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Exsanguis

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Liebe Vampire, Vampyre und Sympathisanten,

lange hab ich relativ geheimniskrämerisch mit meiner Lieblingsfreundin zusammen an einem Projekt gearbeitet, das ich nun auch endlich hier veröffentlichen darf! Es ist nämlich so, dass uns zwei waschechte Vampire, Vico und Sascha, damit beauftragt haben, ihre Geschichte aufzuschreiben. Das Ergebnis könnt Ihr nach und nach hier lesen!

Da ich mit der Lieblingsfreundin obendrein noch einen Verlag, und zwar den eygennutz Verlag, gegründet habe, wird Exsanguis auch in Buchform erscheinen, also wenn Ihr es vor Spannung nicht aushaltet oder sehr gerne Euch und Eure Liebsten mit einem schönen Buch beschenken wollt … Band I und II gibt es bereits überall im Handel.

Und jetzt viel Vergnügen bei der unmystischsten Vampirgeschichte ever … garantiert glitzerfrei :-)

Sascha >> [jetzt]

„Vico, das ist Sascha. Sascha, das ist Vico“, behauptet Linda.

„Du bist kein Mädchen“, behaupte ich.

„Scharf beobachtet“, behauptet Vico, verdreht die Augen und schenkt mir ein mitleidiges Lächeln.

Okay, der Typ geht mir bereits nach drei Sekunden auf den Geist! Zu seiner Entschuldigung muss ich sagen, dass er die Begleitumstände nicht kennt. Deshalb fänd ich es nett, wenn er sich verpissen würde, anstatt hier so unaufgefordert und unerwünscht auf neuen Mitbewohner zu machen. Leider sieht es nicht danach aus, als würde er mir diesen Gefallen tun, denn er zieht grad' mit Sack und Pack hier ein. Ich schubse Linda in die Küche und starre sie böse an.

„Das geht nicht mit dem Typen da. Wir hatten uns auf ein Mädchen geeinigt.“

„Du hast dich geeinigt“, stellt sie klar. „Mir ist das schnuppe.“

Logisch, sie wohnt ja auch nicht hier sondern bei ihrem Macker. Der ist fünfzehn Jahre älter als sie und hat Kohle ohne Ende, weshalb sie auf das Geld von mir oder anderen Leuten nicht mal dringend angewiesen ist.

„Trotzdem“, beharre ich.

„Du meine Güte“, seufzt sie und schüttelt den Kopf, „Vico soll nicht dein neuer bester Freund werden, ihr teilt euch nur eine Wohnung. Komm damit klar … oder zieh aus.“

Letzteres ist keine Option. Die Wohnung befindet sich nämlich in einem leicht gruselig wirkenden Jugendstilhaus mitten in der Stadt, man ist also quasi sofort überall, wenn man vor die Tür geht. Außerdem hat es einen Fahrstuhl mit einer altertümlichen, gitterartigen Schiebetür … wie man sie sich in etwas heruntergekommenen Hotels im Paris der 1920er vorstellt. Und eine Art von Hotel war Lindas Wohnung bisher ja auch. Die Zimmer wurden tageweise oder höchstens für eine Woche vermietet. Das war natürlich super, weil man sich nicht die Mühe machen musste, die Leute kennenzulernen. Allerdings war Linda es dann leid, ständig Zimmerbesichtigungen und so machen zu müssen, und vermietet jetzt halt langfristig. Wobei sie sich bei der Wahl auf mein Urteil nicht verlassen wollte. Ich hätte nämlich beispielsweise gerne eine Stripperin oder Nachtclubsängerin gehabt … irgendwas Cooles. Jedenfalls nicht so einen Wischiwaschi-Typen wie Vico. Schon der Name geht meiner Meinung nach überhaupt nicht. Und der erste Blick auf ihn … na ja … relativ hübsche Visage, lange, schwarze Haare, aber ansonsten alles so … schrecklich dezent. Dezente, schwarze Kleidung, dezente Höflichkeit, dezentes Lächeln. Mir ist sofort aufgefallen, dass dieses Lächeln nicht echt ist. Hat er wahrscheinlich vorm Spiegel geübt oder so. Linda bemerkt solche Dinge nicht, denn sie ist eine Frau, und wenn ein Kerl hübsch ist, reicht ihr das … wie sie beim neuen Mitbewohner mal wieder eindrucksvoll bewiesen hat.

Vico >> [jetzt]

„Ich könnte gelegentlich Röcke tragen, wenn es dir hilft“, bemerke ich und lehne mich gegen den Türrahmen, „oder hohe Schuhe.“

Mir ist ein bisschen schwindlig. Das war aber auch mal eine scheiß Nacht gestern.

Sascha und Linda drehen sich so unvermittelt um, als hätten sie vergessen, dass ich noch da bin.

„Oh“, sagt Linda, lacht etwas aufgesetzt und streicht sich die blonden Haare aus dem Gesicht, „wie dem auch sei – du hast das Zimmer ja schon gesehen, die Schlüssel hab ich dir gegeben, also … Ich müsste dann jetzt auch mal langsam los.“

„Aha?“, fragt Sascha, stützt eine Hand auf den Küchentisch und schiebt die andere in die Hosentasche.

„Ja“, Linda hebt eine Braue und wirft demonstrativ einen Blick auf die Uhr an ihrem Handgelenk, „so allmählich.“

„Nein, ich meine … er“, Sascha nimmt die Hand wieder aus der Tasche und winkt knapp in meine Richtung, „war schon hier?“

Die lila Strähnen sind mal echt etwas drüber, denke ich.

„Ich hab versucht, dich anzurufen“, lässt Linda sich nicht irritieren, „aber du bist nicht rangegangen.“

Sascha verschränkt die Arme vor der Brust und schüttelt resigniert den Kopf.

„Nur kurz“, relativiere ich und versuche die Situation etwas zu entspannen.

„Ich fass' es nicht“, seufzt er.

Er trägt Kajal. Er trägt Kajal und ein Lederband mit Stacheln um den Hals, es ist nicht zum Aushalten. Aber eigentlich ist mir das vollkommen egal. Eigentlich will ich mich nur sehr gern hinsetzen. Oder besser noch: legen.

„Du weißt genau“, erinnert Linda ihn mit einer gewissen Schärfe, und ich ahne, dass man sich besser nicht mit ihr anlegt, wenn man es gemütlich haben möchte, „was das hier kostet, also lass mich wissen, wenn du die Wohnung irgendwann mal komplett mieten willst, mir soll's recht sein.“

Sascha hebt beschwichtigend die Hände.

„Alles cool“, findet er, „willkommen zu Hause, Vico.“

„Nicht vergessen, dass ich im Moment keinen Ersatzschlüssel habe“, Linda sieht zuerst mich, dann Sascha an, „falls sich mal einer aussperrt.“

„Kein Problem“, grinst Sascha.

Er kommt mir bekannt vor. Aber woher? Egal, denke ich, er möchte wohl gern auffallen mit den schwarz-lila Haaren und dem ganzen Klimbim. Na ja, klappt ja auch.

„Das dachte ich mir“, grinst Linda kühl zurück, „dass das für dich kein Problem ist. Also dann …“ Sie wendet sich mir zu, lächelt und legt den Kopf schräg. „Wenn ihr was braucht, meldet euch.“

„Sehr gern“, bestätige ich.

„Ach so …“, fällt ihr noch etwas ein, „Sascha heißt eigentlich Alexander, nur zur Info. Nicht, dass es da mal irgendwelche Missverständnisse gibt. Wenn Post kommt“, fügt sie hinzu, „oder so.“

„Aber meine Freunde“, wirft Sascha ein und streicht sich eine Ponysträhne aus dem Gesicht, „nennen mich Sascha.“

„Aha“, sage ich.

„Dann hätten wir ja jetzt alles geklärt“, beendet Linda das Thema, nickt ausgesprochen freundlich, schiebt sich an mir vorbei in den Flur und öffnet die Wohnungstür, „bis dann mal!“

Sofort wird es kalt, es ist Februar, draußen friert es, mir läuft ein Schauer über den Rücken, ich muss mich wirklich dringend hinlegen. Aber ganz dringend. Dabei ist es nicht einmal halb elf, aus dem Erdgeschoss sind gedämpft Musik und die Stimmen der ersten Gäste zu hören, richtig voll wird es in der Bar erst ab Mitternacht. Ich war ein paar Mal dort und es kommt mir komisch vor, dass ich jetzt hier oben in der Wohnung herumstehe, mit Kopfschmerzen, schlechter Laune und diesem Vogel, der es, so wie er aussieht, offenbar schick findet, hier zu hausen, vielleicht rebelliert er gegen seine Eltern oder hat sein Studium abgebrochen oder hält sich für einen Künstler, was weiß ich. Ich will einfach meine Ruhe haben, zumindest für heute, der Rest wird sich finden, solange man sich nicht zu oft über den Weg läuft.

„Das war nicht gegen dich“, erklärt der Vogel und schlendert zum Schrank herüber, „ich muss mich bloß erst dran gewöhnen, dass sie jetzt auf Dauer vermietet. Bisher war nur ich hier der Stammgast, sozusagen. Willst du was trinken?“, fragt er und öffnet eine Flasche mit einem hippen Mixgetränk.

Der Küchenschrank stammt noch aus den Fünfzigern, kein Retroschnickschnack, das sieht man, und das gefällt mir, es ist ein bisschen, als würde man sich etwas Leben aus einer Vergangenheit ausleihen, die man noch nicht miterlebt hat.

„Irgendwas ohne Alkohol“, erwidere ich, „wenn du was da hast.“

Sascha nickt. Ich bekomme ein Glas Leitungswasser.

„Danke“, sage ich.

Sascha holt Schwung, lässt sich auf der Arbeitsplatte neben dem Herd nieder und nimmt einen Schluck aus seiner Flasche. Irgendwo hab ich ihn schon mal gesehen, aber ich komme einfach nicht dahinter, wo. Vielleicht klappt es morgen wieder besser mit dem Denken. Ich lasse den Kopf gegen den Türrahmen sinken und schließe für einen Moment die Augen.

„Alles in Ordnung?“, erkundigt sich Sascha.

Ich mache die Augen wieder auf.

„Klar“, sage ich, „ich hatte bloß einen langen Tag.“

„Besonders viele Sachen hast du ja nicht dabei“, stellt er fest und deutet mit dem Kinn Richtung Flur, wo meine beiden Taschen auf dem Boden stehen.

„Brauch ich ja auch nicht“, grinse ich schief und schaffe es, mich endlich vom Türrahmen zu lösen.

Ich sehe ihm an, wie er hofft, dass ich gleich sage, ich hätte nicht vor, lange zu bleiben. Aber ganz so optimistisch ist er anscheinend doch nicht.

„Da ist was dran“, stimmt er zu, „sonst hättest du dir ja nichts Möbliertes gesucht.“

„Exakt“, sage ich.

„Tja“, seufzt er, „wenn du schon hier warst, kennst du ja den Weg.“

„Da ich kein Mädchen bin“, entgegne ich, „muss ich auf die Führung durch die Wohnung wohl verzichten, nehm' ich an?“

Sascha baumelt mit den Beinen.

„Ich muss gleich noch weg“, informiert er mich.

Das ist ein gutes Zeichen, denke ich, weg ist immer gut, weg ist in diesem Fall genau das Richtige.

„Na dann“, bemerke ich achselzuckend, „bis demnächst mal.“

Ich schleppe eine der beiden Taschen in mein neues Zimmer und sehe mich um. Vom Fensterkreuz blättert der Lack, es riecht nicht gut. Ich lasse mich auf die durchgelegene Matratze fallen und lehne mich gegen die Wand, sie fühlt sich klamm an. Mein rechtes Handgelenk tut weh, ich mache abwechselnd eine Faust und spreize dann die Finger. Es hilft nicht.

Da taucht Saschas Gesicht in der Tür auf.

„Und du bist dir sicher, dass alles in Ordnung ist?“, hakt er nach und schiebt mit dem Fuß die zweite Tasche herein.

Ich muss ja extrem frisch und ausgeschlafen aussehen, denke ich, und blinzle zweimal, um den Schwindel zu vertreiben. Aber, hey, er hat mir die Tasche vorbeigebracht, das ist ja mal ein Service.

„Ah“, lache ich, „möglicherweise bin ich doch ein Mädchen?“

„Ich dachte, ich geb' mir mal ein bisschen mehr Mühe in Sachen Gastfreundlichkeit“, erwidert er.

„Danke“, sage ich.

„Du muss dich nicht für jede Kleinigkeit bedanken“, findet er.

„Okay“, gebe ich zurück und stehe auf, um die Tasche weiter in den Raum zu ziehen, „wie lange bist du schon hier?“

Sascha ist ein bisschen kleiner als ich, hat dunkle Augen und ist ansonsten ziemlich blass. Beachvolleyball und Vitamine sind wohl nicht so sein Ding.

„Ach“, weicht er aus, „schon eine ganze Weile.“

Ich nicke.

„Ich leg mich mal hin“, erkläre ich.

„Gute Nacht“, erwidert er.

„Danke“, bedanke ich mich.

„Du musst dich nicht –“, sagt er.

„Oh“, erinnere ich mich, „stimmt. Entschuldigung.“

Wir müssen kurz lachen, aber dann reicht es auch, Sascha geht, ich schließe sorgfältig die Tür ab und lasse mich wieder auf der Matratze nieder. Ich schaffe es nicht mal, meine Decken auszupacken.

Das muss aufhören, denke ich, das muss unbedingt aufhören, die ganzen Exzesse, der ganze Scheiß, alles. Unbedingt.

Sascha >> [jetzt]

Ich finde es relativ gemein, dass Linda ausgerechnet bei mir ihre Wohnungseigentümer-Karte ausgespielt hat. Und dann auch noch vor dem Neuen. Immerhin passe ich seit Monaten auf, dass die Leute, die hier logieren, sich benehmen. Einige waren nämlich … na ja, ich hätte denen kein Zimmer vermietet. Nicht mal für eine halbe Stunde. Deshalb befindet sich der Ersatzschlüssel sicher in meinem Zimmer anstatt in Lindas Tasche. Sie weiß es vielleicht noch nicht, aber … in Wirklichkeit hab ich hier das Sagen, die Kontrolle und überhaupt. Bis auf die Sache mit dem neuen Mieter. Was soll's?! Es ist nicht mehr zu ändern. Möglicherweise ist Vico ja wenigstens Nachtclubsänger. Wie ein Stripper sieht er nicht unbedingt aus. Viel zu dezent! Sein unterwürfiges Danke nach ungefähr jedem Satz geht mir ein bisschen auf den Sack, aber ich muss ja nicht ständig mit ihm smalltalken. Also ist es okay. Einen etwas ramponierten Eindruck hat er gemacht und ich möchte gerne wissen, was es bei so einem dezenten Typen bedeutet, einen langen Tag gehabt zu haben. Andererseits … interessiert es mich auch eigentlich doch nicht. Schließlich hab ich genug Probleme. Eines besteht darin, dass morgen der berühmt-berüchtigte Valentinstag ist, verdammte Scheiße. Mit Silvi hab ich den immer gefeiert. Vier Jahre lang. Bis ich abserviert wurde. Abserviert und ersetzt. Nach allem, was wir zusammen erlebt und durchgemacht haben. Das ist jetzt vier Monate her. In vier Monaten jemanden zu vergessen, den man vier Jahre bedingungslos geliebt hat, ist leider unmöglich. Das stelle ich jeden Tag aufs Neue fest.

Na schön, ich habe Silvi betrogen. Mehrfach. Aber das war doch gar nichts. Will sagen, meine Aufrisse waren total und vollkommen bedeutungslos. Und was hab ich für ihn auf mich genommen … was für ihn aufgegeben! Aber anstatt es auch mal von der Seite zu sehen, konnte ich vor vier Monaten zusehen, wo ich so schnell unterkomme, weil er mich eiskalt rausgeschmissen hat. Ich nehme an, mein Nachfolger ist direkt danach bei ihm eingezogen. Silvi ist nicht der Typ, der lange allein sein kann. Und ich sollte endlich damit aufhören, ihn so romantisch Silvi zu nennen!

Okay, Zeit, arbeiten zu gehen.

Trotz der beschissenen Fuck-Kälte ist im Park ziemlich viel los. Die Wintermonate sind eine gefährliche Zeit, weil es da durchaus passieren kann, dass einem die Kunden wegsterben, wenn sie nächtelang draußen herumliegen. Deshalb deale ich nicht mit superharten Sachen. Außerdem haben Junkies meist nicht viel Geld, sehen extrem fertig aus und riechen unangenehm. Zu meiner Kundschaft gehören Studenten, Künstler, Partypeople, der gemeine kleine Kiffer und die versnobten Arschgeigen aus dem Villenviertel. Letztere bestelle ich zu meinem eigenen Vergnügen hierher, denn man sieht denen die Angst um ihre teuren Designerklamotten, Angeberschlitten und Rolexuhren natürlich sofort an. Die müssen dann meist durch den gesamten Park laufen, weil hier alles hübsch geordnet ist: Am Teich in der Mitte hocken die Säufer, rechts daneben und durch einen Schotterweg getrennt befinden sich kleinere, von Rosen umrahmte Nischen mit Sitzbänken, da hängen die Junkies rum, im hinteren Teil des Parks kann man dann alles Mögliche an Drogen kaufen. Von den Säufern krieg ich nur im Sommer was mit, weil die sich, wenn's zu kalt wird, nach irgendwohin verziehen. Und die Junkies sind für gewöhnlich echt friedlich … alles andere würden die in ihrem Dämmerzustand nicht hinkriegen, was die versnobten Arschgeigen aber nicht wissen. Ich hasse die versnobten Arschgeigen wie die Pest, aber die zahlen halt für n bisschen Koks jeden Preis. Feilschen tun die nicht, denn die wollen logischerweise so schnell wie möglich weg. Bevor denen die teure Anlage aus dem Angeberschlitten geklaut wird. Lasst euer Auto doch zu Hause und fahrt mit dem Bus, ihr Pisser! Nebenbei … Drogen werden eh völlig überbewertet.


Den Neuen hab ich gestern nicht mehr gesehen. Musste sich vermutlich erst mal gehörig ausruhen von seinem langen Tag. Na ja, es soll Menschen geben, die nachts schlafen. Aber so allmählich scheint er munter zu werden, hinter seiner Zimmertür sind Schritte zu hören. Ich klopfe einfach mal. Um mich abzulenken. Um nicht vom Liebeskummer überwältigt zu werden. Aus keinem anderen Grund. Vico öffnet gemächlich und schenkt mir schon wieder diesen spektakulär genervten Blick, den er bei unserem gestrigen Kennenlernen drauf hatte.

„Ja?“, fragt er.

„Wollte nur wissen, ob du dich schon eingelebt hast.“

„Ich hoffe, du klopfst jetzt nicht jeden Tag und fragst mich das“, sagt er kopfschüttelnd.

„Ich wollte dir bloß die Regeln des Hauses erläutern. Auch wenn du länger bleibst, du kannst hier nicht machen, was du willst … wenn du das gedacht haben solltest“, entgegne ich.

„Alles klar“, behauptet er und lächelt sein beschissen überheblich-mitleidiges Lächeln.

„Ich gehe gleich runter in die Bar. Hast du Lust, mitzukommen?“

Haha, damit hat der Penner nicht gerechnet. Er wirkt irritiert.

„Wie bitte?“

„Du könntest mir ein Bier ausgeben … so als Einstandsessen.“

„Und dabei erläuterst du mir dann die Regeln des Hauses?“, grinst er leicht.

„Klar, wenn du möchtest.“

„Ich überleg's mir“, entgegnet er und schließt die Tür.

Was für ein Flachwichser! Augenblicklich bereue ich es, dass ich aus purer Nettigkeit extra Mineralwasser, Limo und Fruchtsaft gekauft habe, weil die Nummer mit dem Leitungswasser … Mann, da hätte mich doch jeder für einen fiesen Suffkopp gehalten. Das will man ja nun auch wieder nicht. Heute allerdings muss ich mich abschädeln. Und zwar dringend.

Die Bar ist bereits gut besucht. Anscheinend gibt's außer mir noch genügend Leute, die den Valentinstag nicht romantisch zu zweit feiern. Trotzdem ist mir nicht nach Gesellschaft, weswegen ich mich an den hintersten Tisch setze und hoffe, meine Ruhe beim Besaufen zu haben. Irgendwann, nach dem soundsovielten Bier, erscheint doch tatsächlich der dezente Flachwichser, stellt eine Flasche auf den Tisch, behält sein Whiskeyglas in der Hand und setzt sich.

„Ich hab's mir überlegt“, sagt er.

„Offensichtlich.“

Eine Weile trinken wir stumm und beobachten die Leute. Übrigens gehört die Bar Lindas Macker, weil dem nämlich das ganze Haus gehört … bis auf Lindas Wohnung. Ich glaube, dem Macker gehören hier im Viertel noch andere Häuser, aber genau weiß ich's nicht. Meine Güte, der Neue ist ja mal gesprächig.

„Also, wollen wir uns jetzt ein bisschen kennenlernen?“, frage ich unmotiviert.

„Du meinst, wir erzählen uns, wann wir Geburtstag haben, was wir beruflich machen und was unsere Lieblingsfarben sind?“, fragt er und grinst bescheuert.

„Irgendein Gesprächsthema müssen wir finden, sonst wird's eine echt langweilige Angelegenheit.“

„Okay“, er beugt sich vor, legt Daumen und Zeigefinger an sein Kinn und sieht mich übertrieben konzentriert an, „was machst du denn so beruflich, Alexander?“

„Ach du Scheiße“, sage ich entsetzt, weil mein Blick aus Versehen an einem Typen hängenbleibt, der eigentlich so gar nicht in diese Lokalität passt … Designerjeans, teure Schuhe, schwarzes Hemd. Der Grund für mein Entsetzen ist aber ein anderer.

„Was ist los?“, fragt Vico wie aufs Stichwort.

„Der Typ da vorne sieht aus wie mein Ex“, erkläre ich.

„Ex wie … Exfreund?“

„Ja, hast du etwa ein Problem damit?“, rege ich mich auf.

„Nein“, antwortet Vico ruhig, „aber du offenbar. Wir können gerne woanders hin, wenn's dir unangenehm ist.“

Vico << [zwei Nächte zuvor]

Ich war das nicht! Wir können doch noch mal drüber reden“, Levins Stimme zitterte, nur ganz leicht, aber mir entging das nicht, „können wir nicht noch mal drüber reden?“

Ich ging vor ihm in die Hocke und suchte seinen Blick, nun auf Augenhöhe. Julia stand noch immer an ihrem Platz und hielt für einen Moment den Atem an.

Ich denke …“, begann ich und machte eine Pause.

Julia verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen.

Ich denke“, wiederholte ich, „nicht.“

Aber –“, widersprach Levin gehetzt, als hätte er es eilig, und machte Anstalten aufzustehen.

Schscht“, sagte ich und legte ihm den Zeigefinger auf die Lippen.

