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DSDMB

Teil 8

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Inhaltsverzeichnis

Ferdi

Nepomuk schläft in meinem Arm. Er atmet ein und nach einer Weile wieder aus. Ein … und aus. Meine Hand streicht automatisch über seine nackte Schulter. Er ist angenehm warm und sieht sehr zufrieden aus. Ich habe zum ersten Mal das Gefühl, ihn wirklich zu sehen. So wie ich Michi gesehen habe. Ich bilde mir ein, seine Entspannung zu fühlen und versuche, ihm durch Gedanken schöne Träume zu schicken. Wenn man nachts neben dem Menschen liegt, den man liebt, dann ist man fest davon überzeugt, dass das funktioniert.

Aber langsam merke ich auch so richtig, wie unterschiedlich Schröder und ich sind. Ich meine, bei DSDMB wurden unsere Gemeinsamkeiten betont. Die Musik und das alles. Aber hier in der echten Welt … stimmen unsere Vorstellung nicht wirklich gut überein. Ich weiß, wie ich damit umgehe: In meinen Plänen … zumindest in den langfristigen … kommt Schröder einfach nicht vor. Andererseits: Wie viele langfristige Pläne hab ich denn überhaupt noch? Eigentlich keinen. Mir macht aber eher Sorgen, dass Schröder diese Paar-Nummer sehr zuzusetzen scheint. Wenn er mir vorwirft, ich würde ihn gegen seinen Willen verändern … dabei will ich ihn doch gar nicht ändern! Ich liebe an ihm ja vor allem das Ungebundene, das Laute, das Sorglose. Aber was für Konsequenzen soll ich daraus ziehen? Entweder ich rechne einfach weiter nicht fest mit Schröder … was aber eigentlich gar nicht dem entspricht, was ich will oder fühle. Oder … oder ich versuche, mit ihm das Leben zu teilen, das er gerne führen möchte. Auf einen Versuch kann ich es wohl ankommen lassen, oder? Morgen früh werde ich ihn fragen, ob er mir seine Freunde und … seine Szene eben vorstellt.

Und dann immer diese Andeutungen darüber, dass er mir irgendwas Schreckliches noch nicht erzählt hat … Natürlich male ich mir jede Menge schlimmes Zeug aus. Ich hab ja schließlich die ganze Nacht dazu Zeit. Im Kopf versuche ich, den morgigen Tag zu planen. Ich muss auf jeden Fall meine restlichen Sachen bei meinen Eltern abholen, denn da bleibe ich sicher keine Nacht mehr. Barbara wird mir bestimmt anbieten, im Gästezimmer zu schlafen. Oder vielleicht kann ich auch hier bleiben? Am 28. geht es eh zurück nach München, länger sollte ich Michi nicht alleine lassen. Eigentlich hätte ich auch gerne, dass Schröder und er sich kennenlernen. Ich wüsste gerne, wie er drauf reagiert, mich mit einem Mann zu sehen. Ich denke nämlich ehrlich nicht, dass er Eifersucht empfinden würde, denn er hat seit dem Unfall auch noch nie irgendwelche Anstalten gemacht, mich richtig zu küssen oder so. Ich bin auch gar nicht sicher, an wie viel er sich eigentlich erinnert. Jedenfalls könnte Schröder bei der Gelegenheit auch Sophie besuchen … naja, ich werd es ihm mal vorschlagen.

Das führt mich zu der nächsten Entscheidung, die ich treffen muss:

Wenn ich offen mit Schröder zusammen bin, dann findet Frau Kolber früher oder später auch heraus, dass ich mit Michi zusammen war. Darf ich diese Entscheidung für ihn treffen? Und was, wenn seine Mutter sich dann noch weiter zurückzieht und nicht mal mehr für finanzielle Unterstützung sorgt? Aber andererseits: Darf er mich immer noch davon abhalten, ganz ehrlich darüber zu sein, wen ich liebe? Ich finde nicht. Und ich weiß auch, dass diese Geheimniskrämerei mit jemandem wie Schröder nicht lange gut gehen wird. Also ist das entschieden. Ich bin jetzt mit Nepomuk zusammen und da gelten seine Regeln.

