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Märchenstunde

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Vorwort

Liebe Kinder!

Schön in die Betten kuscheln, Tante Chelsea hat euch nämlich eine kleine Gutenachtgeschichte geschrieben.

 

Es war einmal vor langer Zeit ... oder auch nicht.

Will sagen, es ist nicht bewiesen, dass es jemals ein Land gegeben hat, in dem einem die gebratenen Tauben in den Mund flogen und die Bonbons und Süßigkeiten wie Blumen auf einer grünen Zuckerwiese wuchsen. Ein Land, in das man nur hineinkam, wenn man es schaffte, sich durch den gewaltigen Puddingberg zu fressen, der den Eingang versperrte. Ein Land, in dem alle Häuser aus Lebkuchen waren und geschmückt mit den herrlichsten Leckereien. Die Flüsse und Seen aus Milch und Honig, Traubensaft, manchmal sogar Coca-Cola waren ... man brauchte es sich nur vorzustellen.

Wollen wir mal für einen Augenblick so tun, als hätte es das gegeben: das Schlaraffenland. Und wollen wir mal weiter annehmen, dass es dort einen jungen, bezaubernden Prinzen gab, dem es tierisch auf den Sack ging, dass er in einem klebrigen Zuckerschloss hausen musste. Dass ihn seine Bettdecke aus Zuckerwatte in den Wintermonaten nie vernünftig wärmte und ihm die süßen Gerüche der Flüsse und Seen im Sommer Übelkeit bescherten. Den Prinzen nervte es gewaltig, dass ihm jedes Mal, wenn er den Mund auftat, irgendetwas zu essen hinein fliegen oder hopsen wollte. Und noch etwas nervte den Prinzen. Nämlich dass es in jedem angrenzenden Märchenkönigreich üblich war, die erlauchten Söhne und Töchter zu verheiraten. Prinzen hauten Drachen kaputt, steckten armen, von Stiefmüttern gebeutelten, Mädchen gläserne Puschen an die Füße, befahlen Zwergen, Särge fallen zu lassen, damit in Mädchenhälsen verbliebene Apfelstücke herausgekotzt werden konnten, küssten Dornröslein wach und lebten glücklich bis ans selige Ende.

Im Schlaraffenland dagegen drehte sich alles nur ums Essen. Ums faulenzerische Genießen. Es gab einfach null Romantik. Also beschloss der bezaubernde junge Prinz eines Tages, sich aus dem Staub zu machen. Abenteuer zu erleben und der Liebe seines Lebens zu begegnen.

Er nahm seine Krone aus weißer Schokolade vom Kopf, zog seine ältesten Klamotten an und spazierte unerkannt zum Schlaraffentor. Mächtig türmte sich der Puddingberg vor ihm auf. Bedrohlich quabbelte er, als der Prinz vorsichtig seinen Finger hineinstupste. Der Prinz war kein Angsthase, mutig kämpfte er sich mit einer kleinen Schaufel durch die süße Masse. Das dauerte drei Tage und drei Nächte.

Auf der anderen Seite war es finster und kalt. Es wehte ein strenger Wind, der durch die Baumwipfel fuhr. Auch durch die sommerliche Kleidung des Prinzen. Ihn fröstelte und der Wald, der sich vor ihm erstreckte, sah keineswegs einladend aus.

Der Prinz hielt einen Moment inne, dann straffte er sich und marschierte schnurstracks in die Dunkelheit.


Die aufgehende Sonne tauchte den See in feuerrotes Licht. Ein sanfter Wind kräuselte die Wasseroberfläche. Vögel zwitscherten vergnügt, ein paar Entenküken schwammen folgsam der Mama hinterher. Das Schilf am Ufer wiegte sich leise raschelnd. Missmutig hockte eine zipfelmützige Gestalt auf einem der glatten Steine und beobachtete das Farbspektakel, bis die Sonne hoch am Himmel stand und das Wasser fein zum glitzern brachte. Die Gestalt ließ sich ein wenig von den warmen Strahlen die Nase kitzeln und nieste kräftig. Dabei rutschte ihr die rote Zipfelmütze über die Augen.

"Verflixt noch eins", sagte die Gestalt.

"Gesundheit", säuselte es aus dem Wasser. Gleich darauf erschien ein Mädchengesicht, das von rotvioletten Locken umrahmt wurde.

"Ich krieg hier noch die Krise", antwortete die Gestalt, nahm die Mütze vom Kopf und strubbelte die grünen Haare durcheinander.

Das Mädchen schlängelte sich geschmeidig auf den Stein.

"Du hast doch gar keinen Grund, so angepisst zu sein", erklärte sie und blinzelte in die Sonne. "Mal ehrlich, ... du kannst tun und lassen, was du willst, während ich hier auf einen Prinzen warten muss, der zufällig ins Wasser plumpst. Logischerweise wird der, wenn ich von der Wasserhexe ein paar hübsche Beine bekommen habe, längst mit einer anderen Bitch liiert sein. Für mich bleibt dann bloß noch Verzweiflung und Tod. Glaubst du vielleicht, ich hab da Lust drauf?"

"Versteckst du dich deshalb immer, wenn hier Leute vorbeikommen?", fragte der Junge. "Und ... tun und lassen, was ich will, kann ich ja wohl auch nicht."

"Du musst dich wenigstens nicht mit diesem Teil hier rumärgern", schnaufte das Mädchen und klatschte mit der flachen Hand auf ihren schuppigen, regenbogenfarbenen Fischschwanz.

"Oh, shit!" Sie glitt vom Stein und tauchte unter.

"Was denn?" Der Junge schaute sich irritiert nach allen Seiten um, da machte es auch schon PLATSCH! "Tja ... muss ich wohl wieder ran", seufzte er und sprang elegant ins Wasser.

Eine Weile später hatte er einen jungen Mann ans Ufer geschleppt und beugte sich über ihn.

Er hielt ihm die Nase zu, dass der Jüngling wie ein Fisch nach Luft schnappte, und näherte sich seinem Gesicht. Dann küsste er ihn blitzschnell auf den Mund, grinste süß und hüpfte zurück ins Wasser.


Der junge Prinz war noch stark mitgenommen. Er hustete, japste, bekam ein bisschen Luft und strich sich mit dem Finger über die Lippen. Was war das gewesen? Hatte ihn jemand geküsst? Wer? Verwirrt blickte er sich um. Allerdings sah er bloß ein altes Mütterchen, das sich auf einen krüppeligen Holzstock stützte. Das alte Weib trug ein wollenes Kopftuch und ein Körbchen am Handgelenk. Aus dem Korb lugten rotbäckige Äpfel.

"Guten Tag", grüßte der Prinz freundlich.

"Was", zischte das Mütterchen, "sollte an diesem Tag wohl gut sein?"

Das fragte sich der Prinz insgeheim auch. Immerhin war er gerade knapp dem Tode entronnen, was eigentlich streng genommen durchaus als "gut" zu bezeichnen war, aber dass er überhaupt erst in den vermaledeiten See hatte fallen müssen, war alles andere als gut gewesen.

"Ich bin auf der Suche nach … jemandem", erklärte der Prinz.

"Wer ist das nicht?", antwortete das Mütterchen barsch.

"Kann ich dir helfen?"

"Hast du hier in der Nähe vielleicht ein paar Zwerge gesehen, die ein hübsches Mädchen gefangen hielten? Wobei", das Mütterchen kratzte mit einem schrumpeligen Finger über die Warze auf der Nase, "hübsch natürlich relativ ist."

"Äh … nein", bedauerte der Prinz. "Ich bin ins Wasser gefallen und …"

"Das schert mich nicht", unterbrach ihn das Mütterchen. "Ich muss die kleine Schlampe finden, bevor sie noch mehr Unheil anrichten kann. Möchtest du einen Apfel?"

"Danke", sagte der Prinz artig und nahm sich einen aus dem Korb.

"Lass ihn dir schmecken", kicherte die Alte und humpelte davon.

"Endlich mal etwas Gesundes", sprach der Prinz mit sich selbst, während er das runde Obst beinahe ehrfürchtig betrachtete. Im Schlaraffenland bekam er ja immer nur Süßigkeiten und Fast Food. Die Früchte dort waren aus Marzipan oder gezuckertem Gelee. In der Tat würde er sich diese frische Köstlichkeit schmecken lassen. Und zwar auf der Stelle. Er beschnüffelte den Apfel, öffnete den Mund und …

"NICHT", drang eine schrille Stimme an sein Ohr, die den Prinzen dazu veranlasste, vor Schreck den Apfel fallen zu lassen.

Aus dem Gebüsch kroch ein Mädchen mit ebenholzfarbenen Haaren und kickte den Apfel weg. Der Prinz war fix und fertig. Langsam kam ihm jedoch eine Idee.

"Vergiftet, mh?", mutmaßte er.

Das Mädchen nickte. "Normalerweise dreht sie die Dinger nur mir an. Hast du sie geärgert?"

"Ich glaube nicht", schüttelte er den Kopf.

"Dann ist sie mit der Zeit noch irrer geworden. Die Alte ist echt zum Kotzen. Erst engagiert sie diesen Trottel von Jäger, der mich um die Ecke bringen soll, dann verkauft sie mir einen Gürtel, den sie so fest um mich schnallt, dass ich kaum noch Luft kriege und jetzt verteilt sie wahllos giftige Nahrungsmittel. Irgendjemand sollte sie schleunigst in die Klapse stecken."

"Wow", staunte der Prinz, "Wie bist du dem Jäger denn entkommen?"

"Hab ihm einen geblasen", erklärte Schneewittchen achselzuckend. "Heutzutage kriegt man leider nichts mehr umsonst. Früher", schwärmte sie, "reichte noch ein Mitleid erregender Augenaufschlag und schwupps hat der Jäger eine Wildsau abgestochen, um der Alten das Herz als Beweis zu bringen. Und die beschissenen Zwerge wollen doch auch nur ein unbezahltes Dienstmädchen. Da hab ich ja nun gar keinen Bock drauf. Die Penner sind nicht zufällig hier vorbeigekommen?"

"Bist du ausgerissen?"

"Na, logisch. Kann doch nicht ewig drauf warten, dass sich irgendein Langweiler-Prinz endlich dazu herablässt, mich zu retten. Selbst ist die Frau. Ich such mir jetzt den Typen, den ich haben will."

"Ich auch", behauptete der Prinz und wurde ein bisschen rot an den Wangen. "Ich meine, ich bin auch weggelaufen."

Schneewittchen hatte sich inzwischen zu ihm ins Gras gesetzt. "Cool. Woher kommst'n?"

"Schlaraffenland."

"Wer läuft denn von da weg? Da wollen doch alle hin. Ein Land, in dem Milch und Honig fließt, ist doch super."

Der Prinz klagte Schneewittchen sein Leid, worauf sie verständnisvoll nickte.

"Ich denke", sagte sie, "wir sollten uns zusammentun und ein paar Abenteuer erleben."

"Bin dabei", strahlte der Prinz und bot Schneewittchen galant seine Hand an, um der Schönheit aufzuhelfen.


Der kleine Wassermann lag auf seinem Lieblingsstein, ließ die Füße im Wasser baumeln und seufzte schwer. Seit Tagen fühlte er sich elend. Mochte nicht essen, mit niemandem reden und verteufelte alles und jeden.

"Ich hätte ihn nicht küssen dürfen", zischte er.

Wie oft hatte er im Auftrag seiner Freundin verblödete Prinzen aus dem Wasser gezogen, dafür gesorgt, dass sie wieder zu Atem kamen und sie dann verwirrt zurückgelassen?! Niemals zuvor war er auf die Idee gekommen, einen zu küssen.

"Ich hätte ihn nicht küssen dürfen", wiederholte er.

"Verdammt richtig, das hättest du nicht tun dürfen", antwortete die kleine Meerjungfrau und schwamm an den Stein heran. "Wieso hab ich dich wohl immer gebeten, die Prinzen aus dem Wasser zu fischen? Ich werde es dir sagen … kleine Meerjungfrauen verlieben sich nun mal in die Prinzen, die sie retten, und so eine Beziehung hat einfach keine Zukunft."

"Und was passiert, wenn ein Wassermann einen Prinzen rettet?"

"Nix", fauchte die Meerjungfrau, "es sei denn, er ist so doof, ihn zu küssen. Ich hätte zwar nicht gedacht, dass dann dasselbe geschieht, aber es ist offensichtlich. Du bist verloren."

"Wieso?"

Die Meerjungfrau paddelte ungeduldig mit ihrem Fischschwanz im Wasser. "Weil du jetzt nur noch zwei Möglichkeiten hast. Entweder du bleibst hier und stirbst vor Sehnsucht oder du gehst zur Wasserhexe, die macht, dass du außerhalb des Sees leben und deinen Prinzen suchen kannst. Allerdings wird sie irgendwas als Pfand von dir haben wollen, wahrscheinlich deine Stimme, was bedeutet, dass du nicht in der Lage sein wirst, deinem Prinzen zu sagen, dass du ihn gerettet hast. Dein Prinz ist vermutlich zu bescheuert, um dich zu erkennen, verliebt sich in wen anders und dann gehörst du der Wasserhexe, die dich vermutlich aufisst. Na ja, hübsch und jung wie du bist, wird sie dich wohl eher als persönlichen Sexsklaven halten. Glaub mir, da ist aufgegessen werden die angenehmere Variante."

