendamt… wird wahrscheinlich nicht mehr zuständig sein… Anzeige bei der Polizei? Ey, ich hab mit derartigen Dingen überhaupt keine Erfahrung. Aber man muss auf alle Fälle sensibel bei Lenny vorgehen.

„Hat dein Vater dich geschlagen? Weil du schwul bist? Wie lange geht’n das schon so?

Jau, DAS war super sensibel, Dr. Sommer!

Lenny glotzt mich ziemlich entgeistert an.

„Mein Vater ist zwar nicht begeistert, einen Sohn zu haben, der auf Kerle steht, aber… der würd mich im Leben nicht schlagen.“

„Und die Schramme? Lenny, du kannst mir alles sagen, okay?! Ich meine, wir finden eine Lösung…“

„Ach du Scheiße, Erik, pack deinen Beschützerinstinkt bitte wieder ein, ja? Es ist nichts dergleichen passiert.“

„Na, schön. Was ist passiert?“

„Ich hatte Schmerzen, konnte mich für einen Moment nicht mehr gut auf den Beinen halten und bin ungünstig an einem Holzregal entlang geschrammt. Und jetzt will ich verdammt noch mal nicht mehr darüber reden, kapiert?“, erklärt er wütend.

Das würde vermutlich jeder im Normallfall für die dümmste Ausrede des Jahrhunderts halten, aber bei Lenny klingt es tatsächlich nachvollziehbar. Darüber hinaus… was für ein Monster würde einen kranken Sohn verprügeln?

„Das ist doch nichts, was dir peinlich…“, sein grimmiger Blick stoppt mich. „Magst du noch Kakao haben?“

„Ja, bitte“, nickt er, etwas weniger grimmig.

 


 

„Sag mal, hat dir einer das Hirn geklaut?“, fragt Edgar, der mir fassungslos beim Schmücken der echten Nordmanntanne zuschaut.

„Halt den Rand oder hilf mir… am besten beides“, antworte ich, nehme vorsichtig eine Kugel aus dem Karton und hänge sie an den Baum.

Logischerweise musste ich den Baumschmuck von meiner Mutter leihen, weil ich so was nicht besitze.

„Seit wann bist du ein Weihnachtsfreak?“, bohrt Edgar nach, nimmt aber wenigstens auch ein paar Engel und hängt sie an die Zweige.

„Lenny findet, Weihnachten ohne Baum geht nicht.“

„Aha. Und wenn Lenny findet, dass du nackt durch die Straßen rennen solltest… reißt du dir sofort die Kleider vom Leib?“

„Hast es erfasst, Blödmann.“

„Also ist das zwischen euch was richtig Festes, ja?“

„Ja, verdammt.“

„Ist doch gut. Ich mag den Kleinen.“

„Und das ist die Hauptsache, oder wie?“

„Na ja, stell dir mal vor, ich könnte deinen Freund nicht ausstehen“, überlegt er und reicht mir ein Stück Lichterkette. „Andererseits bin ich immer noch sauer auf ihn.“

„Er hatte seine Gründe, bei uns aufzuhören“, erkläre ich zum ich weiß nicht wievieltem Mal.

„Wenn man krank ist, meldet man sich krank. Man schmeißt nicht gleich alles hin.“

Ja, ich hab’s Edgar erzählt, aber nur weil er absolute Verschwiegenheit geschworen hat, und nur, weil man sich in dem Punkt absolut auf ihn verlassen kann.

„Warum ist er nicht zu mir gekommen? Bin ich so ein schrecklicher Chef, dass man nicht mit mir reden kann?“

„Ich glaube kaum, dass man in Lennys Alter große Lust hat, über Krankheiten zu reden. Besonders nicht, wenn man selbst…“

„Siehst du“, unterbricht er mich, „deshalb kann ich Teenies nicht ab. Die sind einfach noch nicht in der Lage, gescheit nachzudenken.“

„Lenny ist kein Teenager mehr“, rege ich mich auf. Echt, ich war gerade so weit, es nicht mehr schlimm zu finden, dass Lenny so viel jünger ist als ich, da kommt Edgar und muss mich dran erinnern. „Und meistens ist er gescheiter als du.“

„Du schläfst mit ihm, deine Meinung zählt nicht“, beschließt er. „Wo wir schon beim Thema sind… ich hab mit Jessi geschlafen. Hättest wenigstens mal fragen können, wie mein letztes Date war. Nur noch Baumbehang und süße Ex-Praktikanten im Schädel, mh?“

Mir fällt vor Schreck die Lichterkette aus der Hand.