Levin blieb sitzen, mit angezogenen Knien gegen die Wand gelehnt. Sein Gesicht war gerötet, hastig fuhr er sich durch die zerzausten blonden Haare.

Du hast das nur falsch verstanden“, unternahm er einen neuen Versuch sich zu verteidigen, „ich hab überhaupt nichts gesagt, ehrlich nicht.“ Er wirkte gar nicht mehr betrunken, ich wahrscheinlich auch nicht, zumindest gab ich mir alle Mühe.

Ist das so?“ Ich richtete mich langsam wieder auf, ohne ihn aus den Augen zu lassen.

Ich würd' doch nicht“, beharrte Levin und geriet ins Stottern, „ich würd' doch nicht –“

Aufmerksam sah ich auf ihn herab.

Was?“, fragte ich.

Mann, Vico, jetzt komm doch mal wieder runter“, verlangte er. Fehler.

Der Schlag traf ihn hart und, obwohl er damit hätte rechnen können, anscheinend überraschend ins Gesicht, sodass er verwundert die Hand hob, seine Wange betastete, dann seine Lippe, dann die Stirn, und sich endlich entschloss aufzustehen, aber ich war schneller.

Nach dem zweiten Schlag blieb er auf den Knien und beugte sich keuchend vornüber. Er räusperte sich und spuckte einmal aus. Julia sah zu.

Okay“, sagte Levin heiser und hustete trocken, „okay.“

Ich nahm Julia die Flasche aus der Hand und trank, die Nacht hatte schlecht angefangen und war noch schlechter weitergegangen. Und morgen hieß es: einen halbwegs zivilisierten Eindruck machen, zumindest auf die neue Vermieterin.

Ich gab Julia die Flasche zurück und strich Levin sanft über die Schulter.

Du kannst es wieder gutmachen“, sagte ich.

Vico >> [jetzt]

„Ach“, seufzt Sascha und holt tief Luft, „nee, lass mal.“ Er reibt sich die Wange. „Aber das war schon mal kein guter Start in den Abend.“

Ich nicke.

„Eben war ich nicht besonders höflich“, gebe ich zu, „tut mir leid. War alles etwas stressig in der letzten Zeit.“

Sascha sieht auf.

„Du musst dich nicht immer entschuldigen“, findet er und klingt schon etwas heiterer.

„Ich wollte es bloß mal gesagt haben“, bekräftige ich und das meine ich auch so, man muss sich ja nicht ständig schlecht benehmen, der kleine Freak hat mir schließlich nichts getan.

„Alles klar“, lacht Sascha und lässt den Blick schweifen.

Der vermeintliche Ex steht an der Theke, ein komplett anderer Typ als Sascha, aber Gegensätze ziehen sich bekanntlich an. Das Stimmengewirr ist lauter als die Musik, es ist wirklich ziemlich voll. Zur Feier des Tages sind die Fenster mit Herzchen-Girlanden dekoriert.

„Das ist doch …“, nimmt Sascha den Faden wieder auf, „ich meine, da schmeißt der Penner mich nach vier Jahren raus. Einfach so“, er wird lauter, „ist doch scheiße.“ Er schüttelt den Kopf. „Aber bestimmt nichts, was dich interessiert.“

„Warum nicht?“, sage ich. „Und dann bist du hier eingezogen?“

„Sollte eigentlich nur vorübergehend sein“, erwidert er.

„Ja“, bestätige ich, „wenn man was Dauerhaftes sucht, dann wahrscheinlich nicht unbedingt hier.“

„Wo wir schon mal dabei sind, uns jetzt doch ein bisschen kennenzulernen“, grinst er und stützt die Ellbogen auf den Tisch, „was machst du denn so beruflich?“

„Nichts Besonderes“, winke ich ab, „ich bin selbstständig, IT-Kram, Webseitenoptimierung und so was.“

Sascha sieht nicht aus, als fände er das besonders spannend.

„Cool“, lügt er.

„Es gibt Schlimmeres“, sage ich.

„Auf jeden Fall.“ Er nickt und streicht sich ein paar Haarsträhnen aus der Stirn. „Trinken wir noch was?“

Ich sehe auf die Uhr zwischen den beiden Fenstern mir gegenüber.

„Ich muss gleich los“, erkläre ich, „ich bin noch verabredet.“

„Ah“, er klingt wieder etwas interessierter, „ein Date?“

„Mit meiner Freundin“, antworte ich und hebe eine Braue, „und am Valentinstag sollte ich mich besser nicht verspäten.“

„Ja“, stimmt Sascha angetrunken zu, „besser nicht.“

Er hat hübsche braune Augen mit ziemlich dichten Wimpern, irgendwas muss er angestellt haben, denke ich, dass der Typ ihn abserviert hat.

Draußen ist es kalt und feucht und etwas neblig und ich bin froh, dass ich es nicht weit habe. Das neue Zimmer liegt ausgesprochen günstig, zentral, aber trotzdem in einer Gegend, in der sich niemand über den Vorgarten der Nachbarn beschwert, hauptsächlich deshalb, weil es keine Vorgärten gibt, zumindest keine gepflegten, und es sind nur ein paar Minuten bis zu Julias Wohnung. Zwei Wochen war ich bei ihr, bis ich durch Linda von dem freien Zimmer erfahren habe, gut, dass das vorbei ist. Es hat die Dinge nicht gerade einfacher gemacht. Ich hatte permanent Paranoia, obwohl Julia zu den Leuten gehört, in deren Gesellschaft ich mir wohl die wenigsten Gedanken machen müsste, aber Paranoia hatte ich trotzdem und wenn ich mal keine hatte, kam mir das auch wieder verdächtig vor.

Den Schlüssel wollte sie nicht zurückhaben, also brauche ich nicht zu klingeln, im Hausflur ist es warm und oben scheint gedämpftes Licht durch die Milchglasscheibe ihrer Wohnungstür. Ich halte kurz inne, bevor ich eintrete, es riecht nach Kirschkuchen, Julia hat doch tatsächlich gebacken. Wenn man sich überlegt, was sie sonst so treibt, mit den anderen und mit mir, und dass sie selbst davon sowieso nicht viel essen wird, ist das fast ein bisschen grotesk oder vielleicht auch gerade nicht. Vielleicht ist das jetzt genau das Richtige, Valentinstag mit Kirschkuchen und Kerzenschein oder es ist eine Falle, das Ende von allem, irgendwann muss das ja mal so kommen, die Frage ist bloß, wann. Ich krieg schon wieder Paranoia.

„Vico“, ruft Julia und springt auf, „hast du mich erschreckt!“

„Sorry“, entschuldige ich mich.

„Ich dachte schon, du kommst nicht mehr“, erwidert sie, „hast du meine Nachricht nicht gelesen?“

Ich schließe die Tür und schiebe den Vorhang aus Glitzerfäden beiseite, der den winzigen Flur vom Wohnzimmer trennt. Julia hat aufgeräumt, der Kuchen steht auf dem niedrigen Tisch vor dem Sofa, sie hat ein ganzes Bataillon Kerzen angezündet, ihr knielanges, schwarzes Lieblingskleid angezogen und die Haare frisch gefärbt, dunkelrot. Neben dem Kuchen stehen eine Flasche Absinth, passende Gläser, Löffel und Zucker.

„Ich hab noch mit dem andern Mieter gesprochen“, berichte ich, „scheint ganz in Ordnung zu sein.“

„Ach so“, sagt sie und klingt gekränkt, „ich dachte, du wolltest dich gestern schon mal melden.“

„Wollte ich auch“, entgegne ich, was im Grunde stimmt, vielleicht hätte ich gewollt, wenn ich nicht so erledigt gewesen wäre. Es muss sich wirklich was ändern, denke ich, so geht das alles nicht, es ist anstrengend und es macht einen fertig auf die Dauer.

Wir setzen uns, ich lehne mich zurück und betrachte die Lichterketten über der Tür zum Schlafzimmer. Julia fährt mit der Hand durch meine Haare, wickelt eine Strähne um ihren Finger und küsst mich.

„Das hat bloß alles ein bisschen gedauert“, ergänze ich.

Ich weiß nicht, woran es liegt, dass ich nicht so ganz auf der Höhe bin, vielleicht an den Kerzen, am Kirschkuchen, am Umzug, am Valentinstag, an der sinnlosen Nacht vorgestern. Ich hätte in diesem Augenblick jedenfalls gern ein ganz normales Leben, ohne Aufregungen und ohne Paranoia. Yeah.

Julia zieht die Füße auf das Sofa und umklammert ihre Beine. Wie ein feines Netz überziehen unzählige weiße und rosa Narben ihre Unterarme, einige Schnitte sind noch verschorft.

Ich streiche mit dem Handrücken darüber, es fühlt sich vertraut an.

„Willst du?“, fragt sie.

Ich schüttle den Kopf. Nee, denke ich, ich hab's sowieso ein bisschen übertrieben in letzter Zeit, obwohl ich genau weiß, dass das zu nichts führt oder manchmal eben doch, zu Übermut nämlich und zu unüberlegten Taten. Das kann ich gerade alles nicht brauchen.

Und damit ist eine Entscheidung gefallen: Ich starte mal wieder ein Experiment. Es ist vielleicht nicht der allerbeste Zeitpunkt, aber der ist sowieso nie, vielleicht kriege ich dann mal einen klareren Kopf und kann wieder besser nachdenken. Der Scheiß mit Levin war schon etwas heikel, zwar gewissermaßen berechtigt, hätte jedoch vielleicht nicht sein müssen. Es hätte vor allem vielleicht nicht auf diese Art sein müssen. Aber wie das eben so ist mit Warnungen … Da kommt einem schon mal das gute Benehmen abhanden.

Mein Entschluss steht jedenfalls fest, ich bleibe für eine Weile abstinent, mal sehen, was passiert, schlimmer kann's ja eigentlich kaum werden.

Julia hebt die Schultern und nickt. Ich könnte nicht einmal sagen, ob sie erleichtert ist oder enttäuscht.

„Okay“, sagt sie, dann nehme ich ihr Gesicht in beide Hände und lege sehr behutsam meine Lippen auf ihre. Wie ganz normale Leute halten wir uns für den Rest der Nacht an Absinth und Kirschkuchen.

Sascha >> [jetzt]

Der Penner verpisst sich einfach. Geht zu seiner Freundin, um romantisch mit ihr … was auch immer … und mich lässt er allein hier hocken. Das ist mal eine Art, oder? Entschuldigt sich für seine Unhöflichkeit und verschwindet drei Sekunden später. Obwohl er ganz genau weiß, dass ich Liebeskummer hab, schwärmt er mir vom Date mit seiner Ische vor. Ey und für den Schwachmaten hab ich Getränke eingekauft! Zum ersten und zum letzten Mal, so viel ist sicher! Na ja, hier noch länger rumzuhängen, hat ja irgendwie keinen Wert. Und mir ist spontan nach was anderem als Alkohol.

Schon als ich die düstere, verschwitzte Location betrete, geht mir alles auf den Zeiger. Der Club ist echt das Letzte, wobei Club noch sehr positiv ausgedrückt ist. Miese Fickspelunke trifft es eher. Die dunklen Wände könnten bei Licht betrachtet wahrscheinlich einen frischen Anstrich gebrauchen, die Sitzgelegenheiten sind zerschlissen und fleckig. Der Boden scheint nur selten gewischt zu werden, es klebt bei ungefähr jedem dritten Schritt unter meinen Schuhsohlen. Allerdings kommt man schließlich nicht hierher, um das tolle Ambiente zu genießen. Mit Silvi brauchte ich so was nicht. Niemals. Silvi hätte hier nicht mal die kleine Zehe reingesetzt. Aber … die Dinge ändern sich eben. Man kann nicht immer wählerisch sein.

Ich bestelle mir was zu trinken und warte. Ah, da ist schon einer, der Anschluss sucht. Nicht wirklich mein Typ, aber ausreichend. Ein paar Blicke, ein kurzes Nicken, dann ist alles klar. Ich begebe mich durch einen schlauchartigen Gang in den hinteren Bereich, der noch düsterer und verschwitzter wirkt, obwohl das eigentlich kaum möglich ist. Ein paar Kerle vergnügen sich lautstark im Stehen, andere haben es sich auf den speckigen Ledersofas bequem gemacht, ich setze mich auf ein unbevölkertes ganz am Ende. Der Typ von eben ist mir gefolgt, setzt sich ebenfalls und legt augenblicklich seine Hand auf meinen Schenkel. Er kann ja nicht wissen, dass ich es hasse, ungefragt betatscht zu werden. Kerle, die sich hier rumtreiben, haben in der Regel vermutlich nichts dagegen. Als er, zwecks Körperkontakt, näher an mich heranrückt und nun mit beiden Händen an den Knöpfen meiner Jeans nestelt, habe ich genügend Zeit, unbemerkt ein paar Tropfen aus dem Minifläschchen in meiner Hand in sein Getränk zu kippen. Danach schiebe ich ihn ein Stück weg, um mit ihm anzustoßen, und bin wie immer erstaunt, wie gut das funktioniert. Dabei wird einem doch echt überall eingebläut, dass man sein Getränk in der Öffentlichkeit nicht unbeaufsichtigt lassen sollte, weil Menschen mit schlimmen Absichten irgendein Zeug hineinschütten könnten, das einen völlig willenlos macht. Die Tropfen wirken ziemlich schnell, seine Bewegungen werden unkoordinierter, sein Blick verschleiert. Als sein Kopf langsam auf die Lehne sinkt und seine Augen geschlossen sind, kann ich das tun, weswegen ich hier bin.


„Okay, ich sag Markus, dass er sich drum kümmern soll“, schnauft Linda angestrengt, als hätte ich um etwas total Unmögliches gebeten. „Kann aber eine Weile dauern, er ist zurzeit echt eingespannt.“

„Er wird ja mal drei Sekunden haben, um einen Techniker herzubestellen“, schnaufe ich mindestens genauso angestrengt.

„Ich werd's ihm ausrichten“, verspricht sie.

„Vielen Dank“, erwidere ich und beende das Gespräch. „Der Fahrstuhl ist kaputt“, informiere ich Vico, der grad' in die Küche kommt, „wieder mal.“

Er zuckt nur mit den Schultern.

„Willst du auch einen Kaffee?“

„Ja, danke“, sagt er und setzt sich an den rosa Küchentisch, der farblich perfekt zum pastelligen Mintgrün des Küchenschranks sowie den hellgelb gestrichenen Wänden passt. Leute, die eine Farballergie haben, dürften sich natürlich etwas unwohl fühlen. Auch, wenn sie das Bad betreten. Das ist mal ein Augenschmaus … Wanne, Dusche, Waschbecken und Klo sind rosa, die Fliesen haben einen zarten Vanilleton. Das sieht echt dermaßen kacke aus, dass es irgendwie schon wieder cool ist. Ich glaube jedenfalls, dass es so ein Badezimmer nicht mehr häufig auf der Welt gibt. Ansonsten sind die Zimmer hier recht großzügig, mit Parkettboden, hohen Decken und so. Obwohl das Haus von außen ziemlich schmuddelig wirkt, zwar relativ zentral, aber eben in einem miesen Viertel liegt, gefiel mir die Wohnung auf Anhieb.

Als der Kaffee durchgelaufen ist, stelle ich Vico eine Tasse hin, Milch und Zucker dazu, und setze mich ebenfalls. Draußen ist es bereits dunkel, unsere Gesichter spiegeln sich in der Fensterscheibe. Noch so ein Blödsinn, überlege ich und schüttle den Kopf.

„Was?“, fragt Vico.

„Nichts weiter. Und … gestern noch einen schönen Abend gehabt mit deiner Freundin?“

„Na ja … doch, eigentlich schon.“

„Cool“, lächle ich ein wenig horrorartig. Bestimmt hatten die wahnsinnig romantischen Valentinstagssex. Sofort überfällt mich eine ekelhafte Sehnsucht nach Zweisamkeit. Scheiße, ich bin noch total nicht drüber weg. Der Silvi-Klon gestern in der Bar hat mich irgendwie um Lichtjahre zurückgeworfen.

„Geht hier eigentlich öfter was kaputt?“

„Hm?“, mache ich.

„Weil du gesagt hast … mal wieder.“

„Ach so. Nee. Immer nur der Fahrstuhl.“

Vico hat total elegante Hände, fällt mir auf. Ein silberner Ring an einem dieser schlanken Finger wäre sicher nicht das Schlechteste. Trotz der schlichten, schwarzen Kleidung, die er trägt, muss irgendetwas Freakiges in ihm stecken, denn er riecht ganz schwach nach Patchouli. Normale Leute benutzen so was nicht. Silvi konnte den Gestank nach Tod, wie er es ausdrückte, nie lange aushalten, wenn wir mal in einen meiner Lieblingsclubs gegangen sind, wo Patchouligeruch allgegenwärtig war. Fuck, ich sollte wirklich aufhören, ständig an die Vergangenheit zu denken! Normale Leute lackieren sich auch nicht bloß drei Fingernägel schwarz, ich hab das jedenfalls bisher noch bei niemandem gesehen. Sicher hat Vico dafür Gründe. Was das für welche sein sollen … keine Ahnung.

„Übrigens sieht's ganz so aus, als hätten wir die Wohnung für uns allein. Linda sagt, sie hat weder Zeit noch Lust, einen Mieter für das andere Zimmer zu suchen.“

„Ich stelle es mir sowieso eher anstrengend vor, wenn man nach Hause kommt und nicht so genau weiß, wer da eigentlich grad wohnt“, bemerkt Vico und wirkt fast ein bisschen erleichtert, dass er es künftig nur mit mir aushalten muss.

„Allerdings.“ Ich nicke und finde inzwischen, dass man es mit ihm durchaus aushalten kann. Er scheint nicht der super gesellige Typ zu sein, der einem ständig ein Gespräch aufdrängen, alles von einem wissen, oder gar einen neuen Freund finden will.

„Okay“, sage ich, stehe auf, strecke mich ein wenig und stelle meine Tasse in die Spüle, „ich bin noch verabredet. Man sieht sich.“

„Klar. Danke für den Kaffee und …“

„Ja?“, frage ich und drehe mich an der Tür noch mal zu ihm um.

„Das mit dem Mädchen, warum ich eins sein sollte, das verrätst du mir schon noch irgendwann oder?“, grinst er.

„Irgendwann“, grinse zurück.

Vico >> [jetzt]

„Was hat der denn für 'ne Laune“, fragt Janis, die im richtigen Leben Sabine heißt, Janis aber viel schicker findet.

„Das hab ich gehört“, sage ich.

Sie fährt herum und lacht nervös.

„Ich kann ja nicht ahnen, dass du plötzlich hinter mir stehst“, redet sie sich raus und hebt ihr Weinglas.

Ich halte inne und sehe ihr ins Gesicht.

„Aber ich darf mich hier schon noch frei bewegen“, erkundige ich mich, „deiner Meinung nach?“

Sie verdreht die Augen, trinkt einen Schluck und fängt an zu kichern. Timo wirft ihr einen warnenden Blick zu. Ich ignoriere beides.

„Wo ist Levin?“, frage ich stattdessen.

Timo legt Janis einen Arm um die Taille, um sie abzulenken oder zu beruhigen, schwer zu sagen. Sie trägt einen nicht sehr vorteilhaften Undercut, ein tätowiertes Pentagramm auf der linken Seite ihres Halses und genießt es sehr, die Untergrundamazone zu spielen. Außerdem ist sie Piercerin, das ist exotisch und verwegen und korrespondiert super mit ihrer übersteigerten Selbstwahrnehmung.

„Drüben“, erklärt Timo und deutet knapp Richtung Tür.

Ich nicke und mache mich auf den Weg.

Drüben bedeutet: auf der anderen Seite der Scheune. Der Hof gehört Peter, der sich in den Siebzigern oder Achtzigern das Hirn mit irgendwelchen Psychopilzen zerschossen hat und sich derzeit mal wieder in der Geschlossenen aufhält. Wer hierher kommt, darf sich zu einem exklusiven Kreis zählen, was mir natürlich sehr recht ist, wo kämen wir da hin, wenn sie hier jeden Blödmann reinspazieren ließen. Wer mitfeiert, hat zumindest Kontakte, und drüben ist sowieso tabu für die Partygäste. Ich glaube nicht, dass Peter, der alte Hippie, eine Vorstellung davon hat, was hier vor sich geht. Mit Kifferromantik hat das jedenfalls wenig zu tun.

In der Scheune ist es düster und zugig und ich beeile mich, den dahinterliegenden Gebäudeteil zu betreten. Durch den dunklen, engen Flur gelange ich in das sogenannte Wohnzimmer.

Levin ist auf dem abgewetzten Cordsessel, der an der Wand unter dem Fenster steht, eingeschlafen. Leise schließe ich die Tür hinter mir. Eine alte Stehlampe mit verblichenem Schirm taucht die übrigen Zwei- und Dreisitzer in ein schummriges Licht, es riecht nach kaltem Rauch. Die Luft ist stickig und trocken, zwei Heizlüfter laufen.

„Hey“, sage ich und fasse Levin an der Schulter.

Langsam macht er die Augen auf und unterdrückt ein Gähnen.

„Ach“, erwidert er noch etwas benommen und setzt sich auf, „hi. Alles klar?“

Die dümmste Frage ever, aber egal.

Ich lasse mich auf das Sofa schräg gegenüber sinken. Levin beugt sich nach vorn, greift nach einem Päckchen Tabak und den Blättchen, die auf dem abartig beigebraun gekachelten Tisch liegen, und beginnt sich eine Zigarette zu drehen.

Jetzt müsste man nur noch wissen, denke ich, wie man am besten anfängt.

„Ist Julia noch nicht da?“, fragt Levin beiläufig und weicht meinem Blick aus.

„Kommt etwas später“, antworte ich und kratze mich am Arm.

Mich macht alles nervös, das ist ganz normal, es ist der fünfte Tag in Sachen Abstinenz, da wird es allmählich unangenehm, aber immerhin bin ich hier und will mit ihm reden, das wurde wohl auch Zeit. Ich weiß inzwischen nämlich schon seit vorgestern, dass er es nicht war.

„Levin …“, setze ich an.

Er sieht auf. Die Haut an seiner Schläfe neben dem linken Auge ist immer noch leicht verfärbt, grünlich, ich kann gar nicht hingucken. Ich atme einmal tief ein und wieder aus. Es hätte alles nicht sein müssen, denke ich, wenn ich bloß nicht immer so panisch wäre, dass etwas nach außen dringt, egal was, denn es könnte ja mal einer dabei sein, der die falschen beziehungsweise die richtigen Schlüsse zieht. Und dann? Verhaftung, medizinische Experimente, jeder erdenkliche Irrsinn. Möglich ist ja prinzipiell alles.

„Janis war das“, stelle ich schließlich fest.

Levin hebt erstaunt die Brauen.

„Ja“, sage ich, „sie hat den Neuen irgendeinen Scheiß erzählt.“

„Hm“, macht Levin unbestimmt.

„Ja“, wiederhole ich.