Dem kleinen Wassermann wurde übel. Sein Gesicht färbte sich leicht grün.

"Und wenn … also … was, wenn ich es schaffe? Wenn er sich in mich verliebt?"

"Ist bis jetzt noch nie vorgekommen. Und schließlich bist du kein Mädchen, das erschwert die Sache. Prinzen sind auf Weiber programmiert, nicht auf sechzehnjährige Jungs mit Schwimmhäuten zwischen den Fingern."

Bedröppelt starrte der kleine Wassermann auf seine Hände. "Er wird das eklig finden, oder?", murmelte er.

"Aber so was von", bestätigte die Meerjungfrau.

"Er ist nämlich perfekt, weißt du? Ganz schlanke Finger hat er und seine Haut ist weich und glatt und seine Augen sind blau und …"

"Hatte er die Augen nicht zu?"

"Doch … aber sie sind ganz sicher blau … und seine Lippen … mhhhh", lächelte er verträumt, "die schmeckten nach was Süßem."

"Ich sag doch, du bist verloren."

"Zeig mir den Weg zur Wasserhexe", bat er.

Die kleine Meerjungfrau war zwar seine beste Freundin, gab dem kleinen Wassermann jedoch lediglich eine Wegbeschreibung, denn sie fürchtete sich vor der Wasserhexe. Die Beschreibung stellte sich als relativ ungenau heraus, der kleine Wassermann verschwamm sich unterwegs zweimal. Aber schließlich stand er vor dem verfallenen, mit Seetang umwucherten Schiffswrack, in dem die Hexe angeblich hauste. Unsicher klopfte er.

"Herein", bollerte es aus dem Inneren.

Der kleine Wassermann zählte angespannt bis drei und schwamm durch eine Luke in die Kajüte. Was er zu sehen bekam, deckte sich in überhaupt keiner Weise mit den Erzählungen seiner Freundin. Die Hexe war kein schleimiges, pockiges Ungeheuer, sondern eine alternde Meerfrau mit feuerroten Haaren und grünem Fischschwanz. Grünlich schimmernde Perlen bedeckten ihre Brüste. Sie fläzte auf einer Art Thron, an dem zu beiden Seiten jeweils ein junger Wassermann kauerte. Beide Wassermänner trugen Halsbänder, an denen eine schwere Kette angebracht war, die wiederum an einem Eisenring an der Schiffswand befestigt war.

"Guten Tag, Majestät", sagte der kleine Wassermann und nahm seine Mütze ab.

"Wir leben normalerweise sehr zurückgezogen", behauptete die Hexe und tätschelte dem Angeketteten zu ihrer Linken den Kopf.

"Entschuldigen Sie die Störung, Majestät. Aber ich muss einen Prinzen finden."

"Natürlich musst du das."

"Man sagt, Sie könnten … äh … helfen."

"Ich werde dir einen Trank brauen, der dafür sorgt, dass du an Land überleben kannst", nickte sie gelangweilt.

Der kleine Wassermann runzelte die Stirn. "Ist das alles? Kein Pfand, keine Bedingungen, muss ich nicht sterben, wenn mein Vorhaben misslingt?"

Die Hexe überlegte einen Moment. "Du bist ein schwuler Wassermann, auf der Suche nach einem schwulen Prinzen … wie viel schwieriger möchtest du es denn noch haben?"

"D-danke, Majestät", stotterte der kleine Wassermann.

"Nur eines noch: wenn du dich erst einmal entschlossen hast, außerhalb des Wassers zu leben, kannst du nie mehr zurück. Und sollte der Prinz deine Liebe nicht erwidern, wirst du tatsächlich an gebrochenem Herzen sterben. Hast du dir das alles gut überlegt?"

Der kleine Wassermann nickte. Die Hexe erhob sich, schwamm außer Sichtweite und kehrte nach einer Weile mit einem Becher zurück.

"Trink das", befahl sie streng, "und schwimme danach so schnell wie möglich nach oben."

Der kleine Wassermann trank, schwamm so schnell er konnte nach oben, fühlte sich müde und schwindlig, legte sich deshalb ins Gras und schlief ein.


"Prinz … Prinz wie?"

"Rate doch", lächelte der Prinz vergnügt.

"Rumpelstilzchen wird es nicht sein", kicherte Schneewittchen. "Weiß nicht, Poldi, Foffi, William?"

"Ich heiße Chrysanth."

"Prinz Chrysanth vom Schlaraffenland … haben deine Eltern in Doppelkorn gebadet?"

"So toll klingt Schneewittchen hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen auch nicht", entgegnete der Prinz beleidigt.

"Ja, da ist was dran", bestätigte Schneewittchen. "Aber immer noch besser als Rapunzel. Das klingt echt wie eine Krankheit."

"Kennst du sie?"

"Rapunzel? Klar, ist schließlich meine Cousine. Nicht ganz dicht, die Gute, hat einen fürchterlichen Haartick."

Bevor Chrysanth antworten konnte, meldete sich ärgerlich grummelnd sein Bauch.

"Machen wir ein Picknick", schlug Schneewittchen vor.

"Wir haben aber nichts zum Essen, … oder hast du was mit?"

"Soll das heißen, du fliehst ohne Fressalien aus dem Schlaraffenland? Du meine Güte, wie blöd kann man sein?"

"Hast du nicht zufällig einen Vetter, der einen Zaubertisch besitzt, oder so was?", fragte der Prinz hoffnungsvoll.

"Doch, aber der wohnt ganz am Ende des Märchenwaldes. Bis dahin sind wir verhungert. Na ja, schauen wir halt am Knusperhaus vorbei."

Der Prinz bekam eine Gruselgänsehaut. "Und wenn die Hexe da ist? Ihr Ofen ist legendär."

"Blödsinn", schüttelte Schneewittchen den Kopf. "Das sind doch alles nur Horrorgeschichten, die man kleinen Kindern erzählt, um sie davon abzuhalten, fremder Leute Häuser aufzuessen. Die Knusperhexe ist total harmlos."

"Bist du sicher?"

"Absolut."

Mutig schritt Schneewittchen voran durch den düsteren Wald. Ängstlich folgte Chrysanth.

Nach einem ausgedehnten Marsch fanden sie tatsächlich das sagenumwobene, beeindruckend aussehende Lebkuchenhaus. Die Fensterrahmen waren aus buntem Zuckerguss, die Wände bestückt mit den herrlichsten Süßigkeiten. Karamellbonbons, Lakritze, Geleebananen, Schaumzuckererdbeeren, Weingummifrösche, Marzipan, Mäusespeck.

"Ich werde mir die Figur ruinieren, aber was soll's?", seufzte Schneewittchen und knabberte delikat an einem Fensterladen, der nach Zimtstern schmeckte.

Der Prinz deutete auf den rauchenden Schornstein. "Die Alte hat den Ofen schon angeschmissen. Lass uns lieber gehen."

Schneewittchen jedoch brach ein Stück Lebkuchen ab und gab es Chrysanth.

"Knupserknusper … knäuschen", krächzte eine brüchige Stimme.

Schneewittchens Kaubewegungen stoppten augenblicklich. Der Prinz sah aus, als wollte er auf der Stelle losheulen. Dann ging alles sehr schnell. Die beiden wurden gepackt, bewusstlos geschlagen und ins Knusperhaus geschleift.

Der Prinz erwachte mit fürchterlichen Kopfschmerzen. Neben ihm räkelte sich träge das arg zerzauste Schneewittchen.

"Und ich sag noch … lass uns lieber gehen", stöhnte Chrysanth.

"Halt die Klappe, du Memme", fauchte die lädierte Schönheit. "Verdammter, verflixter Mistkackenscheißdreck … ich bin fest gekettet."

"Ich auch", jammerte Chrysanth.

"Hänsel, die Ratte."

"Wie bitte?"

"Der Kerl ist übergelaufen. Ich hab vor einer Weile so was läuten hören, wollte es allerdings nicht glauben. Schätze, das war ein Fehler."

"Jetzt werden wir gefressen", heulte der Prinz.

"Nicht doch, mein Täubchen", krächzte die Hexe und strich dem Prinz beruhigend durch die dunklen Locken. "So einen hübschen Bengel werde ich sicher nicht essen."

"Was hast du dann mit uns vor?", fragte Schneewittchen.

"Ich werde euch …"

"Hör auf, die Geiseln zu entertainen, alte Schabracke", herrschte Hänsel, der in sein ehemaliges Verlies getreten war, und scheuchte die Hexe hinaus.

"Es ist schlimmer, als ich dachte", wisperte Schneewittchen. "Er ist nicht bloß übergelaufen, er hat den Laden hier komplett übernommen. Jetzt sitzen wir mächtig in der Scheiße."

"Wie wahr", lachte Hänsel boshaft.

Chrysanth wagte einen Blick, bereute allerdings sogleich. Das von den Eltern ausgesetzte, unschuldige Kind war inzwischen nicht nur zum Manne herangewachsen, es hatte sich zu einem waschechten Sado-Folterknecht gemausert. Um die massige, behaarte Brust trug er breite Lederriemen, an den Handgelenken nietenbesetzte Ledermanschetten, die fast bis an die Ellenbogen reichten. In der Hand hielt er eine neunschwänzige Katze.

"Du", er deutete auf das geschockte Mädchen, "kannst dich im Haus nützlich machen. Die Alte lässt ja alles verkommen, senil und gebrechlich wie die ist."

"Das ist doch bitte nur ein Witz", entgegnete Schneewittchen. "Ey, da hätte ich auch bei den Zwergen bleiben können."

"Du sprichst erst, wenn ich es dir erlaube", brüllte Hänsel. "Und du redest mich gefälligst mit Meister an."

"Den hat die Hexe wohl zu lange mit dem Kopf in den Ofen gesteckt", murmelte Schneewittchen, worauf Hänsel ihr eine kräftige Ohrfeige verpasste. Danach hielt sie vorsichtshalber den Mund.

Chrysanth hatte derweil mit seinem Leben abgeschlossen. Aber so leicht wollte es ihm der Folterknecht nicht machen. Er ging vor dem Bibbernden in die Hocke.

"Aus dir mache ich einen astreinen Sklaven. Wirst mir ein hübsches Sümmchen einbringen", drohte er sabbernd. "Es gibt Kerle, die stehen auf junge, wohlerzogene Prinzen." Er lachte schallend und zerrte Schneewittchen mit sich hinaus.


Der kleine Wassermann öffnete die Augen, gähnte und streckte sich ausgiebig. Wie lange hatte er geschlafen? Seine Kleidung, eine dunkle Hose aus Fischschuppen und eine grüne Jacke aus fest gewebten Schlingpflanzenfasern, war trocken.

"Ein paar Stunden hast du geratzt", antwortete die kleine Meerjungfrau, die am Ufer paddelte. "Ich hab Wache gehalten, damit dir nichts geschieht", fügte sie stolz hinzu.

Der kleine Wassermann schnappte gewohnheitsmäßig nach Luft, stellte aber fest, dass er problemlos atmen konnte.

"Du hast keine Kiemen mehr", erklärte seine Freundin. "Die Schwimmhäute hat dir Majestät Ungeheuer allerdings gelassen. Immer zu bösen Späßen aufgelegt, die alte Kuh. Sie weiß ganz genau, dass es im gesamten Märchenreich niemanden gibt, der sich mit Mutanten einlässt. Prinzen sowieso nicht. Müssen ja alle an ihren guten Ruf denken."

"Sehr aufmunternd, vielen Dank", schnaubte der kleine Wassermann und befühlte die Seiten seines Halses. Die Haut dort war glatt und weich.

"Ich sag halt, wie's ist. Und wo willst du überhaupt suchen? Dein Liebling hat einen tagelangen Vorsprung. Er könnte mittlerweile überall sein und hundert Weiber wachgeküsst haben."

"Hat er nicht, das spüre ich."

"Viel Glück", wünschte die kleine Meerjungfrau, winkte traurig und versank in den Fluten.

Der kleine Wassermann schaute ihr ein bisschen wehmütig nach. Würde er tatsächlich nie wieder zurückkehren können? In das Haus auf dem Grunde des Sees, indem er mit seinen Eltern lebte. Ob seine Eltern sehr böse auf ihn waren? Aber sie mussten seine Entscheidung doch verstehen. Entschlossen setzte er seine rote Zipfelmütze auf den Kopf und ging los. Mehrere Stunden. Erst am See entlang und danach durch den Wald. Er fror und seine Füße schmerzten, weil er es nicht gewohnt war zu laufen und der Waldboden mit knorrigen Baumwurzeln übersät war. Ein ums andere Mal schlugen ihm Äste ins Gesicht, sodass nicht nur seine Füße wie Feuer brannten, sondern auch seine Wangen. Schluchzend ließ er sich auf einem Baumstamm nieder. Er wusste weder wo er war, noch wohin er sollte. Still weinte er vor sich hin, als er plötzlich ein zartes Klingeln vernahm. Gleich darauf sah er in gleißendes Licht. Der kleine Wassermann legte zum Schutz die Hände über seine Augen.

