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Exsanguis

Teil 4

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Inhaltsverzeichnis

Sascha >> [jetzt]

Wow, was für ein Kompliment. Vico findet es gut, dass nicht irgendwer hier wohnt … Mann, das war ja schon fast eine Liebeserklärung, so für seine Verhältnisse. Ich bin echt beeindruckt!

»Ich finds immer noch doof, dass du kein Mädchen bist«, grinse ich und beiße einer Weingummifledermaus den Flügel ab.

»Das wolltest du mir doch sowieso mal erklären«, er setzt sich mir gegenüber an den Tisch, »das mit dem Mädchen.«

»Ja, das ist aber noch weniger spannend als Geschichten über fiese Russen und gewalttätige Väter«, warne ich ihn, stehe auf, hole einen Tetrapack Milch aus dem Kühlschrank, gieße zwei Tassen voll und stelle sie in die Mikrowelle. »Ehrlich gesagt, gabs dafür gar keinen Grund.« Als die Mikrowelle klingelt, nehme ich die Tassen heraus, schaufele Kakaopulver hinein und stelle sie auf den Tisch. »Ich fand den Gedanken irgendwie cool, mit einer Stripperin zusammenzuwohnen.«

»Tja«, entgegnet Vico und rührt durch sein Getränk, »wir könnten das unbewohnte Zimmer leerräumen und eine Stange in der Mitte anbringen, wer weiß, vielleicht ist Poledance ja total mein Ding.«

»Keine schlechte Idee«, überlege ich, »das könnte man ganz groß aufziehen und Eintritt verlangen.«

»Ja, genau.« Er schüttelt den Kopf und trinkt einen Schluck.

Mir wird schon wieder kribblig im Bauch, was muss der mich denn immer so ekelhaft reizen, selbst wenn er bloß harmlos Kakao trinkt? Also normal ist das nicht!

»Ich soll dich übrigens von Levin grüßen«, wechselt er das Thema und blinzelt leicht in das Licht der Küchenlampe, »du hast bei ihm offenbar ganz schön Eindruck hinterlassen.«

»Hab ich das?«

»Er war jedenfalls von deinen Fähigkeiten sehr beeindruckt.«

»Ich hatte keinen Sex mit Levin«, erkläre ich, woraufhin Vico erneut anfängt zu lachen und beinahe seinen Kakao in die Tasse spuckt.

Was zum Arsch ist so lustig??

»Davon war auch gar nicht die Rede. Er meinte die Sache mit dem Blut.«

»Ach so.« Ich zucke mit den Schultern. »Ja, der fährt da echt drauf ab. Wo wir schon mal dabei sind, sollte Janis sich mal entschließen, die Spinnergruppe zu verlassen, also das Blutabnehmen würd ich wohl auch noch hinkriegen.«

Vico blickt mich an und hebt fragend eine Braue.

»Ich kann jedenfalls ganz gut Spritzen geben. Da sollte die andere Variante nicht viel schwieriger sein.«

»Hast du das aus deinen Büchern gelernt?«

»Nee, eher praktisch. Am lebenden Objekt … oder sagen wir … halbwegs lebend«, bemerke ich grinsend. »Als ich von zu Hause weg bin, hab ich ein paar Wochen bei Junkies gewohnt, da musste ich öfters mal behilflich sein. Ich hab Hunger, lass uns irgendwas bestellen, ja?«

»Klar, meinetwegen.«

 

»Ist alles gar nicht so cool, wie man meint, auf der Straße«, erzähle ich ihm unaufgefordert beim Pizzaessen. »Besonders, wenn man allein ist. Du musst kucken, wo du schläfst, im Winter aufpassen, dass du nicht aus Versehen erfrierst und andauernd wirst du beklaut. Na ja, und an das Schnorren konnte ich mich auch nie so wirklich gewöhnen.« Ich hab keine Ahnung, ob ihn der ganze Scheiß tatsächlich interessiert, er hört aber aufmerksam zu und wirkt nicht gelangweilt, was mich dazu veranlasst, fortzufahren. »Irgendwann hab ich gedacht, was die anderen können, kann ich auch, hatte aber so wenig Talent, dass Silvi es sofort gemerkt hat, als ich an seine Brieftasche wollte. Klingt scheiß kitschig, oder? Ich versuche einen Typen zu beklauen und finde die große Liebe, man sollte einen Film über mich drehen.«

Vico schiebt seinen Pizzakarton beiseite und wischt ein paar Krümel vom Tisch. Dass sich jemand bloß zwei Nägel schwarz lackiert, kannte ich bis jetzt auch noch nicht. Sieht gut aus, irgendwie.

»Das ist schon eine krasse Geschichte«, findet er.

»Na ja«, relativiere ich, »bei Silvi gings mir dann echt gut. Er hat Kohle ohne Ende, viele Freunde, die sich nicht wundern, dass sie ihn immer erst sehen, wenns dunkel ist, ne superteure Wohnung in einer Luxusgegend … er hat ein scheiß perfektes Leben. Ich hatte ein scheiß perfektes Leben.«

Nach Kakao und Pizza sind wir stillschweigend zu Jack Daniel’s übergegangen. Whiskey passt hervorragend zu Vampirsüßigkeiten!

»Okay«, rede ich weiter, weil ich aus mir unerfindlichen Gründen nicht die Klappe halten kann, »er fand jetzt nicht so toll, dass ich Drogen vertickt hab, aber ich wollte mich nicht von ihm aushalten lassen, und das ist eben schon alles, was ich gut kann.«

»Alles vielleicht nicht«, bemerkt Vico und beißt sich kurz auf die Lippe, so als hätte er das gar nicht laut sagen wollen.

Mir wird ein bisschen heiß.

»Immerhin kannst du Spritzen geben«, fügt er hinzu.

»Damit lässt sich nur leider kein Geld verdienen. Also entweder Drogen verkaufen oder meinen Körper«, entgegne ich. »Für Letzteres hätte Silvi wahrscheinlich noch weniger Verständnis gehabt. Und ich hätte total keinen Bock drauf, es wahllos irgendwelchen Kerlen besorgen zu müssen. Obwohl … besonders wählerisch war ich, glaub ich, auf Koks auch nicht.«

Mann, wieso plaudere ich mit ihm eigentlich schon wieder über dieses unrühmliche Kapitel aus meinem Leben? Er weiß, dass ich meinen Freund betrogen habe, es ist nicht nötig, derart ins Detail zu gehen. Ich sollte dringend aufhören zu reden. Oder schnell ein anderes Thema finden.