Auf dem Tisch liegt jede Menge Kleinkram, zwei leere Colaflaschen, die Zeitung von gestern, Feuerzeuge, Gläser und ein kaputter Ohrring. Ich hebe die Zeitung hoch, hier war doch irgendwo …

„Dann sollte man ihr das wohl mal sagen“, bemerkt Levin, es klingt bitter, „dass sie das in Zukunft besser lässt.“

„Exakt“, bestätige ich, stehe auf und suche auf der Fensterbank weiter, Kopfhörer, Taschentücher, ein Korkenzieher, ah, da, eine halb leere Schachtel Diazepam, „aber nicht heute.“

Ich muss mich entspannen.

Levin nickt, öffnet eine Flasche Orangensaft, die vor ihm auf dem Boden gestanden hat und trinkt.

„Darf ich mal?“, frage ich.

Er hebt spöttisch die Brauen und reicht mir die Flasche.

„Bitteschön“, sagt er.

Ich lehne mich gegen das Fensterbrett, drücke zwei Tabletten aus dem Blister und schlucke sie. Levin zündet die Zigarette an und verzieht das Gesicht. Ich atme noch einmal tief durch.

„Kommt nicht wieder vor“, bringe ich endlich heraus und räuspere mich.

Er lacht freudlos auf, ohne mich anzusehen.

„Ja“, entgegnet er leise, „genau.“

Ich mache einen Schritt auf ihn zu, hocke mich auf den Boden, stelle die Orangensaftflasche ab und lege die Unterarme auf die Sessellehne. Levin sieht mir dabei zu.

„Nein, wirklich“, beteuere ich, „wirklich.“

Er schüttelt sich die hellblonden Haare aus der Stirn, sie sind sehr glatt und immer etwas strähnig, vorn länger und im Nacken kurz. Manchmal vergesse ich, dass er erst zwanzig ist. Ich bin echt armselig, denke ich.

„Okay“, lenkt er ein und betrachtet seine Knie.

Behutsam lege ich einen Finger unter sein Kinn. Er schaut mich an.

„Es tut mir leid“, sage ich und meine es so, „ja?“

Einer der beiden Heizlüfter schaltet sich mit einem trostlosen Geräusch aus.

„Wirklich“, wiederhole ich.

Levin zieht widerwillig den Kopf zurück und nickt.

„Ja“, murmelt er und sieht weg, „ist okay.“

Ich beiße mir auf die Unterlippe und stehe auf. Er schnippt etwas Asche auf den Boden und blickt mich wieder an.

„Wir sollten gleich rübergehen“, stellt er fest.

„Ich nicht“, erkläre ich, „ich fahr nach Hause. Kannst du Juli Bescheid sagen? Ich hab mir was eingefangen, glaub ich.“

Levin mustert mich skeptisch, dann nickt er wieder.

Ich stecke das Diazepampäckchen ein, das braucht hier ja nicht rumzuliegen, wenn ich erst mal nicht herkomme. Innerlich gehe ich durch, was ich sonst noch so habe für die nächsten Tage. Nur Notlösungen, wird mir klar. Egal. Ich muss unbedingt mal ein bisschen runterkommen.

Sascha >> [jetzt]

„Hey, geht's dir nicht gut?“, frage ich Vico, der eben aus dem Bad kommt und dessen Gesicht noch blasser aussieht als sonst.

„Alles in Ordnung“, murmelt er.

Inzwischen wohnen wir so um die zwei Wochen zusammen und seit zwei, drei Tagen ist es die Hölle.

Es fing alles damit an, dass er, wie vor fünf Sekunden, aus dem Bad gestiefelt kam, halbnackt, und mir erneut auffiel, dass er wirklich ein hübscher Kerl ist. Was soll ich sagen? Ich hab irgendwie ein Faible für schöne, schlanke Typen, die immer nur zwei bis drei Fingernägel schwarz lackiert haben, und wenn dann noch lange, dunkle Haare dekorativ auf sahnige Haut fallen … wie erwähnt, er war obenrum nackig … da gucke ich schon mal etwas länger hin und erfreue mich an so einem Anblick. Leider fiel mir nicht nur seine nackte Brust auf, sondern auch sein nackiges Handgelenk. Kein Wunder, dass er für gewöhnlich ein breites Lederarmband trägt. Ich würde mit derart auffälligen Suizidversuchsnarben auch nicht unbedingt hausieren gehen. Ach du Scheiße, denke ich seither jedes verdammte Mal, wenn wir uns begegnen, was kann diesen dezenten Wischiwaschi-Typen denn so aus der Bahn geworfen haben, dass er sterben wollte?

Natürlich fragt man so etwas Delikates nicht einen fast fremden Menschen, also hab ich die ganze Zeit getan, als wüsste ich von nichts, und aufgepasst, dass in der Küche kein Messer oder so fehlt. Ich hätte auch keine Skrupel gehabt, sein Zimmer ein bisschen zu durchsuchen, aber … die Sau schließt immer ab. Scheint echt paranoid zu sein, das Herzchen, und es steht ja wohl fest, dass er irgendetwas zu verbergen hat. Sonst hätte er sich nicht diese Gegend ausgesucht für seine neue Bleibe und er würde nicht so ein fucking Geheimnis aus seinem Zimmer machen. Klar schließe ich auch ab, wenn ich weggehe, aber das hat hauptsächlich mit meinem Job zu tun und mit den Leuten, die vor Vico ein- und ausgezogen sind. Hab's mir halt so angewöhnt.

Jedenfalls ist mir unwohl bei dem Gedanken, mit einem möglicherweise psychisch labilen Selbstmörder Tür an Tür zu hausen, deswegen muss das jetzt geklärt werden, finde ich.

„Können wir kurz was besprechen?“

Vico steht an seiner Zimmertür und sieht mich müde an.

„Wenn's sein muss.“

„Allerdings“, erwidere ich nickend und folge ihm ins Zimmer.

Bei Selbstmordgefährdeten muss man behutsam vorgehen, hab ich mal gehört.

„Hast du das“, ich deute auf sein Handgelenk mit dem Lederband, „ernst gemeint und denkst du immer noch dran?“

„Was?“, fragt er irritiert.

„Ich hab die Narben gesehen“, setze ich ihn in Kenntnis.

„Das war ein Unfall“, entgegnet er.

„Dass du dich umbringen wolltest?“

Vico wischt sich angestrengt über die Stirn, das Thema scheint ihm nicht zu behagen.

„Ich – hatte eine unangenehme Begegnung mit einer Glasscheibe.“

Ich huste verlegen, weil ich mir echt keine blödere Ausrede vorstellen kann.

„Und geprügelte Ehefrauen sind auch immer nur gegen eine Tür gelaufen“, bemerke ich.

Vico seufzt genervt.

„Mal ehrlich, ich hab keinen Bock, eines schönen Tages deinen Kadaver zu finden, der in einer riesigen Blutlache fröhlich stinkend vor sich hin vermodert. Oder in dein Zimmer zu kommen und du baumelst von der Decke oder am Fensterkreuz. So was kann einem echt den Tag vermiesen, weißt du?!“

„Hab's notiert. Wenn ich mich mal umbringe, dann nicht hier. Alles klar?“

„Das reicht mir absolut nicht“, sage ich und verschränke die Arme vor der Brust.

„Meine Fresse“, stöhnt er und schüttelt den Kopf, „ich bin weder depressiv noch todessehnsüchtig. Ganz ehrlich.“

„Aber irgendwas stimmt nicht mit dir. Oder warum rennst du seit Tagen wie ein Zombie durch die Gegend?“

„Julia hat 'ne Grippe, wahrscheinlich hab ich mich angesteckt.“

„Deine Freundin?“

Er nickt.

„Gute Besserung“, wünsche ich und gehe.


Vicos Glasscheibenerklärung hat mich alles andere als beruhigt und seine Grippe wird auch nicht besser. Im Gegenteil. Er scheint auch noch Migräne oder so was zu haben, anders ist sein abgedunkeltes Zimmer nicht zu erklären, man hört ihn nämlich erst abends die Jalousien hochziehen. Komischerweise stört es ihn auch nicht besonders, dass die gesamte Wohnung generell tagsüber duster bleibt und wenn ich so drüber nachdenke, ist er offenbar ebenfalls eher ein Nachtschwärmer. Wenn ich von der Arbeit oder aus 'nem Club nach Hause komme, ist Vico jedenfalls auch immer noch wach. Von den früheren Mitbewohnern hab ich nie so viel gesehen wie von ihm. Und dann dieses ständige Türabschließen … meine Güte, so einen Privatsphärenjunkie wie ihn hab ich selten erlebt! Ansonsten ist er, wie bereits erwähnt, krank. Ich kann kranke Leute nicht aushalten, vor allem, wenn sie bei mir wohnen, weil ich irgendwie meine, ich müsste mich um sie kümmern. Keine Ahnung, woher das kommt und warum mich dieser Drang ausgerechnet bei ihm so stark überfällt.

Als ich spät abends nach Hause komme und er blass und schlapp in der Küche hockt, fühle ich mich doch glatt genötigt, ihm einen Kräutertee zu kochen, den vermutlich ein ehemaliger Zimmerbewohner im Küchenschrank vergessen hat. Ich halt's im Kopf nicht aus!

„Vielleicht solltest du mal zum Arzt gehen?“, schlage ich vor, lehne mich bequem gegen die Arbeitsplatte, verschränke die Arme vor der Brust und sehe ihn an.

„Kann ich nicht“, behauptet er und nimmt einen vorsichtigen Schluck von seinem Heißgetränk.

„Wieso nicht?“

„Ich hab keine Krankenversicherung.“

Dann scheint er sich die Schachteln Pillen, die bei meinem letzten Besuch in seinem Zimmer auf dem niedrigen Tischchen neben seinem Bett lagen, auf illegale Art und Weise beschafft zu haben. Interessant! Die Augentropfen, die dort standen, kriegt man rezeptfrei in jeder Apotheke, Blutgerinnungshemmer und Benzos dagegen nicht.

„Ist das nicht ein bisschen ungünstig? Ich meine, was, wenn du mal was richtig Ernstes hast oder eine neue Niere brauchst? Die könntest du dir vielleicht noch aufm Schwarzmarkt besorgen, aber … ich werde sie dir bestimmt nicht reinoperieren können.“

„Ja, ich werd' mal drüber nachdenken“, verspricht er und lächelt in seine Tasse, „Nieren kann man ja nie genug haben.“

„Besser ist das. Hast du Hunger?“ Ich werfe einen Blick auf die Uhr. „Na ja, bestellen geht wohl nicht mehr, aber vielleicht findet sich noch irgendwas Essbares im Schrank.“

„Lass mal, der Tee reicht schon.“

Ich zucke die Schultern, schiebe die Teedose ein Stück zur Seite und verschließe die Packung mit den Filtern.

„Okay.“

Jetzt fällt mir wieder ein, dass, kurz bevor Vico kam, so n Öko-Fuzzi hier für zwei Wochen eine Bleibe gefunden hat, das Kräutergesöff stammt von ihm. Der war sogar relativ nett, hatte aber einen Haufen Probleme … hauptsächlich mit seinen Eltern, bei denen er aus irgendwelchen Gründen nicht mehr wohnen konnte oder wollte. Ich glaub, der haust jetzt in irgendeinem Bauwagen auf irgendeinem brachliegenden Acker, zusammen mit einigen anderen Öko-Freaks … er erzählte den Abend vor seinem Auszug so was. Vicos deutlich hörbarer Atem reißt mich aus meinen Gedanken.

„Alles gut?“, frage ich.

Anstatt zu antworten, schnappt er nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Du meine Güte, nicht, dass der einen Asthmaanfall hat oder so. Er hustet allerdings nur und trinkt hektisch einen Schluck Tee. Zum Glück, ich bin mir nämlich sehr sicher, dass ich keinen fachmännischen Luftröhrenschnitt bei ihm durchführen könnte, um ihn vor einem schrecklichen Erstickungstod zu bewahren. Als ich die Filterpackung wegstellen will, bemerke ich erst, dass ich mich offenbar an einer scharfen Pappkante geschnitten habe.

„Fuck“, stöhne ich genervt und stecke mir reflexartig den blutenden Finger in den Mund.

Das macht man doch so oder? Vico starrt mich trotzdem an, als sei ich geistesgestört, weshalb ich mal lieber schnell nach einem Pflaster suche. Gibt's hier nicht. Na ja, ein Stück Küchenpapier tut's auch. Ich wickle es mir um den Finger. Vico stiert mich noch immer an, guckt kurz weg, atmet angestrengt, sieht mich wieder an und verzieht irgendwie gequält das Gesicht. Ey, was hat'n der für Effekte? Plötzlich steht er auf.

„Ich – mir ist schlecht“, murmelt er und verlässt eilig die Küche.

Schätze, da kann einer kein Blut sehen. Na ja, soll's geben. Obwohl, so schlimm blutet es auch wieder nicht, schließlich hab ich mir nicht aus Versehen den halben Finger abgesäbelt.

Zwei Tage später geht's Vico bedeutend schlechter. Er liegt im Bett, hat Fieber, Schüttelfrost und krampfartige Magen- und Muskelschmerzen. Man könnte meinen, er macht 'nen kalten Entzug durch. Hab das früher mal bei einem Junkie miterlebt … das sah genauso unschön aus. Das kann so nicht weitergehen, überlege ich, während im Bad die Klospülung rauscht und hab ganz plötzlich eine Art Geistesblitz. Das muss mir erst mal einer nachmachen. Ich meine, Einstein, zum Beispiel, hat sicher nicht beim fröhlichen Klang einer Klospülung auf einmal die Relativitätstheorie erfunden. Und wer würde schon auf so etwas kommen? Ich hab ja auch keine Ahnung, ob ich tatsächlich richtig liege, aber einen Versuch ist es wert. Irgendwie passt alles zusammen. Obwohl es eigentlich nicht sein kann. Andererseits … wieso nicht? Silvi und ich können ja nicht die Einzigen sein, außerdem hat er mich damals in alles, was man wissen muss, eingeweiht und … ich hab bei Vico jetzt dieses Gefühl, diese Ahnung … nach meinem Geistesblitz… oder vielleicht war da auch schon vorher was, und ich hab bloß nicht drauf geachtet? Die Augentropfen sind allenfalls ein Indiz, müssen aber nichts bedeuten. Vielleicht hat er eine Allergie oder generell trockene Augen. Das Pradaxa ist schon fast ein Beweis, denn ich kann mir nicht vorstellen, warum er auf Blutgerinnsel, verstopfte Blutgefäße und dergleichen aufpassen müsste, es sei denn, er hätte eine schlimme Herzkrankheit oder eine frisch eingesetzte neue Hüfte. Scheint mir nicht sehr naheliegend. Meine Theorie ist es vielleicht auch nicht, aber für mich die einzig logische Erklärung für … alles eben, die Vermeidung von Tageslicht, die speziellen Medikamente und, ja, sein sonderbares Verhalten, als ich mir in den Finger geschnitten hab. Das Blöde ist, wenn ich doch falsch liege, habe ich lauter unangenehme Scherereien an der Backe, denn wie soll man etwas Derartiges plausibel erklären? Und wenn ich erst angefangen habe, gibt es kein Zurück mehr. Fuck! Es ist ein Risiko, ein ziemlich großes sogar, aber was bleibt mir für eine Wahl? Silvi hat gesagt, dass so was schlimm enden kann … irgendwann sogar tödlich … und irgendwie hab ich mich doch gerade an Vico gewöhnt und will bestimmt nicht, dass er durch meine Schuld krepiert. Okay, ich ziehe es durch.

Vico liegt auf seinem Bett. Vollständig angezogen. Gut, dass er gerade wohl vergessen hat, seine Tür abzuschließen. Ich setze mich auf die Bettkante und bin nun doch total aufgeregt. Mein Herz klopft und in meinem Magen kribbelt es. Mach schon, Sascha, kneifen is nich! Der silberne Fingerkuppenring fühlt sich kalt und hart an in meiner Hand, ich atme ein und ritze mit der scharfen Spitze tief genug in meinen Unterarm, dass sofort etwas Blut herausperlt. Dann atme ich langsam aus und drücke die frische Wunde auf seinen Mund.

Vico << [drei Jahre zuvor]

Wo ist der Programmierer?“, hörte ich Valeri fragen.

Die Tür war nur angelehnt, draußen lief leise und monoton elektronische Musik, zwei Leute unterhielten sich auf Russisch.

Hier“, sagte ich, „du kannst mich auch gern Vico nennen.“

Valeri kam herein. Ich warf noch einen Blick auf den Bildschirm seines Notebooks und drehte mich in seinem komfortablen Bürosessel zu ihm um.

Bist du schon fertig?“, erkundigte er sich.

Sieht so aus“, entgegnete ich.

Gut“, nickte er, „gut.“ Er stützte die Hände auf den Schreibtisch und sah mich an. „Ist ja nicht selbstverständlich.“

Sympathisch war er nicht, so viel stand mal fest. Und wofür er mich bezahlte, könnte man wohl als Betrug im größeren Stil bezeichnen.

Ich hab's nur ausgeführt“, erinnerte ich ihn, „der Rest ist eure Sache.“

Trotzdem“, beharrte er ernst, „da muss man erst mal jemanden finden. Der das kann und der das auch macht.“

Na ja“, sagte ich und erhob mich.

Valeri richtete sich ebenfalls wieder auf. Sein scharf geschnittenes Gesicht war voller blasser Sommersprossen und er hatte helle, stechende Augen. Man behielt ihn im Gedächtnis, wenn man ihm einmal begegnet war. Ich wollte sehr gern gehen. Es war mittlerweile das dritte Mal, dass ich herkam, und mir reichte es allmählich. Ich war froh, dass die Angelegenheit erledigt war.

Wie gesagt“, wiederholte ich, „das ist eure Sache.“

Valeri grinste unangenehm und kratzte sich mit seiner sehnigen rechten Hand am Kopf.

Das ist die richtige Einstellung“, stellte er fest und klopfte mir auf die Schulter.

Dann würde ich mich jetzt mal verabschieden“, erklärte ich.

Er strahlte mich herzlich an und nickte.

Ich bedanke mich“, sagte er und drückte mir einen Umschlag in die Hand, „zähl noch mal nach.“

Das tat ich.

Okay“, sagte ich.

Valeri lächelte und deutete mit einer Geste an, dass er mir den Vortritt lassen wollte. Ich wandte mich Richtung Tür und atmete erleichtert auf. Unwillkürlich musste ich daran denken, dass man auf sein Gefühl hören soll, wenn es sich mal auf einer dunklen Straße meldet und man sich verfolgt fühlt. Man soll sich dann nicht einreden, es sei nichts. Man soll sehen, dass man wegkommt.

Wasja“, rief Valeri.

Wasja tauchte im Türrahmen auf und sah zu uns herein. Es hatte nicht den Anschein, als würde er sich in absehbarer Zeit von der Stelle rühren wollen. Breitbeinig und mit den Händen in den Hosentaschen stand er da und versperrte uns den Weg, beziehungsweise mir, besser gesagt. Er lächelte.

Komm“, forderte Valeri mich auf und ich spürte seine Fingerspitzen an meinem Rücken, „wir haben noch was zu besprechen.“ Seine Stimme klang beinahe etwas beschwingt.

Wasja nickte bestätigend. Er war jünger als Valeri, etwa in meinem Alter, schätzte ich, aber sie sahen sich ähnlich, vielleicht waren sie verwandt.

Besser“, sagte ich und musste schlucken, was mir peinlich war, ich hatte mich eigentlich nicht so leicht einschüchtern lassen wollen, „ein anderes Mal.“

Valeri und Wasja begannen beide zu lachen, als hätte ich einen guten Witz gemacht.

Nein“, widersprach Valeri und schob mich vorwärts, auf Wasja zu, „kein anderes Mal. Jetzt.“

Ich war so überrascht, dass ich fast gestolpert wäre.

Jetzt ist es soweit, dachte ich, jetzt kriegst du die Quittung dafür, dass du dich auf die falsche Seite geschlagen hast. Tatsache war nämlich leider, dass es mir bislang mehr oder weniger egal gewesen war, welche Konsequenzen mein technischer Support hatte. Ich tat das, weil ich es eben konnte und weil es ab und an ziemlich gut bezahlt wurde. Dabei hätte ich doch einfach nur mal ein bisschen genauer nachdenken müssen. Das hier waren keine Kleinkriminellen und darüber war ich bestens informiert gewesen. Trotzdem hatte ich zugesagt.

Hey“, sagte ich, so entspannt wie möglich, „was ist los? Es ist alles erledigt … alles wie besprochen?“ Ich hatte es nicht wie eine Frage klingen lassen wollen. Schon wieder musste ich schlucken.

Ja“, erwiderte Valeri, während Wasja hartnäckig schwieg und mich weiterhin freundlich ansah, „ich bin sehr zufrieden. Du hast die richtige Einstellung“, erklärte er zum zweiten Mal.

Ich konnte meinen Herzschlag spüren, er kam mir schwerfällig und verzögert vor. Das passiert jetzt nicht wirklich, dachte ich etwas sinnlos.

Wasja lächelte immer noch, es machte mich wahnsinnig. Mittlerweile hatte Valeri mich so weit nach vorn gedrängt, dass ich dicht zwischen beiden stand.

Hey …“, begann ich noch einmal hilflos.

Schon gut“, sagte Valeri und tätschelte väterlich meinen Arm, „kommt, wir gehen runter.“

In diesem Moment hoffte ich noch, zumindest ganz kurz, dass sie mich gehen lassen würden, dass ich später denken würde: Gerade noch mal gutgegangen, die nächste zwielichtige Kundschaft suchst du dir lieber mal ein bisschen sorgfältiger aus. Und überhaupt ist das ab sofort nur noch was für den Notfall, konzentrier' dich lieber auf deine kleine Firma und in deiner Freizeit machst du dann was Schönes, Open-Source-Projekte oder so was.

Der Moment war vorbei, als Wasja ein Springmesser aus der Tasche zog und es mir vor die Nase hielt.

Vico >> [jetzt]

Zuerst nehme ich einen orangeroten Schimmer wahr, viel mehr ist es nicht, Licht, denke ich, jemand hat das Licht angemacht, jetzt müsste man nur noch die Augen öffnen können, aber es geht nicht, ich kriege es nicht hin. Und dann bemerke ich etwas Warmes, Flüssiges auf den Lippen und auf der Zunge, einen vertrauten Geschmack, metallisch und reichhaltig und –

„Vico?“, fragt jemand.

Sascha. Sascha. Oh Gott.

Jetzt funktioniert auf einmal alles gleichzeitig, ich mache die Augen auf, schaffe es, mich auf die Ellbogen zu stützen und starre ihn entsetzt an. Bis mir sofort wieder schwindlig wird. Stöhnend lasse ich mich auf das Kissen zurücksinken.

„Was …“, frage ich, es klingt eher wie ein Flüstern, „was hast du – oh Gott …“

Ich wische mir mit der Hand über den Mund und betrachte meine Finger. Verschmiertes Blut.