"Du kannst jetzt kucken", kicherte bald eine süße Mädchenstimme.

Vorsichtig lugte der kleine Wassermann durch seine Schwimmhäute. Vor ihm stand ein Mädchen mit blonden Locken. Es trug ein weißes, mit Goldfäden durchwirktes Kleid, eine goldene Krone auf dem Kopf und in der Hand hielt es einen goldenen Stab, an dessen Spitze ein rubinbesetzter Stern angebracht war.

"Was heulst du denn?", fragte das Mädchen.

Der kleine Wassermann deutete auf seine wunden Füße.

"Verstehe", nickte das Mädchen, tippte mit dem Stab einmal an die linke große Zehe und schwuppdich hatte der kleine Wassermann keine Schmerzen mehr.

"Du bist eine gute Fee", stellte er fest.

"Ja", bestätigte das Mädchen, "aber nicht irgendeine. Ich war die gute Fee für Aschenputtel. Das war eine feine Sache, immer, wenn sie in Not war, half ich ihr, zauberte herum und so … bis der Prinz auftauchte, ihr den gläsernen Pantoffel anzog und sie ihn heiratete. Seitdem bin ich sozusagen arbeitslos. Eine verdammte Scheiße ist das, wenn du mich fragst. Ich bin dazu da, Wünsche zu erfüllen, aber Cinderella, wie sie sich jetzt nennt, hat alles, was sie braucht. An mich denkt wieder mal keiner."

"Das tut mir leid", sagte der kleine Wassermann ehrlich betroffen.

"Du könntest ein paar Schuhe gebrauchen, was?", freute sich die Fee, schwang ihren Zauberstab und im Nu trug der kleine Wassermann festes Schuhwerk.

"Danke sehr."

"Kein Problem", winkte die Fee, "wenn man so lange nichts zu tun bekommt, rostete man leicht ein. Übrigens kannst du mit den Schuhen laufen, wie du lustig bist, deine Füße werden niemals schmerzen. Spezialanfertigung", zwinkerte sie, "der Quasselkasper hat sie entworfen."

"Ich bin auf der suche nach einem Prinzen", erklärte der kleine Wassermann.

Die Fee bewegte ihre durchsichtigen Flügel, wodurch Goldstaub auf den Boden rieselte. "Das ist ja die Misere. Alle Mädchen im Märchenreich suchen einen Prinzen. Und haben sie einen, können die Feen sehen, wo sie bleiben. Also gerecht ist das nicht."

"Ich…ähem…ich bin kein Mädchen."

"Das weiß ich doch", entgegnete die Fee. "Du bist ein kleiner, verliebter Wassermann. Oh, ich liiieeeebe Liebesgeschichten", sang sie, tanzte dabei wie eine Ballerina in der Luft und schwebte elegant zu Boden. "Besonders ausgefallene. Warum schaust du nicht mal bei der widerlichen Knusperhexe vorbei? Möglich, dass du dort findest, was du suchst. Und wenn du mich brauchst, denke einfach dreimal meinen Namen…Isabelle. Und empfehle mich doch bitte weiter, ja?"

Der kleine Wassermann wollte sich gerade bedanken, da machte es PENG und die Fee war verschwunden. "Danke", rief er in den Rauch, der sich langsam verzog. "Zur Knusperhexe", murmelte er und machte sich auf den Weg.


Chrysanth und Schneewittchen hatten unterdessen eine harte Zeit. Hänsel hatte Schneewittchen wie ein französisches Stubenmädchen eingekleidet, ließ sie das gesamte Haus putzen und erwartete jeden Abend eine warme Mahlzeit. Und was war das Haus für eine Drecksbude! Es war wahrscheinlich seit Jahrhunderten nicht sauber gemacht worden. Dichte Spinnweben wabberten von der Decke herab, der Staub lag in Flocken. Während sie also fluchend den Besen schwang, sorgte sie sich um Chrysanth, der es eindeutig noch schlimmer getroffen hatte. Von morgens bis abends musste er Hänsel bedienen und gefällig sein. Wenn er etwas falsch machte, nicht schnell oder unterwürfig genug war, bekam er es mit der Peitsche. Chrysanth wurde natürlich oft bestraft, denn er war ein Prinz und als solcher mit einer gehörigen Portion Stolz und Ungehorsam ausgestattet. Hänsel wollte ihm diese Flausen jedoch rasch austreiben. Er ließ den armen Chrysanth auf dem kalten Boden schlafen, während Schneewittchen immerhin eine Lage Stroh bekam. Manchmal kettete Hänsel ihn an die Wand und versohlte ihm den nackigen Hintern. Nur aus Spaß. Dann wieder verlangte er gar abscheuliche Dinge, die der Prinz niemals in seinem Leben tun wollte. Dafür gab es erneut Züchtigungen.

Die Knusperhexe hätte den beiden gerne geholfen, traute sich jedoch nicht, also schaute sie hilflos zu. Wie gerne hätte sie den fiesen Hänsel eigenhändig in ihren Ofen gesteckt und dann die alte Ordnung wieder hergestellt. Na ja, vielleicht nicht ganz. Sie schwor, wenn es jemandem gelänge, sie von Hänsel zu befreien, würde sie verwaiste Kinder bei sich aufnehmen und mit viel Liebe großziehen, anstatt sie zu mästen, zu braten und zu verspeisen.


Der kleine Wassermann hieß Elias und er überlegte, dass er sich zukünftig auch mit diesem Namen vorstellen wollte, denn eigentlich war er ja seit seinem Besuch bei der Wasserhexe kein kleiner Wassermann mehr. Jedenfalls kein richtiger. Vier Tage war er bereits unterwegs und gestern hätte es ihn vor Hunger beinahe dahingerafft … wäre nicht zufällig ein dicker fetter Pfannekuchen kantaperkantaper auf ihn zugerollt. Der Pfannekuchen hatte es nicht sehr eilig gehabt und sich Elias' Geschichte angehört. Er war so voller Mitgefühl gewesen, dass er dem hungrigen Jungen gestattete, ein wenig von ihm zu naschen. Außerdem hatte er ihm die Richtung zum Knusperhaus gezeigt. Und genau dorthin lief Elias nun mit seinen Sieben-Meilen-Schuhen. Obwohl ihm das Laufen leicht fiel, machte ihm etwas zu schaffen. Nämlich der Eindruck, dass ihn jemand verfolgte. Wenn er sich umblickte, war zwar niemand da, aber das Gefühl wurde er trotzdem nicht los. Irgendwann war er es leid und rief: "Wer immer du auch bist, komm raus und zeig dich!"

Es raschelte und hinter dem Baum sprang ein junger Mann hervor. Er wirkte nicht bedrohlich auf Elias.

"Verfolgst du mich?", fragte er. "Ich meine, warum verfolgst du mich?"

"Um mich das zu fragen hast du vier Tage gebraucht?", grinste der Kerl.

"Ich verlange eine Antwort."

"Mach dir nicht ins Hemd, Kleiner. Isabelle schickt mich. Meinte, du könntest vielleicht meine Dienste brauchen. Also eher die meines Kumpels hier." Er wedelte mit einem dunklen Stoffbeutel vor Elias' Nase. "Normalerweise arbeite ich nicht umsonst, aber wie ich hörte, willst du es mit Hänsel aufnehmen und dem Widerling muss dringend das Handwerk gelegt werden. Ist eine Schande für die gesamte Märchenwelt."

Elias verstand nicht, wovon dieser Mensch redete. Aber wenn Isabelle ihn geschickt hatte, stand er sicher auf seiner Seite.

"Ich suche …"

"Jaja,", unterbrach ihn der Typ, "deswegen bin ich doch hier. Dein Herzblatt hat sich anscheinend mit Schneewittchen vom Acker gemacht, worüber die Zwerge übrigens total erbost sind, mit denen wird's wohl noch Ärger geben. Jedenfalls sind die beiden dem Hänsel ins Netz gegangen."

"Woher weißt du das alles?", staunte Elias.

"Durch kombinieren. Wenn man unterwegs ist, bekommt man irgendwann Hunger, also würde Schneewittchen wohl am Ehesten zu meinem Bruder gehen. Da ist sie jedoch nicht aufgetaucht. Mit dem Pfannekuchen hast du selber gesprochen, der hat die zwei auch nicht gesehen, richtig? Also bleibt nur noch das Knusperhaus."

"Aber was hat mein Prinz mit Schneewittchen zu schaffen?", brüllte Elias eifersüchtig.

"Das könnt ihr unter euch ausmachen", entgegnete der junge Mann, "ich bin für Krawall zuständig. Und mein Kumpel hier brennt darauf, Hänsel ordentlich in den Arsch zu treten."

In dem Stoffbeutel begann etwas, ungeduldig zu zappeln. Der junge Mann beruhigte den Inhalt jedoch.

"Vielleicht hat er ja gar nichts mit Schneewittchen", hoffte Elias. "Vielleicht sind sie nur … nur Freunde. Wer sagt überhaupt, dass die zwei zusammen sind?"

"Na, ihre Stiefmutter. Die befragt andauernd den Spiegel … von wegen Schönste im ganzen Land und so … der Spiegel faselt halt, dass Schneewittchen mit ihrem neuen Freund im Knusperhaus gefangen gehalten wird und schwer schuften muss. Und dass sie dabei trotzdem noch schöner aussieht, als die Stiefmutter … blablabla. Der Spiegel soll behauptet haben, dass sogar der Prinz schöner aussieht als die Stiefmutter, aber das könnte auch bloß dummes Getratsche sein."

Elias blinzelte den jungen Mann vorwurfsvoll an. "Durch kombinieren, ja?"

"Okay", gab er zu, "der Spiegel war eine große Hilfe. Aber ich wäre auch von selbst drauf gekommen. Ist ja völlig wurscht. Hauptsache, wir wissen, was los ist. Und dass die Zeit drängt. Hänsel ist ein gewalttätiger Irrer mit abartigen Gelüsten, sexuell gesehen. Du willst doch sicher, dass dein Prinz unberührt in die Ehe geht, oder? Unberührt und halbwegs … äh … lebendig."

Elias schlug sich entsetzt die Hand vor den Mund. "Du meinst, Hänsel bringt Leute um?"

"Nee, eigentlich nicht, aber ich würd's ihm zutrauen. Normalerweise verkauft er die Jungs irgendwann, wenn er genug von ihnen hat."

"Mein armer Prinz", schluchzte Elias. "Wieso unternimmt denn niemand was gegen den Hänsel?"

"Tun wir ja jetzt."


In der Zwischenzeit hatten die sieben Zwerge bei der Märchenpolizei Anzeige gegen Unbekannt erstattet. Sie fanden, es könne doch wohl kaum angehen, dass irgendein wildfremder Prinz das Schneewittchen entführt, ihm womöglich solche Flausen wie Emanzipation in den Kopf setzt … da käme ja das ganze Märchen durcheinander. Die Polizei interessierte sich jedoch nicht für derlei private Eifersuchtsdramen. Erst als der Name Hänsel ins Spiel kam, wurden die Polizisten hellhörig. Denn den hätten sie schon lange hinter Schloss und Riegel bringen wollen, aber bisher konnte ihm nie etwas nachgewiesen werden.

Die Polizei versprach also, sich um den Fall zu kümmern. Es wurde augenblicklich eine Soko Schneewittchen gegründet, die wiederum ein bis an die Zähne bewaffnetes Sondereinsatzkommando zum Knusperhaus schickte.


Im Gebüsch lagen Elias und sein namenloser Helfer auf der Lauer. Vor ein paar Minuten war Schneewittchen von Hänsel ins Haus gezerrt worden, nachdem sie draußen die Treppe hatte fegen müssen. Vom Prinzen fehlte jede Spur.

"Sicher hat er ihn ins Verlies gesperrt", überlegte der Namenlose und hatte Mühe, den Inhalt seines Beutels zu bändigen. "Noch nicht", flüsterte er. Dann wandte er sich an Elias. "Okay, ich schlage vor, wir gehen einfach rein und holen die Gefangenen raus."

Elias zuckte die Schultern. Er hatte von solchen Aktionen keine Ahnung.

"Oder … am besten gehst du vor", erklärte der Namenlose, "machst auf harmlosen Jungen, der eine Kleinigkeit essen will, und sobald Hänsel rauskommt, treten wir", er deutete auf seinen Beutel, "auf den Plan und machen ihn fertig."

Der kleine Wassermann schlotterte vor Angst, aber immerhin handelte es sich hier um die Befreiung der Liebe seines Lebens, weswegen er sich zusammenriss und zum Haus hinüber stiefelte. Zitternd brach er eine Lakritzschnecke von der Wand.