„Was’n mit dir los?“, fragt er genervt und hebt die Lichterkette wieder auf.

„Hast du sie abgefüllt, um sie rumzukriegen?“

„Nein, Arschloch, wir wollten es beide. Und haben beide beschlossen, dass das eine Mal reicht.“

„War es so schlecht?“

Edgar setzt sich auf die Couch und nimmt einen Schluck Bier aus der Flasche.

„Nee. Es fühlte sich bloß nicht richtig an. Keine große Sache, wir bleiben weiter Freunde.“

„Und jetzt?“

„Keine Ahnung, vielleicht werde ich einfach schwul“, überlegt er.

„Von mir aus“, zucke ich die Schultern, „ich bin aber schon vergeben.“

„Du wärst auch eh nicht mein Typ.“

„Schätze, da hab ich noch mal Glück gehabt“, entgegne ich und lasse mich erschöpft neben ihn fallen. Mann, die Lichterkette hat mir echt den Rest gegeben. Und es gibt Leute, denen es Spaß macht, Tannenbäume zu behängen!

„Du hast wirklich ein Händchen fürs Dekorieren“, näselt Edgar.

„Du kriegst gleich mein Händchen in deine Visage.“

„Darauf trinke ich.“

Ich finde den ganzen Schnickschnack ja auch ein bisschen drüber, aber… na ja, was tut man nicht alles, um seinen Freund glücklich zu machen?! Vorgestern hat er mich sogar gezwungen, mit ihm über den Weihnachtsmarkt zu gehen. Es sollte wohl romantisch sein… war’s aber nicht. Dafür waren zu viele Menschen unterwegs, es stank nach Fraß und von überallher dudelte aufdringlich beknackte Weihnachtsmusik. Und der Gipfel war ein verkleideter Nikolaus, der blöde in der Gegend herumstand und mich zu Tode erschreckt hat, weil ich zuerst dachte, der sei nicht echt. Natürlich hat Lenny mich dafür fürchterlich ausgelacht. Jedenfalls finde ich einen Spaziergang durch den winterlichen Park sehr viel romantischer. Da ist der Schnee noch weiß und hübsch, nicht wie in der Stadt grau-matschig und ekelhaft. Das Beste an dem Abend waren der heiße Kakao und die Zimtsterne zu Hause… und Kuscheln mit Lenny. Dass er aber zuerst trotz Schmerzen stundenlang durch die Kälte laufen wollte, bleibt für mich ein Rätsel.

 


 

„Mom, das… das wäre doch nicht nötig gewesen“, stammle ich etwas unangenehm berührt und deute auf den SEHR üppig bestückten Süßigkeitenteller.

Seit Marianne und ich erwachsen sind, gibt’s bei uns an Weihnachten eigentlich nicht mehr so den hübsch angerichteten Süßkram. Und Geschenke finden in Form von Geld statt. Vielleicht wollte Mom kucken, ob sie’s noch drauf hat, denn nächstes Jahr wird ihr Enkelkind mit unterm Baum sitzen. Das heißt, ich weiß nicht, ob es dann schon sitzen kann, aber sehr wahrscheinlich wird es noch nicht Moms Deko bestaunen können.

„Dein neuer Freund, den du uns übrigens noch immer nicht vorgestellt hast, kann ein bisschen was auf die Rippen vertragen“, erklärt sie. „Ich hoffe, er hat keine Essstörung.“

„Nicht, dass ich wüsste.“

„Trotzdem ist er viel zu dünn. Vermutlich sieht er deshalb so viel jünger aus.“

„Ja, vermutlich“, murmle ich und schwitze ein wenig nervös vor mich hin.