Dann ist da noch die Auseinandersetzung mit meinem Bruder. Ich weiß, dass meine Homosexualität für ihn unbegreiflich ist. Aber das Leben, das er sich ausgesucht hat, verstehe ich genauso wenig. Ich wünschte, er könnte berufliches und privates trennen, so wie normale Menschen auch. Oder wenn er wenigstens akzeptieren könnte, dass ich schließlich keinem Schaden zufüge und nur mein eigenes Seelenheil aufs Spiel setze. Ich meine, ich ZWINGE ja schließlich niemanden, mit mir zu schlafen. Schröder ganz bestimmt nicht und Michi … eigentlich wollte er es ja auch. Für ihn war es nur leichter, wenn ich die Initiative ergriffen habe. Ich glaube auch, dass ich in die Hölle komme. Aber ich plane einfach, nie zu sterben.

Eigentlich würde ich gerne morgen schon wieder zu meiner Schwester fahren, aber ich glaube, für Schröder ist es noch zu früh, wieder mit dem Reihenhaus konfrontiert zu werden. Also lieber erst mal den Ausflug in seine Welt …

Schröder

„Wie lange guckst du mir schon beim Schlafen zu?“

Ferdi zuckt ein wenig zusammen. „Äh…“

„Hast du überhaupt gepennt?“

Er nickt, aber ich weiß, dass er lügt.

„Normalerweise würde ich’s ja auf das Haus schieben. Was glaubst du, wie viele wache Nächte ich hier erlebt habe?!“

„Ja, das kann ich mir vorstellen“, lächelt er.

„Nicht mit irgendwelchen Typen, Fuchseder. Obwohl es da einige… aber lassen wir das. Also, was ist heute bei dir so angesagt?“

„Meine Sachen bei den Eltern abholen und danach zu meiner Schwester. Oder vielleicht…“

„Au je, du hast bereits genug von mir“, unterbreche ich ihn. „Weil ich gestern so psychomäßig drauf war, oder?“

„Nee“, sagt er gedehnt.

„Hör mal, Fuchsi, du planst doch recht gerne…“

„Hm“, macht er.

„Dann musst du mich auf alle Fälle in dein Leben mit einplanen, okay? Ich hab zwar keine Ahnung, wie das funktionieren soll, aber ich weiß, dass das mit dir und mir was ernstes ist. Ich meine, wir haben uns gegenseitig unseren Familien vorgestellt, also… wenn das nicht ernst ist, was dann?!“

„Aber du magst deine Familie ja nicht mal.“

„Du deine doch auch nicht“, zucke ich die Schultern. „Bis auf deine Schwester… bei deinem Bruder bin ich mir nicht ganz sicher. Wahrscheinlich ist es da eher deine Beichte, die zwischen euch steht. Und wenn mein Bruder mal zu ’ner Live-Show kommt, kannste ein nettes Mitglied der Schröder-Familie kennen lernen. Du hast dir hoffentlich überlegt, wieder bei DSDMB mitzumachen.“

Ferdi schüttelt den Kopf.

„Ich fürchte, dann werden wir uns im neuen Jahr für eine sehr lange Zeit nicht sehen, ich hab nämlich dringend vor, ins Finale zu kommen. Schon allein, weil ich B!’s dämliche Fresse sehen will.“

„Wirst du dann auch wieder mit Yoko auf verliebt machen?“

„Na ja, das hängt wohl ziemlich von dir ab. Hör mal, mir ist es latte, was die DSDMB-Fuzzis erwarten. Mir macht es nichts aus, so zu tun als ob, weil ich den ganzen Scheiß eh mehr als Spaß betrachte. Aber genauso würde ich in jede Kamera, die mir vor die Nase gehalten wird, sagen, dass ich mit dir zusammen bin, wenn du dich wohl damit fühlen könntest.“

Er seufzt theatralisch und zieht sich die Bettdecke übers Gesicht.

„Zu schwierige Entscheidungen am frühen Mor… Mittag, mh?“, grinse ich, nehme die Decke runter und küsse ihn. „Hey, nur weil ich mich verändere, musst du deine Gewohnheiten nicht auch aufgeben. Was fällt dir ein, mich zu küssen, ohne dir die Zähne geputzt zu haben?“

„Das nennt man Kompromissbereitschaft“, erklärt er.

Ich lecke mir kurz die Lippen. „Ich würde das eher heimlich einen von Schröders Pfefferminzdrops gelutscht haben nennen.“

Nach dem Mittagessen, ohne Deborah und peinliche Pflegefall-Gespräche, fahren wir zum Fuchseder-Hof, wo ich lieber im Auto warte, während Ferdi seine Klamotten holt. Dann geht es zur Schwester.

„Kommst du mit rein oder hast du genug von Reihenhaus, Kindern und Garten?“, fragt er.

„Fuchsi… mit dir gehe ich überall hin“, säusele ich.