"Knusperknusper … knäuschen", krächzte eine brüchige Stimme.

Ehe der kleine Wassermann bis drei zählen konnte, wurde er von zwei starken Armen gepackt und in den Schwitzkasten genommen.

"Knüppel, aus dem Sack!", brüllte jemand und Elias traute seinen Augen nicht.

Ein Holzknüppel sauste durch die Luft und schlug gegen Hänsels Kopf. Hänsel schrie, fluchte, ließ Elias los und versuchte, sich gegen den Knüppel zu wehren. Erfolglos. Der Folterknecht bekam den Knüppel nicht zu fassen, er wurde nach Strich und Faden von ihm verdroschen.

Durch den Tumult neugierig geworden, kamen Schneewittchen und die Hexe aus dem Haus gestürmt.

"Vetter", rief Schneewittchen fröhlich winkend.

"Meine Gebete wurden erhört", rief die Hexe zum Himmel hinauf.

"Knüppel, in den Sack!", kommandierte der Namenlose, als Hänsel wehrlos und blutüberströmt am Boden lag, worauf der Knüppel zurück in den Beutel hüpfte und sich zufrieden ausruhte.

Elias vernahm einen leisen Hilferuf. So schwach, dass ihm sein Herz brechen wollte. Er rannte ins Knusperhaus und da kauerte sein Prinz in einer dunklen Ecke, an die Wand gekettet. Er stürmte auf den Prinzen zu und nahm sein Gesicht vorsichtig in beide Hände.

"Geht's dir gut?"

"Nein", antwortete der Prinz. "Was ist da draußen los?"

"Hänsel kriegt die Hucke voll und ich bin hier, um dich zu befreien."

Der Prinz lächelte schlapp. "Na, dann mach."

Elias rüttelte an den Ketten und blickte sich um. Der Namenlose stand hinter ihm und streckte grinsend seinen Zeigefinger aus, an dem ein Schlüssel baumelte. "Versuch's damit."

Der Schlüssel passte, der Prinz war frei und rieb seine schmerzenden Handgelenke.

"Nichts wie raus hier", sagte er.

Draußen fielen sich Chrysanth und Schneewittchen erleichtert in die Arme. Der Prinz knutschte das überraschte Mädchen auf den Mund, sodass Elias sich angeekelt abwendete.

Dann rückte das SEK an. Der Einsatzleiter ließ sich vom Namenlosen die Ereignisse schildern, ein mitgebrachter Arzt checkte Hänsels Vitalwerte. Danach wurden ihm seine Rechte vorgelesen und zwei Beamte führten ihn in Handschellen ab.

Nachdem die Märchenpolizei den Tatort verlassen hatte, bot die Hexe großzügig ein paar Süßigkeiten von ihrem Haus an … als Proviant für die ehemaligen Geiseln. Sie fragte auch, ob Schneewittchen nicht bleiben wolle, um sich mit ihr gemeinsam um arme Waisenkinder zu kümmern, aber Schneewittchen lehnte ab. Sie fand es viel aufregender, mit dem Prinzen unterwegs zu sein.

"Ja, also … danke noch mal", bedankte sich Chrysanth beim Namenlosen und bei Elias. "Ich weiß zwar immer noch nicht, wer ihr seid und warum ihr uns gerettet habt, aber … na ja, danke."

"Lass uns endlich gehen", drängelte Schneewittchen.

Elias schaute den Prinzen an. Er hatte blaue Augen. Große, weit auseinander stehende, blaue Augen mit dichten dunklen Wimpern.

"Wenn ihr nichts weiter vorhabt, kommt doch mit."

"Ich muss in die andere Richtung", entgegnete der Namenlose. "Es gibt noch einige Bösewichte, die auf meiner Liste stehen."

"Oh, okay. Und was ist mit dir?"

Der kleine Wassermann scharrte verlegen mit seinem Fuß über den Boden. "Ich … ähem … wenn du möchtest …"

"Chrysanth!", fauchte Schneewittchen ungeduldig.

"Man sieht sich", lächelte der Prinz und empfahl sich.

"Willst du ihr so einfach das Feld überlassen?", fragte der Namenlose.

"Er hat mich nicht erkannt", murmelte Elias bedröppelt.

"Logisch nicht. Er war bewusstlos."

"Es ist ihm völlig egal, dass ich ihn schon zum zweiten Mal gerettet habe. Der hat bloß Augen für Schneewittchen."

"Dann sorg dafür, dass er dich bemerkt, anstatt hier rumzujaulen. Musst halt um deine Liebe kämpfen."

"Ja", strahlte Elias, "ich danke dir." Eilig lief er seinem Prinzen nach. "Wartet", rief er, "ich komme mit."


"Ich hatte eigentlich nicht geplant, in einer Gruppe loszuziehen", behauptete Schneewittchen angepisst.

"Drei Leute sind doch keine Gruppe", widersprach Chrysanth.

"Fallen aber mehr auf als zwei. Denk dran, dass die bekloppten Zwerge nach uns suchen."

"Nach dir", verbesserte Elias.

"Es hat dich niemand gebeten, mit uns zu gehen."

"Doch. Chrysanth."

Schneewittchen gab einen zischenden Laut von sich, sagte aber nichts mehr.

Die Nacht war hereingebrochen und sie hatten sich einen einigermaßen windgeschützten Platz zum schlafen gesucht. Elias zog fröstelnd die Schultern hoch.

"Dir ist kalt", stellte der Prinz fest. "Sollen wir ein Feuer machen?"

"Wunderbare Idee. Da entdecken uns die Zwerge bestimmt nicht", schnaufte Schneewittchen.

"Mir ist nicht kalt", sagte Elias scheu.

"Aber du zitterst."

Der kleine Wassermann fror nicht wegen der nächtlichen Kälte. Es war so, dass er sich nicht mehr geborgen fühlte, seit er an Land lebte. Das Wasser um ihn herum, die düstere, stille Wärme des Sees war wie eine schützende Umarmung gewesen. Hier oben war alles grell und laut und kühl.

"Mach bloß kein Feuer", warnte Schneewittchen und legte sich ins Gras. Kurze Zeit später schnarchte sie leise.

"Vielleicht", begann Chrysanth, "rücken wir einfach ein wenig zusammen."

Nein, schrie Elias in Gedanken. Die Schönheit des Prinzen betörte ihn schon genug. Wenn er noch näher bei ihm war, würde er sich möglicherweise aus versehen an ihn kuscheln. Das konnte er nicht riskieren.

"Geht schon", entgegnete er. "Und … läufst du auch vor jemandem weg? Wie deine … Freundin?"

"Nicht direkt. Ich komme aus dem Schlaraffenland."

Elias nickte. "Verstehe."

"Wirklich?"

"Na ja, ist bestimmt ziemlich langweilig, den ganzen Tag nur zu essen."

"Genau", strahlte der Prinz. "Ich bin weg, um Abenteuer zu erleben."

"Hattest du davon nicht genug im Knusperhaus?"

Das Gesicht des Prinzen verfinsterte sich. "Allerdings. Auf die Schläge und Erniedrigungen hätte ich echt verzichten können. Und was der Fiese sonst noch von mir verlangte … das ist mit Worten kaum auszudrücken."

Elias wollte seine Arme um den Prinzen schlingen und ihn niemals wieder loslassen.

"Hoffentlich sperren sie die alte Schwuchtel ein und werfen den Schlüssel weg."

"Schwuchtel?"

"Hänsel wollte mich zwingen, mit ihm … du weißt schon … das war so ekelhaft und natürlich habe ich mich geweigert. Allein die Vorstellung mit einem Kerl …", er schüttelte sich. "Entschuldige, wir reden die ganze Zeit über mich. Was ist denn mit dir?"

"Ich … äh … ich suche jemanden."

Der Prinz hob interessiert eine Braue. "Wen denn?"

"Das darf ich nicht sagen", phantasierte sich Elias zusammen.

"Aha. Wie geheimnisvoll. Und seltsam. Ich suche nämlich auch jemanden … glaube ich. Das heißt, eigentlich habe ich sie bereits gefunden, nur gibt sie sich aus irgendwelchen Gründen nicht zu erkennen."

"Sie?", japste Elias entsetzt.

"Es war so", plauderte der Prinz vertraulich, "dass ich, Tölpel, nach meiner Flucht erstmal in einen See gefallen bin. Ich wäre fast ertrunken, aber zum Glück zog mich jemand aus dem Wasser. Leider war ich dermaßen benommen, dass ich ihr Gesicht nicht richtig gesehen habe und auch der Kuss ist mehr eine Art Traum … ein Gefühl … jedenfalls denke ich, dass es Schneewittchen war."

Dem kleinen Wassermann wurde speiübel. "Wieso ausgerechnet sie?"

"Na, überleg doch mal … normalerweise wird ein ins Wasser gefallener Prinz von einer kleinen Meerjungfrau gerettet, die dann später auftaucht, um auf schmerzhafte Weise zu erfahren, dass der Prinz sie weder erkennt, noch liebt. Bisher ist jedoch keine aufgetaucht. Nur Schneewittchen. Also muss sie es gewesen sein. Sicher erwartet sie von mir, dass ich ihr zuerst meine Liebe gestehe. Scheint so was wie eine Märchenregel zu sein. Ehrlich gesagt weiß ich nicht besonders viel über die Liebe und … na ja, ich möchte nichts verkehrt machen."

Elias war innerlich zerschmettert und sehr froh, dass es dunkel war, so konnte der Prinz die Tränen nicht sehen, die ihm übers Gesicht liefen.

"Warum gestehst du ihr deine Liebe denn nicht einfach?", fragte er zittrig.

"Das könnte ich schon tun … aber was, wenn sie doch die Falsche ist? Ich werde wohl noch ein Weilchen abwarten, bevor ich ihr einen Antrag mache."

Wenn ich sie nicht vorher gekillt habe, dachte der kleine Wassermann böse, erschrak jedoch sogleich gewaltig. Natürlich würde er Schneewittchen kein Leid zufügen. Sie sollte nur verschwinden.

Als auch der Prinz im Reich der Träume war, schlich sich Elias ein paar Schritte fort und konzentrierte sich auf einen Namen. Isabelle. Isabelle. Isa… Ein Glöckchen klingelte, es wurde hell, die Fee schwebte lautlos zu Boden.

"Ich bin untröstlich, kleiner verliebter Wassermann, ich kann dir deinen Wunsch nicht erfüllen."

Elias ließ den Kopf hängen. "Tolle Fee", murmelte er bitter.

"Danke, für das Kompliment", lächelte sie geschmeichelt.

"Das war ironisch."

Sie zuckte die Schultern und pustete Elias eine handvoll Goldstaub ins Gesicht, der seine Nase kitzelte, sodass er zu niesen begann.

"Verflixt noch eins", sagte er.

"Du bist viel süßer als das olle Schneewittchen", verriet ihm die Fee, "das sagt sogar der berühmte Zauberspiegel und der versteht was davon, kann ich dir sagen. Ernsthaft, du solltest mal hören, wie er der Stiefmutter täglich von dir vorschwärmt. Und wenn ich ein Prinz wäre, würde ich mich auf der Stelle in dich verlieben und mit dir durchbrennen."

Der kleine Wassermann giggelte verschämt und wurde fast so rot wie seine Zipfelmütze.

"Na also", lobte die Fee. "Und jetzt ein paar wichtige Tipps in Sachen Flirten. Pass auf …"


Schneewittchen hatte beschlossen, ihre Cousine Cinderella zu besuchen.

"Seit ihrer Hochzeit hab ich sie nicht mehr gesehen", erklärte sie und gefiel sich offenbar in der Rolle einer Anführerin, die alles bestimmte.

Der Prinz hatte nichts dagegen einzuwenden, endlich mal in einem richtigen Bett zu schlafen und Elias war einfach nur glücklich, dass er in Chrysanths Nähe sein konnte. Er wäre ihm auch in die Hölle gefolgt.

Chrysanth mochte den grünhaarigen Jungen recht gerne, obgleich er ihn für einen komischen Kauz hielt. Er verstand eigentlich nicht, was Schneewittchen an ihm auszusetzen hatte. Nicht, dass sie Elias öffentlich anfeindete, nein, sie ignorierte ihn komplett. Manchmal beschlich den Prinzen das Gefühl, Elias von irgendwoher zu kennen. Die Art wie er die Nase kraus machte, wenn er grinste, erinnerte ihn an … er kam nicht drauf. Er fragte Elias nicht nach seinen Schwimmhäuten, anscheinend waren sie dem Jungen unangenehm, denn er versuchte andauernd, sie zu verstecken. Chrysanth ertappte sich dabei, das niedlich zu finden, was ihn ein bisschen erschreckte. Er überlegte, dass Elias ein Wassermann sein musste. Und wenn er auf der Suche nach jemandem war, hatte er vielleicht ein Mädchen, eine Prinzessin gar, aus seinem See gefischt und sich unsterblich verliebt. Möglicherweise war er deshalb oft so traurig.