„Ich finde ihn jedenfalls sehr nett“, mischt sich Marianne ungefragt ein.

„Das würde ich sicher auch, wenn ich ihn mal kennen lernen könnte“, findet Mom.

„So lange sind wir noch nicht zusammen.“

Und seit wann muss man seiner Mutter sämtliche Sexpartner vorstellen? Ich glaube kaum, dass sie Mariannes Verflossene alle kennen gelernt hat. Bevor Mom mit irgendwelchen Fragen nach Lennys Eltern oder seinem Berufswunsch anfangen kann, verabschiede ich mich lieber. Schließlich sind Lenny und ich nachher noch verabredet.

 

Nach Hause zu kommen, dauert eine Ewigkeit, weil es schneit wie Hulle. White Christmas ist nur super, wenn man nicht raus muss. Während ich im Glitzerschein der blöden Lichterkette auf Lenny warte, schlürfe ich heißen Zimtkakao… damit mir wenigstens ein bisschen wärmer wird. Im Hintergrund läuft Weihnachtsmusik von den Hosen, John Lennon, Slade und „Do they know it’s Christmas?“ darf auch nicht fehlen. Irgendwann klingelt es endlich, ich öffne dir Tür und ein Schneemann steht draußen.

„Hey, Frostie“, grinse ich.

„Fuck“, zischt Lenny und krümmt sich leicht zusammen.

„Hast du Schmerzen?“, frage ich besorgt.

„Nein“, sagt er genervt und klopft sich Schnee von den Klamotten, „mir ist kalt, Blödmann. Für niemanden sonst wäre ich heute da durch gelatscht.“

Nachdem er Schuhe und Jacke ausgezogen hat, lässt er sich auf die Couch fallen, wickelt sich in meine Flauschidecke ein und kippt den letzten Rest von meinem Zimtkakao runter.

„Komm her und wärm mich gefälligst“, fordert er, weshalb ich mich zu ihm unter die Decke geselle. „Und… wie war dein Tag, Schatz?“

„Großartig. Ich hab ungefähr eine Tonne Süßigkeiten mitgebracht, die du essen sollst, weil meine Mutter findet, dass du zu dünn bist.“

„Ich glaube, deine Mutter und meine Mutter sollten mal zusammen zum Bowling gehen.“

Oh Mann, wenn Lenny Edgar wäre, würde ich ihm mit einem passenden Zitat aus „Breakfast Club“ antworten, aber… na ja, ich will ihn nicht überfordern. Wir haben echt schon einige Leute mit unserer Lieblingsbeschäftigung in die Flucht getrieben. Allerdings konnten wir ja nie was dafür, dass die Leute eben keine guten Filme kannten. Edgar und ich haben uns jedenfalls immer prächtig amüsiert.

„Hat deine Mama deinen Kinderarzt geheiratet?“ Versuchen kann man’s ja mal.

„Nein, Herrn Zielke“, lächelt er.

Cool, ich bin beeindruckt.

„Du musst übrigens nicht ständig fragen. Du weißt es jetzt und wenn irgendwas ist, sag ich’s dir schon. Es geht mir gut.“

„Okay“, nicke ich.

„Okay. Ich denke, es ist jetzt Zeit, was meinst du?“

„Ähem…“

„Es ist Heiligabend, draußen schneit es, wir haben Zimtkakao und eine Tonne Süßigkeiten, der Weihnachtsbaum strahlt heller als die Sonne… fehlt nur noch ein Besuch in Bedford Falls.“

Ja, da ist was dran. Heiligabend ohne George Bailey geht gar nicht! Und so kitschig es auch klingen mag, ich finde das Leben grad tatsächlich schön. Obwohl ich mich zuweilen sehr zusammenreißen muss, um Lenny nicht ständig zu belauern, weil ihm irgendwas wehtun könnte. Aber, hey, ich hab ihn gern, da macht man sich eben Sorgen, auch wenn es ihn nervt.

 

Mich nervt es, dass wir, seit ich von seiner Krankheit weiß, keinen Sex mehr hatten. Das fällt mir auf, als wir später im Bett liegen, er sich an mich schmiegt und seine Finger träge über meine Brust streicheln.