Oh Gott.

„Schwester Sascha meldet sich zum Dienst“, sagt Sascha.

Er drückt ein Taschentuch gegen seinen Arm. Es ist ebenfalls blutig.

Ich stöhne noch einmal und setze mich auf, diesmal langsamer. Alles fühlt sich kalt und feucht an, die Haare hängen mir klebrig ins Gesicht und ich habe keine Ahnung, was ich tun oder sagen soll.

„Du –“ versuche ich es schließlich doch, aber dann fällt mir auch schon nichts mehr ein.

„Pradaxa gegen Grippe, ja?“, fragt Sascha und hebt die Brauen.

„Oh Gott“, flüstere ich und muss husten.

„Wär ziemlich scheiße gewesen, wenn ich danebengelegen hätte“, findet er und sieht mich sehr direkt an, „aber … na ja, war anscheinend richtig, wie's aussieht.“

Mein Blick fällt auf die beiden dunkelroten Flecken auf dem weißen Papiertaschentuch, einen größeren und einen kleineren, ich kann einfach nicht weggucken.

Sascha entgeht das nicht.

„Oh“, macht er, legt das Taschentuch auf das Bettlaken und streckt mir seinen Arm entgegen, „hier, nicht, dass du gleich wieder wegklappst.“

Ich hätte gern gesagt, vielen Dank, nicht nötig, aber es geht nicht, es geht einfach nicht, zitternd umfasse ich sein Handgelenk und presse die Lippen auf die Haut um die Wunde herum. Mit der Zunge kann ich die Verletzung ertasten, sie ist zwar klein, aber sagenhaft warm und wohlschmeckend, das ist doch vollkommen irre, denke ich gleichzeitig, was mache ich denn hier, das kann doch überhaupt nicht sein, hör sofort damit auf, das ist krank, das ist der Mitbewohner, es ist absolut unmöglich, dass du dir gerade lustig sein Blut einverleibst, und es ist vor allem absolut unmöglich, dass es so aussieht und so schmeckt wie… dein eigenes.

Ich kann endlich aufhören und hebe den Kopf, ohne seinen Arm loszulassen.

„Woher wusstest du das?“, frage ich mit rauer Stimme.

„Wie gesagt“, wiederholt Sascha, „da gab es so ein paar Punkte … Heparin wäre übrigens besser gewesen.“

„Ich weiß“, stimme ich zu und räuspere mich, „aber ich hatte keins.“

„Ich hab welches“, sagt Sascha.

Ich löse endlich den Griff um sein Handgelenk.

„Aha?“, frage ich.

„Vorsichtshalber“, entgegnet er und angelt sich das Taschentuch, „man weiß ja nie.“

Ich reibe mir das Gesicht und fühle mich so erschöpft wie schon lange nicht mehr.

„Verrätst du mir jetzt, warum du schon wieder sterben wolltest?“, fragt Sascha nach einer Pause.

Ich räuspere mich erneut, so langsam klappt es mit dem Sprechen wieder besser.

„Ich wollte nicht sterben“, antworte ich wahrheitsgemäß.

„Sondern?“, hakt er nach.

Ich atme einmal tief durch, ziehe die Beine an und die Decke um mich herum. Ich friere, aber der Schwindel wird besser und schlecht ist mir auch nicht mehr.

„Ich hab's einfach übertrieben in letzter Zeit“, erläutere ich, „da brauchte ich mal … etwas Abstand.“

„Was übertrieben?“, lässt Sascha nicht locker.

„Ach“, seufze ich und muss noch einmal husten, „alles.“

Irgendwo im Haus läuft Wasser, eine Tür schlägt zu, dann ist es wieder still.

„Das hätte aber echt fies ausgehen können“, bemerkt er.

Ja, ich weiß. Ich weiß. Ich bin ein Vollidiot. Falscher Ort, falscher Zeitpunkt und so weiter.

„Ach, Scheiße“, fluche ich und mir wird wieder klar, mit wem ich hier sitze, mit dem Mitbewohnervogel nämlich und dass wir offenbar die abwegigste Gemeinsamkeit haben, die es gibt, „ich hab einfach verpasst, wieder anzufangen“, kapituliere ich, „ich hab einfach zu lange gewartet.“ Ich schüttle den Kopf und wische mir noch einmal über den Mund. „Scheiße.“

Sascha nickt und verengt nachdenklich die Augen. Die violetten Strähnen in seinen Haaren sind in den letzten Tagen etwas heller geworden, er schiebt sich ein paar Ponyfransen aus den Augen, die schon wieder schwarz umrandet sind.

„Vielleicht nicht nur scheiße“, sagt er, „keine Ahnung.“

Er ist immerhin besser auf Notfälle vorbereitet als ich, denke ich. Mein Verstand hat die neuen Tatsachen noch nicht so wirklich verarbeitet.

„Und das da?“, fragt Sascha und deutet auf die breite Narbe an meinem Unterarm.

Inzwischen ist sie vollständig weiß und glatt geworden, mit kleinen Vertiefungen am unteren Ende. Drei Jahre ist das jetzt her.

„Das war wirklich Glas“, lüge ich, „kein Witz, okay?“

„Okay“, sagt Sascha achselzuckend.

Ich recke mich. Alles tut weh, aber von nun an wird es langsam besser werden, wie ich aus Erfahrung weiß. Für kurze Zeit haut das hin – kein Blut, klarer denken. Oder ich hab's mir immer nur eingebildet. Das hätte jedenfalls echt schiefgehen können. Ich sehe Sascha an.

„Danke“, sage ich.

Er grinst schräg.

„Ist in diesem Fall wohl sogar angebracht“, stellt er fest.

„Ja“, grinse ich etwas schwach zurück.

Und dann fällt mir ein, wo ich ihn schon mal gesehen habe. Es ist eine ganze Weile her, vielleicht ein Jahr, vielleicht eineinhalb, es war am Bahnhof, ziemlich spät, der Laden, in den ich gehen wollte, hatte schon zu und davor stand Sascha, offenbar mit dem gleichen Ziel und offenbar ebenfalls enttäuscht. Ich erinnere mich an seinen weiten Strickpullover und, dass er Chucks trug und an seine Haare, die so geschnitten waren wie heute, kurz und zerzaust und mit längeren Ponysträhnen, bloß an die Farbe erinnere ich mich nicht mehr, aber es war eindeutig Sascha. Ich weiß noch, wie ich mich gewundert habe, dass er mir aufgefallen ist, nur an seinen Klamotten konnte es ja nicht liegen, es gab schließlich viele, die so aussahen, doch etwas war anders, etwas, das ich nicht greifen oder benennen konnte und das irritierte mich für den Moment. Aber was hatte Marie damals gesagt? Du kannst andere erkennen, wenn du ihnen begegnest. Da wäre ich am erwähnten Abend allerdings beim besten Willen nicht drauf gekommen.

„Ich, ähm“, sage ich, „geh vielleicht mal duschen.“

„Gute Idee“, findet Sascha.

Wenn man bloß wüsste, denke ich, was man jetzt anfängt mit den ganzen neuen Umständen.

Sascha >> [jetzt]

Als Vico weg ist, kippe ich erst mal filmreif nach hinten auf die Matratze und fühle mich total fix und fertig. Vielleicht auch ein bisschen veräppelt. Von Silvi, der behauptet hat, dass man sich gegenseitig erkennt. Ich hab Vico erst erkannt, als mir die Beweise quasi ins Gesicht gesprungen sind. Was sagt das über mich aus, hm? Und was würde Silvester dazu sagen? Diese ganze Vampire-erkennen-sich-Scheiße ist vielleicht genauso ein Mythos wie Homos, die sich erkennen. Ich erkenne weder die noch sonst wen. Bei mir sind diese speziellen Antennen offenbar kaputt.

Kaputt ist ein gutes Stichwort. Kaputt ist nämlich auch mein Arm. Allerdings nicht sehr. Der Schnitt ist zwar tief, aber da Vico sich beim Trinken alles andere als höflich zurückgehalten hat, was ich ihm in Anbetracht seines vorherigen Zustands natürlich nicht übel nehme, blutet die Wunde schon nicht mehr. Überhaupt geht das Verheilen von Verletzungen schneller als normal, was auf jeden Fall zu den Annehmlichkeiten gehört. Ansonsten fahren meine Gedanken gerade Achterbahn. Ich bin froh, dass ich Vico helfen konnte, sicher war ich mir keineswegs, denn so was passiert mir nicht alle Tage. Eigentlich stand ich noch nie vor dieser Situation. Das ist ein bisschen wie Erste Hilfe … man hat alles Mögliche gelernt, macht sich allerdings total ins Hemd, wenn man's dann tatsächlich anwenden muss. Und so viel mir Silvi auch erklärt hat, alles wusste er natürlich auch nicht. Also, wieso einem ein Gerinnungshemmer beim Blutentzug kurzzeitig hilft, konnte selbst er mir medizinisch nicht erläutern. Vampirblut ist nun mal anders als das Blut von normalen Leuten, verhält sich demnach auch in verschiedenen Situationen anders. Ist eben so. Vielleicht muss man gar nicht alles so genau wissen, Hauptsache, ich hab die richtigen Schlüsse gezogen und konnte somit Schlimmes verhindern.

„Oh …“, sagt Vico, der frisch geduscht und nur in schwarzen Jeans das Zimmer betritt.

„Äh …“, sage ich etwas peinlich berührt, weil ich noch immer hier hocke. Hätte schließlich schon längst weg sein können. Vico macht jedenfalls ein Gesicht, als wäre ihm das lieber gewesen. Phh … Dankbarkeit geht anders, Schätzchen!

„Ich – wollte noch mal danke sagen.“

Fuck, der kann Gedanken lesen. Wieso kann der Gedanken lesen? Das ist doch absurd. Wir können so etwas nicht. Das ist ausgedachter Scheiß … wie das mit dem Spiegelbild und… dass man sich erkennt. Okay, stell dich auf die Zehenspitzen und mach eine Pirouette, fordere ich stumm. Vico kramt aus seiner Tasche ein frisches Shirt und zieht es an. Ha! Er kann es also gar nicht. Glück gehabt!

„Kein Problem“, behaupte ich großmütig. „Du weißt aber schon, dass mein Blut nicht ausreicht, oder? Ich konnte dir nur aus dem Gröbsten raushelfen.“

„Ja, ich weiß“, entgegnet er knapp.

Na, immerhin. Ansonsten scheint er nicht die ganz große Ahnung zu haben. Gut, dass er jetzt mich hat.

„Noch was“, sage ich und springe auf, „wart mal kurz.“ Ich hole aus meinem Zimmer eine Packung Spersacarpin und stelle sie neben Vicos Augentropfen. „Die hier sind besser. Das, was du da hast, bringt's total nicht.“

„Danke“, bedankt er sich schon wieder. „Vielleicht kann ich mich mal revanchieren. Dafür …“, er deutet auf meinen Arm, „wenn du …“

„Jetzt grad' nicht“, sage ich und muss grinsen, „aber danke für das Angebot.“

Danach sagt keiner mehr was. Total behämmert sitzen wir uns gegenüber und können uns nicht in die Augen sehen. Wie zwei schüchterne Teenager, die beschlossen haben, gleich zum ersten Mal miteinander zu schlafen ... oder wie zwei Typen, die aus Versehen zusammen im Bett waren, obwohl sie nicht schwul sind. Oder wie zwei Typen, die gerade erfahren haben, dass sie eine total abwegige Gemeinsamkeit haben. Soll ich mich jetzt darüber freuen? Hat das Ganze irgendwelche Vorteile? Oder Nachteile? Müssen wir jetzt Freunde sein? Ich weiß es wirklich nicht. Ich weiß doch nicht mal, wie ich mit der Tatsache umgehen soll, dass ausgerechnet Vico so ist wie ich. Was ist denn das auch für ein kranker Zufall?

„Tja“, sagt Vico und wischt sich mit den Händen über die Oberschenkel.

„Tja“, sage ich, knülle das blutige Taschentuch zusammen und stehe auf, „ich lass dich dann mal in Ruhe oder?“

„Hm.“

Ich schließe die Tür hinter mir, gehe in mein Zimmer, lege mich aufs Bett und versuche, etwas Ordnung in mein Gedankenchaos zu bringen.


Die letzten Tage sind Vico und ich uns ziemlich aus dem Weg gegangen. Sicher ist es ihm unangenehm, dass ich ihm in der Art und Weise helfen musste, wie ich es getan habe. Andererseits hätte ich gedacht, dass solch eine Sache irgendwie … verbinden würde. Silvi und mich hat es verbunden und zwar so was von. Natürlich hab ich nicht erwartet, dass Vico mir erst seinen Hals anbietet und danach Sex, dass er vielleicht mal ein bisschen reden wollen würde, schon. Vielleicht ist er aber auch durcheinander, weil er wahrscheinlich genauso we-nig damit gerechnet hat, auf einen wie ihn zu treffen. Oder ihm ist aufgegangen, dass wir nicht zwangsläufig befreundet sein müssen, bloß weil wir beide eine Schwäche für Blut haben. Dabei wäre es echt nett zu wissen, wie er das alles so macht, wo er hingeht, was seine Quellen sind. Warum er sich überhaupt in diese schlimme Lage gebracht hat. Er brauchte Abstand … wovon? Er hat es übertrieben… was genau? Und wenn der Vollidiot mal wieder auf so komische Ideen kommt, darf ich dann wieder Kräutertee kochen und als rettender Engel auftauchen? Na, vielen Dank, ich hab ja auch sonst nichts zu tun! Bin nämlich nicht mal richtig wach, da klingelt schon pausenlos mein Handy, weil jeder Hans und Franz dringend was braucht. Meine Güte, was ist mit den Leuten los? Ziehen die sich ihren ganzen Scheiß wie Süßigkeiten rein oder was? Kein Wunder, dass die auf irgendeinem Zeug hängenbleiben, wenn die so dermaßen gierig sind und nicht vernünftig haushalten können.

Als ich die Wohnungstür öffne, um arbeiten zu gehen, steht da ein Mädchen auf der Matte, das gerade klingeln wollte.

„Hallo“, grüße ich.

„Hallo“, grüßt die Unbekannte zurück, „die Tür unten war offen. Ich wollte zu Vico.“

Aha, das wird ja dann wohl seine Freundin sein, nehme ich an. Hübsch, wenn man auf eher dürre, blasse, rothaarige Mädchen abfährt. Sie trägt einen schwarzen Mantel und hohe Stiefel, ihre Haare sind mit einem schwarzen Samtband zurückgebunden, ihre Augen dunkel und ein wenig katzenartig geschminkt.

„Na, dann … den Flur runter, rechte Tür.“

„Danke“, lächelt sie freundlich und geht an mir vorbei.

Ich ziehe die Tür ins Schloss und stelle drei Sekunden später fest, dass Markus offensichtlich immer noch schwer überarbeitet ist … der Fahrstuhl bewegt sich keinen verdammten Millimeter. Während ich die Treppen hinunterstapfe, frage ich mich, ob Julia so ist wie wir. Und wenn nicht, weiß sie etwas? Keine Ahnung, wie lange die beiden zusammen sind. Ist aber auch eigentlich vollkommen egal. Ich meine, was kümmert's mich? Vico wird wohl nicht gleich loslaufen und jedem auf die Nase binden, dass sein Mitbewohner ein verfluchter Blutsäufer ist. Selbst wenn, würde er sich zwei Minuten später vermutlich in einer Gummizelle wiederfinden.

Nachdem ich meine Kunden versorgt und deren Kohle in der Tasche hab, hänge ich ein bisschen in einer Kneipe rum, wo sich Jungs von Männern aufreißen lassen. Einige der Jungs sehen sogar ganz niedlich aus, aber leider sind die auch mit allen Wassern gewaschen. Erstens wollen die natürlich bezahlt werden … soweit ist es mit mir jedoch noch nicht gekommen … zweitens passen die für andere Sachen viel zu gut auf. Denen kannst du jedenfalls nicht so einfach was ins Getränk mischen. Manchmal, wenn ich Zeit und Lust habe, lasse ich mich von den Männer ansprechen, mit zu denen nach Hause nehmen und … das Übliche eben, GHB ins Glas und eine Weile später kriegen die nix mehr mit. Es gibt einfach zu viele arglose Menschen auf der Welt. Aber, hey, ich tu denen ja nicht weh … beziehungsweise merken die das nicht. Und an einem kleinen Schnitt hier und da ist noch keiner gestorben. Die könnten mir sogar dankbar sein, weil ich sie davor bewahrt habe, viel Geld für einen langweiligen Mittelklassefick auszugeben.

Vico kuschelt bestimmt grad mit seiner dürren Freundin. Und Silvester kuschelt mit meinem Nachfolger. Ich kann mir Vico beim besten Willen nicht romantisch und schmusig vorstellen.

Oder vielleicht doch und das geht jetzt echt zu weit!

Vico >> [jetzt]

„Was ist das denn?“, frage ich, schiebe Julias Leggings ein Stück weiter nach oben und tippe mit dem Finger auf die kleine, rot umrandete Brandwunde am Schienbein.

„Au“, macht sie und verzieht das Gesicht.

„Was ist das?“, wiederhole ich und klebe vorsichtig ein neues Pflaster auf die frische Verletzung über dem Knöchel. Sie blutet noch, es tut mir beinahe leid, das zu sehen, obwohl es ja nun notwendig war; es wäre also besser, wenn es mir nicht leid täte, aber im Moment komme ich nicht dagegen an. Und dann hat auch noch irgendein Irrer eine Zigarette auf meiner Freundin ausgedrückt, herzlichen Glückwunsch.

„Wie kommt man denn an so was?“, will ich etwas überfordert wissen, „wer zur Hölle war das?“

Wir sitzen auf meinem Bett, es ist nicht so schlecht, dass sie hier ist.

„Ich selber“, sagt sie.

„Was?“, frage ich verständnislos.

„Ja“, antwortet sie, „ich wollte wissen, wie sich das anfühlt.“

Ich atme geräuschvoll durch die Nase aus.

„Das ist doch jetzt nicht wahr“, murmele ich gereizt, wische einen Blutstropfen von ihrem Bein und stecke mir den Finger in den Mund.

„Das war bescheuert“, entgegnet sie, „ich weiß. Tut mir leid.“

Da stimmt doch was nicht, denke ich. Und wenn ich mir vorstelle, was sie ohnehin so alles mit sich machen lässt, wird mir ganz anders. Ich meine – das war schon so, bevor wir uns kennengelernt haben und wenn es nicht so gewesen wäre, dann wären wir vermutlich gar nicht zusammen. Trotzdem. Diese vollständige Rücksichtslosigkeit sich selbst gegenüber hat etwas Verstörendes.

„Vielleicht sollten wir mal öfter was zu zweit machen“, schlage ich vor.

Okay, denke ich, super Einfall, noch origineller geht's ja kaum, ich alte Stimmungskanone sorge mal wieder für tipptopp gute Laune.

„So wie jetzt?“, fragt sie, es klingt leicht geringschätzig.

„Zum Beispiel“, erwidere ich und zwar ohne jeglichen Esprit, „ich meine, sich einfach mal zu zweit treffen und …“

Sie lächelt und zieht die Leggings wieder herunter. Ich küsse sie auf die Stirn und streiche ihr über die Haare, man bekommt leicht das Gefühl, sie wäre gar nicht richtig da, wenn man sie nicht gerade berührt. Sie nimmt meinen Arm, legt ihn um ihre Schultern und schmiegt sich an meine Brust. Ich ziehe sie fester an mich heran.

„Mach so was nicht mehr“, sage ich, „bitte.“

Sie hebt den Kopf und muss lachen.

„Du meinst“, fragt sie in einem etwas schauerlichen, neckenden Tonfall, „dir ist neuerdings meine körperliche Unversehrtheit wichtig?“

Yeah, was soll man dazu sagen, denke ich, das ist doch alles scheiße.

„Das ist was anderes“, entgegne ich lahm, „du musst dir doch nicht selber wehtun.“

„Also“, spinnt sie den Gedanken weiter und hebt spöttisch die Brauen, „du meinst, nur du darfst mir wehtun?“

Sie findet das offensichtlich immer noch lustig.

„Das ist, wie gesagt, was anderes“, behaupte ich, obwohl ich weiß, dass es ein eher schwaches Argument ist, denn Julia ist nicht Sascha und hat entsprechend keine Ahnung. Beziehungsweise geht von den falschen Voraussetzungen aus. Sascha! Ab und zu glaube ich immer noch, dass ich mir das alles nur eingebildet habe.

„Ha, genau“, lacht sie auf, „bei dir ist alles immer was anderes, ja? “

Ich sollte froh sein, denke ich, ich sollte froh sein, wie egal es ihr ist, dass ständig jemand an ihr herumschneidet, um sich ihr Blut hinter die Binde zu kippen, denn schließlich bin ich die Nummer eins dieser Beklopptenparade, wenn auch aus anderen Gründen. Aber ich kann mir nicht helfen, es gruselt mich, wenn ich mir ausmale, wie sie selbst mit der Rasierklinge hantiert, das macht sie gern, sie setzt gern selbst den Schnitt und bietet sich an. Und immer sind es ihre Unterarme, die sie den Leuten unter die Nase hält, sie hat mir sogar erklärt warum, weil, hat sie gesagt, es sich auf diese Weise in etwas Positives verwandelt, in etwas, von dem jemand anders etwas hat. Früher habe sie nie gewusst, wohin mit dem ganzen Kummer und dem Druck und einfach so geschnitten, ohne Ziel oder Zweck.

„Schscht“, mache ich, weil ich zu dieser Diskussion nichts Schlaues mehr beizutragen habe.

„Bist du vielleicht besser?“, will sie wissen und zeigt auf die Beruhigungstabletten, die auf dem kleinen Tisch neben meinem Bett liegen. „Davon kriegt man irgendwann Wahnvorstellungen oder Filmrisse oder sonstwas.“

„Ich nicht“, sage ich.

„Wie, du nicht?“, fragt sie, es klingt genervt, „was ist das denn für‘n Scheißspruch?“

„Ich eben nicht“, beharre ich.

„Ja, klar“, sagt sie und zieht missbilligend die Mundwinkel nach unten, „und du kannst jederzeit damit aufhören.“

„Nee“, gebe ich zu, „das vielleicht nicht gerade.“

Julia windet sich aus meiner Umarmung, setzt sich im Schneidersitz mir gegenüber und macht ein ernstes Gesicht.

„Ich mach mir echt Sorgen“, erklärt sie.

„Es ist alles im Rahmen“, füge ich hinzu, „okay?“

„Weißt du was?“, fragt sie, „es ist ein gutes Zeichen, wenn man sich umeinander Sorgen macht.“

Vico << [drei Jahre zuvor]

Mach dir keine Sorgen, mein Freund“, sagte Valeri freundlich und schenkte mir ein verbindliches Lächeln.

Die ganze Zeit über atmete ich schon so flach wie möglich, aber es half überhaupt nichts, ich wurde kein bisschen ruhiger und ein Ausweg war auch nicht in Sicht. Wir befanden uns im Keller, in der ehemaligen Waschküche, wie Valeri mir nett erläutert hatte, wie ein Reiseführer, der eine Sehenswürdigkeit präsentiert.