»Das klingt nach was, woran man sich später nicht gern erinnert«, sagt er nachdenklich.

»Ja«, bestätige ich, »nicht so wirklich.«

»Ich muss noch ein bisschen was arbeiten«, erklärt er bedauernd und steht auf, »sonst krieg ich heute gar nichts mehr geregelt.«

 

Als ich allein in meinem Zimmer hocke, beschließe ich Nele anzurufen, aber die hat keine Zeit. Schade, ich hätte sie gern getroffen, irgendwie ist heute ein ziemlich blöder Abend. Vielleicht hab ich einfach zu viel über Vergangenes gesprochen, keine Ahnung, ich fühle mich alles andere als wohl und entspannt und zufrieden. Es käme mir sogar gelegen, wenn mein Geschäftshandy klingeln würde, es scheinen jedoch momentan alle versorgt zu sein. Unmotiviert lasse ich mich auf die Matratze fallen, starre an die Decke und muss auf einmal daran denken, dass ich Vico schrecklich gerne mal auf Koks erleben würde … du meine Güte, was man da alles anstellen könnte. Dann drängelt sich Levin, den es so scharf macht, wenn man von ihm trinkt, in mein Hirn. Und ich stelle fest, dass Vico ein wenig zu neutral erzählt hat, was ich bei Levin für einen Eindruck hinterlassen habe. Fuck, wo kommt denn das her? Ich hätte es gut gefunden, wenn … ja, was eigentlich? Wenn Vico eifersüchtig gewesen wäre? Das ist ja mal kompletter Schwachsinn. Wieso sollte er, verdammt? Mir ist kalt. Und meine Gedanken gefallen mir ganz und gar nicht. Jetzt wäre der richtige Moment, was zu ziehen, um gut draufzukommen. Stattdessen schleiche ich schon wieder durch die Wohnung zu Vicos Zimmertür. Als wäre sie das Tor zu einer Welt, in der man keinerlei Substanzen zu sich nehmen muss, die einem den Kopf freimachen. Es ist wirklich nicht zu erklären. Deshalb klopfe ich auch nicht, sondern gehe in die Küche. Da liegen noch die Süßigkeiten auf dem Tisch. Den Whiskey hat Vico mitgenommen. Ich schnappe mir die beiden Tüten und klopfe danach an seine Tür.

»Es ist offen, komm rein«, ruft er von der anderen Seite.

Ah, immerhin hat er sich das abgewöhnt.

Vico sitzt auf dem Bett und klappt gerade sein Notebook zu. Er wirkt irgendwie unzufrieden. Oder beunruhigt.

»Alles in Ordnung?«, frage ich.

»Klar«, behauptet er und stellt das Notebook beiseite, während ich mich neben ihn setze und die Süßig­keitentüten aufs Bett lege.

»Daran, dass man nur noch nachts raus kann, werde ich mich nie gewöhnen«, rede ich drauflos, »ich meine, das ist doch scheiße, was kann man nachts schon machen? Außer sich in Clubs, Kneipen oder Spielhallen rumzutreiben?«

»Du treibst dich in Spielhallen rum?«, fragt er und grinst leicht.

»Eben nicht.«

»Verstehe.«

Komischerweise stellt sich hier neben ihm mit dem verdammten Meerbadeschaumgeruch überall tatsächlich eine Art Wohlbefinden ein. Das ist ja mal krank! Und die Ideen, die grad durch meinen Kopf geistern, sind nicht viel gesünder. Ich frage mich, ob er es sehr eigenartig finden würde, wenn ich ihm eine Weingummifledermaus in den Mund stecken würde, nachdem ich mich bequem an ihn gekuschelt habe. Die Antwort kann eigentlich nur negativ ausfallen, weshalb ich Abstand von der Idee nehme. Es ist ja auch total behämmert, sich wie ein fucking verliebtes Pärchen romantisch mit Süßigkeiten zu füttern, ich hab doch einen Sprung in der Schüssel! Seine Hand liegt verlockend nah neben meiner. Klar, Sascha, Händchenhalten … echt jetzt?!

»Hast du noch nicht genug?«

»Was?«, frage ich erschrocken.

»Zucker«, lächelt Vico und deutet auf die Tüten.

Aus lauter Verzweiflung grabsche ich nach einem Vampirgebiss und knabbere daran herum. Es geht nicht anders. Ich muss mich ein bisschen an ihn lehnen und unauffällig an seinem Pullover schnüffeln. Die Frage, was mit mir los ist, hab ich mir damit wohl beantwortet, allerdings verscheuche ich diesen Gedanken mal lieber schnell und rücke weg von ihm. Dummerweise legt er seinen Arm um mich, rutscht ein Stück tiefer und … ich liege plötzlich an ihn geschmiegt, mein Kopf auf seiner Brust. Seine Hand streichelt meinen Nacken und wuselt durch meine Haare. In meinem Bauch beginnen die scheiß berühmt-be­rüch­tigten Schmetterlinge umherzuflattern. Oh je! Ich sollte ge­hen, und zwar sofort, bevor es zu spät ist. Bevor man richtig drinhängt und nichts mehr dagegen tun kann. Ich sehe nach oben, sehe ihn an. Ein schwerer Fehler!

»Darf ich dich küssen?«

Ach du Scheiße, das hab ich bitte geträumt.

Vico lächelt irritiert.

»Das fragst du doch sonst nicht.«

»Ja, aber …«, ich muss kurz schlucken, »ich will dich echt einfach nur küssen.«

Und mit dieser Aussage hab ich höchstwahrscheinlich meinen sicheren Untergang eingeläutet. So oder so.