Meine Güte, erst konnte ich ihm nicht sagen, was ich will, weil ich mir, in Anbetracht des Altersunterschieds, komisch vorkam, und jetzt kann ich’s nicht, weil er diese blöde Krankheit hat… wie doof ist das denn? Bestimmt wird es ihm noch weniger gefallen, wenn man ihn wie einen gebrechlichen Greis behandelt.

„Zuzus Rosenblätter sind wieder da“, murmelt er an meinem Hals.

Die Berührung seiner Lippen lässt meinen gesamten Körper kribbeln.

„Und immer, wenn irgendwo ein Glöckchen klingelt, bekommt eine Engel seine Flügel.“

„Ich liebe dich.“

Lenny hebt seinen Kopf, sieht mich an und…

„Und ich bin scharf auf dich und du machst mich geil.“

Er lächelt ein wenig mitleidig.

„Ey, du solltest mir das nicht alles auf einmal sagen.“

„Na ja, aber jetzt hab ich’s wenigstens hinter mir, und du brauchst nicht mehr darauf zu warten.“

„Nur an deinem Timing musst du noch arbeiten.“

„Ich fand mein Timing perfekt.“

„Dann mach mal, wenn du so scharf auf mich bist“, fordert er.

„Ist es okay? Ich meine…“

„Was denn? Hast du Angst, ich breche zusammen, wenn du mich fickst?“

Äh… irgendwie schon. Blöd, oder? Scheiß drauf!

„Ich schätze, das werden wir gleich sehen“, wispere ich und küsse ihn.

 

Als ich am nächsten Morgen aufwache, liegt Lenny nicht neben mir. Noch ein bisschen verschlafen tapse ich in die Küche… Frühstück machen und so. Lenny sitzt am Küchentisch.

„Morgen, Sonnenschein“, murmle ich und will ihm einen Kuss geben, aber er dreht seinen Kopf zur Seite. „Was’n los? Stinke ich aus dem Mund? Willst du weg?“, frage ich, weil er bereits vollständig angezogen ist.

„Ich hab nachgedacht“, beginnt er und legt ein paar Fotos auf den Tisch. Und zwar die Fotos, die ich irgendwann mal heimlich von Martin gemacht habe.

„Hoffentlich darüber, warum du in meinem Schreibtisch rumschnüffelst.“

„Stehst du auf Teenager oder hast du die Herzchen aus Langeweile da drauf gemalt? Und was für krankes Zeug hast du sonst noch versteckt?“

Fuck, und das alles ohne Kaffee.

„Du großer Gott, die Fotos sind uralt.“

„Und weiter?“

„Das ist so’n Typ, in den ich mit dreizehn verschossen war. Ich kannte den nicht mal richtig.“

„Muss ja ziemlich heftig gewesen sein, wenn du die Fotos nach zwanzig Jahren immer noch hast.“

„Ich hebe haufenweise Zeug auf. In der anderen Schublade liegen zehn Jahre alte Kinokarten. Sind dir die bei deiner Schnüffelaktion entgangen?“

„Warum sieht der mir so ähnlich?“

„Woher zum Teufel soll ich das wissen?“

„Hast du mich deshalb ausgesucht?“

Irgendwie komme ich nicht mehr mit.

„Was meinst du?“, frage ich vorsichtig.

„Ist das so’n Lolita-Ding? Weil du den Typen nicht gekriegt hast, rennst du jetzt zwanghaft kleinen Jungs hinterher. Willst du durch mich deine Teeniezeit zurückholen oder was?“

Der hat sich doch heimlich besoffen!

„Erstens hast du mich angegraben und zweitens kannst du mich am Arsch lecken, wenn du denkst, dass ich irgendwie pädo bin, bloß weil ich drei verschissene Fotos aufgehoben habe…“

„Und drittens… ich glaub dir kein Wort.“

„Es ist mir grad völlig egal, was du glaubst, Leander.“

Ehrlich, mir so einen Bullshit zu unterstellen, der hat wohl nicht mehr alle Nadeln an der Tanne!