Schneewittchen war alles andere als traurig. Sie scherzte und alberte mit Chrysanth herum, küsste ihn ab und zu, wollte sich allerdings ums Verrecken nicht als seine Retterin zu erkennen geben. Der Prinz war total verunsichert und nahm sich vor, bald mit ihr zu reden.

Gegen Abend erreichten sie Cinderellas Schloss, das zwei Türme hatte und dessen weiße Mauern in der untergehenden Sonne rosa glänzten. Die jetzige Königin freute sich wie hulle über den Besuch ihrer Lieblingscousine. Auch Chrysanth und Elias waren willkommen und wurden herzlich begrüßt. Die drei bekamen die schönsten, kuscheligsten Gästezimmer im Schloss. Besonders für Elias interessierte sich Cinderella, denn er hatte ihr von ihrer Ex-Fee erzählt.

"Meine liebe, süße Isabelle … sie fehlt mir ja so", seufzte sie. "Ich hab manchmal ein ganz furchtbar schlechtes Gewissen, weil ich ihre Dienste nicht mehr brauche. Sie scheint mir noch nicht verziehen zu haben, denn wenn ich sie in Gedanken rufe, kommt sie nie. Dabei würde ich sie gerne mal zu einem Tässchen Tee einladen."

"Ich werde es ihr ausrichten, wenn ich sie sehe", versprach Elias.

"Oh, tu das", nickte Cinderella überschwänglich.

Nach einem ausgedehnten Mahl wünschten der Prinz und der kleine Wassermann eine gute Nacht, während Schneewittchen noch mit ihrer Cousine zusammen hockte.

Chrysanth stand allein in seinem Zimmer am Fenster und bestaunte die silbrig glitzernde Mondsichel und unzählige Sterne, die um die Wette funkelten. Seufzend dachte er darüber nach, was sich auf seiner Reise bisher zugetragen hatte und ob er Schneewittchen wirklich liebte. Da klopfte es plötzlich zaghaft an die Tür.

"Herein", rief er.

Der kleine Wassermann trat ins Zimmer.

"Ja?", fragte der Prinz überrascht.

"Ich konnte nicht schlafen", erklärte Elias schüchtern.

"Ja", sagte Chrysanth und bot dem Jungen an, Platz zu nehmen.

Elias kuschelte sich in eine flauschige Decke, machte es sich auf dem rosa Himmelbett bequem und schaute den Prinzen an.

"Wirst du Schneewittchen heiraten?"

Chrysanth hatte keine Ahnung. Er setzte sich neben Elias und nahm schulterzuckend aus der Konfektschale auf dem Nachttisch eine kleine Süßigkeit. Elias streckte seine Hand aus, zog sie allerdings schnell wieder zurück.

"Du musst sie nicht verstecken, weißt du?"

"Was?"

Der Prinz nahm eine Wassermannhand in seine Menschenhand. "Die hier." Fast zärtlich strich er mit dem Daumen über die Schwimmhäute. Für einen Moment sahen sie sich tief in die Augen. Elias' waren grün. Und während der Prinz in diesem Grün gefangen war, fiel ihm der Kuss ein. Er spürte ihn auf seinen Lippen. Hastig ließ er Elias' Hand los.

"Du findest sie eklig", murmelte der Junge unglücklich.

"Nein", widersprach der Prinz, "es ist nur …", er schüttelte den Kopf.

"Hässlich."

"Wie kommst du darauf?"

"Findest du sie denn schön?"

"Na ja, für Wassermänner sind sie bestimmt praktisch, oder?"

"Ja, aber jetzt habe ich keine Verwendung mehr dafür."

"Sie machen dich besonders."

"Können wir bitte über etwas anderes reden, als über meine Schwimmhäute", grinste Elias schief und kräuselte dabei seine Nase.

Niedlich, dachte Chrysanth und bekam heftiges Bauchkribbeln, was ihm nicht geheuer war.

"Schneewittchen …", brabbelte er überfordert.

"Über die will ich ganz gewiss nicht reden."

Der arme Prinz hatte gegen den Drang anzukämpfen, die Lippen des kleinen Wassermanns mit seinen zu berühren.

"Dann sollten wir schlafen … ich bin müde … also geh in dein Zimmer."

"Angenehme Träume", wünschte Elias und ging.

Chrysanth schmiegte die Decke um seinen Körper. Sie roch nach Elias.


Als der kleine Wassermann am nächsten Morgen vorm Frühstück in den Schlossgarten spazierte, traf ihn fast der Schlag. Schneewittchen saß singend auf einem der weiß-gold lackierten Gartenstühlchen. Um sie herum eine Schar von Vögeln und wenn sie die Finger ausstreckte, flatterten die verdammten Viecher darauf und zwitscherten vergnügt. Aber das war nicht der eigentliche Grund für Elias' miese Laune. Chrysanth glotzte sich sabbernd das liebliche Spektakel an. Geradezu hingerissen wirkte er.

Wie soll ich da mithalten, fragte sich Elias böse, wenn die solche Geschütze auffährt?!

"Alles nur Show", vernahm er Isabelles Stimme in seinem Kopf, "Märchenvögel sind auf so was dressiert."

"Das hilft mir nicht", zischelte Elias.

"Kein Problem, ich kenne zwei, die helfen können. Momentchen", antwortete die Fee.

Keine fünf Minuten später zuckte ein Blitz am Himmel, gefolgt von einem lauten Donnern. Die Vögel suchten panikartig das Weite. Schneewittchen rannte ins Schloss. Chrysanth duckte sich abwartend.

"Komisch", sagte er, als er Elias bemerkte, "es sieht gar nicht nach Regen aus."

Ich dank dir, dachte der kleine Wassermann.

"Gern geschehen", kicherte die Fee in seinem Kopf. "Die beiden Süßen schuldeten mir noch einen Gefallen. Hab sie zwar ziemlich gestört bei … ähem … privaten Aktivitäten, aber für einen der ihrigen …"

Einen der ihrigen?

"Na ja, schwul halt."

Blitz und Donner sind … wie soll das denn funktionieren?

"Die zwei können menschliche Gestalt annehmen … hat was mit Zauberei zu tun, eigentlich streng geheim, das Ganze, also … von mir weißt du's nicht, kapito?"

Elias nickte irritiert. Dann richtete er der Fee Cinderellas Gruß, sowie die Einladung zum Tee aus. Isabelle gab keine Antwort mehr.

"Im Schlaraffenland passieren solche seltsamen Dinge jedenfalls nicht", wunderte sich der Prinz immer noch und blickte nach oben.

"Gebratenes Essen, das durch die Luft fliegt, halte ich für sehr seltsam."

"Stimmt", gab der Prinz zu, "wenn man es nicht gewohnt ist."

"Willst du irgendwann wieder zurück? Ich meine, du wirst doch sicher eines Tages König sein."

"Mein Vater hat sich bereits einen beachtlichen Bauch angefressen. Eigentlich haben alle im Schlaraffenland kugelrunde Bäuche … aber gesundheitliche Probleme … Pustekuchen. Ich glaube, Papa wird ewig leben, was ich ihm durchaus gönne. Er ist ein guter König."

"Wieso ist dein Bauch nicht kugelrund?", wollte Elias wissen.

"Disziplinierte Diäterei."

"Würde mich nicht stören, wenn dein Bauch dicker wäre."

Chrysanth lachte übertrieben. "Wir würden ein feines Paar abgeben … der kleine Wassermann und sein dicker Schlaraffenprinz."

"Ja, warum nicht?", entgegnete Elias ernst.

Der Prinz blinzelte ihn an. "Bist du etwa … auch so komisch gepolt wie Hänsel?"

"Ich weiß zwar nicht genau, wie Hänsel gepolt ist, aber ich würde niemanden zwingen, mich zu lieben oder Dinge mit mir zu tun … falls du das meintest."

"Entschuldige", entschuldigte sich der Prinz zerknirscht. "Hab das im Knusperhaus wohl noch nicht so verarbeitet."

Elias nahm seinen ganzen Mut zusammen. "Denkst du, es ist falsch, wenn sich ein Junge in einen anderen Jungen verliebt?"

Chrysanths Veilchenaugen wurden riesengroß. "Denkst du, dass das geht?"

"Ich bin mir sicher."

"Und … kennst du welche, die ineinander verliebt sind?"

"Nicht persönlich, aber …"

"Aha", triumphierte der Prinz, "dann kannst du das auch nicht mit Gewissheit behaupten."

"Doch, kann ich", seufzte Elias. "Ich bin in einen verliebt."

Jetzt war es raus!

Chrysanth schlug die Hand vor den Mund. "In wen?"

"In dich, du Trottel", wimmerte Elias, mit den Nerven völlig am Ende.

"Oh … Ojemine!", brachte Chrysanth hervor, sprang auf und lief davon, als sei der Teufel hinter ihm.

"Was für ein elender Waschlappen", schimpfte Isabelle im Kopf des kleinen Wassermanns.

Ich hab's vermasselt, dachte Elias resigniert. Ich hätte ihm das schonender beibringen müssen. Einfühlsamer.

"Pah, einfühlsam … drauf gekackt", schnaubte Isabelle nicht sehr feenhaft. "Ein Feigling ist er, nichts weiter. Mensch, er liebt dich doch auch. Er traut sich bloß nicht."

Woher willst du das wissen?

"Ich kann nicht nur deine Gedanken lesen, kleiner Wassermann."

Und was, bitteschön, denkt er?

"Er findet dich niedlich."

Wirklich? Elias' Herz machte einen verhaltenen Hüpfer.

"Außerdem hat der die halbe Nacht über verträumt mit jener Decke geschmust, in die du dich gestern eingewickelt hattest. Heftiges Schnüffeln daran inklusive."

Ohhhhhhh…!

"Logisch, dass er viel lieber mit dir geschmust und an deiner Haut geschnüffelt hätte."

Dieser Satz zauberte einen rötlichen Schimmer auf seine Wangen.

Klingelnd nahm Isabelle Gestalt an. "So, ich werde jetzt mit Cinderella Tee trinken", erklärte sie und schüttelte ihre Flügel, "und Schneewittchen zwei, drei Stunden in eine nette Plauderei verwickeln. Carpe Diem … oder so ähnlich."


Und was geschah bei den Zwergen? Sie bekamen Besuch. Und zwar von Schneewittchens Stiefmutter.

"Okay, Jungs", begann sie, "vergessen wir für eine Weile, dass ihr Zwerge das Letzte seid und ich mich normalerweise mit euch nicht abgeben würde … die Lage ist ernst."

"Das wissen wir selber", entgegnete einer der Zwerge.

"Einen Scheiß wisst ihr", fauchte die böse Königin. "Mir ist es piepegal, ob Schneewittchen hier ist oder sonst wo, Hauptsache, ich bin die Schönste im Land. Als der Zauberspiegel berichtete, dass der Blödmann von Schlaraffenprinz ein Auge auf die kleine Schlampe geworfen hat, dachte ich, ich müsste bloß abwarten."

Die Zwerge waren von Natur aus eher einfacher im Kopf. Sie schauten dumm und verständnislos aus der Wäsche.

"Herrgottnochmal", zischte die Königin, "was passiert, wenn ein angeblich hübsches Mädchen einen Kerl findet? Es heiratet den Kerl, wird fett und hässlich während der Schwangerschaften, kriegt das Gewicht nicht mehr runter und verlottert, weil die Aufzucht der Brut ein Full-Time-Job ist. Da bleibt keine Zeit für Beautyprogramme. Leider hatte der Spiegel gestern schlimme Neuigkeiten. Wie's aussieht hängt in der Affäre noch ein kleiner Wassermann mit drin, der dem Prinzendöskopp gehörig den Kopf verdreht."

"Scheiß Homos", behauptete ein Zwerg angewidert.

"Genau", freute sich die Königin. "Der Wassermann macht alles kaputt, wenn er den Prinzen rumkriegt, weil Schneewittchen dann nicht geheiratet wird und hübsch bleibt. Wobei hübsch natürlich relativ ist. Also was schlagt ihr vor, sollen wir tun?"

"Erstmal klären, was für uns raus springt", meldete sich der Älteste zu Wort. "Unsere Meinungen über Schneewittchens Hochzeit scheinen mir eher gegensätzlich. Wenn sie heiratet, bekommen wir sie doch niemals zurück."

Die Königin verzog das Gesicht. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass einer der Zwerge genug Verstand besaß, um die Sache hier zu überblicken.

"Muss es unbedingt die hässliche Kröte sein? Ihr könntet ein anderes, viel fleißigeres Dienstmädchen von mir kriegen … wenn ihr mir helft, diesen schwimmhäutigen, perversen kleinen Arschficker auszuschalten", vergaß sie nun jegliche Etikette.

Die Zwerge stellten sich dicht zusammen und munkelten.

"Geht klar", nickte der Älteste.

"Supi", freute sich die Königin, "dann hecken wir jetzt einen todsicheren Plan aus."