Seine Finger berühren meine Wange und seine Lippen berühren meinen Mund. Die Schmetterlinge in mei­n­em Bauch bewegen sich herum, als hätten sie heimlich ein paar Schnäpse gekippt. Das darf doch alles nicht wahr sein! Meine Hand schiebt sich unter seinen Pullover und streichelt seine nackte Haut, während wir uns küssen. Langsam und unaufgeregt und süß. Und, was das Schlimmste ist, zu überhaupt nichts Weiterem führend. Vico wirkt relativ entspannt … also entspannter als es ihm vielleicht sonst ohne Pillen und Spritzen möglich ist, was mir absurderweise Herzklopfen beschert … er atmet ruhig, küsst mich und macht auch nicht den Ein­­druck, als würde er mehr erwarten. Oder gerade dringend mehr wollen.

 

Irgendwann haben wir genug vom Küssen. Meine Lippen fühlen sich rau und ein wenig empfindlich an, meine Hand liegt auf seinem Bauch.

»Hey«, sagt er leise, »schläfst du ein?«

»Nee.« Wie zum Beweis bewege ich meine Hand, greife nach seinem Handgelenk und streiche mit dem Daumen über seine Haut.

»Willst du deinen Ring ausprobieren?«, fragt er.

»Ja«, entgegne ich gedehnt, »klar. Aber das ist grad nicht so wichtig.«

Auf einmal fällt mir wieder was ein. Ich hangle mich ein Stück nach oben, sodass ich ihn ansehen kann.

»Sag mal, was hast du eigentlich mit Janis gemacht?«

»Wieso?«

»Die hat sich letztens bei Timo über dich beschwert … da war«, versuche ich mich zu erinnern, »irgendwas mit ihrem Arm und dass man dir das nicht durchgehen lassen könnte.«

»Keine Ahnung«, behauptet er, »was die schon wieder hat.«

»Es klang aber wirklich ernst.«

»Sie hat bloß ein bisschen Blut gespendet, ganz normal.«

»Aha. Sie findet, dass du den Chef spielst.«

»Ja, ich kenne Sabines Meinung über mich«, entgegnet er.

»Timo findet das auch. Und dann meinte er, dass du noch irgendwas kriegst, verstehst du … im Sinne von … kriegst, was du verdienst oder so, glaub ich. Es hörte sich jedenfalls irgendwie danach an. Oder ich interpretiere da was rein. Kann auch sein.« Ich befreie mich aus seinen Armen und stehe auf, obwohl ich viel lieber bleiben würde. »Ich geh dann mal schlafen.«

Vico >> [jetzt]

Ich bin froh, dass es endlich dunkel genug ist und ich die Rollos hochziehen kann.

Sascha hat recht, denke ich, es ist die letzte Scheiße, dass man am Tag nicht rausgehen kann, das ist mir selten so auf die Nerven gegangen wie jetzt. Man ist eingesperrt, anders kann man es nicht sagen. Meistens schaffe ich es, nicht darüber nachzudenken, aber im Moment – ich würde ja gern mal tagsüber auf dem Hof vorbeischauen oder meinetwegen im Studio, wo Julia heute mit Timo und Janis und den Tätowierern verabredet war oder noch ist. Das ist doch kacke, ärgere ich mich, ich bin dermaßen eingeschränkt, das ist schon nicht mehr lustig, und alle wissen es, was es vielleicht noch schlimmer macht. Sascha hat Glück, in Bezug auf ihn kam das Thema noch nicht zur Sprache, vielleicht nehmen sie an, dass er einfach gern lange schläft, so wie Julia, oder dass er viel zu tun hat.

Ich hätte den ganzen Quatsch mit der Krankheit gar nicht erfinden müssen, überlege ich, wenn ich Levin damals nichts gegeben hätte, wenn ich einfach behauptet hätte, dass die ganze Spenderei nichts für mich ist, dann hätte Levin nicht gekotzt und ich müsste nicht offiziell tagsüber drinnen hocken und hätte keine ausgedachten Beschwerden, es ist ja schließlich nicht so, als würde es mir an echten mangeln.

Mir wird bewusst, dass ich immer noch am Fenster stehe. Draußen regnet es, es ist wärmer geworden. Unten auf der Straße wird gelacht.

Ich ziehe mich an und öffne leise die Tür. Die Wohnung ist dunkel, also gehe ich davon aus, dass Sascha schläft. Es ist ja noch früh. Am liebsten will ich ihm gar nicht begegnen, zumindest nicht jetzt, weil ich nachher mit Julia verabredet bin. Der Plan ist, dass wir uns auf dem Hof treffen, wohin Timo und Janis sie mitgenommen haben oder mitnehmen werden, vom Studio aus, ich könnte ja mal nachsehen, ob sie schon angekommen sind. Also schließe ich die Tür wieder und fahre das Notebook hoch.

Das ist doch irgendwie zwanghaft, denke ich, frag sie doch einfach, ob sie schon da ist und sag ihr, dass du schon früher kommen könntest, ruf sie an oder schreib ihr.

Stattdessen starte ich das Programm. Aha, denke ich, sie ist schon da, Nele auch. Man könnte das eigentlich mal lassen, denke ich, Nele auszuspionieren, das bringt doch nichts, aber dann bin ich mir nicht sicher, ob es nicht doch mal irgendwann etwas bringen könnte, man weiß es ja nicht, und behalte alle Einstellungen bei, wie sie sind.

Auf dem Flur höre ich Schritte.

Ach, Scheiße, jetzt ist er doch schon wach. Sascha ist wach und läuft durch die Wohnung und ich muss gleich mit Julia ins Kino gehen, also, was heißt, muss. Aber nachdem es gestern nun tatsächlich ganz unverhofft etwas geworden ist mit dem gemeinsamen Herumliegen und dem ein oder anderen netten Gespräch vorher, weiß ich nun erst recht nicht mehr, wie man sich Affären gegenüber zu verhalten hat. Schlimme Sache, denke ich, was ihm da alles zugestoßen ist, auf der Straße leben zu müssen, das wünscht man ja keinem, da ist es kein Wunder, dass er später nicht mit dem ganzen Luxus und der ganzen Liebe bei seinem Freund klargekommen ist, das ist überhaupt kein Wunder. Und von zu Hause war er auch nichts Schönes gewohnt, wer hätte das alles gedacht. Ich erinnere mich, dass ich ihn noch vor ein paar Wochen für einen etwas überstylten, etwas leichtfertigen und etwas oberflächlichen Typen gehalten habe. Man soll die Leute nicht unterschätzen, denke ich, das ist immer riskant, zuerst habe ich Julia unterschätzt und jetzt Sascha. Nicht, dass man da automatisch Parallelen ziehen müsste, aber ganz wegdiskutieren kann man sie auch nicht.