„Das ist so armselig“, schüttelt er den Kopf und verlässt die Küche. Sekunden später kommt er zurück, er hat seine Jacke angezogen. „Weißt du was, Dr. Sommer… such dir wen anders, um deine kranken Phantasien auszuleben. Ich hab auf so was keinen Bock“, erklärt er und geht.

 


 

„Fuck, an den kann ich mich dunkel erinnern… sind wir nicht seinetwegen auf den Gothic-Trip gekommen?“, fragt Edgar und wedelt mit einem der Martin-Fotos herum.

„Darum geht’s doch jetzt gar nicht. Lenny denkt, dass ich…“

„Bitte, erzähl’s nicht noch mal. Ich hab’s inzwischen mehr als kapiert.“ Er wirft erneut einen Blick auf das Bild. „Der sieht ihm aber wirklich ähnlich. Ich an Lennys Stelle hätte mir da auch Gedanken gemacht. Und an deiner Stelle würde ich mir auch Gedanken machen.“

„Na toll“, zische ich, „hältst du mich jetzt auch für abartig?“

„Willst du darauf eine ehrliche Antwort?“, grinst er, ist jedoch zwei Sekunden später wieder ernst. „Pass auf, Lenny ist zwanzig, in dem Alter reagiert man zuweilen total überzogen, weil der Verstand… irgendwie hinterherhinkt oder so. Überleg mal, wie bescheuert wir gewesen sind.“

„Das hilft mir super weiter.“

„Der soll sich erstmal abregen, dann erklärst du ihm die Sache in Ruhe, sagst ihm, dass du ihn liebst… und zwar nicht, weil er zufällig wie jemand aussieht, den du vor hundert Jahren toll fandst, sondern weil du ihn eben einfach liebst… und alles ist gut. Es sei denn, Lenny hat Recht, dann solltest du dir einen Therapeuten suchen. Ich gehe jetzt Mittagessen bei Mama. Bis dann.“

 

Als Edgar weg ist, dreht sich fröhlich das Gedankenkarussell in meinem Schädel. Hab ich Lenny unbewusst doch ausgesucht? Bin ich tatsächlich irgendwie unnormal? Und wenn ja, hätte ich das nicht früher schon mal gemerkt? Die Bedenken, die ich wegen Lennys Alter hatte, müssen doch einen Grund gehabt haben. Warum hab ich solche Probleme mit dem Älterwerden? Ist das überhaupt ein Problem? Ich meine, ich hab eigentlich nicht das Gefühl, irgendwas verpasst oder zu wenig Spaß gehabt zu haben. Aber manchmal weiß ich einfach nicht, ob das, was ich vorzuweisen habe, reicht. Ist das unnormal? Vielleicht hätte ich mit der Musik weitermachen oder ein anderes, besseres, zweites Buch schreiben sollen, ein mainstreamigeres, das man gut verkaufen kann. Aber ich schreib halt, was mir gefällt… und nicht für Leute, die mir fremd sind. Vielleicht hätte ich auch einen vernünftigen Beruf erlernen sollen. Keine Ahnung.

Okay, ich bin also auf jeden Fall alles andere als zufrieden, das heißt noch lange nicht, dass ich deswegen wieder Teenager sein möchte. Und ganz bestimmt bedeutet das nicht, dass ich mit Lenny einen Typen aus der Vergangenheit in die Gegenwart holen will. So irre bin ich nicht.

Natürlich hab ich versucht, Lenny anzurufen, natürlich war das vergeblich. Möglicherweise hat Edgar Recht, Lenny soll sich erstmal abregen. Fuck, aber er fehlt mir und ich will das mit ihm klären, damit wir anschließend für den Rest unseres Lebens glücklich sein können, verdammte Scheiße!

 


 

Heute ist Silvester. Lenny hat sich nicht gemeldet, ich hab ihn nicht erreicht, und wenn er mich jetzt anrufen würde, könnte er sich verpissen, weil ich langsam die Schnauze voll habe.

Je mehr ich drüber nachdenke, desto wütender werde ich. Wegen dämlicher Fotos so ein Fass aufzumachen, der Kleine spinnt doch. Soll er sich einen Freund in seinem Alter suchen, dann kann er bei dem Drama-Queen spielen.