Sag mal“, schien er ein neues Thema beginnen zu wollen und stützte beide Handflächen auf den Tisch, „wie alt bist du eigentlich?“

Von der Decke hing eine dürftig und gelblich leuchtende Glühbirne herab, deren Schein den Raum in ein unerfreuliches Zwielicht tauchte. Auf dem Tisch, der sich gegenüber der längst wieder verriegelten Tür befand, stapelten sich Müllsäcke, Küchenpapierrollen, Werkzeug, ausrangierte Computerteile und anderer Elektroschrott. Der Boden fiel zur Mitte hin flach ab, an der tiefsten Stelle befand sich ein vergitterter Abfluss.

Ich?“, fragte ich sinnloserweise und kaum hörbar, „achtundzwanzig.“

Achtundzwanzig?“, vergewisserte sich Valeri und legte die Stirn in Falten. Dann nickte er.

Gut“, sagte er.

Mein Nacken kribbelte unablässig. Mir war nicht ganz klar, wie ich es schaffte, mich auf den Beinen zu halten vor lauter Angst. Ich konnte mir auf nichts mehr einen Reim machen. Wasja stand hinter mir, ob mit oder ohne Messer wusste ich nicht.

Gut“, wiederholte Valeri und seine Miene wurde ernst, „dann fangen wir mal an.“

Was –“, fragte ich.

Valeri nickte Wasja zu. Panisch wandte ich den Kopf nach rechts und nach links und wieder nach rechts, das ist es jetzt also, dachte ich, das ist es, wovon man immer glaubt, dass es einem nicht passiert. Und ich bin selber schuld. Ich hab doch genau gewusst, was das für Typen sind. Das hab ich doch genau gewusst.

Und dann ging alles sehr schnell. Valeri rammte mir sein Knie in den Magen, sodass ich laut aufstöhnte und mich automatisch krümmte oder es zumindest versuchte, denn nahezu im selben Augenblick packte Wasja zuerst meine Schultern und schlang dann, mit überraschender Geschwindigkeit und Kraft, einen Arm von hinten um meine Brust, griff mit der anderen Hand nach meinem linken Ellbogen und zog ihn nach hinten, bis ich fast keine Luft mehr bekam. Mir traten die Tränen in die Augen und ich atmete stoßweise durch die zusammengepressten Zähne.

Valeri sagte oder fragte etwas auf Russisch und Wasja antwortete, ich weiß noch, wie ich mich darüber wunderte, wo er doch bisher geschwiegen hatte. In meinem Kopf herrschte jetzt schon Ausnahmezustand.

Wasja zerrte mich ein Stück in den Raum hinein, weg von der Wand und vom Tisch, woraufhin meine Beine nachgaben und er mich noch etwas weiter schleifte. Der Boden war kalt und rau und unnachgiebig und ich hatte das Gefühl, er würde schwanken, ich hatte vorübergehend die Orientierung verloren, was mich noch hilfloser machte. Ganz kurz ließ Wasja von mir ab, mir wurde bewusst, dass ich auf der Seite lag und ich versuchte, die Knie anzuziehen, doch dazu kam ich nicht, jemand drückte für ein paar Sekunden meinen Kopf auf den Boden, das musste wohl Valeri sein, denn Wasja sah ich nicht mehr, er war schon wieder hinter mir verschwunden, riss mich im nächsten Moment nach oben, griff nach meinen Armen und umwickelte meine Handgelenke hinter meinem Rücken mit etwas, das sich wie ein festes Band oder Seil anfühlte. Dann ließ er mich los und ich sank zurück auf den Boden, mit der Schulter zuerst, es war schwer zu sagen, was oder wo es am meisten wehtat.

Wasja“, sagte Valeri, „gib mir mal das Messer.“

Nein!, dachte ich, nein!, ich sah, wie er vor mir in die Hocke ging, ich sah den Türspalt, durch den kein Licht drang und den Abfluss im Boden. Nichts, was ich um mich herum wahrnahm, schien mehr zusammenzupassen und einen Sinn zu ergeben.

Wasja setzte seinen Stiefel auf meine Seite, zwischen Rippen und Hüftgelenk, sodass mir das Atmen noch schwerer fiel und mir entfuhr eine Art Schluchzen.

Ganz ruhig“, sagte Valeri oder vielleicht bildete ich mir das auch nur ein und dann spürte ich einen Stich, wie ich ihn mir schmerzhafter kaum vorstellen konnte, ich konnte mir strenggenommen überhaupt nichts vorstellen, das konnte doch eigentlich gar nicht sein, es konnte nicht sein und ich konnte mich nicht wehren, auch nichts sagen oder schreien oder was man sonst so erwarten würde, es kann nicht sein, dachte ich, es kann nicht sein. Valeri hielt mein Bein umklammert und hatte einfach zugestochen, durch meine schwarze Jeans hindurch, die ich an diesem Tag trug, das wusste ich noch und es kam mir alles schrecklich unlogisch vor. Dem Stich folgte ein Schnitt, der sich tief anfühlte, soweit ich das beurteilen konnte, grauenhaft tief, an der Innenseite des Oberschenkels, ein ganzes Stück weit über dem Knie. Sofort wurde mein Bein ganz nass, nass und lauwarm und es brannte und dann fing es unkontrolliert zu zucken an und wollte nicht mehr damit aufhören.

Valeri hatte mich inzwischen losgelassen, hockte aber immer noch vor mir, die Ellbogen lässig auf die Knie gestützt, das Messer locker in der Hand. Es glänzte schwarz vor Blut.

Das ganze Blut. Es lief einfach so aus mir heraus, was ich, obwohl ich es nicht nur spürte, sondern auch sah, überhaupt nicht begreifen konnte, kein bisschen, es lief und lief, den abschüssigen Boden hinab, Richtung Abflussgitter.

Etwas passierte hinter mir, Wasja machte sich an dem Band oder Seil zu schaffen, und ich begann noch stärker zu zittern, am ganzen Körper, doch dann waren meine Hände wieder frei, etwas taub, aber frei. Reflexartig versuchte ich mich aufzurichten, aber meine Arme schlotterten so sehr, dass es mir erst beim zweiten Anlauf gelang. Ich schaffte es, mich auf allen Vieren zu halten, niemand hinderte mich daran, was mich schon wieder wunderte, man rechnet ja immer nur mit dem Schlechtesten, doch dann sah ich es, dann sah ich, was ich noch gar nicht bemerkt hatte, eine klaffende Wunde an meinem linken Handgelenk, aus der Blut sickerte, nein, es sickerte nicht, es lief, lief ebenfalls, überall lief Blut, aus dem Bein, aus dem Arm, ich glaube, dass ich endlich geschrien habe, als mir das klar wurde, oder zumindest hatte ich es vorgehabt. Hektisch wollte ich aufstehen, es war der reine Fluchtinstinkt, aber es ging nicht und durch die übereilten und ungeschickten Bewegungen rutschte ich aus, ich rutschte in meinem eigenen Blut aus. Vor Entsetzen stemmte ich mich wieder auf Hände und Knie, die Haare hingen mir über die Schultern bis fast auf den Boden, nass von meinem Blut und ich konnte sehen, wie sich ein schwarzer Tropfen löste und dann noch einer. An diesem Punkt oder an irgendeinem anderen brach ich zusammen.

Ich hustete. Ich hustete, spuckte und würgte, alles zugleich oder vielleicht auch nacheinander, ich bekam schon wieder nicht genug Luft, dieses Problem hatte mich wohl geweckt und genau das bedauerte ich, es war doch gerade für kurze Zeit alles gut gewesen, nämlich gar nichts mehr. Etwas lag gewichtig auf meinem Gesicht, ein Arm, genau, es war ein Arm, Wasjas Arm, und der Arm war nass und der Boden und ich, alles war nass und damit ich wieder atmen konnte, musste ich zuerst schlucken, was allerdings keine gute Idee war, denn in diesem Moment wurde mir deutlich, was ich da eigentlich schluckte und musste wieder würgen.

Erneut sagte jemand etwas auf Russisch, Valeri, das war Valeris Stimme und Wasjas Arm auf meinem Mund und sein Gesicht über meinem verschwanden, sodass ich zumindest Luft holen konnte.

Das Zittern hatte aufgehört, doch jetzt spürte ich mein Bein nicht mehr, ich sah an mir herunter, so gut es ging und erkannte eine Art Gurt, der sich tief in das Fleisch grub, das durch den Schnitt in der Hose blutverklebt zu sehen war. Und schon war der Arm wieder da, nein, gar nicht wahr, diesmal war es Valeris Arm und wieder breitete sich zähes, warmes Blut in meinem Mund aus und wieder traten mir die Tränen in die Augen.

Das reicht“, sagte Valeri und der Arm verschwand.

Dann ließen sie von mir ab.

Vico >> [jetzt]

An der Haustür treffe ich Sascha.

„Ah“, sage ich, „wo kommst du denn her?“, und könnte mir selber eine reinhauen für diese dämliche Frage. Außerdem ist sie vielleicht indiskret, wer weiß? Wer weiß, ob es mich etwas angeht, wo er herkommt.

„Und selbst?“, weicht Sascha aus.

Frierend tritt er von einem Bein auf das andere, es ist eine kalte Märznacht.

„Ich hab Juli nach Hause gebracht“, antworte ich und gefalle mir einigermaßen gut dabei, es ist genau das, was ganz normale Leute tun.

„Ach so“, erwidert Sascha, „ich hätte jetzt gedacht, sie bleibt vielleicht bis morgen.“

„Nee“, ich schließe die Tür auf, „ich hab zwei Wochen bei ihr gewohnt, bevor ich hier eingezogen bin. Ich schlaf' erst mal lieber allein.“

„Ah“, nickt Sascha.

Mir fällt ein, dass er noch relativ frisch getrennt ist und nehme mir vor, das Thema nicht allzu sehr zu vertiefen.

„Hast du noch was vor?“, erkundige ich mich möglichst selbstverständlich, während wir raufgehen, der Fahrstuhl hat eindeutig was für sich, wenn er denn mal funktioniert. Immerhin, denke ich, müssen wir nicht mehr so tun, als wären wir Frühaufsteher.

„Nicht so wirklich“, antwortet er knapp.

„Wollen wir noch was trinken“, frage ich, „oder was essen?“

Sascha schließt die Wohnungstür. Er sieht etwas angegriffen aus.

Ich stelle fest, dass ich einigermaßen guter Dinge bin, trotz der vielen komplizierten Umstände und mich überkommt ganz kurz ein Hochgefühl. Wenn man darüber nachdenkt, überlege ich, ist es ziemlich entspannend, dass wir da diese Gemeinsamkeit haben und Entspannung ist immer gut, Entspannung ist genau das Gegenteil von Paranoia. Und vielleicht hat Julia recht, vielleicht ist es wirklich ein gutes Zeichen, wenn man sich Sorgen macht umeinander. Man muss die Dinge in die Hand nehmen, denke ich. Vielleicht ist ausnahmsweise alles mal gar nicht so schlimm.

Sascha öffnet den Küchenschrank. Er ist unerfreulich leer.

„Wir haben noch …“, er greift nach einer etwas angestaubten Tüte, „Billigkekse.“

„Ist doch super“, grinse ich, „Billigkekse und Kaffee?“

Sascha reißt die Tüte auf und stellt sie auf den Tisch.

„Macht man nichts mit verkehrt“, grinst er zurück.

„Moment“, sage ich, „ich hab da noch was …“

Ich gehe in mein Zimmer, Sascha folgt mir. Auf dem dunklen Holztisch in der Ecke stehen Julias Sirupfläschchen, sie trinkt Kaffee grundsätzlich nicht ohne Karamell- oder Vanillegeschmack. Ich hebe die Karamell-Flavour-Flasche hoch und sehe Sascha fragend an.

Er lacht.

„Macht man auch nichts mit verkehrt“, findet er.

Als wir mein Zimmer gerade wieder verlassen wollen, fällt mein Blick auf das Rasiermesser, das noch am Bett liegt. Daneben: Alkoholtupfer und Pflaster. Sascha sieht ebenfalls hin.

„Ähm“, sage ich.

„Führst du hier manchmal Operationen durch?“, will er wissen.

Rasch nehme ich das Messer an mich und schiebe es zurück in das Etui an meinem Gürtel.

„Ja“, sage ich, „nein, ich glaub – ich muss dir da mal was erklären …“

„Da bin ich ja mal gespannt“, sagt er.

„Okay“, resümiert Sascha und umfasst mit beiden Händen seine Tasse, um sich die Finger zu wärmen; im kalten Licht der Straßenlaterne sind Eisblumen am schlecht verglasten Küchenfenster zu erkennen, „und da bist du dann einfach ein Freak unter Freaks, ja?“

„So in etwa“, bestätige ich.

Er hebt die Tasse an die Lippen, ohne den Blick abzuwenden. Es kommt mir richtig vor, ihm von Peters heiterem Irrenhaus zu erzählen, wenn nicht ihm, wem dann? Vielleicht ist es ein bisschen wie mit der eigenen Familie, man kann sie sich nicht aussuchen, aber, denke ich, man hätte es schlechter treffen können. Keine Ahnung, was es mit meiner plötzlichen Zuversicht auf sich hat, ganz geheuer ist mir das nicht. Aber, hey, das hier ist die gravierendste Veränderung der Sachlage, die ich in den vergangenen drei Jahren erlebt habe, das wirkt sich auch auf die Gemütsverfassung aus.

„Klingt … na ja, praktisch“, fährt Sascha fort, „oder wo ist der Haken?“

Ich beuge mich nach vorn und stütze die Ellbogen auf den Tisch.

„Der Haken“, beginne ich, „der Haken ist der, dass…“ Ich halte kurz inne. „Dass ich – auf sie angewiesen bin. Zumindest“, ergänze ich, „wenn ich es bequem haben möchte. Das ist der Haken.“

Sascha blickt mich immer noch an und legt leicht den Kopf schräg.

„Und Julia?“, fragt er.

„Was ist mit Julia?“, frage ich zurück.

„Sie ist doch irgendwie“, sagt er, „auch auf dich angewiesen, oder?“

Er trinkt einen Schluck Kaffee und leckt sich den klebrigen Karamellsirup von den Lippen.

„Inwiefern?“, hake ich nach.

Er zuckt die Achseln.

„Wenn man mit jemandem zusammen ist“, führt er schließlich aus, „ist man doch auch irgendwie auf ihn angewiesen. Oder ist das nur so eine Art …“, er sucht nach dem passenden Begriff, „Zweckgemeinschaft bei euch?“

Ich seufze. Falsche Frage. Muss ich auch eigentlich nicht beantworten oder? Tue ich aber, weil ich offenbar gerade dazu aufgelegt bin, zu Gesprächen über Frauen unter Freunden in WG-Küchen oder so was. Gespräche über Frauen unter Freunden in WG-Küchen … Wem versuche ich hier eigentlich was vorzumachen? Das ist ja nun, denke ich, wohl nicht mehr nötig. Woran ich mich allerdings noch gewöhnen muss.

„So war das mal gedacht“, gestehe ich, „klar, von meiner Seite aus.“

Sascha nickt.

„Klingt logisch“, findet er.

Es entsteht eine Pause. Und dann fällt mir etwas ein.

„Vielleicht“, fange ich schon an zu reden, bevor ich überhaupt zu Ende gedacht habe, „kommst du einfach mal mit. Wenn du willst. Das muss man sich eigentlich mal“, ich verziehe einen Mundwinkel, „angekuckt haben.“

„Hört sich auf jeden Fall … interessant an“, stimmt er zu.

„Man müsste dich allerdings erst mal eingeschleust kriegen“, überlege ich weiter, „die nehmen den ganzen Zirkelkram ziemlich ernst. Wir-sind-alle-eine-Familie und so.“

Ich hebe eine Braue und grinse ihn an. Er lacht.

„Ich glaub, ich versteh so langsam das Problem“, erklärt er, pustet sich eine Ponysträhne aus dem Gesicht und muss noch mal lachen, „das sind eben Spinner.“

„Exakt“, bestätige ich.

„Julia auch?“, fragt er.

Ich räume mir etwas Bedenkzeit ein und widme mich einem Billigkeks, er schmeckt künstlich süß und nach Fettglasur.

„Ich weiß nicht“, gebe ich zögernd zurück. In gewisser Hinsicht ist es bei ihr etwas anderes, denke ich, aber das lässt sich nicht gut auf die Schnelle erklären. „Doch, ja. Klar. Julia auch.“

Sascha greift ebenfalls nach einem Keks.

„Und du“, wechsle ich das Thema, „wie machst du das?“

Er stöhnt gequält auf und verschränkt die Arme hinter dem Kopf.

„Bis vor Kurzem war es einfach“, sagt er und es klingt mehr als nur ein bisschen wehmütig.

„Ah“, geht mir endlich ein Licht auf, „dein Ex ist also…?“

„… kein Spinner“, vervollständigt er den Satz und lacht einmal kurz auf. „Zu zweit ist es wohl immer einfacher, oder?“

„Da fragst du den Falschen“, erwidere ich, „ich bin ja nicht zu zweit.“

„Ja, aber“, lässt Sascha nicht so schnell locker, „es muss da doch mal irgendjemanden gegeben haben?“

Ich sehe in den Dampf, der aus meiner Tasse aufsteigt und kann innerlich genau verfolgen, wie die gute Laune verfliegt.

„Ich war mal zu mehreren“, informiere ich ihn, „aber das war eher noch komplizierter als jetzt.“

„Hm“, macht Sascha und nickt. „Man muss ja nicht gleich komplett …“, für zirka eine halbe Sekunde wirkt er unsicher, „über alles auspacken. Wo bleibt sonst die Spannung?“ Er grinst schief.

Ich denke, dass das Leben insgesamt nicht allzu gut erzogen ist und dass die Probleme auch nicht wirklich weniger geworden sind, aber dass es so vielleicht erst mal gehen könnte. Es könnte erst mal so gehen, wenn man ab und zu mit jemandem reden kann.

Vielleicht.

Sascha >> [jetzt]

Und bei Karamellkaffee und Billigkeksen plaudern die Herren Dracula aus ihrem Blutsauger-Nähkästchen. Ist das nicht schön?! Immerhin weiß ich jetzt, was Vicos Quellen sind. Und irgendwie sind die eindeutig besser als meine. Moralisch gesehen auf jeden Fall, wenn seine Spinner tatsächlich freiwillig mitmachen. Dann spielt da noch der Coolness-Faktor eine Rolle. Ich bringe es einfach nicht über mich, ihm zu erzählen, wie ich es mache, weil ich da nun wirklich nicht stolz drauf bin. Ich meine, genaugenommen bin ich mindestens ebenso schlimm wie die kranken Bastarde, die irgendwen betäuben, um anschließend über sie oder ihn herzufallen. Armselig, nennt man das wohl. Mit Silvi war es natürlich anders. Anders und einfacher. Eigentlich will ich auch nicht, dass Vico darüber zu viel weiß. Er soll nicht denken … keine Ahnung, dass Silvi mir alles auf einem Silbertablett serviert hat. Obwohl das nicht so ganz falsch ist. Na und? Dafür muss ich jetzt schon seit vier verdammten Monaten allein klarkommen, was mir ja wohl relativ gut gelingt. Trotzdem. Ich verabschiede mich einstweilen aus der Küche, damit Vico wenigstens heute nicht noch mal die Gelegenheit bekommt, nachzufragen. Unnötig zu erwähnen, dass ich im Leben nicht auf die Idee käme, ihm anzubieten, mich in die miesesten Schwulenclubs der Stadt zu begleiten. Da schaue ich mir doch lieber seine Spinner an. Des Weiteren scheint Vico diese ganze, leider notwendige Blutbeschaffungsnummer insgesamt besser draufzuhaben, mit seinen Pflastern und Alkoholtupfern. Sollte ich mir vielleicht auch mal zulegen. Anderseits schwinge ich nur selten das Messer … so wie Vico … bei mir gibt's keine schrecklich großen Wunden, gerade so, dass man an das, was man will, rankommt. Dennoch, toll ist das alles nicht. Hätte man sich möglicherweise früher Gedanken drüber machen sollen. Aber, ehrlich gesagt, hab ich Silvi erst richtig geglaubt, als es fürs Gedankenmachen zu spät war. Natürlich. So was glaubt man doch einfach nicht, wenn es einer einem erzählt, oder?! Jedenfalls nicht ohne handfeste Beweise. Ich überlege, ob ich mir einen Freund wie Julia zulegen könnte? Also einen, der es nicht seltsam findet, dass ich ständig an ihm herumritze, um sein Blut zu trinken. Mir würde das höchst eigenartig vorkommen. Auf der anderen Seite gibt's genügend Leute mit komischen Vorlieben, man muss sich nur suchen und finden. Und zu einem Kerl wie Vico würde ich wahrscheinlich auch nicht nein sagen … wenn ich Julia wäre.


Ich hab mir gedacht, da Vico mich vorgestern ja fast schon eingeladen hat, sollte man nicht zu lange warten. Gestern Nacht war ich vorsorglich allein unterwegs, denn ich bin mir fast sicher, dass ich mich nicht gleich am ersten Abend nach Herzenslust besaufen darf. Also besaufen vielleicht schon, die Spinner scheinen eine sehr lockere Einstellung zu alkoholischen Getränken zu haben, darauf lassen die unzähligen leeren, halbleeren und vollen Spirituosenflaschen schließen. Vico hat auf dem Weg hierher erklärt, dass der Besitzer des Hofs ein leichtes Drogenproblem hat und momentan Urlaub in der Klapse macht. Ich sag's ja: Die Leute können einfach nicht haushalten. Das ist wie bei Kindern im Bonbonladen … da sind die Augen auch immer größer als der Magen. Hm, vielleicht tut sich ja sogar der ein oder andere neue Kunde für mich auf?! Ansonsten sind die Gestalten, die sich hier tummeln, nichts, was ich nicht schon in irgendwelchen Clubs gesehen hätte. Allerdings, dass man sich dermaßen aufbrezelt, um dann auf einem runtergekommenen Bauernhof umherzuflanieren … na ja, muss jeder selber wissen. Eine gewisse Abgefucktheit hat das Ganze, das gefällt mir schon mal. Ich kann noch nicht genau sagen, wer jetzt tatsächlich zu den Spinnern gehört und wer als Gast geduldet ist. Die Tussi mit dem abartigen Pentagramm-Tattoo am Hals gehört aber sicher zum harten Kern. Sie bewegt sich so, als wäre sie ihrer Meinung nach sehr wichtig. Irgendwo hab ich auch Julia kurz gesehen, die heute etwas freizügiger gekleidet ist als letztens an unserer Wohnungstür und mich überfiel sofort ein Hauch von Mitleid. Sogar in der schummrigen Beleuchtung sind mir ihre Narben an den Armen aufgefallen. Also, entweder lässt die jeden an sich dran oder Vico kann mit bestimmten Sachen genauso wenig haushalten wie meine Kunden mit dem Zeug, das ich ihnen verticke.