Ich atme einmal tief durch und kann mich nicht entschließen, ob ich ihm jetzt schon über den Weg laufen soll oder besser erst später.

Da hilft er mir gleich zu Anfang aus einer ziemlich brenzligen Situation, denke ich, was mir immer noch ein bisschen unangenehm ist, das hätte nun wirklich auch schiefgehen können. Und das, wo ich doch sonst immer so vorsichtig bin, oder zumindest fast immer, manchmal bewirkt die ganze Vorsicht vielleicht einfach nur eine Art Betriebsblindheit.

Sascha zieht die Jalousien in der Küche hoch, kurz darauf sind wieder seine Schritte zu hören. Okay, kapituliere ich, ungesehen kommst du heute hier nicht raus, also ist es jetzt auch egal.

»Hey«, sage ich und öffne die Tür, »schon wach?«

Sascha hält inne, bleibt stehen und fährt sich durch die Haare.

»Sieht so aus«, er lächelt ein schiefes, verschlafenes Lächeln.

Er trägt seine Schlafklamotten, in denen er schon in meinem Bett gelegen hat. Nicht nur gelegen, auch geschlafen hat. Gestern hat er nicht geschlafen, aber schon wieder gelegen. Herkömmliche Affären gehen anders, denke ich, bei herkömmlichen Affären reißen sich die Beteiligten ihre sexy Wäsche vom Leib, fallen übereinander her, gehen duschen und fahren nach Hause. Ich krieg schon wieder Kopfschmerzen, und zwar eindeutig Spannungskopfschmerzen, man sollte nicht so viel nachdenken, man sollte disziplinierter sein und man sollte erst gar keine Affären anzetteln.

»Ich wollte …«, sage ich, »ich muss gleich zum Hof. Also«, füge ich hinzu, »jetzt gleich.«

»Ah«, gähnt Sascha, »ist irgendwas Besonderes?«

»Nein«, antworte ich und muss einmal schlucken, es ist mir alles so unangenehm, wahrscheinlich unverhältnismäßig unangenehm, »ich bin mit Julia verabredet. Eigentlich hole ich sie nur ab.«

Er nickt.

»Ich …«, beginne ich und weiß dann nicht weiter.

»Schon okay«, erwidert er etwas heiser und räuspert sich, »ist doch normal, dass ihr euch trefft.«

»Ja«, sage ich, »nein – ich … das ist doch irgendwie alles ...«

»Ist echt okay«, beteuert er und kaut auf der Innenseite seiner Wange.

»Nein«, widerspreche ich, »ist es nicht. Ist es überhaupt nicht.«

»Dann«, er hebt beschwichtigend die Hände, »sollte ich wohl besser … Wir sollten das dann wohl besser lassen. Sorry wegen gestern.«

»Nein«, wiederhole ich, lauter als beabsichtigt, »nein, das – hab ich nicht gemeint. Das würde … ich hab vorher schon mal dran gedacht.«

»Was?«, fragt er offenbar ratlos. Wir stehen immer noch im Flur. »An was gedacht?«

Nicht immer so was fragen, denke ich, das führt nur zu schlimmen Antworten, die man so nie hat geben wollen.

»Dass man«, ich muss noch einmal schlucken, das ist ja furchtbar, es ist alles furchtbar, und es gibt wirklich Dinge, die ich besser kann, »dass man auch einfach mal auf diese Weise … Zeit verbringen kann. Wie gestern.« Okay, das war zumindest ehrlich.

Sascha hebt kaum merklich die Brauen und sieht mich an.

»Okay«, sagt er erstaunt, »das hast du gedacht?«

Ich mache den Mund auf und wieder zu. Das sollte wohl so etwas wie Ja heißen.

»Ich will –«, nehme ich einen neuen Anlauf, bin mir dann aber überhaupt nicht im Klaren darüber, was ich will, und schüttle den Kopf.

»Vico«, er streicht sich erneut durch die zerzausten Haare mit den inzwischen wieder kräftiger lila gefärbten Strähnen, »ich wusste doch, dass du mit Julia zusammen bist. Ich wusste das doch«, wiederholt er, als müsste er mich davon dringend überzeugen, »ich hätte mich ja nicht … drauf einlassen müssen.«

Ich betrachte ihn. Ich weiß, wie er sich anfühlt, so ein Mist, und ich weiß, dass es ziemlich gut ist, wenn man ihn nah bei sich hat. Ich würde ihn gern nah bei mir haben, aber gleichzeitig würde ich auch Julia gern nah bei mir haben, und das werde ich wohl nachher auch, es ist alles sehr kompliziert.

»Ich will nicht, dass jetzt eine blöde Situation entsteht oder so was«, fällt mir doch noch etwas ein, was ich will beziehungsweise nicht will, »aber es war eben nicht nur …«, rede ich weiter, ganz ohne Zutun meines Gehirns übrigens, »na ja, Sex. War es eben nicht.«

Ich hätte das nicht sagen sollen, denke ich, andererseits – warum nicht einfach mal ein paar dämliche Geständnisse raushauen.

Sascha erwidert nichts.

»Was man jetzt nicht überbewerten muss«, ergänze ich und atme einmal tief durch, »ich hätts ja auch für mich behalten können.«

Er macht einen Schritt auf mich zu, streckt die Hand aus und wickelt sich eine Strähne um den Finger, die mir über die Schulter gefallen ist.

»Ich behalts jedenfalls für mich«, sagt er leise.

Dazu fällt mir nichts ein, gar nichts, also nicke ich nur.

»Und jetzt komm ich erst mal mit, vielleicht ist Nele noch da. Ich hab grad sonst nichts vor«, erklärt er.

 

»Hi«, sagt Nele und strahlt Sascha an, »ich wollte eigentlich jetzt gehen, aber wir können auch noch kurz was trinken oder so. Hier ist irgendwie …«, sie senkt die Stimme und wirft einen vielsagenden Blick Richtung Treppe, »schlechte Stimmung.«

Sascha sieht sie fragend an.