Chrysanth konnte kaum glauben, was ihm Elias soeben gestanden hatte. Sein gesamter Körper war in Aufruhr. Er zitterte, schwindelte, fror, schwitzte, Schauer jagten durch ihn hindurch. Nicht ohne Grund. Der Prinz fühlte sich zu dem Jungen hingezogen und musste langsam einsehen, dass dieses Gefühl nicht bloß ein freundschaftliches war. Schneewittchen, ja, seine Gefühle für die Schönheit waren eindeutig. Er liebte sie … wie eine man eine Schwester, Cousine, Freundin liebt. Ihre Küsse erweckten keine Schmetterlinge in seinem Magen zum Leben, auch wenn er es sich noch so sehr wünschte. Elias hingegen … aber das durfte nicht sein. Das war ganz und gar ausgeschlossen. Das hatte es im Märchenreich noch nie gegeben.

Seine Eltern würden ihn verstoßen. Das Weglaufen würden sie ihm sicherlich nachsehen. Der Schlaraffenkönig war immerhin in frühen Jahren selbst aufsässig und abenteuerlustig gewesen. Aber wenn Chrysanth nun mit einem grünhaarigen Bräutigam heimkäme, anstatt mit einer schönen Prinzessin als Braut. Fortjagen würden sie ihn mitsamt seinem Gemahl.

Und wie sollte er wohl an solchen Dingen Vergnügen finden, die Hänsel sich gewaltsam von ihm hatte nehmen wollen? Mal angenommen, er würde den kleinen Wassermann auch ohne den Segen seiner Eltern heiraten, dann würde er das Bett mit ihm teilen müssen. Schaudernd dachte der Prinz an die widerlichen Berührungen Hänsels.


Irgendwo im Nirgendwo.

"Der Junge denkt in eine total falsche Richtung", erklärte Donner und starrte auf Chrysanths Bild in der Kristallkugel.

Blitz verteilte kleine Küsse auf Donners nackter Brust. "Vielleicht sollte ihm mal jemand sagen, dass schwuler Sex Spaß macht."

"He …", Donner stupste ihn vorwurfsvoll an, "bleib mal bitte bei der Sache, ja?"

"Ich bin total bei der Sache", grinste Blitz und ließ seine Hand unter der Bettdecke verschwinden.

"Nicht bei dieser Sache, sondern bei der hier." Donner schwenkte die Kristallkugel.

"Nicht so doll, sonst wird ihm schwindlig", giggelte Blitz.

"Doofmann."

"Also wenn du mich fragst …"

"Ich frag dich nicht", unterbrach ihn Donner.

"… sollten wir den Jungen in die Geheimnisse der körperlichen Liebe einweisen", fuhr Blitz unbeirrt fort.

"Ich weise dich gleich ein."

"Mmhhh … versprochen?"

"Du willst doch nur einen Gratis-Fick mit dem schönen Prinzen. Kannst du vergessen, weil du mir nämlich ewige Treue geschworen hast. Schon vergessen?"

"Mitnichten. Aber weder der Prinz noch der kleine Wassermann hat eine Ahnung vom Dingsen und Bumsen. Und wie du eben bemerktest, denkt Chrysanth in eine falsche Richtung, weshalb wir ihm sagen sollten, dass schwuler Sex Spaß macht. Sagen, nicht zeigen."

"Ach du Scheiße!"

"Was?"

Donner hatte sich ruckartig aufgesetzt und stierte ungläubig in die Kristallkugel. "Er ist getürmt. Der alte Motherfucker ist getürmt!"

"Contenance, mein Liebling", mahnte Blitz. "Wer ist getürmt?"

"Hänsel."


Die böse Königin hatte mit den Zwergen einen perfiden Plan geschmiedet und sogleich in die Tat umgesetzt. Als erstes hatte sie sich mit Hilfe eines Zaubertranks in Gretel verwandelt, danach war sie zum Märchengefängnis gegangen, wo Hänsel in Untersuchungshaft saß. Sie hatte die Polizisten abgelenkt, indem sie einen Anfall vortäuschte, und während sich nun alle um die scheinohnmächtige falsche Gretel kümmerten, hatten die Zwerge ratzfatz einen Fluchttunnel gegraben und Hänsel war entkommen. Wieder in Freiheit schwor er natürlich bittere Rache. Die Königin machte ihm klar, dass er seine Rache nicht an den Prinzen verschwenden durfte. Schließlich war es der kleine Wassermann, der an allem Schuld war. Er hatte Chrysanth befreit und dafür gesorgt, dass Hänsel hinter Gitter kam. Sie erklärte ihm auch, sie würde höchstpersönlich dafür sorgen, dass er zurück in den Knast wanderte, wenn er dem Prinzen ein Haar krümmen würde. Hänsel hatte großen Respekt vor der bösen Königin und willigte ein, den kleinen Wassermann aus dem Weg zu räumen. Die Zwerge hatten ihren Teil der Abmachung erfüllt, bekamen ihr neues Dienstmädchen, das sie nach Lust und Laune herumscheuchen konnten, und waren zufrieden.

"Warum kann ich Schneewittchen nicht einfach zu Tode foltern?", fragte Hänsel. "Dann seid Ihr doch gewiss die Schönste im ganzen Land. Ich könnte den Wassermann killen und den Prinzen verkaufen."

"Nein", sagte die Königin. "Ich will dass die Schlampe alt und hässlich wird und viele, viele Jahre mit ihrem Anblick leben muss."

"Wieso zaubert Ihr sie nicht alt und hässlich?"

"Glaubst du, das hätte ich nicht schon versucht, Einfaltspinsel?", herrschte sie. "Das Miststück ist immun gegen meine Alt-und-Hässlich-Zaubersprüche. Also pass auf, der Prinz muss die Schlampe heiraten, dann schändest und killst du den Wassermann. Der Prinz wird daraufhin untröstlich sein. Seine Trauer wird in Wut, Hass und Verachtung für seine Frau umschlagen. Schneewittchens Ehe wird die Hölle auf Erden sein. So fürchterlich, dass sie ihren Kummer mit Alkohol und Drogen betäubt. In spätestens einem Jahr ist aus ihr ein aufgedunsenes Wrack geworden. Und wenn sie merkt, dass ihre Schönheit dahin ist, wird sie sich noch schrecklicher fühlen." Die Königin klatschte begeistert über sich selbst in die Hände.

"Ihr seid wirklich genial, Majestät", schleimte Hänsel, dem Schneewittchens Schicksal am Allerwertesten vorbei ging. Er malte sich bereits aus, wie er es mit dem kleinen Wassermann treiben konnte, bevor er ihn um die Ecke brachte. Und den verdammten Prinzen würde er sich zu gegebener Zeit auch noch holen. Egal, was die Königin sagte.

Schneewittchen Stiefmutter verabschiedete sich für eine Weile in ihre Hexenküche, wo sie einen Kessel mit dubioser Flüssigkeit aufs Feuer setzte. Als es anfing, im Topf zu blubbern, gab sie verschiedene Zutaten hinein. Ein bisschen Lurchblut, etwas Krötenschleim, den gemahlenen Fersensporn eines exotischen Tieres, ein wenig Belladonna, Vanille und Zimt für den Geschmack. Das alles ließ sie nochmals aufkochen, fünf Minuten ziehen, trank eine gute Tasse voll, wartete zehn Minuten, sah in den Spiegel und erblickte das Gesicht des kleinen Wassermanns.

"Perfekt", lobte sie und strubbelte ihren grünen Schopf.


Chrysanth haderte noch immer mit seinen Gefühlen. Zudem beschlich ihn ein Verdacht. Hatte ihn am Ende gar nicht Schneewittchen aus dem Wasser gerettet? Gab sie sich deshalb nicht zu erkennen, weil sie von der ganzen Sache nichts wusste? Konnte er sich deswegen nicht gescheit in sie verlieben? Er brauchte Klarheit und günstigerweise kam in diesem Moment der kleine Wassermann ins Zimmer.

"Entschuldige", sagte er leise, "ich hab dich nicht so überrumpeln wollen."

Chrysanth sah Elias an und versuchte, sich zu erinnern.

"Ich frage mich …"

"Ja?"

"Also ich frage mich, ob es dir wohl etwas ausmachen würde … mich zu küssen?"

Elias runzelte die Stirn.

"Bitte, es muss sein", erklärte der Prinz.

Der kleine Wassermann stellte sich dicht vor Chrysanth, schloss die Augen und küsste den Prinzen sachte auf den Mund. Und da wusste er es mit einemmal. Die weichen Lippen, das freche Grinsen … es war, als hätte jemand einen Schleier von seinen Erinnerungen genommen.

"Du …"

Elias nickte.

"Aber warum?"

"Hätte ich dich ertrinken lassen sollen?"

"Das nicht", entgegnete Chrysanth, "aber wieso hast du mich geküsst?"

"Ich weiß es nicht."

"Wie soll es denn jetzt weitergehen?", jammerte der Prinz. "Wir können doch nicht … ich muss Schneewittchen heiraten und du … du musst dir ein Wassermannmädchen suchen."

"Warum können wir nicht verliebt sein?", fragte der kleine Wassermann.

"Weil …weil …", Chrysanth rang nach Worten, "es etwas Derartiges im Märchenreich nicht gibt."

"Doch, ich sagte es dir bereits."

"Wir würden wie Ausgestoßene leben. Niemand würde sich noch mit uns abgeben."

"Das kannst du nicht wissen. Vielleicht würden sich die Leute nicht daran stören, weil sie selber genug Probleme haben", gab Elias zu bedenken.

"Aber wir müssten … ich bin mir nicht sicher, ob ich das kann, nachdem Hänsel ...."

Elias legte seine Hand an die heiße Wange des Prinzen. "Und wenn ich dir Zeit gebe und warte, bis du es kannst?"

"Ja?", lächelte Chrysanth verhalten.

"Ja", sagte der kleine Wassermann und hauchte einen zärtlichen Kuss auf seine Stirn.

"Ich möchte über all das nachdenken. Lässt du mich eine Weile allein?"

Der kleine Wassermann verließ das Zimmer.


Irgendwo im Nirgendwo.

"Hey, die beiden sind wirklich gut."

Blitz schaute über Donners Schulter in die Kristallkugel. "Ich habe nichts anderes erwartet", behauptete er und küsste den weichen Nacken seines Liebsten.

"Oh, oh … das Böse ist im Anmarsch. Zieh dich an, es gibt Arbeit", kommandierte Donner.


Der Prinz war etwas überrascht, als Elias nach einer Weile schon wieder kam.

"Was … äh … was möchtest du?", fragte er.

Der kleine Wassermann lächelte lasziv. "Na, was werde ich wohl möchten?"

Chrysanth zuckte die Schultern. Irgendwie erschien ihm Elias' Verhalten seltsam.

"Dich, Blödian. Und zwar jetzt."

"Nein!", rief der Prinz schrill. "Ich meine, du hast eben doch gesagt, du würdest mir Zeit geben."

"Was interessiert mich mein Geschwätz von eben? Ich werde dich nehmen … mit deinem Einverständnis oder ohne."

"Hast du vielleicht Fliegenpilze genascht?"

"Schluss mit dem Unsinn. Zieh dich aus, sonst reiße ich dir die Klamotten runter", bölkte der kleine Wassermann und ging auf den Prinzen los. Er schubste ihn rabiat aufs Bett, zerrte an seiner Kleidung.

"Hilfe!", flüsterte Chrysanth. "Bitte, Elias … tu das nicht."

"Dein Betteln erregt mich nur noch mehr."

"Du hast den Verstand verloren."

"Halt's Maul!"

Der Prinz war total verängstigt. Er musste schnell handeln, sonst würde Elias … verzweifelt versuchte er sich zu wehren, ruderte mit den Armen und bekam den Kerzenleuchter zu fassen, der auf dem Nachttisch stand. Ohne zu überlegen schlug er damit zu. Elias sackte auf ihm zusammen. Angewidert schob Chrysanth den reglosen Körper von sich und floh.

Als die böse Königin in der Gestalt des kleinen Wassermanns aus ihrer Bewusstlosigkeit erwachte, fluchte sie zuerst wie ein gewöhnlicher Bierkutscher über die Beule an ihrem Kopf.

Dann aber lachte sie zufrieden.

"Jetzt wird der Tölpel aus Enttäuschung die kleine Schlampe heiraten. Und wenn er seinen Irrtum bemerkt, ist es längst zu spät."

Mit der Handschrift des Prinzen schrieb sie eine kurze Nachricht, adressierte diese an den kleinen Wassermann, spazierte unbehelligt aus dem Schloss und konnte getrost auf Hänsels Rückkehr warten.


Elias war untröstlich, als er von Cinderella erfuhr, dass Chrysanth noch in der Nacht das Schloss überstürzt verlassen hatte. Zusammen mit Schneewittchen.

"Er war ein Nervenbündel und sah aus, als hätte er dem Leibhaftigen ins Antlitz geblickt. Was kann den nur geschehen sein?", fragte Cinderella.