Ich schnappe mir eine ordinäre Flasche Bier, öffne sie mit meinem Feuerzeug und oute mich damit vermutlich sofort als Proll. Im Prinzip ist es hier wie mit den versnobten Arschgeigen … die würden doch kein billiges Speed einwerfen, die haben Geld, also wird gekokst.

Mit meinem Proletengesöff setze ich mich auf ein nicht ganz so verrottet aussehendes Polstermöbel und warte erst mal ab. Ein paar Schritte neben mir knutscht ein Pärchen. Man, darauf hätte ich auch mal wieder Lust. Darauf, mich in hautenge Latexklamotten zu zwängen wie die beiden, die grad' an mir vorbei gehen, eher weniger. Ein bisschen am Rand steht Graf Dracula höchstpersönlich pseudolässig in der Gegend rum. Weißes Rüschenhemd, Samtgehrock, ein Glas Absinth in der Flosse und als er in meine Richtung sieht, fangen seine Augen an zu blitzen, was einerseits an dem einfallenden Licht von irgendwoher liegt und zweitens daran, dass er total behämmerte Raubtierkontaktlinsen trägt. Du großer Gott, ich muss spontan einen Lachanfall unterdrücken.

Zwei Sekunden später vergeht mir das Lachen. Gerade ist Vico wieder aufgetaucht, der seit meiner Ankunft irgendwie verschollen war, geht schnurstracks auf einen niedlichen Blondschopf zu, streichelt ihm über die Wange und küsst ihn auf den Mund. Zu lange für eine simple Begrüßung, zu kurz für … eventuell was anderes. Ich bin erschüttert! Zwar haben sich auch ein paar der übrigen Gäste ähnlich begrüßt, aber ich hatte wirklich keine Ahnung, dass ausgerechnet Vico der Küsschen-Küsschen-Typ ist. Okay, also Vico hat eine Freundin und küsst einen Jungen auf den Mund. Ich kann mir vorstellen, dass Leute, die sich an so einem Ort treffen, sexuelle Aufgeschlossenheit hip finden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Vico so jemand ist. Wenn er einen Typen küsst, muss das was zu bedeuten haben! Mich hat er jedenfalls noch nicht zur Begrüßung geküsst, wenn er abends aus seinem Zimmer oder dem Bad kam oder so. Allerdings kennen wir uns auch erst wenige Wochen. Das geht mir jetzt total auf den Sack, dass ich nicht weiß, was da zwischen den beiden läuft. Oder ob da überhaupt was läuft.

Nachdem er sich ein paar Sätze lang mit Blondie unterhalten hat, kommt er mit einem Glas Rotwein zu mir.

„Ui, wir sind aber heute stilvoll, hm?“, grinse ich amüsiert.

„Na ja“, grinst er ebenfalls, „man passt sich eben an.“

„Ich nicht“, sage ich und proste ihm mit meiner Bierflasche zu.

„Bei dir würde das hier“, er hebt kurz sein Glas, „auch irgendwie komisch aussehen.“

„Findest du, ich sehe wie ein Parkpenner aus?“, frage ich gespielt beleidigt.

„Klar“, antwortet er und verdreht die Augen, „der Gedanke drängt sich förmlich auf.“

„Freund von dir?“, will ich wissen und nicke mit dem Kopf in Blondschopfs Richtung.

„Levin? So etwas in der Art“, entgegnet er.

Vico hat schon wieder nur zwei Fingernägel schwarz lackiert. Irgendwie macht mich das grad' … ich kann's nicht beschreiben, aber es hat was. Dazu noch die schwarzen Haare, die ihm dekorativ seitlich über die Schulter fallen … ey, was n mit mir los?? Das Geküsse vorhin hat mich offenbar ziemlich aus dem Konzept gebracht.

„Und gehört er zu den Spinnern oder … zu irgendwem speziell?“

„Spinner solltest du sie nicht nennen, wenn sie in der Nähe sind“, lacht Vico, „das würden sie dir übel nehmen. Die finden sich … exklusiv.“

„So exklusiv wie Dracula mit den Raubtieraugen ist sowieso niemand“, bemerke ich und deute verstohlen auf den Typen.

Vico dreht seinen Kopf zur Seite.

„Den seh' ich heute zum ersten Mal.“

Ich habe wirklich nicht die geringste Ahnung, weshalb ich für einen Moment das Gefühl niederkämpfen muss, seine Hand zu berühren. Diese elegante Hand mit den schlanken Fingern, die total weich aussehen. Heimlich schiele ich aufs Etikett meiner Flasche, um das Haltbarkeitsdatum zu überprüfen. Oh Man und wie er so lässig neben mir sitzt mit seinem blöden Glas Rotwein. Und sein Geruch … wie blauer Meerbadeschaum mit einem Hauch Patchouli. Heiliger Strohsack, das war jetzt mit Abstand das Schwulste, was ich jemals gedacht habe! Dann auf einmal, ohne Vorwarnung, stiehlt sich doch tatsächlich eine schmutzige kleine Phantasie in mein Hirn, mit uns beiden in den Hauptrollen. Es ist ekelhaft. Und total abartig. Und vollkommen daneben. Und leider … unglaublich anregend.

„Sascha?“

„Hm?“, mache ich aus Versehen ein bisschen verträumt.

„Willst du noch was trinken?“

„Wieso?“, frage ich dümmlich.

„Weil du an einer leeren Flasche nuckelst“, bemerkt er lachend, was sich blöderweise ekelhaft niedlich anhört.

Niedlich? Niedlich?? Vico hat gefühlt tausendmal gelacht, ohne dass ich's niedlich fand … was zur Hölle ist los mit mir? Verzweifelt stelle ich die leere Flasche weg und nehme eine neue entgegen.

„Okay, ich geh dann mal zu Julia. Sag einfach Bescheid, wenn du nach Hause willst, ja?“

Ich nicke schwächlich.

Weil ich irgendwie nicht damit aufhören kann, mir völlig hirnrissige Gedanken über Vico zu machen, beschließe ich, auf Erkundungstour zu gehen, um mich abzulenken. Unbehelligt von Spinnern und feierwütigen Gästen latsche ich erst durch eine reichlich zugige Scheune, dahinter liegt das Wohnhaus.

Kaum hab ich es betreten, versperrt mir ein Gothic-Mädchen den Weg.

„Hallo“, grüßt die Unbekannte.

„Hi“, grüße ich zurück.

„Hast du dich verlaufen?“, will sie wissen.

„Nein“, behaupte ich.

„Aber eigentlich hast du in diesem Bereich nichts verloren.“ Sie mustert mich und lächelt auf einmal. „Ich bin Nele“, stellt sie sich vor.

„Sascha“, antworte ich.

„Du bist mit Vico gekommen“, stellt sie fest.

Noch nicht, denke ich.

„Yep.“

„Kennst du ihn schon lange?“

Ihr Atem riecht leicht nach Lakritz. Ihre langen schwarzen Haare sind in der Mitte gescheitelt und an ihrem Hals baumelt an einer Silberkette ein spitz zulaufendes Ankh. Wie Vico mir erklärte, trägt man das, um zu zeigen, dass man zur Vampyrgesellschaft gehört.

„Ich kenne ihn ziemlich gut“, erwidere ich. „Wir wohnen zusammen.“

„Verstehe. Wieso hat er dich dann bis jetzt versteckt?“, fragt sie und kichert albern.

Ich glaub, ganz nüchtern ist die auch nicht mehr.

„Keine Ahnung“, entgegne ich wenig originell.

„Du solltest trotzdem nicht hier sein“, erklärt sie.

Klar nicht, hier spielen sich ja auch die ultrageheimen Geheimnisse der Spinnergruppe ab.

„Und wenn es mir drüben grad' zu laut und zu voll ist?“, bemerke ich und zupfe demonstrativ an meiner Gürtelkette, damit sie das blöde Ankh sieht, das mich ebenfalls als Vampyr ausweist. Ich hätte auf das Schmuckstück gut verzichten können, aber Vico sagte, dass die Spinner großen Wert auf dieses Symbol legen.

„Okay, dann darfst du mir ausnahmsweise unauffällig folgen“, beschließt sie grinsend und greift nach meiner Hand. „Aber das bleibt unter uns, ja?“, wispert sie und zwinkert verschwörerisch.

Sie führt mich durch einen schmalen, düsteren Flur in eine geräumige Küche mit 'nem Kachelofen, der seine besten Zeiten hinter sich hat, die Kacheln sind gelbfleckig, hier und da kleinere Stücke herausgebrochen. Auf dem Tisch stehen ein paar Flaschen Wein, Nele schnappt sich eine davon und zieht mich wieder auf den Flur raus. Die Tür gegenüber der Küche ist zu.

„Hm, das Wohnzimmer scheint besetzt zu sein“, bemerkt sie.

Also gehen wir zurück zum Eingangsbereich und dort die Treppe rauf. Die Holzstufen knarren leise bei jedem Schritt, die Farbe am Geländer blättert an einigen Stellen ab. Oben an der Treppe erstreckt sich links und rechts ein Flur, drei Zimmer, in eines begeben wir uns. Ein alter Kleiderschrank, ein Bettgestell mit Matratze, Decken und Kissen, ein gammeliges Schränkchen daneben mit passender Schirmlampe und 'nem vollen Aschenbecher darauf. Das Zimmer wirkt alt und unglaublich verwohnt. Der Teppichboden ist übersät mit Flecken jeglicher Art und ich will gar nicht drüber nachdenken, was sich auf der dreckigen Matratze schon alles abgespielt hat. Hoffentlich ist hier niemand gestorben. Nele setzt sich im Schneidersitz aufs Bett, knipst die Nachttischlampe an, trinkt einen Schluck und stellt die Flasche beiseite.

Ich setze mich ebenfalls.

„Du hast wahnsinnig schöne Hände“, faselt sie und griffelt an meinen Flossen rum.

Na toll, ich werde gerade von einem Mädchen angebaggert, ich halt's im Kopf nicht aus!

Ihre enge Lackhose knistert, wenn sie sich bewegt, ihr hautenges, schwarzes Top endet knapp über dem Nabel. Eigentlich ist sie ziemlich hübsch … aber eben ein Mädchen. Ich sollte ihr vielleicht mal langsam sagen, dass sie deshalb so wirklich gar keine Chance bei mir hat. Leider tut sie etwas sehr Unangenehmes. Sie legt ihre Finger in meinen Nacken und küsst mich auf den Mund.

Fuck!!

Zum Glück dauert es nicht lange und ihre Zunge hat sie auch bei sich behalten.

Ich muss auf den Schreck trotzdem erst mal was trinken. Meine Erfahrungen mit Mädchen sind ziemlich überschaubar, daher weiß ich nicht, wie die so was handhaben, aber ein Kuss nach gefühlten drei Sekunden ist sicher eher ungewöhnlich … selbst für betrunkene Mädchen. Andererseits, wenn Nele mir schon so bereitwillig ihre Lippen angeboten hat, vielleicht geht da noch mehr, wenn ich es geschickt anstelle?

„Was weißt du eigentlich über den Hof?“, fragt sie.

„Äh … alles?“, schlage ich vor.

„Dann hat Vico dich aus einem bestimmten Grund hergebracht?“, nimmt sie an.

„Vermutlich“, sage ich und zucke mit den Schultern. „Ich kenne leider kaum … Gleichgesinnte, du verstehst?“, füge ich vorsichtig hinzu. „Das ist ja auch nichts, was … äh … also, ich meine, das ist schon sehr speziell, das erzählt man nicht jedem.“

Sie nickt und sieht mich aufmerksam an, scheint einen Moment zu überlegen und kramt schließlich eine verpackte Rasierklinge aus der obersten Schublade des Nachtschränkchens. Erst jetzt fallen mir die feinen Narben an ihren Armen auf. Von außen prasseln Regentropfen gegen die Sprossenfensterscheiben. Ich bin froh, dass Vico ein Auto hat, wir sind ziemlich weit draußen und der Gedanke, bei diesem ungemütlichen Wetter nach Hause laufen zu müssen, kickt mich nicht unbedingt.

„Möchtest du?“

Fuck, das ist einfacher, als ich dachte!

„Ist in Ordnung“, sagt sie leise. „Ich lass mich natürlich regelmäßig testen.“

Na dann.

„Bei mir ist alles okay.“

Mädchen hin oder her, einer solchen Einladung kann ich nicht widerstehen. Ich nehme die Rasierklinge, Nele nimmt noch einen Schluck Wein, dann ritze ich ihr ein bisschen die Haut unterhalb der Armbeuge an. Sie schließt die Augen, atmet geräuschvoll ein und wieder aus. Aus dem Schnitt treten einige Tropfen Blut hervor, die ich vorsichtig mit meiner Zunge ablecke, bevor ich meinen Mund über die Wunde lege und daran sauge. Als sich der leicht metallische Geschmack in meinem Mund ausbreitet, will ich sofort mehr, reiße mich jedoch zusammen. Schließlich ist Nele keiner von den weggetretenen Kerlen, mit denen ich es sonst zu tun habe.

Ein letztes Mal gleitet meine Zunge über den Schnitt, dann höre ich auf. Lasse ihren Arm los und lecke mir über die Lippen.

„Wow“, japst sie mit glasigen Augen, „das war der geilste Trip, den ich je hatte.“

Jaaa, Schätzchen, jetzt übertreib mal nicht!

Aus der noch geöffneten Schublade nimmt sie ein Päckchen Taschentücher, betupft mit einem ihre Wunde und klebt anschließend ein Pflaster drüber. Dann umfasst sie lächelnd mein Handgelenk und streicht über die Innenseite meines Unterarms.

Nee, Schätzchen, jetzt ist Schluss mit lustig!

„Sorry“, ich schüttle den Kopf und bringe meinen Arm in Sicherheit, „das geht leider nicht. Ich würde ja, aber es geht nicht.“

Nele blickt mich irritiert an.

„Ich hab … eine Gerinnungsstörung“, phantasiere ich mir zusammen, „also wenn du keine verblutete Leiche am Hals haben willst ….“

„Oh, okay“, sie legt die Klinge weg und streichelt mir über die Wange, „kein Problem. Muss dir auch nicht peinlich sein.“

Ich huste verstohlen, um einen Lachanfall zu unterdrücken. Ansonsten merke ich gerade, wie breit ich von zwei oder drei Flaschen Bier bin. Vertrag das Zeug halt nicht. Na gut, so breit, dass ich mich noch mal und länger von ihr küssen lasse, bin ich aber längst nicht.

„Gehen wir wieder runter?“

Ich kann ihr ansehen, dass sie eigentlich was anderes will.

„Sicher“, antwortet sie.

Vico << [drei Jahre zuvor]

Die erste Erinnerung an das, was danach kam, ist vielleicht die Schlimmste. Ich muss wohl eine Weile geschlafen haben oder bewusstlos gewesen sein, jedenfalls lag ich noch immer auf dem Boden, ich hatte jegliches Zeitgefühl komplett verloren, es konnte Abend sein oder Nacht oder schon der nächste Morgen, ich hatte keine Ahnung. Es war erbärmlich kalt, mein ganzer Körper fühlte sich verklebt an, verklebt und verkrustet, dann erst kam der Schmerz, im Bein vor allem, aber auch meine Rippen taten weh, der Rücken, die Arme, eigentlich alles. Ich blinzelte und sah meine blutverschmierten Hände, die Haare vor meinem Gesicht, die ganz starr waren vor geronnenem Blut und geriet in Panik, ich dachte, dass sie mich hier vergessen hatten, dass sie glaubten, ich sei schon tot und dass ich in absehbarer Zeit krepieren würde, ganz allein, in einer ehemaligen Waschküche und das alles nur, weil ich mir die falsche Kundschaft ausgesucht hatte.

Licht. Blendendes Licht, das in den Augen stach, es dauerte, bis ich etwas erkennen konnte, so hell war es. Ich hörte Stimmen, Männerstimmen, Frauenstimmen, Russisch und Deutsch, jemand klang verärgert und ich wusste nicht mehr, wo ich war. Immer noch im Keller offenbar, denn über mir, direkt unter der niedrigen Decke, war ein vergittertes Fenster, vor dem Grasbüschel und Löwenzahn wuchsen, es kam mir ein bisschen irre vor, dass mir der Löwenzahn auffiel, aber er hatte etwas Beruhigendes, mit allem anderen wollte ich mich lieber nicht beschäftigen, am liebsten wollte ich schlafen oder vielleicht doch gleich sterben, dann wäre es endlich vorbei. Es ist erschreckend, wie schnell man aufgibt, wenn die Lage nur ausweglos oder verwirrend genug erscheint.

Langsam gewöhnte ich mich an die Helligkeit, unter der Decke surrte eine bleiche Neonröhre und in der Tür stand Valeri mit vor der Brust verschränkten Armen. Neben ihm eine Frau, Irina, ich war ihr schon begegnet, sie trug einen strengen blonden Zopf, wie eine Tänzerin. Valeri herrschte sie an, sie schüttelte den Kopf und ging. Ich bemerkte erst jetzt, dass ich nicht mehr auf dem Boden lag, sondern auf einer Art Liege, das gelbbraune Kunststoffpolster roch, es roch so chemisch und nach Keller, dass mir schlecht davon wurde. Ich versuchte mich aufzusetzen, doch es gelang mir nicht. Meine Arme und Beine begannen wieder zu zittern und meine Zähne schlugen klappernd aufeinander, ich konnte nichts dagegen tun. Alles tat weh. Alles.

Marie“, rief Valeri, drehte sich um, er wirkte immer noch sehr ungehalten und Marie kam, mit einer Decke. Ich hatte sie erst einmal gesehen und nicht gewusst, wie sie hieß, sie war die einzige Deutsche. Marie kam mit der Decke auf mich zu, sagte etwas zu Valeri, das ich nicht verstand, Valeri schüttelte wieder den Kopf und zog dann von außen die Tür zu. Ich blieb allein mit Marie.

Hörst du mich?“, fragte sie.

Ich versuchte etwas zu sagen und dann ersatzhalber zu nicken.

Gut“, sagte sie. Ich konnte nicht glauben, wie normal sie aussah, gar nicht wie jemand, der in zwielichtige Machenschaften verwickelt war, sie war hübsch, hatte kinnlanges, leicht gewelltes braunes Haar, braune Augen und war vielleicht Anfang Dreißig.

Sie breitete die Decke über mir aus und ich schämte mich ganz fürchterlich, ich war in einem entsetzlichen Zustand, komplett panisch und konnte mich nicht einmal hinsetzen. Und das alles durch mein eigenes Verschulden.

Marie ließ sich auf dem Rand der Liege nieder, wie eine fürsorgliche Krankenschwester in einem Endzeitszenario, ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Der pochende Schmerz in meinem Bein machte mich verrückt und die Übelkeit wurde auch nicht besser. Erneut versucht ich mich aufzusetzen, es wäre ein Schritt in die richtige Richtung, dachte ich, wenn man die Sachlage aus einer aufrechteren Position betrachten könnte. Vor dem Fenster zerrte ein Windstoß am Löwenzahn.

Warte“, sagte Marie und stand auf, „ich helf' dir.“

Sie schob mir die Hand unter den Rücken, es war mir unangenehm, es tat weh und halb erwartete ich, dass im nächsten Moment etwas Schlimmes passieren würde, ein weiterer Stich oder ein Schnitt oder ein Schlag. Mit ihrer Unterstützung schaffte ich es, den Oberkörper gegen die Wand zu lehnen, bequem war das nicht, aber besser als liegen, man behielt den Überblick, wozu auch immer das gut sein sollte. Mein Atem ging rasselnd, und kaum hatte ich das bemerkt, musste ich auch schon husten, reflexartig hielt ich mir die Hand vor den Mund und entdeckte noch mehr Blut, ich musste mich irgendwann daran verschluckt haben. Bei diesem Gedanken wurde mir schwindlig vor Ekel.

Dich haben sie ja ganz schön …“, stellte Marie fest und blickte mich aufmerksam an, ohne den Satz zu beenden. „Ich weiß nicht genau“, sprach sie weiter und schüttelte den Kopf, „was ich dir sagen soll. Ich denke mal, das machen wir alles später.“

Ich hustete erneut, die Erschütterung sorgte für neue Schmerzen, ausgehend von meinem Bein. Unter der Decke tastete ich nach meinem Oberschenkel, ich erinnerte mich an den Gurt, er war nicht mehr da, stattdessen … Hektisch schlug ich die Decke zurück.

Das Hosenbein war noch weiter aufgerissen worden, die Wunde wurde von chaotisch verknoteten Fäden grob zusammengehalten.

Oh Gott“, brachte ich schwach hervor.

Ja“, sagte Marie, „das sieht nicht gut aus. Aber mach dir keine Sorgen … Ich weiß, das klingt blöd. Kannst du das Bein bewegen?“

Ich nickte.

Ist dir schlecht?“, erkundigte sie sich weiter.

Ich nickte wieder, die Übelkeit stieg in Wellen auf und verebbte wieder.

Das wird noch eine Weile so weitergehen“, sagte Marie und seufzte.

Ich muss nach Hause“, sagte ich heiser.

Würd' ich jetzt nicht empfehlen“, erwiderte sie, „und ich glaub auch nicht, dass sie dich lassen. Sonst“, ergänzte sie, „wärst du ja gar nicht mehr hier.“

Ich begann noch stärker zu zittern. Marie streckte eine Hand aus und legte sie mir auf die Stirn, das war, neben allem anderen, so ungefähr das Absurdeste, was ich mir vorstellen konnte.

Du hast schon etwas Fieber“, bemerkte sie, „das wird auch ein paar Tage dauern. Schön wird das nicht, das kannst du mir glauben. Aber da musst du jetzt erst mal durch.“

Sie hatte recht. Es wurde die Hölle.

Vico >> [jetzt]

„Ist ja okay“, sagt Janis, „ich dachte nur, wegen den Neuen–“

„Genau“, unterbreche ich sie, „die Neuen. Die kommen auch mal ein paar Minuten ohne dich klar.“

„Alles okay“, beeilt sie sich zu sagen, „wir waren ja verabredet …“

Und genau diese Verabredung ist gar nicht so leicht zu treffen gewesen, schließlich sind wir nicht die besten Freunde. Aber Zirkelzugehörigkeit verpflichtet, einen bedürftigen Mitvampyr lässt man im Zweifelsfall nicht hängen. Jedenfalls wird das hier ihre vorerst letzte Blutspende an mich werden.

„Na, siehst du.“ Ich ziehe zwei Stühle an den Tisch heran. „Setz dich“, empfehle ich.

„Ist ja gut“, erwidert sie unnötigerweise und nimmt Platz.

Der Raum ist klein und befindet sich im oberen Stockwerk des Hofs, außer dem Tisch und ein paar Stühlen gibt es hier nicht viel, an der Wand neben der Tür lehnt ein fleckiger Spiegel, das Fenster ist mit schwarzer Pappe abgeklebt. Auf dem Tisch liegen eine halbleere Chipstüte, ausgebrannte Teelichter, Räucherstäbchen und eine Packung Taschentücher.