»Stress zwischen Janis und Timo«, erläutert Nele und verdreht die Augen. »Ich wollte Janis eigentlich wegen dem Industrial-Piercing fragen, aber ist wohl gerade nicht so passend. Na ja«, schließt sie, »wollt ihr Wein? Einen Schluck würd ich noch mittrinken, dann geh ich und mach noch was für die Uni.«

»Guter Plan«, findet Sascha, lässt sich auf einen Sessel sinken und legt die Füße übereinandergeschlagen auf den Tisch. Es sieht ungewohnt ordentlich aus im Wohn­zimmer.

»Ich wollte nur Julia abholen«, erkläre ich.

»Ach ja«, sagt Nele, »stimmt, sie sagte so was. Aber ich dachte, erst später?«

Ich zucke die Schultern.

»Es hat schon etwas früher gepasst«, erwidere ich.

»Die müssten noch oben sein. Janis ist auch gerade wieder hochgegangen, glaub ich. Ich hätte das ja gerne mal ausführlicher besprochen mit dem Piercing, aber sie war irgendwie nicht so ganz bei der Sache.«

»Aha«, sage ich und mache mich auf den Weg nach oben.

Auf der Treppe kommt mir Janis entgegen.

»Was machst du denn schon hier?«, fragt sie.

»Ich bin einfach etwas früher dran«, entgegne ich, »ist das irgendwie problematisch oder was?«

»Ah«, gibt sie kalt zurück, »sind wir mal wieder etwas gereizt?«

Das Letzte, was ich jetzt brauche, ist ein sinnloser Streit mit der Piercerin.

»Nele hat mich das grad auch schon gefragt«, teile ich ihr deshalb mit, »was ich hier schon mache.«

Wir sind mitten auf der Treppe stehengeblieben. Janis umklammert mit einer Hand fest das Geländer. Ich bekomme schon wieder das Gefühl, dass etwas nicht stimmt.

»Wo ist Juli?«, frage ich.

»Vergnügt sich noch mit Timo«, sagt sie und deutet mit einem knappen Nicken hinter sich.

»Was?«, frage ich einigermaßen entgeistert.

»Ja«, bekräftigt sie bitter, »wie würdest du das denn nennen? Du kriegst auch gar nichts mit, oder? Na ja, ist ja kein Wunder.« Sie lacht despektierlich auf und rührt sich noch immer nicht vom Fleck.

»Kannst du das vielleicht mal ein bisschen konkretisieren?«, bitte ich sie.

»Ha«, lacht sie, »jetzt sag nicht, du hast das echt nicht gemerkt?« Sie schüttelt abfällig den Kopf. »Und was das Arschloch sonst noch so mit ihr ausprobiert hat? Hast du das nicht mitgekriegt? Dass deine Freundin Zigaretten auf sich ausdrücken lässt?« Mir wird gleichzeitig heiß und kalt. Sie schüttelt erneut den Kopf. »Dir ist wohl echt alles scheißegal.«

»Was?«, frage ich schon wieder.

Sie wischt sich mit der Hand über das Gesicht.

»Das Arschloch«, wiederholt sie, »echt.« Ihre Augen sind geschwollen, ich habe sie noch nie weinen sehen. »Ihr seid echt alle …«, schnieft sie, »geh ruhig hin, vielleicht steht ihr da ja alle drauf, was weiß ich, auf was ihr steht.«

Abrupt setzt sie sich in Bewegung und geht an mir vorbei.

»Janis!«, rufe ich ihr nach. Sie dreht sich um. »Er hat mir das erzählt«, sage ich, »dass du mit den Neuen gesprochen hast.« Ich hole einmal Luft. »Timo.«

Sie presst die Lippen zusammen und nickt.

»Super«, sagt sie, »ich hätts mir ja denken können.«

 

Als ich das Zimmer am Ende des Flurs erreiche, das einzige, unter dessen Tür Licht hervordringt, kann ich kaum atmen vor Anspannung. Schon auf dem Treppenabsatz habe ich Julias Stimme gehört, aber es war nicht zu verstehen, was gesagt wurde. Jetzt zögere ich, vielleicht habe ich mich geirrt, vielleicht ist Janis nur eifersüchtig, und wenn schon, es ist Julias gutes Recht, sich anderweitig umzusehen, oder zumindest wäre es das gewesen, als wir noch eine offene Beziehung hatten. Aber ausgerechnet Timo? Ich wünsche mir, dass sie nicht alles mit sich hat machen lassen, was ihm vielleicht so eingefallen ist, ich wünsche mir, dass Janis in Wirklichkeit gar nichts von der ausgedrückten Zigarette gesagt hat, ich wünsche mir Wahnvorstellungen und Amnesien und dass wir gleich ganz normal ins Kino gehen.

»Hör auf«, bittet Julia gedämpft.

»Jetzt doch noch nicht, oder?«, erwidert Timo. »Ein bisschen noch, hm? Das gefällt dir doch?«

Obwohl ich eigentlich nicht wissen will, was Julia gerade gefällt oder nicht gefällt, öffne ich die Tür. Julia und Timo sitzen auf dem Bett, er hat eine Rasierklinge in der Hand, auf der Julias Blut schimmert, es schimmert auch auf ihrem linken Unterarm, in mehreren waagerechten Streifen verlaufen die dünnen, unnötig vielen Schnitte auf ihrer Haut. Es riecht vertraut und schrecklich zugleich. Timo drückt die Klinge ein weiteres Mal herunter und fährt herum, als er bemerkt, dass sie nicht mehr allein sind.

»Vico«, erschrocken zuckt er zusammen, »was machst du denn schon hier?«

Es ist so absurd, dass ich beinahe lachen muss.

»Du sollst aufhören, hat sie gesagt«, entgegne ich.

Julias Hand zittert, trotzdem zieht sie sie nicht zurück und Timo lässt sie nicht los, es hat fast den Anschein, als hätte er vor lauter Schreck vergessen, dass er sie noch immer festhält. Zwischen ihren Beinen und dem blutenden Arm klemmt ein Blatt Küchenpapier. Die Decke liegt zusammengerollt am Kopfende, mir fallen ein paar schwarze, getrocknete Blutflecken auf, von Sascha, oder wahrscheinlich eher von mir. Das war erst am Samstag, es kommt mir vor, als wäre es länger her.