Er liebt mich nicht, dachte Elias traurig, er liebt sie. Zutiefst bedröppelt schlich er in sein Zimmer, um seine Sachen zusammenzuklauben. Auf dem Nachttisch fand er einen Zettel, der besagte, dass Chrysanth zu später Stunde an einer bestimmten Stelle im Wald auf ihn warten würde. Elias sollte niemandem etwas davon sagen, denn der Prinz wollte mit ihm durchbrennen. Elias' Magen begann, aufgeregt zu kribbeln und als der Mond silbern glänzend am Himmel stand, machte er sich auf den Weg.

Der Prinz hatte sich einen äußerst entlegenen Treffpunkt ausgesucht. Nur selten blitzte Mondlicht durch die Baumwipfel. Elias setzte langsam und vorsichtig einen Fuß vor den anderen, damit er ja nicht stolperte. Hier und da knackte es hinter ihm, raschelte es oder ein Käuzchen schrie. Als er den Platz erreicht hatte, hielt Elias kurz inne.

"Chrysanth", rief er leise, "bist du da?"

"Ja", war die knappe Antwort.

"Wo? Ich kann dich nicht sehen."

Elias nahm eine Gestalt wahr, die aus dem Tannengewirr trat. Ein plötzlicher Wind schüttelte die Bäume und das fahle Licht des Mondes erhellte ein Gesicht. Der kleine Wassermann wich zurück.

"Du …", japste er.

"Überraschung", behauptete Hänsel unheimlich.

Voller Entsetzen musste Elias erkennen, dass er in eine Falle gelockt worden war. Aber wieso? Wer hatte ihm die Nachricht geschrieben? Und was hatte der böse Folterknecht mit ihm vor? Letzteres spielte keine Rolle, denn Elias war ohnehin alles einerlei, wenn Chrysanth ihn nicht liebte.

Hänsel packte Elias beim Schlafittchen und rüttelte ihn ordentlich. Die rote Zipfelmütze fiel dabei zu Boden. Dann presste Hänsel ihn gegen einen Baum, zog ein Messer aus der Hosentasche und fuhr mit der Klingenspitze an der Kehle des kleinen Wassermanns entlang.

Elias tat keinen Mucks. Er hoffte nur, es würde bald vorbei sein. Das Messer trennte ratschend die Knöpfe von der Jacke. Scharf und kalt spürte Elias die Spitze an seiner nackten Brust. Er schloss die Augen. Allerdings riss er sie wieder auf, als Hänsel ihm ins Gesicht schlug.

"Du wirst mich verdammt noch mal ansehen, hast du verstanden?", bölkte Hänsel.

Die Heftigkeit des Schlags dröhnte in Elias' Kopf und vermischte sich mit dem Donner, der von irgendwoher kam. Gleich darauf tönte wie aus dem Nichts eine Stimme durch die Dunkelheit.

"Lass ihn los, du Motherfucker!"

Irritiert lockerte Hänsel seinen Griff und drehte sich um. Elias konnte sehen, dass da ein Junge stand. Ein schmächtiger, dunkelhaariger Junge, der nicht viel älter sein mochte als Elias selbst.

"Scher dich weg, Kleiner, du hast hiermit nichts zu schaffen", zischte der gemeine Folterknecht. "Oder …", er musterte den Jungen gierig, "bleib, dann kommst da nachher auch noch dran."

"Ich schlottere vor Angst", zwinkerte der Junge belustigt. "Übrigens, hatte ich dich nicht gerade gebeten, ihn loszulassen?"

Jetzt wurde Hänsel richtig wild. "Na, dann bist du eben der Erste." Er schubste den kleinen Wassermann zur Seite und stürzte sich auf den Jungen, sodass beide zu Boden gingen. Hänsel legte seine riesigen Pranken um den zarten Hals des Jungen und drückte erbarmungslos zu. Da zuckte auf einmal ein Blitz vom Himmel.

"Elias … nimm den Pfeil", röchelte der Gewürgte. "Nimm … den … Pfeil!"

Vor dem kleinen Wassermann steckte ein goldener Pfeil in der Erde. Bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte, hielt er den Pfeil auch schon in der Hand. Der Junge strampelte mit den Beinen, trat um sich, erwischte bei Hänsel eine empfindliche Stelle, worauf der wie ein Schwein quiekte und sich von seinem Opfer herunter rollte.

"JETZT!", schrie der Junge.

Elias stieß den Pfeil in Hänsels Brust. Kaum hatte er das Herz des Bösen durchbohrt, glühte der Pfeil auf, blitzte grell und schleuderte Elias einige Meter weit.

Hänsel tat seinen letzten Atemzug. Blut sickerte aus seiner Wunde in den Waldboden. Blitz lag regungslos auf dem Rücken.

"Oh nein …", wimmerte Donner, kroch zu seinem Liebsten und nahm ihn in die Arme. "Oh nein … bitte nicht …"

Der kleine Wassermann hatte sich inzwischen aufgerappelt und wankte zu den beiden herüber. Der Junge mit dem schwarzen Strubbelschopf strich sanft über die Wange des bewusstlosen Jungen, dessen Haare so silbrig hell wie das Mondlicht waren.

"Wach auf, Schatz … bitte, lass mich nicht allein."

Isabelle, dachte Elias voller Panik, Isabelle. Isabelle.

"Ich bin hier", wisperte die Fee mit hängenden Flügeln.

"Kannst du ihm helfen?", fragte Donner.

Sie legte ihre Hand an die Stirn des Jungen. "So viel Böses … zu viel für mich."

"Nein", schrie Elias erstickt, während Donner leise weinte.

"Du musst ihn nach Hause bringen", erklärte Isabelle. "Vielleicht kann euer Chef noch etwas für ihn tun. Er kennt sicher einen Zauber … er muss einen kennen." Sie hob ihren Zauberstab, Donner nickte kurz und dann waren beide Jungen fort.

Der kleine Wassermann und Isabelle kehrten ins Schloss zurück, wo Cinderella ihnen höchstpersönlich heiße Schokolade zur Stärkung servierte.

"Es ist meine Schuld", murmelte Elias.

"Aber nicht doch", entgegnete die Fee und wickelte eine warme Decke um den zitternden Wassermannkörper.

"Wenn Blitz stirbt … alles nur, weil ich Chrysanth geküsst habe. Weil ich unbedingt wollte, dass er mich liebt. Wenn ich in meinem See geblieben wäre …"

"Würdest du jetzt vermutlich vor Sehnsucht sterben", unterbrach ihn Isabelle. "Blitz und Donner haben dir geholfen, weil sie böse Menschen verabscheuen. So ist das nun mal im Märchenreich. Gut gegen Böse … die alte Geschichte. Ich mach mich jetzt auf die Socken, um Chrysanth zu finden. Nicht, dass am Ende das Böse doch noch triumphiert."

"Der ist längst mit Schneewittchen über alle Berge."

"Logisch, nachdem was ihm mit dir passiert ist. Gott, ich hasse Intrigen und faulen Zauber."

"Wie meinst du das?"

"Erklär ich dir später. Wichtiger ist jetzt, es ihm zu erklären", sprach die Fee und löste sich in güldenen Rauch auf.


Der Prinz kniete vor Schneewittchen und verstand die Welt nicht mehr. Er hatte ihr soeben einen romantisch einwandfreien, formvollendeten Heiratsantrag gemacht und das schöne Mädchen mit dem ebenholzfarbenen Haar … hatte dankend abgelehnt.

"Steh schon auf und glotz mich nicht so deppert an", seufzte sie.

Chrysanth erhob sich.

"Erstens verspüre ich nicht im Mindesten den Wunsch zu heiraten, denn das ist langweilig und spießig. Wieso sollte ich mich mein ganzes Leben lang an einen einzigen Mann binden? Zweitens könntest du mich auch ohne Hochzeitsschnickschnack haben, weil ich vorehelichen

Geschlechtsverkehr absolut billige. Und drittens würde ich niemals einen Kerl heiraten, der sein Herz bereits einem kleinen Wassermann geschenkt hat."

Das Gesicht des Prinzen nahm Farbe an. Es wurde bleich und danach rot. "Was redest du denn?"

"Mir sind eure Blicke nicht entgangen."

"Was für Blicke? So ein Unsinn", leugnete Chrysanth.

"Verliebte Blicke. Du meine Güte, stehst du eben auf Jungs, was ist schon dabei? Davon wird die Welt sicher nicht gleich untergehen."

"Du verstehst nicht", brabbelte der Schlaraffenprinz, "Elias hat … er wollte … gegen meinen Willen …"

"Das stimmt so nicht ganz", antwortete Isabelle.

"Ahhhh…", entfuhr es Chrysanth. "Wo kommst du plötzlich her? Und wer bist du überhaupt?"

Isabelle drehte sich und bewegte ihre durchsichtigen Flügel. "Na?"

"Elfe?"

Isabelle rollte mit den Augen, zeigte mit dem Finger auf ihre goldene Krone und hob den Stab in die Luft.

"Elfenkönigin?"

"Ich verwandele dich auf der Stelle in einen Ochsenfrosch!"

"Das war ein Scherz", grinste Chrysanth schief. "Ich erkenne eine Fee, wenn sie vor mir steht."

"Aber leider Schneewittchens böse Stiefmutter nicht, wenn sie durch einen Zaubertrank wie dein kleiner Wassermann aussieht."

"Was soll das heißen? Ich meine, soll das heißen …", Chrysanths Gedanken überschlugen sich. "Elias hat gar nicht …"

"Natürlich nicht, Dummkopf. Also, Marsch zurück zum Schloss. Ich erzähle euch auf dem Weg, was passiert ist."

"Ihm", verbesserte Schneewittchen. "Ich muss in die andere Richtung."

"Auch gut", zuckte Isabelle die Schultern.

"Pass auf dich auf", wisperte sie zum Abschied und küsste den Prinzen auf die Wange.

"Du auch", lächelte Chrysanth.

"Wir sehen uns bestimmt mal wieder …spätestens wenn ihr ein Kind haben wollt und ich mich als Leihmutter zur Verfügung stellen soll", zwinkerte sie.

"Jaja, und du wärst mit dickem Bauch und Schwangerschaftsstreifen immer noch schöner als deine verfluchte Stiefmutter", behauptete die Fee.

Unterwegs pflückte der Prinz einen Strauß Wildblumen. Isabelle kicherte.

"Was denn?", fragte Chrysanth.

"Gar nichts", gluckste die Fee vergnügt.

"Denkst du, Elias findet Blumen … kitschig?"

"Sicher nicht", schüttelte sie den Kopf.

"Ich habe doch keine Ahnung, wie man um die Hand eines Wassermanns anhält. Ich meine … ich bin ein Prinz, also muss ich es tun, oder?"

"Oh, ja", bestätigte Isabelle, "und du brauchst unbedingt die hier." Sie schwang ihren Zauberstab und wie aus dem Nichts tauchte ein kleines Kästchen auf, das sie dem Prinzen überreichte.

Er öffnete es und da steckten auf dunkelblauem Samt zwei goldene Ringe. Chrysanth staunte nicht schlecht.

"Es soll doch alles seine Richtigkeit haben."

"Ja, das soll es", strahlte der Prinz. "Vielen Dank."

Je näher sie dem Schloss kamen, desto nervöser wurde Chrysanth. Sein gesamter Körper kribbelte vor Aufregung. Gleich würde er Elias sehen. Würde ihn in die Arme schließen und sein süßes Lächeln sehen.

"Das süße Lächeln wird ihm möglicherweise ein bisschen vergangen sein", erklärte Isabelle ernst und erzählte dem Prinzen, was geschehen war.

"Hänsel ist wirklich tot?", fragte er ungläubig.

"Mausetot."

"Aber Elias geht es gut", vergewisserte sich der Prinz.

"Den Umständen entsprechend. Etwas mitgenommen ist er halt, was verständlich ist, denn wahrscheinlich murkst er nicht alle Tage einen Fiesling ab."

"Er ist so mutig."

"Allerdings."

Chrysanth ließ den Kopf hängen. "Ich verdiene ihn gar nicht."

Die Fee beschloss, dass sie für derartigen Blödsinn keine Zeit hatten und ignorierte den letzten Satz einfach. Es gab ohnehin nichts mehr zu reden, denn vor ihnen lag das Schloss.

Als Chrysanth und Isabelle das geräumige Wohnzimmer betraten, saß Elias nah beim Kamin, während Cinderella auf ihrem rosa Plüschsofa eingenickt war. Ein gläserner Schlappen hing an ihrem linken Fuß, der andere lag auf dem Boden.

"Aufwachen, Schlafmütze", quietschte die Fee und gab Cinderella eine leichte Ohrlasche, worauf die Königin mit einem spitzen Schrei hochfuhr.

Der kleine Wassermann starrte den Prinzen so traurig an, dass ihm das Herz zerspringen wollte. Galant überreichte der den Wildblumenstrauß.

"Sollte der nicht eigentlich für Schneewittchen sein?", fragte Elias müde und legte die Blumen beiseite.

"Es tut mir leid, dass ich ein solcher Trottel gewesen bin", entschuldigte sich der Prinz.