„Was darf ich dir anbieten?“, fragt sie und setzt eine übertrieben diensteifrige Miene auf.

„Das darfst du dir aussuchen“, gebe ich genauso übertrieben generös zurück. Wenn ihr nach blöden Witzen ist, meinetwegen.

Kommentarlos legt sie einen Arm auf die Tischplatte und rollt ihren Ärmel ein Stück nach oben.

„Weiter“, sage ich.

„Warum?“, fragt sie.

„Weiter, hab ich gesagt“, verlange ich und werde allmählich ungeduldig, „oder wollt ihr unbedingt alle so aussehen, als würdet ihr euch ständig ritzen?“

Alle, denke ich, ist ja nun Quatsch, aber ich bin dermaßen wütend, auf Janis und auf mich selbst, weil ich Levin zu Unrecht verdächtigt habe, dass ich mich kaum noch beherrschen kann. Und auch nicht beherrschen will, so sieht's nämlich aus.

Unwillig schiebt sie den Ärmel höher, über den Ellbogen hinweg.

„Also, Julia –“, startet sie einen Einwand, aber ich habe nicht vor, mich auf die Diskussion einzulassen.

„Das ist ihre Sache“, unterbreche ich sie, „ich mach das jedenfalls nicht.“

Soll sie sich von mir aus selbst die Unterarme zerschreddern oder von jemand anderem zerschreddern lassen, das ist mir vollkommen egal, aber ich werde gewiss nicht dazu beitragen, dass die Knalltüten hier schon äußerlich den Eindruck machen, als wären sie eine Therapiegruppe. Ich umfasse ihren Oberarm mit der linken Hand. Beim ersten Schnitt zuckt sie zusammen.

„Au“, beschwert sie sich.

„Wenn dir das schon zu viel ist“, sage ich, „solltest du dir vielleicht ein anderes Hobby suchen.“

Sie schnaubt beleidigt.

„Ich hatte heute einen stressigen Tag“, rechtfertigt sie sich.

Ein roter Tropfen quillt aus der schmalen Wunde, schwillt an, zwei kleinere folgen. Der größere Tropfen beginnt schließlich zähflüssig Richtung Armbeuge zu rinnen.

Janis sieht mich an.

„Wartest du auf irgendwas?“, will sie wissen, „ich würd' gleich gern wieder zu den andern gehn.“

Das glaub ich dir, denke ich, zu den anderen gehen und lustig vertraulichen Spinnerscheiß weitertratschen, du bist wohl nicht ganz bei dir, Piercerin!

„Ich bin noch nicht fertig“, sage ich und setze zu einem zweiten Schnitt an, einem tieferen und längeren diesmal, direkt darunter.

Ich hätte den Wein nicht trinken sollen, Etikette hin oder her. Von Wein komm ich einfach scheiße drauf. Und scheiße drauf bin ich ja eigentlich sowieso schon.

„Hey, Mann“, protestiert Janis, „bist du bescheuert?“

Sie will ihren Arm wegziehen, doch ich halte sie fest und lasse die Klinge erneut in ihre Haut dringen, schräg von oben nach unten, jetzt sieht es aus wie ein Ungleich-Zeichen. Es entsteht eine klaffende Verletzung, aus der sogleich Blut austritt.

„Bist du nicht ganz dicht?“, schreit sie, macht sich los und springt auf.

Entgeistert hält sie ihr Handgelenk fest, als hätte sie noch nie Blut gesehen. Als würde sie nicht regelmäßig selbst welches von den ganzen Spezialisten hier angeboten kriegen.

Ganz ruhig stehe ich auf. Die abartige Piercerin ist schon an der Tür und stellt fest, dass ich abgeschlossen habe. Zornig dreht sie sich zu mir um.

„Was soll die Scheiße?“ Wütend zieht sie die Brauen zusammen.

Ich greife nach ihrem unverletzten Arm und zerre ihn hinter ihren Rücken, bis sie aufstöhnt.

„Ich wette, du kommst drauf, Sabine“, sage ich, so kontrolliert wie möglich, drücke sie gegen die Tür und setze rasch einen letzten, waagerechten Schnitt am Oberarm.

„Was denn?“, zischt sie mit verzerrtem Gesicht.

Mittlerweile läuft das Blut in mehreren Rinnsalen an ihrem Unterarm herab und über ihre Finger. Oh Gott, dieser Geruch. Ich hebe ihre Hand an und fahre mit der Zunge von unten nach oben, bis zu den vier ergiebigen Wunden hinauf, wo ich mich kein bisschen zurückhalte. Das viele Blut verfehlt seine Wirkung nicht, sofort breitet sich eine beschwingte Leichtigkeit in meinem Kopf aus.

Langsam scheint Janis tatsächlich einige Bedenken und sogar weiche Knie zu bekommen.

„Du meinst doch nicht wegen den Neuen?“, fragt sie mit unsicherer Stimme.

Ich reiße mich zusammen, hebe den Kopf und lecke mir über die Lippen.

„Doch“, antworte ich kühl, „das mein ich.“

„Aber – woher …“, fragt sie und bricht ab.

„Betriebsgeheimnis“, entgegne ich und lasse ihren Arm fallen.

Mit offenem Mund bleibt sie an die Tür gelehnt stehen.

„Das sind doch nicht irgendwelche Idioten“, bringt sie endlich hervor und starrt mich immer noch schockiert an, „die sind so wie wir!“

„Das wusstest du aber noch nicht“, werde ich laut, „als du denen fröhlich irgendwelche Interna erzählt hast!“

„Das war aber ziemlich naheliegend!“, brüllt sie und beißt sich auf die zitternde Unterlippe.

„Ha“, lache ich auf, „naheliegend, genau! Super Argument!“

Und ich hab Levin verdächtigt, denke ich, weil der Wichser, der mir das gesteckt hat, nur ein paar vage Andeutungen gemacht hat und erst später mit der Wahrheit um die Ecke kam.

„Leck mich doch, Vico“, erwidert Janis leise und zieht die Nase hoch.

„Ich denke“, sage ich, „du überlegst dir demnächst etwas genauer, mit wem du über deine Freizeitaktivitäten sprichst. Hier“, ich wende mich zum Tisch und werfe ihr die Packung Taschentücher zu, die sie nicht fängt und schließlich vom Boden aufhebt.

„Ich wünsch' dir noch einen schönen Abend“, verabschiede ich mich, ziehe den Schlüssel aus der Tasche, öffne die Tür und gehe.

In der Scheune kommt mir Julia entgegen.

„Na?“, fragt sie.

Sie sieht müde aus. Ich ziehe sie an mich und nehme ihre Hand.

„Soll ich dich nach Hause bringen?“, erkundige ich mich.

Sie schüttelt den Kopf.

„Ich find's ganz gut heute“, erklärt sie, „ich bleib noch ein bisschen. Timo kann mich später mitnehmen. Oder vielleicht schlaf' ich hier.“

Unentschlossen blicke ich auf ihre zierlichen, blassen Finger.

„Okay“, sage ich, „ich müsste noch ein bisschen was machen zu Hause. Hast du Sascha gesehen?“

„Nee, nur als ihr gekommen seid“, antwortet sie.

Ich fahre mit der Fingerspitze über ihre schmalen, gebogenen Nägel und habe ein ungutes Gefühl. Leider bin ich mal wieder völlig außerstande zu unterscheiden, ob es sich dabei um reine Paranoia handelt oder ob es eine Folge der Ereignisse der letzten Zeit ist. Es war schon mal harmonischer hier, denke ich.

„Juli …“, beginne ich und weiß dann nicht weiter.

Sie sieht zu mir auf mit ihren hübschen, grünbraunen Augen, Paranoia, denke ich, es ist bloß Paranoia.

„Rufst du an, wenn du zu Hause bist?“, frage ich.

Sie lächelt.

„Wenn ich nach Hause fahre, ja“, erwidert sie.

„Und wenn nicht“, sage ich, „kannst du dich ja trotzdem noch mal kurz melden.“

Sie muss lachen.

„Ist das jetzt eine Art Kontrollzwang“, fragt sie, „oder einfach was Nettes?“

Sie sieht aus, als würde sie sich geschmeichelt fühlen. Ich schlucke und schmecke noch Janis’ Blut auf der Zunge. Das war schon eine etwas grenzwertige Aktion, denke ich, man kann nur hoffen, dass sie die Sache für sich behält. Janis ist nicht der Typ, der gerne Schwächen eingesteht.

„Egal“, grinse ich, „eins von beidem.“

„Mach dir mal nichts vor, Vico“, sie lächelt noch immer, „ich kenn' dich. Du bist total“, sie lacht auf, „paranoid. Die andern wissen das wahrscheinlich nicht“, fügt sie hinzu, „aber ich.“

Einer von vielen Fehlern, denke ich, war, dass ich sie am Anfang unterschätzt habe. Ich hätte mich nicht auf das vorübergehende Zusammenwohnen mit ihr einlassen sollen. Ich hätte nicht mit ihr zusammen einschlafen und aufwachen sollen. Und ich hätte nicht damit anfangen sollen, mir Sorgen um sie zu machen.

„Ich kenn' dich“, wiederholt sie.

Ich nicke nur. Da hat sie wohl recht. Manchmal würde ich gern mit ihr über alles reden können.

„Bis später dann“, lächelt sie.

„Ja“, entgegne ich zerstreut, „bis dann.“

Vorn herrscht dichtes Partygedränge. Ich suche den Raum nach Sascha ab. Schließlich entdecke ich ihn allein auf einem Sofa, halb liegend, ein Bein lässt er über die Armlehne hängen, in der Hand hält er eine Flasche.

„Entschuldigung“, sage ich und schiebe mich an einem weiß geschminkten Kirmesgesicht vorbei.

Das muss aufhören, denke ich, hier muss mal wieder etwas Ordnung einkehren, die Sache mit den Partys nimmt allmählich überhand.

„Alexander“, spreche ich Sascha an und lasse mich neben ihn fallen, „hast du dich gut unterhalten?“

„Im Sinne von unterhalten oder im Sinne von, ähm… amüsiert?“, fragt er mit verschleiertem Blick.

Ich hebe einmal kurz die Schultern.

„Sowohl als auch“, antworte ich.

„Eher gut amüsiert“, gibt er zurück und nimmt einen Schluck, wobei er kurz die Augen schließt. Er ist ziemlich betrunken.

„Aha“, sage ich.

„Das ist schon nicht verkehrt hier“, findet er.

„Na ja“, erwidere ich, presse die Lippen aufeinander und grinse leidvoll, im Moment geht mir der ganze Hof- und Spinnerkram ganz schön auf den Geist, „wollen wir mal langsam fahren?“

Er richtet sich auf, zieht die Beine an und macht es sich im Schneidersitz bequem.

„Ich hab alles erledigt“, erklärt er heiter, „die Leute hier sind ja echt … hilfsbereit.“

Fragend hebe ich eine Braue.

„Nele“, sagt er, „hieß sie.“

„Verstehe“, entgegne ich und frage mich, wie er das so schnell hingekriegt hat.

Er macht Anstalten aufzustehen, beim zweiten Anlauf klappt es.

Draußen ist es windig und der unebene Boden ist aufgeweicht vom ergiebigen Regen, der schon den ganzen Abend über fällt. Sascha hat es nicht mehr ganz so mit dem Geradeauslaufen und stolpert.

„Fuck!“, flucht er.

Da ich mindestens so hilfsbereit bin wie Nele, fasse ich ihn an der Schulter.

„Geht schon“, murmelt er.

„Sah nicht so aus“, grinse ich und öffne die Beifahrertür, „wenn Sie vielleicht besser Platz nehmen wollen?“

Etwas schwerfällig steigt er ein, so betrunken habe ich ihn noch nicht erlebt bisher und es stört mich überhaupt nicht. Das ist ein gutes Zeichen, denke ich, wenn einen der besoffene Mitbewohner nicht stört.

Sascha leert die Flasche, die er mitgenommen hat, stellt sie draußen ab und schließt die Tür.

„Es wäre irgendwie cooler“, stellt er fest, „wenn ich Bier besser vertragen würde.“

Ich steige ebenfalls ein und atme einmal tief durch. Langsam löst sich die vertraute Anspannung, die mich seit Stunden, Wochen, Monaten, Jahren begleitet und ich könnte auf der Stelle einschlafen.

„He“, sagt Sascha, „nicht einschlafen, ich kann auf keinen Fall fahren!“

Ich muss leise lachen. „Ich hab mich nur mal kurz…“

„… entspannt?“, schlägt er vor.

„Exakt“, bestätige ich und habe das Gefühl, dass die ganzen Irren und Freaks mit ihrer ausgearteten Liverollenspielerphantasie auf einmal sehr weit weg sind, viel weiter als nur ein paar Meter. Saschas Gegenwart ist etwas vollkommen anderes, das wird mir wieder sehr unvermittelt und sehr heftig bewusst, er weiß Bescheid, er weiß, wie es läuft und was geht und was nicht. Das ist wirklich, denke ich, das Beste seit langem.

„Kurz ist okay“, befindet er.

Ich sehe ihn an, seine halbverhangenen Augen glänzen, als er mich ebenfalls ansieht, vom Hof her fällt ein schwacher Lichtschein auf den morastigen Parkplatz. Was du wohl schon alles erlebt hast, überlege ich, mit deinem Freund, das muss ja mal was gewesen sein, das ist doch garantiert noch mal was ganz anderes, wenn man alles miteinander teilt. Ich denke an Blut und an Haut und an viele, hübsche Zerstreuungsmöglichkeiten, da könnte man ja fast neidisch werden, wenn es nicht schon längst vorbei wäre damit, das steckt man sicher nicht so leicht weg.

„Okay“, sage ich etwas sinnlos, „ich wär' dann soweit.“

Sascha grinst mich an, lehnt sich zurück und verschränkt die Arme hinter dem Kopf.

„Wie praktisch“, bemerkt er, „dass wir zufällig den gleichen Weg haben.“

Sascha >> [jetzt]

Kaum hat Vico den Motor gestartet, macht sich der Alkohol in mir bemerkbar. Sehr deutlich.

„Wart mal noch“, schaffe ich zu sagen, bevor ich die Tür öffne und Flüssiges erbreche.

Um das Bier ist es nicht schade, um Neles Blut schon, das war wesentlich leckerer als der verdammte Alkohol. Nachdem alles raus ist, wische ich mir mit dem Ärmel über den Mund und mache die Tür zu.

„Okay“, sage ich und versuche zu grinsen, „ich wär' dann jetzt auch soweit.“

„Sicher?“, fragt Vico nach.

„Absolut.“ Ich krame aus meiner Tasche eine Dose Altoids und stecke mir eine Mintpastille in den Mund. Die Übelkeit ist verflogen, der Schwindel immerhin auf ein erträgliches Maß reduziert. Oder auch nicht. Vico sieht echt cool aus beim Autofahren.

Als wir eine gefühlte Ewigkeit später den Hausflur betreten, ist der Fahrstuhl immer noch außer Betrieb. Ey, Markus, der alte Penner! Galant hilft Vico mir, die Treppen zu bezwingen, indem er seinen Arm um meine Taille legt und aufpasst, dass ich nicht aus Versehen lang hinschlage.

„Danke“, bedanke ich mich an der Wohnungstür.

„Alles gut“, antwortet er, „ich schätze, ich schulde dir was.“

Du hast ja keine Ahnung! Und so leicht kommst du mir bestimmt nicht davon.

„Hier geht's lang“, behauptet er und dirigiert mich in die richtige Richtung.

„Entschuldigung“, entschuldige ich mich an meiner Zimmertür, „ich vertrag das scheiß Bier einfach nicht.“

„Dann solltest du vielleicht einfach kein scheiß Bier mehr trinken, hm?“, lächelt er geduldig und befreit meinen Arm aus dem Jackenärmel.

„Ist mir noch gar nicht eingefallen.“

„Den Rest schaffst du allein, ja?“

Klar, aber das werde ich ihm sicher nicht auf die Nase binden. So ungeschickt es geht, kämpfe ich mit meinem Strickpullover.

„Meine Fresse!“, stöhnt er genervt und reißt mir das Teil fast vom Körper, wobei seine Finger ganz kurz meinen nackten Bauch streifen.

Keine schlechte Aktion! Auch wenn es für ihn wahrscheinlich nicht so toll war wie für mich. Ich frage mich, ob er es sehr eigenartig fänd', wenn ich ein bisschen über ihn herfallen würde?! Leider bin ich dafür nicht mehr betrunken genug. Aber selbstverständlich viel zu betrunken, um meine Silbergürtel abzunehmen.

„Sag mal, machst du das extra?“, fragt Vico, flitscht meine Hände weg, öffnet die beiden Gürtel und wirft sie auf den Sessel.

„Überhaupt nicht.“

„Den Rest schaffst du aber jetzt allein“, stellt er klar.

„Bestimmt.“

„Gute Nacht“, wünscht er und schließt die Tür hinter sich.

Ich kippe nach hinten aufs Bett und streiche mir gedankenverloren über den Bauch … genau da, wo Vicos Finger eben noch waren. Mmhh … er hat wirklich unwahrscheinlich weiche Hände. Leider weiß ich trotzdem noch nicht, was zwischen ihm und dem niedlichen Blondschopf läuft.

Mann, war das eine anstrengende Nacht … ein anstrengender Tag … wie auch immer. Ich hatte jedenfalls die wildesten Träume und ich weiß natürlich, wo die so plötzlich herkommen. Silvi und ich sind seit fünf Monaten getrennt. Seit fünf Monaten gab es also keinen Sex, außer mit mir selbst, das macht sich bemerkbar. Zumal es mit Silvi sehr viel Sex gab. Vico ist hübsch, er ist ein Kerl und er hat Blondschopf geküsst. Völlig klar, dass ich ein wenig durchdrehe. Aber damit ist jetzt Schluss. Denn Vico hat auch immer noch eine Freundin.

Wo ich schon mal so früh wach bin, sollte ich wohl einkaufen gehen. Der Kühlschrank ist genauso erschreckend leer wie der Küchenschrank. In den Wintermonaten funktioniert so was Banales wie Einkaufen ganz gut, im Sommer gibts zum Glück den Spätkauf um die Ecke. Das mit der Tageslichtunverträglichkeit gehört auf jeden Fall zu den Unannehmlichkeiten, die unser Dasein mit sich bringt. Nicht, dass man sofort zu Staub zerfallen würde, aber man hat eben schon mehr als bloß leichte Hautirritationen zu befürchten. Vorsichtshalber knalle ich mir zwei, drei Augentropfen rein. Die verkleinern die Pupillen und verhindern somit, dass die Augen brennen wie die Hölle. Oder dass Leute, die einem begegnen, meinen, man sei geistesgestört, weil man Pupillen so groß wie Pizzateller hat.

Während ich uncool mit meinem Einkaufswagen durch den Supermarkt schiebe, tippt mir auf einmal jemand auf die Schulter. Erschrocken drehe ich mich um.

„Hallo“, begrüßt mich Nele und lächelt erstaunt.

Ach du Scheiße!

„Dich hätte ich hier am wenigsten vermutet.“

„Vico kauft nicht gerne ein“, erkläre ich ohne nachzudenken, „aber einer muss es ja machen.“

„Du warst gestern so schnell verschwunden“, behauptet sie.

„Kann sein.“

„Wie sieht's aus? Wollen wir uns mal auf einen Kaffee treffen, Sascha?“

„Klar. Gib mir deine Nummer, dann ruf ich dich an.“

Sie lacht irgendwie süß.

„Du hältst mich wohl für bescheuert, was?“

„Nee“, antworte ich. „Wieso?“

„Gib du mir deine Nummer. Ich weiß nämlich genau, dass ich dich anrufe.“

„Und wenn ich dir die falsche gebe?“, frage ich und tippe die richtige in ihr Handy.

„Das traust du dich nicht.“

„Okay, also …“

„Ich ruf dich an“, lächelt sie und setzt ihren Einkauf fort.

Zu Hause weiß ich nicht, ob es eine gute Idee ist, Nele außerhalb der Spinnergesellschaft zu treffen. Andererseits kenne ich neben Vico, Linda und Markus keine anderen Leute, wobei Linda und Markus sowieso fast nicht zählen, na ja und meine Kundschaft zählt ja wohl schon gar nicht, Solveig ausgenommen, aber die sehe ich auch nicht so häufig. Und wenn man außer Vico noch eine zweite Eintrittskarte zu den Spinnern hat, umso besser.

„Nabend. Ich mache Kakao, magst du auch einen haben?“

„Warum nicht“, seufzt Vico und lässt sich auf den Küchenstuhl fallen.

Mein lieber Schwan, der sieht aber auch immer angestrengt und angespannt aus. Möchte mal wissen, woher das kommt.

„Wegen letzter Nacht“, beginne ich und trinke einen Schluck, „ich hoffe, ich hab dir nicht zu viel zugemutet mit der Auszieherei.“

„Nee, war schon okay.“

„Ach ja?“, frage ich interessiert.

„Du warst einkaufen?“, wechselt er das Thema.

„War dringend nötig.“

„Stimmt“, bestätigt er.

„Rat mal, wen ich im Supermarkt getroffen habe.“

Vico seufzt schon wieder. Wohl nicht zu Ratespielen aufgelegt heute.

„Nele.“

Er blickt etwas irritiert drein.

„Sie will was mit mir trinken.“

„Ob das klug ist?“

„Na ja“, sage ich und kratze mich kurz am Kinn, „sie hat nicht gesagt, dass ich von ihr trinken soll. Es ging um einen Kaffee.“

„Ja. Aber du bist – du stehst nicht auf Mädchen, oder?“

„Na und?“, sage ich schulterzuckend.

„Sollte Nele das nicht wissen, bevor sie deine Freundin wird?“

„Und was weiß deine Freundin über dich?“, gebe ich zurück.

Nachdenklich stiert Vico in seine Tasse.

„Tu mir bitte einen Gefallen und lad' sie nicht hierher ein, okay? Ich muss die Leute nicht noch zu Hause haben.“

„Bis auf Julia.“

„Das ist was anderes“, findet er.

„Aha?“

„Julia ist meine Freundin.“

„In ihrer Phantasie vielleicht. In Wirklichkeit ist sie bloß deine persönliche Blutspenderin.“

Oha! Vicos blaue Augen verengen sich wütend.

„Nur weil wir zwei eine Gemeinsamkeit haben, brauchst du dir nicht einzubilden, dass du irgendetwas über mich oder meine Beziehungen zu wem auch immer weißt, Alexander“, erklärt er und lächelt ekelhaft, so als würde er mit einem Bekloppten reden.

„Man, Vico, halt mal den Ball flach“, entgegne ich und lächele genauso ekelhaft zurück. „Ist mir doch latte, was du mit wem auch immer treibst.“

„Schön“, sagt er und steht auf, „dabei wollen wir es doch auch belassen.“

Blödarsch!