Ich mache einen Schritt auf Julia zu, fasse nach ihrer Hand und befreie sie aus Timos Griff. Das Zewa saugt das herunterlaufende Blut auf wie Löschpapier.

»Was soll das?«, frage ich laut.

»Jetzt reg dich mal ab«, fordert Timo, legt die Rasierklinge auf den kleinen Tisch neben dem Bett und erhebt sich langsam, »entscheidest du das jetzt neuerdings, wie wir uns verabreden oder was?«

Julias Hand zittert immer noch.

»Das war ja okay, bloß …«, sagt sie und beißt sich auf die Unterlippe.

An meinen Fingern ist ihr Blut, ich weiß nicht, wohin damit, und wische es an meiner Hose ab.

»Das war alles okay«, beteuert Timo.

»Das war garantiert nicht okay!«, schreie ich.

»Was sagt sie denn auch nichts, wenn es nicht okay war!«, schreit Timo zurück, »und jetzt überleg mal, was du mit meiner Freundin gemacht hast!« Julia atmet hastig ein und aus, jetzt fängt auch ihre andere Hand zu zittern an. »Überleg das mal«, wiederholt Timo, »du hast ihr den ganzen Arm zerschnitten, und wofür? Wofür? Du bist doch echt krank!«

»Das reicht«, sage ich.

»Du bist echt nicht mehr normal!«, brüllt Timo, »echt nicht!«

»Okay«, sage ich, »wenn das so ist …«, und schlage ihm ins Gesicht, ziemlich heftig, er sieht verwundert aus und betastet ungläubig seine Lippe, ich frage mich, was er denn gedacht hat, dass ich ihm die Hand gebe und ihm gratuliere? Nach einem Schlag in den Magen krümmt er sich und scheint sich wehren zu wollen, wofür er aber immer noch zu überrascht ist, und bei gutem Befinden scheint er auch nicht mehr zu sein. Ich packe ihn fest an seinem abartigen schwarzen Hemd, das er offen über seinem T-Shirt trägt, und versetze ihm einen Stoß, sodass er auf Händen und Knien landet. Und dann stehen Janis und Sascha in der Tür.

Sascha >> [jetzt]

Oh Mann, ich wünschte, Vico hätte sein Geständnis, oder was auch immer das sein sollte, für sich behalten. Ehrlich, es wäre besser gewesen. Jetzt faselt Nele fröhlich über Studium und Piercing und ich krieg kaum was mit, weil ich an diesen einen Satz denken muss. Es war nicht nur Sex … was fällt dem Blödmann überhaupt ein, mir so was zu sagen? Ich meine, ändert das vielleicht irgendetwas? Außer, dass alles noch hundertmal komplizierter wird? Weil ich Vollidiot festgestellt habe, dass da bei mir auch mehr …

»Ich muss los«, beschließt Nele.

»Okay.« Ich nicke, hebe schlapp meine Hand und lasse sie sofort wieder sinken.

Vico, der Penner, macht mich echt fix und fertig.

Kaum ist Nele weg, kommt Janis herein. Sie sieht wütend aus. Und ein bisschen verheult.

»Was ist los?«, frage ich.

Sie lässt sich auf die Couch fallen, nimmt einen Schluck Wein aus der Flasche und schüttelt den Kopf.

»Die Irren sind los.«

»Aha.«

»Echt, hier sind doch alle krank. Krank und hinterhältig und arschig.«

»Hm«, mache ich, weil ich keine verdammte Ahnung habe, worüber die redet. Oh nein, jetzt fängt sie auch noch an zu heulen. Bevor ich Janis noch mal fragen kann, was zum Teufel los ist, schreit Vico irgendwas Unverständliches.

»Was geht denn da ab?«

»Ist mir scheißegal«, murmelt Janis wütend und wischt rabiat ihre Tränen weg.

»Du bist echt nicht mehr normal, echt nicht!«

Okay, das war laut genug und Timos Stimme. Gleich darauf poltert es oben. Man sollte vielleicht mal nachsehen … sagt mir mein Gefühl ziemlich dringend. Ich springe auf, Janis ebenfalls, wir laufen die Treppe hoch, den Flur entlang zum hintersten Zimmer. Die Tür steht auf. Julia sitzt zitternd, nach Luft schnappend und blutend auf dem Bett. Timo kriecht auf allen Vieren am Boden rum und Vico verpasst ihm einen Tritt in die Rippen, sodass er zur Seite kippt und vor Schmerz kurz aufjault. Ich sehe das alles, aber es dauert einen Moment, bis mein Hirn das sortiert bekommt. Bei Janis geht das offenbar schneller, sie ist nämlich schon neben Julia, betupft vorsichtig ihre zahlreichen Verletzungen und versucht, sie zu beruhigen. Derweil versuche ich, mich selbst zu beruhigen, weil der Blutgeruch echt übermächtig ist. Es ist ja nicht bloß Julias Blut. Timos Lippe ist aufgeplatzt, Blut rinnt ihm über das Kinn, es vermischt sich mit dem Blut, das aus seiner Nase läuft. Ich muss kurz die Augen schließen und durch den Mund atmen. Als ich meine Augen öffne, steht Vico teilnahmslos einfach mitten im Raum, starrt Julia an, starrt Timo an, der sich sehr, sehr langsam auf die Beine rappelt. Seine Hand hält sich die Rippengegend, er hustet, stöhnt gequält und spuckt Blut auf den Boden. Ich atme einfach weiter durch den Mund.

»Der Wichser hat mir ne Rippe gebrochen«, röchelt Timo ungläubig, »der verdammte Wichser …« Weiter kommt er nicht, weil Vico ihn an den Schultern packt und gegen die Wand donnert. Erneut jault Timo auf und zu dem ganzen Blut gesellen sich noch ein paar Tränen. Er krümmt sich zusammen, richtet sich auf und weiß offenbar nicht, welche schmerzhafte Stelle er zuerst betasten oder vor Vico schützen soll.

»Willst du nur da stehen und zukucken?«, schnauzt Janis und ich glaube, die Frage ging an mich.