"Kannst du mir bitte verzeihen?"

Elias zuckte die Schultern.

"Ich dachte … also, dass du … aber es war die Stiefmutter und … aber das wusste ich nicht, deshalb bin ich …"

"Chrysanth!", unterbrach die Fee das Gestotter. "Frag endlich, was du zu fragen hast. Du lieber Himmel."

"Würdest du …", er kniete sich hin, sah Elias fest in die Augen und öffnete das Kästchen, "mir die Ehre erweisen, mein Gemahl zu werden?"

Elias' Wangen färbten sich rot. "Ganz wirklich?", flüsterte er.

Chrysanth nickte verliebt.

"Eine Hochzeit!" Cinderella klatschte begeistert in die Hände. "Oh, ihr müsst unbedingt auf meinem Schloss heiraten. Eine Hochzeit, wie wundervoll."

"Noch hat er nicht ja gesagt", zischte Isabelle.

Der kleine Wassermann schlang seine Arme um Chrysanth. "Ich liebe dich."

"Ich liebe dich auch", entgegnete der Prinz und erwiderte die Umarmung.

"Er muss ja sagen", drängelte die Fee.

"Ich möchte dich heiraten, aber ich kann nicht", erklärte Elias.

Der Prinz war am Boden zerstört.

"Erst muss ich wissen, wie es Blitz geht."

"Bin schon unterwegs", rief Isabelle. "Und du sagst jetzt gefälligst ja, hast du verstanden, kleiner Wassermann?!"

"Ja", sagte Elias deutlich und küsste seinen Prinzen auf den Mund.

Cinderella schluchzte berührt, hatte sich jedoch schnell wieder im Griff. "Die Organisation könnt ihr getrost mir überlassen. Ich werde euch eine Hochzeit ausrichten, von der noch in hundert Jahren gesprochen wird."

"Keine Feier ohne mich", warnte die Fee und verschwand in einer goldenen Rauchwolke.


Irgendwo im Nirgendwo betupfte Donner vorsichtig die heiße Stirn seines Liebsten mit einem feuchten Tuch. Blitz schlief fiebrig. Der Chef hatte sich bei ihrer Ankunft sogleich in sein Zauberbuch vertieft, dann war er in ihr Zimmer gekommen. Donner hatte sich ehrfürchtig verneigt und es nicht gewagt, den großen Zauberer anzuschauen. Der Zauberer jedoch hatte Donner liebvoll übers Haar gestrichen, war ans Bett getreten, hatte seine Hände dicht über den Körper des ohnmächtigen Jungen gehalten und etwas in einer fremdartigen Sprache gemurmelt. Danach war er gegangen und seitdem hoffte Donner, dass Blitz endlich aufwachte. Nach drei Tagen, Donner wollte vor Erschöpfung fast einschlafen, öffnete Blitz langsam die Augen.

"Liebling", wisperte er schwach und streckte die Hand aus.

Donner schluchzte erleichtert. "Ich hatte so Angst um dich."

"Was ist denn passiert? Ich weiß noch, dass wir im Wald waren und Hänsel wollte dich … Elias war auch da, oder?"

"Hänsel ist tot. Du hast ihn quasi mitten ins Herz getroffen. Der kleine Wassermann hat einen guten Wurf drauf."

"Ich erinnere mich … glaube ich … alles wurde schwarz und … und kalt."

"Sein Blut hat dich vergiftet. Dein Körper war einfach nicht stark genug, sich gegen so eine geballte Ladung Boshaftigkeit zu wehren. Aber der Chef hat ein bisschen gezaubert. Geht's dir gut?"

Blitz nickte. "Wie lange hab ich geschlafen?"

"Drei Tage."

"Und du bist die ganze Zeit bei mir gewesen", lächelte er.

"Logisch. Ich hab dir geschworen, dich niemals allein zu lassen. Übrigens sind wir zu einer Hochzeit eingeladen."

"Elias und Chrysanth?"

"Yep", antwortete Donner. "Der Schlaraffenprinz hat endlich geschnallt, wer der Richtige für ihn ist. Allerdings habe ich uns entschuldigt, du bist noch viel zu krank, um zu reisen."

"Aber …", wollte Blitz protestieren, wurde jedoch von Donner unterbrochen.

"Nichts da. Wir können trotzdem alles live verfolgen. Wir haben ja die hier", lachte er und kramte die Kristallkugel hervor.


Im Cinderella-Schloss herrschte geschäftiges Treiben. Elias und Chrysanth wollten zwar nur im engsten Kreis heiraten, aber Cinderella bestand dennoch auf schicke Galakleidung und einen Ball am Abend. Sie ließ den königlichen Schneider anrücken, der sich sogleich an die Arbeit machte. Der Schlaraffenprinz bekam einen hellblauen Anzug mit eng anliegenden Kniehosen und einer Weste aus feinster Seide, dazu ein weißes Rüschenhemd, weiße Strümpfe und schwarze Schuhe mit goldenen Schnallen. Elias wollte nicht so sehr herausgeputzt werden, für ihn wurde eine schwarze Hose geschneidert, deren Stoff an Fischschuppen erinnerte, ein einfaches Hemd und eine grüne Jacke. Danach besprach Cinderella das Menü mit der Köchin und kümmerte sich um Dekoration und Musik. Weil sie nichts von angestaubten, spießigen Festlichkeiten hielt, hatte sie den kleinen Salamander aus dem fernen Haubitzenland engagiert. Der Salamander zeichnete sich dadurch aus, dass er hauptberuflich auf dem Schwarzmarkt "Knickebein" verkaufte … eine in Schokolade gehüllte Substanz, die das Bewusstsein erweiterte. Der Besitz war nicht strafbar, der Verkauf in höchstem Maße illegal. Nur ein Teufelskerl wie der Salamander hatte die Nerven dazu. Da Cinderella eine gute Kundin von ihm war, die er auch privat schätzte, war es ihm ein Vergnügen, mit seiner Punkrock-Kapelle auf dem Ball für Stimmung zu sorgen.

Die Zeremonie sollte an dem Seerosenteich im Schlossgarten stattfinden, das hatte sich der kleine Wassermann gewünscht. Der Ort wurde dazu passend mit weißen Lilien und gelb-rosa Girlanden geschmückt. Für die Gäste hatte man Gartenstühle aufgestellt, an denen rosa Schleifen und Bänder hingen. Weiße Märchentauben würden nach der Trauung in den Himmel fliegen.

Natürlich kam Schneewittchen zur Hochzeit, ebenso der Namenlose. Die Knusperhexe schickte lediglich ein Glückwunsch-Telegramm und einen Korb mit ausgewählten Süßigkeiten, weil sie sich um ihre Waisenkinder kümmern musste. Donners Anwesenheit war eine große Überraschung. Normalerweise wäre er bei seinem Schatz geblieben, aber Blitz hatte darauf bestanden, dass er mit Elias und Chrysanth über die Hochzeitsnacht sprach. Schließlich hätten die beiden keine besondere Ahnung, was auf sie zukäme. Deshalb nahm Donner sie vor der Trauung zur Seite und erklärte ihnen sehr genau, was sie tun konnten, um "miteinander Spaß zu haben" … wie er sich ausdrückte. Der kleine Wassermann und der Prinz bekamen allein vom Zuhören schon rote Ohren.

"Wichtig ist", sagte Donner zum Schluss, "alles kann, nichts muss, ja? Ihr werdet mit der Zeit herausfinden, was ihr mögt und was nicht."

Isabelles Geschenk war wohl das Beste. Sie hatte heimlich Chrysanths Eltern informiert, die es sich natürlich nicht nehmen ließen, der Hochzeit ihres einzigen Sohnes beizuwohnen.

Der Prinz erstarrte fast zur Salzsäule, als er die kräftige Hand des Schlaraffenkönigs auf seiner Schulter spürte.

"Dem Schicksal", so sprach er, "kann man kein Schnippchen schlagen. Wenn es nun mal ein kleiner Wassermann war, der dich gerettet hat, so musst du tun, was von einem Prinzen erwartet wird. Ob du es willst oder nicht."

"Ich liebe Elias von ganzem Herzen", entgegnete Chrysanth schüchtern.

"Umso besser", lachte der dicke König, dass sein mächtiger Bauch ins Wanken geriet, "denn die Hauptsache ist, dass du glücklich bist. Nach allem, was uns die Fee berichtete, bekommst du einen tüchtigen … äh … kleinen Wassermann. Deine Mutter hätte sich über Schneewittchen natürlich mehr gefreut, wegen der Enkelkinder, aber da gibt es heutzutage doch Möglichkeiten, nicht wahr? Also um es kurz zu machen: unseren Segen habt ihr."

Chrysanth umarmte seinen Vater erleichtert.

"Allerdings … über deine Weglauferei werden wir uns noch einmal ausführlich unterhalten, mein Sohn", drohte er, wobei seine Stimme jedoch freundlich klang.

Nachdem Elias und Chrysanth sich das Ja-Wort gegeben und einander die Ringe angesteckt hatten, was beim kleinen Wassermann wegen der Schwimmhäute nur symbolisch geschehen war (er wollte seinen Ehering später an einer Kette um den Hals tragen), flogen die Märchentauben wie verabredet in den Himmel und Cinderella bat zum Schlemmen ins Schloss. Auf den anschließenden Ball hatte sie einfach zusätzlich ihre eigenen Freunde und Bekannte eingeladen, denn ein Ball mit nur wenigen Gästen, fand sie, sei eine langweilige Angelegenheit. Es wurde ein rauschendes Fest, das bis in die frühen Morgenstunden dauerte. Und niemand störte sich an der Tatsache, dass ein wunderhübscher Schlaraffenprinz einen kleinen Wassermann mit grünen Haaren und Schwimmhäuten zwischen den Fingern geehelicht hatte. Im Gegenteil. Alle freuten sich für die zwei und waren entzückt darüber, wie sie verliebt herumturtelten.


Irgendwo im Nirgendwo kam Donner gerade nach Hause zurück. Blitz grinste breit und tätschelte die Kristallkugel.

"Was siehst du dir an?"

"Die Hochzeit."

Donner runzelte die Stirn. "Die ist seit Stunden vorbei. Elias und Chrysanth müssten längst … ey, du alter Spanner!", rief er entrüstet, nahm die Kugel, verhüllte sie mit einem Zaubertuch und legte sie vorsichtig in die Kristallkugel-Aufbewahrungstruhe. Dann schlüpfte er zu seinem Schatz ins Bett. "Was genau hast du gesehen?"

Blitz schlang seine Arme um Donner. "Die beiden machen miteinander rum", wisperte er, "zwar noch ein wenig ungeschickt, aber total süß. Zuerst haben sie sich nur geküsst. Ungefähr so!" Blitz knutschte Donner zärtlich auf den Mund. "Dann hat Elias angefangen, Chrysanth zu streicheln. Hier …", seine Hand strich über Donners Brust, "und hier", die Hand wanderte über seinen Bauch, "und irgendwann auch hier", kicherte Blitz und schob seine Hand zwischen Donners Schenkel. "Chrysanth ist echt scharf geworden und hatte eine unglaubliche La…"

"Blitz!"

"Sein Körper hat genauso heftig reagiert wie deiner jetzt", zwinkerte er.

Donner stöhnte leise.

"Er hat sich auch ein bisschen so angehört wie du. Das heißt, bei Chrysanth war es mehr ein Schnurren, als Elias an seinem Nacken knabberte. Kannst du auch schnurren, Liebling?"

"Was ist dann passiert?", fragte Donner und presste seine Erektion gegen die Hand, die sich nun langsam bewegte.

"Woher soll ich das wissen? Du hast mir die Kugel weggenommen."

"Dann denk dir gefälligst was aus und zeig mir das!"

Blitz überlegte einen Augenblick, dann verschwand sein Kopf unter der Bettdecke.


"Spieglein, Spieglein an der Wand …"

"Wie oft denn noch, Frau Königin?", antwortete der Zauberspiegel matt.

Die böse Stiefmutter verzog das Gesicht zu einer Grimasse. "Glaubst du vielleicht, mir macht das Spaß? Denkst du, ich hätte nichts Besseres zu tun, als mir immer wieder den gleichen Scheiß von dir anzuhören? Also sag schon, wer ist die Schönste? Spuck es aus, zum Kuckuck!"

"Ihr … seid es jedenfalls auch heute nicht", behauptete der Spiegel gelassen.

"Hättest du nicht ausnahmsweise mal lügen können?", fragte sie schnippisch.

"Schneewittchen wird immer schöner sein als Ihr. Tausendmal."

"Wenn jemand am Boden liegt, tritt man nicht noch nach."

"Gehabt Euch wohl, Frau Königin. Bis morgen." Das geisterhafte Gesicht des Spiegels verschwand.

"Ich hasse diesen verdammten Schönheitswahn", seufzte die böse Königin und schenkte sich ein Likörchen ein. Sie hob das feine Glas, ihre Augen blitzten gefährlich. "Nieder mit dem Wassermann!"

ENDE?!

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