„Das gestatte ich dir nur, wenn du aufhörst, mich so zu nennen.“

„Okay, Ferdinand. Gehen wir jetzt rein, oder was?“

Barbara umarmt ihren Bruder zur Begrüßung und… äh… wo sie schon mal dabei ist, mich auch gleich.

„Oh…“, lächelt sie und tippt sehr zutraulich an meinen Hals, „offenbar hat mein Geschenk einigermaßen anregend gewirkt. Hübscher Knutschfleck.“

„Ferdinand“, stöhne ich übertrieben, „kannst du nicht mal aufpassen?“

Er wird ein bisschen rot und grinst süß.

Dann poltern die Kiddies herbei und wollen bespaßt werden. Na ja, solange ich nicht wieder irgendwas von Vöglein singen muss, die alle schon da sind…

Nein, es kommt sogar noch schlimmer. Die Kleinen hassen mich wahrscheinlich, denn sie zwingen Ferdi und mich… Disney-Songs zu singen! Ich geh kaputt! König der Löwen steht besonders hoch im Kurs, weil sie ja seit vorgestern die verdammten Stoffviecher haben. Ich kenne weder Nala, noch weiß ich, wer Simba ist. Nala und Simba können mir gestohlen bleiben. Dafür lacht Ferdi sich halb tot, als ich ihm zeige, wie ich bei der Entscheidung in Florida meinen Song performt habe. Die Kiddies giggeln netterweise mit.

„Unfassbar, dass du damit weitergekommen bist“, ist sein niederschmetternder Kommentar.

Dann erzählt er vom Festival in Orlando und zählt die ganzen Tiere auf, die da umhergelaufen sind. Und er erzählt das so toll, dass ich auch schon völlig gebannt an seinen Lippen hänge, obwohl ich dabei gewesen bin und das alles eher langweilig fand. Die Kiddies fühlen sich sofort animiert, ihre Stoffviecher in die Luft zu halten wie Onkel Ferdi das mit dem echten Löwenbaby gemacht hat. Als ich danach Paolo-an-unsichtbaren-Marionettenfäden imitiere, liegen wir alle vier am Boden. Bis Barbara uns zum Kuchenessen ruft.

Noah und Lisa legen dafür bloß einen kurzen Zwischenstopp ein… ich sag nur: Hyperaktiv! Glücklicherweise bleiben mir eigene Kinder erspart.

„Sag mal Schröder, wie ist das? Tönt man immer noch mit Directions?“, will Barbara bei Lebkuchen, selbstgebackenen Weihnachtsplätzchen und komplizierter Cremetorte wissen und deutet grinsend auf meinen Kopf.

„Also ich schon.“

„Ich hatte früher meistens Midnight Blue oder Rose Red. Und die Seiten ausrasiert. Meine Güte, ist das lange her.“

„Was hat dich vom rechten Weg abgebracht?“, frage ich und schnappe mir einen Engelkeks mit rosa Zuckerguss.

„Es war wohl eher ein linker Weg“, lacht sie. „Na ja, aber man wird eben irgendwann erwachsen.“

Puh, erwachsen werden ist genauso ein ekliger Begriff wie Zuhause.

„Ich hätte mit Achtzehn, Neunzehn auch noch so ein Gesicht gezogen wie du, wenn mir das jemand gesagt hätte. Hey, ich wollte für immer Punk sein. Aber es ist doch einfach so… du kannst nicht stehen bleiben, du entwickelst dich weiter, lernst neue Leute kennen, die völlig andere Vorstellungen und Ansichten haben und stellst fest, dass gewisse Dinge halt nicht mehr so wichtig sind. Ich meine, gegen wen willst du mit Dreißig noch rebellieren, mh? Wen musst du noch provozieren?“

„Irgendein Feindbild findet man immer.“

„Klar. Die Frage ist nur, ob dir das reicht. Orientierungslos umher zu laufen und zwanghaft gegen etwas sein zu müssen, damit man nicht eines Tages genau das hat, was man als Teenie nie wollte… ich bin aber kein Teenie mehr und mit meinem spießigen Leben total zufrieden.“

„Das hoffe ich doch“, murmelt Bernd. „Ich würde es jetzt nicht so toll finden, wenn du dir plötzlich wieder die Haare blau färben und mich zu Punkkonzerten schleppen würdest. Womöglich ich dann noch mit einer Ratte auf der Schulter.“

„Und mit bunt gefärbtem Iro, Hundehalsband und Anarchiezeichen an der Lederjacke“, kichert sie.