„Das nächste Mal bist du mit Einkaufen dran“, rufe ich ihm nach.

Drei Minuten später ruft Nele an. Ich verabrede mich mit ihr für morgen Abend unten in der Bar.


„… tja, und Janis würde Vico momentan am liebsten loswerden, aber das geht halt nicht, weil er uns quasi den Hof klargemacht hat und … sorry, rede ich zu viel?“

Haha, wie kommt die denn auf so was.

„Ich dachte nur“, fährt Nele fort, „wenn du dazugehören willst, ist es ganz gut zu wissen, worauf du dich einlässt. Wir verstehen uns zwar als eine Familie, aber so ganz ohne Probleme und Reibereien geht's eben auch nicht ab.“ Sie drückt ihre Kippe im Glasaschenbecher aus.

Markus‘ Bar gehört zu den wenigen Lokalen, in denen trotz Verbots noch geraucht wird.

„Wie in jeder normalen Familie auch. Und obwohl es manchmal schwierig ist, empfinde ich den Zirkel als Bereicherung und fänd's schön, dich dabei zu haben.“

„Ja, ich bin auch echt interessiert“, entgegne ich.

„Sehr gut“, lächelt sie erfreut und nippt an ihrer Cola.

Sie ist heute dezenter gekleidet und trägt nur Kajal und Wimperntusche an den Augen.

„Und was machst du so, wenn du dich mal nicht auf finsteren Partys rumtreibst?“, will sie wissen.

„Nichts Besonderes. Das, was alle anderen auch machen, denke ich.“

„Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass du mir nichts über dich erzählen magst.“

„Nee.“ Ich schüttle den Kopf. „Es ist nur … ich hab dieses ganze Kennenlernen nicht so drauf. Liegt vielleicht daran, dass ich das die letzten vier Jahre nicht brauchte. Ich bin erst seit einigen Monaten wieder solo.“

„Verstehe“, sagt sie. „Vier Jahre, ganz schön lange.“

„Allerdings. Und bei euch? Wer ist da mit wem zusammen? Oder seid ihr alle …“

„Ich glaub, du hast ein völlig falsches Bild“, erklärt sie, „wir feiern keine Orgien oder so was. Julia ist mit Vico zusammen und Janis mit Timo. Was die Leute auf den Partys machen, müssen sie selber wissen. Ich ficke jedenfalls nicht wahllos durch die Gegend.“

Mich interessiert eigentlich viel mehr, ob Vico neben seiner Freundin noch was mit dem Blondschopf hat, aber so was fragt man vielleicht nicht beim ersten Treffen. Mir ist eh schon ganz schwindlig von den vielen Infos, die Nele ausgeplaudert hat. Wer da wen mitgebracht hat, wer über wen schon mal getratscht hat, dass man sich mit Janis nicht anlegen sollte, weil die ziemlich fies werden kann und so weiter. Und Vico finden irgendwie alle ein bisschen schräg. Das finde ich lustig. Ich meine, ein paar Spinner, die sich gegenseitig die Arme zerschneiden, um auf Vampir zu machen, halten andere Leute für schräg?! Aber eigentlich haben sie sich alle lieb, weil sie ja schließlich eine Familie sind. Dieses Familiending scheint denen echt wichtig zu sein … so oft wie Nele das heute Abend schon erwähnt hat.

„Du und deine Freundin, warum habt ihr euch getrennt?“

„Was?“, frage ich wirr.

„Deine Freundin.“

„Ach so. Keine Ahnung, passte irgendwie nicht mehr.“

„Das macht dir noch zu schaffen, oder?“, fragt sie mitfühlend.

„Ja, schon. Silvi war halt meine große Liebe. Klingt kitschig, hm?“

„Überhaupt nicht“, versichert sie mir.

„Doch, irgendwie schon. Ich hab Silvi kennengelernt, da war ich zwanzig, und vorher gab's immer nur ein bisschen verknallt sein, richtig verliebt kannte ich gar nicht.“

„Ich bleib bei nicht kitschig“, entgegnet sie. „Meine Beziehungen waren bisher jedenfalls nicht so toll.“

„Das tut mir leid“, antworte ich etwas hilflos.

Nele zuckt mit den Schultern.

„Kannst du ja nichts für.“

Mir ist, als würde sie mich plötzlich ein bisschen verträumt angucken. Au je!

„Und das heißt ja auch nicht, dass es nicht doch mal mit jemandem klappt“, erklärt sie und klingt plötzlich auch ein bisschen verträumt.

„Ja. Nee, heißt es nicht. Ich muss jetzt leider los … hab noch ein bisschen was zu erledigen, sorry“, behaupte ich, weil mir das alles jetzt zu unheimlich wird.

„Okay“, sagt sie. „Vielleicht sieht man sich am Wochenende?“

„Vielleicht“, antworte ich.

Vico << [drei Jahre zuvor]

Ich weiß“, sagte Marie und ließ sich seufzend neben mir nieder, „ich weiß. Ich hab auch ein bisschen länger gebraucht.“

Ich rieb mir die Schläfen und fühlte mich komplett überfordert. Eine gute Woche hatte ich in Valeris Haus verbracht und es war mir so schlecht gegangen, dass ich kaum hatte denken können.

Ich sah mich in meiner Wohnung um. Alles schien unverändert, die Vorhänge waren zugezogen, in der Küche stapelten sich mehrere Pizzakartons, die ich längst hatte in den Müll bringen wollen, in der unzureichend entlüfteten Heizung rauschte es leise. Alles wie immer.

Das ist doch alles …“, sagte ich und schüttelte den Kopf, „das meint ihr doch nicht ernst, jetzt echt mal. Das meinst du doch nicht ernst?“ Es kam mir schon albern vor, überhaupt solche Fragen zu stellen.

Marie hob die Hände, als wollte sie sich für etwas entschuldigen und ließ sie wieder auf ihre Knie fallen.

Probier's aus“, forderte sie mich auf.

Das meinst du doch alles nicht ernst“, wiederholte ich und sah sie an, als könnte ich sie dazu bringen, die letzten Tage ungeschehen zu machen. Warum, dachte ich, kann sie jetzt nicht einfach wieder einen auf Endzeitkrankenschwester machen und mir sagen, dass das alles ein Witz war, ein ziemlich gruseliger, aber eben ein Witz, es wäre okay, ich hab's schließlich überlebt. Ich hab's überlebt.

Weil alles um mich herum so völlig normal aussah und weil es mir wirklich besser ging als in den letzten Tagen, viel besser, wurde ich fast ein bisschen übermütig, ich wollte mit dieser Erfahrung abschließen. Ich wollte gar nicht wissen, warum sie das getan hatten, vielleicht waren es einfach verdammte Sadisten und ich wollte auch nicht wissen, welche Rolle Marie dabei zukam. Man sagt ja immer, dass man Sympathien für seine Entführer entwickelt, das konnte ich inzwischen nachfühlen.

Marie hatte sich um mich gekümmert, soweit ich mich erinnerte. Mein klägliches Dasein hatte sich zwischen Kellerraum und Kellerklo abgespielt und mehr oder weniger aus Schmerzen, Kotzen, Zittern und Wahnvorstellungen bestanden, aber ich hatte es geschafft, ich lebte noch, ich war zu Hause, ich würde nur noch anständige Jobs machen, nie wieder würde ich etwas Illegales tun, nie wieder irgendwelche Risiken eingehen und niemals irgendjemandem etwas davon erzählen, was auch. Und wie? Ich hatte irrsinniges Glück gehabt. Das musste reichen.

Du kannst es ja ausprobieren“, sagte sie, „nachher. Ich bleib sowieso hier.“

Was?“, fragte ich verständnislos.

Was hast du denn gedacht?“, fragte sie zurück.

Ratlos schüttelte ich erneut den Kopf.

Du musst noch ein bisschen aufpassen“, erklärte sie.

Ah, ja“, sagte ich.

Ärgerlich verzog sie das Gesicht.

Das ist kein Scherz, okay?“, stellte sie fest.

Dazu fiel mir nichts mehr ein.

Ich komm schon klar“, behauptete ich nach einer Pause.

Sie lachte bitter auf.

Ja“, sagte sie, „klar. Irgendwann bestimmt. Aber erst mal musst du dich mit den Gegebenheiten vertraut machen. Du gehörst jetzt dazu“, ergänzte sie, „ob du willst oder nicht. Und ich kann dir versichern“, sie zuckte die Achseln, „meine Idee war das nicht.“

Zu was?“, fragte ich und wehrte mich sehr dagegen, dass mein Herzschlag sich unangenehm beschleunigte vor lauter unguter Vorahnung.

Sie seufzte wieder.

Du machst es einem echt nicht leicht“, konstatierte sie.

Ich wünschte mir, dass sie einfach verschwinden würde, doch den Gefallen tat sie mir leider nicht.

Hör mal …“, begann ich hilflos.

Nein“, wurde sie lauter, „du hörst jetzt mal. Und zwar genau zu.“

Zum ersten Mal überlegte ich, ob sie vielleicht bewaffnet war. Noch immer konnte ich mir nicht ausmalen, in was ich da hineingeraten war. Ich hatte keine Ahnung, was genau alles in der vergangenen Woche passiert war. Und was ich mir bloß zusammenhalluziniert hatte. Mir wurde schon wieder schlecht.

Also“, begann Marie und stand auf, „du musst ein paar Dinge wissen. Zeig mir mal deine Hausapotheke, hast du so was?“

Wie bitte?“, fragte ich.

Ob du so was hast, was weiß ich, Aspirin und so?“, ließ sie nicht locker.

Ja“, sagte ich, „klar.“

Dann zeig mal“, erwiderte sie.

Mir wollte noch immer nichts dazu einfallen, trotzdem erhob ich mich und ging an ihr vorbei, Richtung Bad. Sie folgte mir.

Im Schrank“, konkretisierte ich und ließ mich vorsichtig auf dem Badewannenrand nieder. Laufen verursachte mir immer noch ziemliche Schmerzen im Bein.

Marie machte sich an meiner Badezimmerunordnung zu schaffen. Mir wurde bewusst, dass ich nicht einmal meine eigene Kleidung trug. Ich wollte nicht darüber nachdenken. Ich wollte duschen und den Anrufbeantworter abhören und E-Mails beantworten und mich hinlegen.

Hier“, sie hatte offenbar etwas Verdächtiges gefunden, „das kannst du sofort wegschmeißen. Davon kriegst du Fieber.“

Sie präsentierte mir ein Grippemittel.

Das ist doch“, wandte ich ein, „gegen Fieber?“

Sie warf mir einen ungeduldigen Blick zu, als sei ich besonders schwer von Begriff.

Jetzt nicht mehr“, antwortete sie knapp und schloss den Schrank.

Ich versteh nicht“, sagte ich, „also – gar nichts.“

Vico“, sie sah mich eindringlich an, „es ist jetzt, wie es ist. Du kannst nichts mehr daran ändern. Okay? Also gewöhn' dich besser dran.“

An was, verdammt?“, rief ich, verzweifelter als beabsichtigt.

Ein matter Schimmer fiel durch die Milchglasscheibe und Marie blinzelte.

Es wird gleich hell“, bemerkte sie, öffnete das Fenster und trat einen Schritt zurück. Draußen sangen die ersten Vögel.

Steh auf“, verlangte sie.

Ich sah sie fragend an.

Bitte“, sagte sie, „hör auf, so zu gucken, das hilft jetzt überhaupt nicht weiter. Komm mal lieber her. Du kannst das jetzt mal ausprobieren.“

Etwas mühselig stand ich auf und stellte mich neben sie. Es war noch vor Sonnenaufgang, der Himmel färbte sich gerade erst blassblau am Horizont. Ich versuchte, die Augen offenzuhalten, doch es ging nicht gut.

Ziemlich hell, ja?“, fragte Marie und schloss das Fenster.

Ich nickte.

Ist es aber nicht“, erklärte sie, „es ist nicht hell. Bloß für dich. Und“, fügte sie hinzu, „für mich. Für uns ist es hell. Du kannst nicht rausgehen am Tag, hast du das verstanden?“

Nein“, sagte ich wahrheitsgemäß.

Es geht nicht“, führte sie aus und legte konzentriert die Stirn in Falten, „das hältst du nicht aus. Und die Haut wird auch empfindlicher mit der Zeit.“ Sie hob die Schultern. „Man muss es akzeptieren.“

Aber –“, sagte ich.

Es ist wichtig, dass du das nicht vergisst. Du kannst nicht rausgehen am Tag“, wiederholte sie, „okay?“

Nichts war okay. Und ich glaubte ihr kein Wort.

Aber das Wichtigste“, sie schob rasch die Hand in die Tasche ihrer Jeans, „hast du wahrscheinlich auch schon wieder verdrängt.“

Ich bekam nicht mit, was sie genau tat, aber plötzlich erschien ein dünnes, tiefrotes Rinnsal auf ihrer Haut, es sickerte aus ihrem Ärmel Richtung Handfläche.

Was –“, musste ich schon wieder fragen, dabei gab es eigentlich gar nichts zu fragen, es gab im Grunde nur noch eine Antwort, die auf alle erdenklichen Fragen passte, die Antwort kroch über Maries Hand und verströmte einen sonderbaren, betörenden Geruch, den ich noch nie zuvor wahrgenommen hatte.

Ich sog einmal scharf die Luft ein.

Bitte“, sagte sie kühl, „bedien dich.“

Ich wusste nicht, was sie meinte und wusste es gleichzeitig doch und zwar ganz genau, ich wusste, dass ich nur ihre Hand nehmen und an meine Lippen führen musste und dass mir dann alles klar werden würde, ich würde wissen, wovon sie sprach und ich würde einsehen, dass ich am Tag nicht rausgehen konnte. Es war ganz normal. Es war das Normalste und Natürlichste, was man sich nur vorstellen konnte. Und das Beste und Richtigste. Alles auf einmal.

Das genügt erst mal“, entschied Marie und löste ihre Hand aus meiner Umklammerung.

Sofort war es vorbei. Ich starrte auf ihren rot verschmierten Unterarm und betastete ungläubig meinen Mund. An meinen Fingern blieb etwas Feuchtes haften.

Dazu fiel mir nun erst recht nichts mehr ein.

Alles Weitere morgen“, beschloss sie, „ich muss dir jetzt die Fäden ziehen.“

Das tat sie und es war nicht schön und die nächste Zeit wurde erst einmal auch nicht viel schöner.

Vico >> [jetzt]

Ich klappe mein Notebook zu. Julia scheint nicht zu Hause zu sein. Ich erwäge, ihre Nachrichten zu lesen und damit meine ich nicht ihre Nachrichten an mich.

Es wäre einfach und nicht das erste Mal. Es ist halb fünf morgens, komisch. Das ungute Gefühl von vorgestern ist noch da. Ich hoffe, dass sie schläft. Aber sie hat doch nicht ihr Handy auf dem Hof gelassen, überlege ich. Es ist abartig, sie auszuspionieren, ich fühle mich wie ein verdammter Stalker. Yeah. Dabei hab ich nur damit angefangen, weil es sicherer ist. Ist es doch, oder? Es ist sicherer, wenn man weiß, wo sich einem nahestehende Leute befinden, wenn man horrorfilmmäßige Fakten zu verbergen hat. Ob ich sie anrufe? Ich lese ihre Nachrichten nicht, beschließe ich. Man kann es auch übertreiben.

Die Wohnungstür wird aufgeschlossen, Sascha kommt zurück. Heute Abend war Nele unten in der Bar, mit ihm, nehme ich an, da geht sie nämlich sonst nicht hin. Das weiß ich, weil sie mir vor einer Weile ihr Handy zur Reparatur anvertraut hat. Es schadet nicht, ein bisschen mehr zu wissen als man eigentlich soll, auch in Bezug auf nicht ganz so nahestehende Leute. Wobei, wir sind ja schließlich alle eine Familie, ha!

Ich stehe auf und öffne die Zimmertür.

„Hey“, sagt Sascha, zieht seine Jacke aus und gähnt verhalten, „ich dachte, du wärst nicht da.“

„Doch“, erwidere ich und folge ihm in die Küche, „bin ich.“

Ich nehme eine Flasche Jack Daniel's aus dem Regal und öffne sie. Draußen rumort entfernt ein Gewitter.

„Und“, frage ich, lehne mich gegen den Schrank und überkreuze die Beine, „wo warst du so?“

„Unterwegs“, erwidert er knapp.

„Vielleicht“, beginne ich und nehme einen Schluck aus der Flasche, „sollte man das mal lassen mit der Geheimniskrämerei.“

„Hm?“, fragt Sascha, dreht sich zu mir um, wischt sich ein paar vom Nieselregen feuchte Strähnen aus dem Gesicht und setzt sich auf den Tisch, „der letzte Stand war doch wohl, dass du ein Geheimnis aus deinen Beziehungen-zu-wem-auch-immer gemacht hast.“

„Nach einem blöden Spruch“, erinnere ich ihn.

Er verdreht die Augen.

„Das war kein blöder Spruch“, widerspricht er, „das war eine Vermutung.“

„Eine falsche“, stelle ich klar.

„Aha“, sagt Sascha, nimmt mir die Flasche aus der Hand und trinkt, „na, dann.“

Ich verschränke die Arme vor der Brust und sehe ihn an.

„Das war mal so gedacht“, sage ich, „mit Juli. Als persönliche Blutspenderin. Ursprünglich.“

„Aber jetzt ist es anders?“, stellt er fest.

Sein sarkastischer Unterton ist nicht zu überhören.

„Genau“, bestätige ich.

„Na ja“, bemerkt er achselzuckend und gibt mir die Flasche zurück, „das ist ja auch eure Sache.“

„Hast du Nele schon getroffen?“, frage ich und erwarte halb, dass es mich nichts angeht.

„Ja“, antwortet Sascha stattdessen, „heute Abend.“

Na, wer sagt's denn, denke ich.

„Sie hat ziemlich viel erzählt“, fügt er hinzu.

„Das kann ich mir vorstellen“, erwidere ich und verziehe einen Mundwinkel, „sie erzählt immer viel.“ Sascha blickt mich aufmerksam an. „Aber sie ist ganz in Ordnung“, ergänze ich.

Das stimmt, denke ich, fast ein bisschen überrascht, Nele ist ganz in Ordnung und vor allem ist sie nicht Janis. Oder Timo, der miese, kleine Opportunist.

„Das kann man nicht gerade von allen behaupten“, erläutere ich die Sachlage, weil es sich wohl nicht vermeiden lässt, wer weiß, mit wem er sich sonst noch so alles anfreundet.

„Die mit dem Pentagramm am Hals machte auf mich jetzt keinen extrem sympathischen Eindruck“, erklärt Sascha.

Ich setze mich auf den Stuhl, neben dem seine Beine baumeln, ziehe einen Fuß auf die Sitzfläche und stelle die Flasche auf dem Tisch ab. Er greift sofort zu.

„Nee“, sage ich.

„Mit dem Ding macht sie wahrscheinlich keine Karriere in der Bank“, vermutet er, „oder als Aufsichtsrätin.“

„Nee“, wiederhole ich und reibe mir müde die Schläfen, die letzten Nächte beziehungsweise Tage waren mal wieder nicht der Hit, man sollte, überlege ich, unbedingt mehr trinken vor dem Schlafengehen, irgendwie muss sich so ein lästiges Unterbewusstsein doch mal deaktivieren lassen, „sie ist Piercerin.“

„Ach?“, fragt Sascha interessiert, „gut zu wissen.“

„Ihr Freund arbeitet neuerdings auch da im Studio und macht die Termine. Na ja“, ich genehmige mir einen weiteren Schluck Whiskey, „Nele ist jedenfalls ganz in Ordnung. Bloß, wenn das dann was wird mit euch…“

„Wer sagt denn, dass das was wird mit uns?“, unterbricht er mich.

Ich sehe zu ihm auf und verschränke die Arme hinter dem Kopf.

„Ist das nicht der Plan?“, will ich wissen.

Sascha zuckt die Schultern.

„Keine Ahnung“, sagt er, „so dringend muss ich mir jetzt eigentlich keine Scheinbeziehung mit einem Mädchen geben.“

„Ah“, sage ich, „das stell ich mir auch irgendwie anstrengend vor. Also“, füge ich hinzu, „noch anstrengender als es sowieso schon ist. Auf die Dauer ist das nämlich …“, ich suche einen Moment lang nach den passenden Worten, „gar nicht so bequem, wie man meint. Das ist einfach so verdammt schräg, mit ihrer eingebildeten Blutliebe.“ Ich bin mir nicht ganz sicher, warum ich ihm das mitteile. Aber, hey – wenn nicht ihm, wem dann?

Sascha nickt.

„Ja“, stimmt er zu, „wenn ich mir überlege, was Nele so alles erzählt hat. Die ganze Tratscherei ist jetzt nicht so meine Sache.“

Ich atme etwas gequält aus und trinke noch etwas, allmählich macht sich der Alkohol bemerkbar, gut so.

„Tratscherei“, wiederhole ich, „über mich?“

„Auch“, sagt Sascha.

„Hm“, mache ich, „okay. Ich will's nicht wissen.“

„War nichts wirklich Schlimmes“, erwidert er, „hast du vor, dich heute noch ins Delirium zu saufen?“

„Ja“, sage ich.

„Okay“, entgegnet er gedehnt, „ich frag mal besser nicht nach, oder?“

„Nein“, sage ich.

„Dann Themawechsel“, beschließt er, wendet sich mir zu und setzt einen Fuß auf den Stuhl, neben mein Bein, „wer ist sonst noch ganz in Ordnung? Der Blondschopf?“

„Levin?“, frage ich.

„Er wurde mir nicht vorgestellt“, informiert er mich, „ich meine den, den du …“, er grinst schief, „so nett begrüßt hast.“

„Levin“, bestätige ich und muss lachen, „ja, der ist in Ordnung.“

„Tja, da …“, er nimmt mir die Flasche ab, trinkt, schluckt und fährt sich abwesend mit der Zunge über die Lippen, „frag ich dann wohl besser auch mal nicht nach?“

„Wieso?“, erkundige ich mich und muss immer noch lachen, Schnaps macht mich heute offenbar lustig, „der würde vielleicht besser passen als Nele.“ Mit einer etwas trägen Bewegung lasse ich meine Zeigefingerspitze an seinem Bein entlang nach oben wandern und tippe nachdenklich gegen sein Knie. „Das wäre doch einfacher.“ Sascha starrt meinen Finger an. „Allerdings“, fällt mir ein, das habe ich ihm ja noch gar nicht eröffnet, bevor weitere Anbahnungen stattfinden, muss sich nämlich leider noch eine kleine Unannehmlichkeit ereignen, um die wir nicht herumkommen, „musst du erst mal offiziell dazugehören. Das geht jetzt sowieso schon alles ziemlich schnell …“

„Oh“, macht er und fährt sich nachlässig durch die Haare, als müsste er sich erst wieder sammeln, „verstehe.“

„Nein“, widerspreche ich und schüttle den Kopf, „ich glaub, das versteht man erst, wenn man es erlebt hat.“

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