Ey, ich weiß doch nicht mal, was hier passiert, verdammte Scheiße! Und ich bin tatsächlich nicht in der Lage, irgendwie einzugreifen, ich kann mich nicht mal bewegen, ich kann nur zusehen. Vico schlägt Timo hart ins Gesicht, Timo geht auf die Knie, fällt um und bleibt ausgeknockt liegen. Vico wischt sich das Blut von seiner Hand an seinen Klamotten ab und kümmert sich um Julia, die immer noch nach Luft japst und blutet. Timo sagt gar nichts mehr. Fuck! Mein Hirn schaltet sich zum Glück wieder ein. Ich beuge mich zu ihm runter und fasse ihn vorsichtig an. Oh gut, er lebt noch! Er fängt auch wieder an zu husten.

»Kannst du aufstehen?«, frage ich, obwohl ich mir bestimmt Schöneres vorstellen kann, als dem Typen behilflich zu sein. Aber es ist ja niemand sonst da, der ihm helfen will. Timo murmelt irgendwas, Janis hat endlich genug davon, Julia zu beruhigen, und fasst bei Timo mit an. Man muss kein Arzt sein, um zu wissen, dass er mit derartigen Verletzungen wahrscheinlich nicht allein zurechtkommen wird.

»Wir bringen ihn ins Krankenhaus«, erkläre ich überflüssigerweise.

Während wir zu zweit Timo die Treppe runter­schaffen, übergibt sich die Piercingvisage netterweise auf meinen Pullover. Und natürlich ist es hauptsächlich Blut. Wunderbar! Dafür schuldet Vico mir was … aber so was von!

 

Das grelle Licht auf dem Krankenhausflur brennt in meinen Augen. Der Gestank von Timos halbgetrocknetem Blut an mir ist unerträglich. Janis starrt abwesend auf die silberne Tür, durch die ihr Freund auf einer fahrbaren Liege geschoben wurde und die sich soeben geschlossen hat.

»Scheiße«, zischt sie in unregelmäßigen Abständen.

Das ist exakt das, was ich grad denke.

»Ich wusste das nicht. Nicht so. Ich meine … scheiße, wir wollten Vico doch nur eins auswischen.«

Ich sehe sie an.

»Was zur Hölle ist überhaupt los?«

»Timo wollte Vico einen Denkzettel verpassen«, beginnt sie und fängt an zu schluchzen, »ich konnte doch nicht wissen, dass er in Wirklichkeit bloß scharf auf Julia war. Das Arschloch.«

»Was für einen Denkzettel?«, frage ich reichlich genervt. »Seid ihr irgendwie alle bescheuert?«

Janis schiebt ihren Ärmel nach oben.

»Deswegen«, sagt sie und zieht geräuschvoll die Nase hoch.

Ihren Arm zieren ein paar hässliche, breite rote Narben. Die können noch nicht besonders alt sein.

»Vico ist das gewesen?«, vergewissere ich mich vorsichtshalber, auch wenn das eigentlich nicht nötig ist, woraufhin Janis nickt.

»Weil ich den Neuen von uns erzählt habe. Da ist der Spinner total ausgerastet.«

Ey, ich glaub das alles nicht.

»Also Vico zerschreddert deinen Arm, wegen einer verdammten Lappalie, Timo schneidet an Julia rum und Vico schlägt ihn ins Krankenhaus«, fasse ich zusammen und fühle mich auf einmal schwach, müde und … wie die Nebenrolle in einem lächerlich dramatischen Film.

»Und ich dachte, er hätte das alles meinetwegen getan, dabei wollte er die ganze Zeit Julia an die Wäsche«, kriegt sie sich immer noch nicht ein. »Das Arschloch.«

Sie klingt wie eine kaputte Schallplatte, das geht mir tierisch auf den Sack. Und der Gestank von Timos ausgekotztem Blut auf meinem Pullover macht mir so langsam Kopfschmerzen.

»Wir wollten Julia bloß auf unsere Seite ziehen, weg von Vico«, fängt sie erneut an zu erklären, »und wenn ich gewusst hätte, was Timo vorhat … ich meine, das war echt fies, da hätte ich nie zugestimmt, dass er so was mit ihr macht, und wenn mein Arm noch hundertmal schlimmer aussehen würde. Schon das mit der Zigarette war total drüber, das hab ich Timo auch gesagt. Ich war echt sauer.«

»Was mit der Zigarette?«, frage ich blöde.

»Na ja, dass Timo Julia mit ner Zigarette verbrannt hat. Ich fand das ekelhaft und Timo hat bei mir so getan, als täte ihm das leid. Aber eigentlich steht er drauf und hat sich wohl eingeredet, dass Julia auch drauf steht, keine Ahnung. Ist das alles pervers. Echt.«

Okay, jetzt hätte ich Lust, Timo nachträglich auch noch eins in die Fresse zu geben! Ganz dicht ist der ja offensichtlich nicht. Zigaretten auf irgendwelchen Mädchen ausdrücken … ey, das geht ja mal gar nicht. Sicher hatte der in seiner Kindheit auch Spaß daran, Tiere zu quälen. Was für ein Arschloch!

»Du glaubst mir doch, dass ich das alles nicht wusste?«, fragt sie. »Oder?«

»Ja«, sage ich, weil ich ihr so eine miese Sache wirklich nicht zutraue und ich frage mich, wieso ich überhaupt noch hier sitze? Timo sah nicht aus, als würde er gleich krepieren, ich könnte also bequem verschwinden. Zumal der Wichser es, wie’s aussieht, verdient hat, was aufs Maul zu kriegen.

Ich bleibe trotzdem geduldig sitzen, bis sich nach einer gefühlten Ewigkeit die silberne Tür aufschiebt. Dann warte ich auch noch geduldig, bis Janis mit dem Arzt gesprochen hat, nachdem Timo auf der Liege weggebracht wurde.