Als wäre alles noch nicht schlimm genug, hat Edgar mich bequatscht, mit ihm auszugehen. Und zwar in den Kristallpalast, wo ich bereits vor zehn Jahren an Silvester mit fettem Liebeskummer rumhing. Déjà-vu lässt grüßen. Allerdings bin ich schon froh, dass Edgar und Jessi beschlossen haben, nicht ineinander verknallt zu sein. Romantisches, heterosexuelles Geknutsche meiner zwei besten Freunde um Mitternacht und ich würd mir sofort die Kugel geben. Übrigens sitzt Jessi auch kaum bei uns am Tisch, weil die in ihrem aufregend genschnürten Korsett alle Kerle hier verrückt macht. Spätestens übermorgen wird sie mir schlecht gelaunt von irgendeinem Aufriss erzählen, der sich wieder nicht als Mann ihres Lebens entpuppt hat. Der heutige DJ scheint aus einer Nervenheilanstalt ausgebrochen zu sein… es läuft grad zum wiederholten Mal der sagenhaft scheißige Unheilig-Gassenhauer „Geboren um zu leben“. Und die Tanzfläche ist zum Bersten voll.

„Die schwarze Szene richtet sich selbst zugrunde“, faselt Edgar betrunken und hebt sein Glas, „auf den Untergang!“

„Yep“, nicke ich und kippe meinen Jack Daniel’s auf Ex runter.

Ah… „Hier kommt die Sonne“… klar, warum auch nicht?!

Edgar schüttelt resigniert den Kopf.

„Tranken wir schon auf den Untergang?“, will er wissen.

„Gerade eben.“

„Doppelt hält besser“, beschließt er und hebt erneut sein Glas.

Ich fürchte, das wird eine harte Nacht werden. Aber plötzlich, wie ein Spuk, ertönen vertraute Klänge.

„Babsi“, krakeelt Edgar und verschwindet Richtung Tanzfläche, die sich erschreckend geleert hat. Mir ist das unbegreiflich. „Babsi ist tot“ ist ein Klassiker, aber leider bei diesem Publikum die berühmten Perlen vor die Säue. Genau wie „Return“ von den Crüxshadows, das danach läuft. Und sogar den guten alten „Einheitsschritt“, spielt der DJ, der vielleicht nur in der Nervenheilanstalt arbeitet. Oder die Musik vorher war lediglich als Silvesterscherz gedacht. Okay, wenn das so weitergeht, kann ich mit dem Besoffenwerden langsamer machen. Normalerweise würde ich auch auf der Tanzfläche rumhopsen, aber ich hab immer noch Liebeskummer. Und ich bin immer noch sauer. Und er fehlt mir immer noch so ekelhaft. Und ich bin doch schon ganz schön angeschickert, denn ich sehe weiße Mäuse… beziehungsweise kleine Praktikanten. Ich kneife vorsichtshalber kurz die Augen zusammen, Lenny ist allein, der zweite Praktikant lag wohl doch am Alkohol.

„Hey“, behauptet er und setzt sich zu mir an den Tisch, so als wäre alles in allerbester Ordnung.

„Fröhliches Silvester oder so“, rülpse ich.

„Bist du aufnahmefähig?“, fragt er, nach den leeren Gläsern schielend.

„Kommt drauf an.“

„Worauf?“

„Darauf, ob du mir gleich wieder irgendeine an den Haaren herbeigezogene Drecksscheiße unterstellst“, entgegne ich und versuche, ihn nicht so sehr anzustarren, was sich schwierig gestaltet, denn er sieht atemberaubend umwerfend aus. Lackhose, Doc’s, enges Shirt, Silbergürtel, Kajalaugen, feucht schimmernde Lippen… na ja, das volle Programm eben. Sofort komme ich mir neben ihm aschenputtelmäßig vor. Ein Grund mehr, sauer auf ihn zu sein. Blöder Schwachkopf… damit meine ich mich, hätte mich schließlich auch aufbrezeln können bis zum Gehtnichtmehr.