»Er hat eine Gehirnerschütterung, zwei Rippen und das Schlüsselbein gebrochen«, setzt sie mich über seinen Zustand in Kenntnis. Keine Ahnung, was sie dem Arzt erzählt hat, dass sie zur Familie gehört oder Timos Frau ist oder Arzthelferin, normalerweise kriegt man doch als Fremder keine Auskünfte, oder? »Er wird erst mal hierbleiben müssen. Ich ruf seinen Bruder an, der kann ihm Klamotten vorbeibringen. Das ist alles, dann will ich nichts mehr mit dem ganzen Mist zu schaffen haben. Soll ich dich nach Hause fahren?«

»Nee, lass mal«, antworte ich. »Aber«, fällt mir noch ein, »was ist mit Julia?«

»Wir haben für den Notfall ein bisschen was auf dem Hof … soweit ich das beurteilen konnte, muss bei ihr nichts genäht werden, da reichen Steri-Strips. Und vielleicht ne Diazepam, damit sie sich beruhigt. Vico macht das schon.«

Klar, der kann ihr notfalls sogar eine Spritze verpassen.

»Okay, also dann …«

»Sascha«, ruft sie mir nach.

»Ja?«

»Danke.«

 

Als ich draußen vor dem Krankenhaus stehe, weiß ich ganz klassisch erst mal nicht weiter. Ein ekelhafter Brechreiz kriecht meinen Hals empor, zwei Sekunden später kotze ich ins Blumenbeet links neben mir. Danach bin ich immer noch nicht bereit, nach Hause zu gehen. Was, wenn Vico da ist? Was, wenn er mit Julia da ist?

Eine Weile laufe ich ziellos durch die dunklen Straßen, besorge mir im Spätkauf eine Flasche Billigfusel und setze mich auf eine Bank im Park. Ich friere erbärmlich, aber der Schnaps wärmt mich wenigstens von innen. Tausend Gedanken schießen mir durch den Kopf, also trinke ich mehr. Vico. Verdammt, gestern war noch alles halbwegs in Ordnung. Ich lag in seinen Armen, wir haben uns geküsst … plötzlich erzählt er so eine Scheiße, dass es nicht nur Sex ist. Ja, was ist es denn dann? Er wird sich nicht urplötzlich in mich verliebt haben. Er ist in Julia verliebt. So sehr, dass er sie vor Timo beschützt hat. Ach Gott, wie ritterlich! Okay, die Piercingvisage hat schlimme Sachen mit seiner Freundin angestellt, aber da hätte ein gezielter, kräftiger Schlag gelangt. Meinetwegen noch der Tritt in die Rippen. Vico hat es reichlich übertrieben, finde ich. Besonders die Sache mit Janis, nur weil sie gegen irgendeine hirnrissige Regel, die die Spinner aufgestellt haben, verstoßen hat, verpasst er ihrem Arm derartige Andenken für die Ewigkeit?! Was stimmt nicht mit dem Typen? Ich weiß, es ist abgedroschen und klischeehaft, aber als Vico so krank drauflos­geprügelt hat … da hat er mich echt krass an meinen Vater erinnert. Dem war ein Schlag auch nicht genug, bis auf das eine Mal, als ich genäht werden musste. Und er war dabei auch immer vollkommen nüchtern. Vico war auf jeden Fall heute nüchtern, ob bei der Sache mit Janis’ Arm Alkohol im Spiel war … keine Ahnung. Ist überhaupt nicht wichtig. Vico hat offensichtlich ein Problem. Ein ganz gewaltiges, gewalttätiges. Und ausgerechnet in so einen Kerl muss ich mich verlieben, man könnte drüber lachen, wenns nicht so abartig wäre. Aber damit ist jetzt Schluss. Es führt ja auch nun wirklich nirgendwohin. Eine beschissene Dreiecksgeschichte ist so ziemlich das Letzte, was ich brauchen kann. Zumal Vico heute mehr als deutlich gezeigt hat, wer bei ihm an erster Stelle steht. Überraschung … das bin nicht ich! Na gut, das war eine besondere Situation und Julia hat echt schlimm ausgesehen. Trotzdem. Für mich ist da kein Platz.

Fuck, es wird bald hell und ich bin mehr als ange­schickert, Zeit, nach Hause zu gehen.

 

In unserer Wohnung brennt Licht. Auch schon egal. Ich fahre mit dem Fahrstuhl nach oben, schließe die Tür auf und muss kurz die Luft anhalten, weil die Wärme mich fast erschlägt. Ich bin es nicht mehr gewohnt, bei Temperaturen im einstelligen Bereich draußen herumzulungern, merke ich grad und fange nachträglich an zu zittern. Und be­kloppterweise fällt mir auch erst jetzt auf, dass ich keine Jacke trage, die liegt noch irgendwo auf dem Hof im Wohnzimmer oder so, meine Tasche hab ich allerdings mitgenommen. Mindestens genauso bekloppt ist es, in der Küche nachzusehen, ob da jemand ist. Das Licht ist eingeschaltet, also wird er da sein, es sei denn, er hätte bloß vergessen, das verdammte Licht aus­zumachen. Vico sitzt am Küchentisch und trinkt in aller scheiß Seelenruhe Whiskey. Mann, der hat vielleicht Nerven!

»Hey«, sagt er leise, als er mich sieht.

»Oh, Schatz, du hast auf mich gewartet?«, frage ich und lächle horrorartig.

»Ich – also, Julia ist … ich konnte sie ja schlecht allein in ihrer Wohnung … also sie schläft in dem freien Zimmer. Ist das … okay?«

»Klar«, erwidere ich schulterzuckend, »solange sie nicht in meinem Zimmer schläft.«

»Nein, ich meine … dass sie hier ist. Es ging nicht anders.«

»Ich verstehe schon, dass du deine Freundin nicht allein lassen wolltest, nachdem du sie so ritterlich verteidigt hast. Übrigens … Timo liegt mit gebrochenen Rippen, nem kaputten Schlüsselbein und ner Gehirnerschütterung im Krankenhaus, falls dich das irgendwie interessiert. Janis hat mir die Narben an ihrem Arm gezeigt und …«, ich zupfe an meinem Pullover, auf dem sich logischerweise immer noch Timos Blut befindet und der sich inzwischen hart und ekelhaft auf meiner Haut anfühlt, »ich muss aus den verdammten Klamotten raus. Ich wünsch dir eine angenehme Nacht und einen erholsamen Schlaf.«

»Sascha …«

»Echt, Vico, ich hab genug für heute. Mehr als das«, sage ich und mache, dass ich in mein Zimmer komme.

Keine Ahnung, wie es jetzt weitergehen soll. Mit ihm. Mit mir. Mit Julia. Mit allem.

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