„Auf dich bin ich sauer“, brabbelt Edgar, der grad an unseren Tisch gekommen ist und deutet auf Lenny.

„Willkommen im Club“, sage ich, „stell dich hinten an.“

„Ich stell mich lieber an die Theke und rette Jessi vor dem aufdringlichen Grottenolm. Sie hat mir vorhin einen verzweifelten Blick zugeworfen“, erklärt er und schwankt davon.

Lenny rückt ein Stück näher.

„Nimmst du mich nachher mit zu dir?“

„Wieso? Willst du jetzt doch meine kranken Phantasien mit mir ausleben?“

So betrunken, dass ich das vergessen habe, bin ich noch nicht.

„Mann“, schnauft er, „was hätte ich denn denken sollen?“

„Alles andere, nur das nicht?“, schlage ich vor.

„Können wir das nicht einfach vergessen und…“

„Und was?“

„Erik… ich will nicht ohne dich ins neue Jahr“, sagt er und wirft mir dabei einen spektakulär herzzerreißenden Blick zu.

Und Dr. Sommer schmilzt dahin. Besonders als sich Lenny auf meinen Schoß setzt und meine Arme um sich legt.

„Vor allem, weil mir klar geworden ist, dass ich in meiner Situation nicht wählerisch sein darf.“

„Hä?“, mache ich blödsinnig.

„Na ja, du bist offensichtlich der einzige, den so ein körperliches Wrack wie ich kriegen kann“, grinst er.

„Ach so, das ist der Grund, weshalb du hier auf Schmusekatze machst.“

„Klar, was sonst?“, zwinkert er und küsst mich, dass ich Sterne sehe und jetzt schon das Silvesterfeuerwerk höre. „Außerdem… lieb ich dich eben“, zuckt er die Schultern.

 

Kurz vor zwölf serviert der Kristallpalast seinen Gästen ein Gläschen Sekt, um Punkt Mitternacht gibt’s romantisches, homosexuelles Geknutsche und ich muss mir somit nicht die Kugel geben.

„Ihr benehmt euch wie die Tiere“, brummelt Edgar und stößt mir unsanft in die Rippen.

„Könnt ihr Schwuliberte das nicht zuhause machen, anstatt in der Öffentlichkeit? Demnächst wollt ihr wohl auch noch heiraten und Kinder adoptieren.“

„Ja, aber nur schwule Kinder“, entgegnet Lenny und zeigt stolz seinen PARTEI-Button.

„Auf Sonneborn“, lallt Edgar und kippt seinen Sekt runter.

 

Der fünfhundert Kilometer Weg zu meiner Wohnung hat meinen Schädel erfrischt und mich wieder halbwegs nüchtern gemacht. Mag auch daran liegen, dass wir Edgar nach Hause bringen mussten, der sonst vermutlich bis in alle Ewigkeit draußen herumirren würde. Hat schon mal jemand versucht, in einer verschneiten Silvesternacht ein Taxi zu bekommen? Wie dem auch sei… ich bin schon wieder kurz davor, Lenny zu fragen, ob’s ihm gut geht, oder ob er Schmerzen hat, entscheide mich jedoch dagegen. Ich würde das vermutlich auch nicht alle fünf Minuten gefragt werden wollen.

„Irgendwelche Vorsätze für’s neue Jahr“, frage ich stattdessen, obwohl ich diese weitverbreitete Angewohnheit total dämlich finde.

„Ich finde das dämlich“, antwortet Lenny, den ich gerade noch mehr liebe, falls das möglich ist. „Doch, einen Vorsatz hab ich. Einen richtig guten.“

„Aha?“

„Dich zu küssen, wann immer es geht“, lächelt er, küsst mich und ich habe soeben festgestellt, dass es durchaus möglich ist, ihn noch mehr zu lieben. Wenn das so weitergeht, werde ich zu einem überdimensionalen Herz mutieren, auf dem der Name Lenny steht. Aber… so what?!

 

ENDE

Nachwort

*Es muss kurz erwähnt werden, dass ich mir das Thema der Doktorarbeit nicht selbst ausgedacht, sondern von meiner Lieblingsfreundin Dr. Stücker geliehen habe.

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