„Meine Patienten wären sicher begeistert.“

„Meinst du, deine Patienten treiben sich auf Punkkonzerten herum?“

„Wer weiß… von mir erwarten sie das ja auch nicht“, grinst Bernd.

Ferdi

Irgendwie merke ich genau, wie Schröder sich bei der Erwachsenwerd-Debatte ziemlich unwohl fühlt. Ich tue ihm also den Gefallen und wechsle das Thema.

„Also … was haben die Eltern denn gestern noch so vom Stapel gelassen?“

„Willst du’s wirklich hören?“

Ich denke nach:

„Keine Ahnung. Ich muss zumindest wissen, ob sie mich sehen wollen, wenn ich demnächst wieder nach Regensburg ziehe.“

Bernd und Barbara werfen sich einen ihrer Telepathie-Blicke zu und Bernd antwortet:

„Weißt du, normalerweise würde ich jedem anderen sagen, dass er den Eltern etwas Zeit geben muss, sich an den Gedanken zu gewöhnen und so weiter … aber im Falle deiner Eltern … frage ich mich wirklich, ob … ob es für dich überhaupt Sinn macht. Wir finden beide, dass du versuchen solltest, möglichst unabhängig von deinen Eltern zu leben“, erklärt er diplomatisch.

Barbara schießt hervor:

„Wer kassiert zum Beispiel das Kindergeld für dich?“

„Die beiden …“

„Und, siehst du auch nur einen Cent davon?“

„Nein, aber …“

„Nichts aber! Dazu haben sie einfach kein Recht. Ich werde ein paar Anrufe machen und dafür sorgen, dass die Kohle direkt auf dein Konto geht.“

„Aber wovon sollen sie denn dann leben?“

„Ferdi, das ist wirklich nicht unser Problem. Weißt du, was die für eine Telefonrechnung haben, wegen ihrem Online-Gezocke? Dafür reicht nicht mal dein Kindergeld!“

„Aber …“

Schröder legt seine Hand auf meine und schaut mich eindringlich an.

„Ihr habt ja recht“, schnaufe ich.

„Ja und außerdem gibt’s in ein paar Monaten sowieso noch mehr Kindergeld.“

Ich schaue meine Schwester fragend an.

„Das Gretchen hat gestern Abend, als ihr weg wart, verkündet, schwanger zu sein. Naja, eigentlich hat es Mama für sie verkündet.“

„Was?! Ich wusste nicht mal, dass sie einen Freund hat!“

„Hat sie wohl auch nicht. Dementsprechend gibt’s auch keinen Vater zum Kind. Das wird noch lustig.“

Ein Schauer läuft mir über den Rücken bei der Vorstellung, dass noch ein Kind auf dem Hof aufwachsen muss.

„Dann müssen sie aber dringend umziehen! Ich meine, überlegt mal, was sie allein sparen könnten, wenn sie in ein Gebiet ziehen würden, wo es DSL gibt! Statt 300 Euro im Monat nur noch 50 oder so! Und wenn sie dreimal Kindergeld dazubekommen, dann …“

„Ferdi, du wirst denen nicht 150 Euro im Monat schenken!“

„Aber das Baby …“

„Du bist doch selbst fast noch ein Baby und willst dich immer um alle anderen kümmern. Hör endlich auf damit und leb DEIN Leben! Es ist fast, als hättest du Angst davor! Du musst aber endlich damit anfangen. Ich hab da schon viel zu lange dabei zugesehen. Du hast ständig hinter den Eltern hergeräumt oder hinter Michi. Jetzt wird es echt mal Zeit, dass du tust, was du tun willst. Und das ist Musik machen! Und was fabrizierst du?! Steigst bei DSDMB aus, obwohl du unter die besten Zwanzig gekommen bist! Wie bescheuert kann man eigentlich sein?!“

„Wie bescheuert?!“, fahre ich sie an. „Ja wer soll sich denn um Michi kümmern, falls ich wirklich in die Band komme, hm?!“

„Die, die für ihn verantwortlich sind! Seine Mutter! Sein Onkel!“

„Tja, tun sie aber nicht. Und werden sie drei mal nicht mehr, wenn sie erfahren, dass Michi was mit mir hatte.“

„Sie sind aber juristisch dazu verpflichtet, für ihn aufzukommen.“

„Dabei geht’s doch nicht um’s Geld! Er braucht jemanden, der ihn täglich besucht, sich darum kümmert, dass er wirklich isst und dass er saubere Wäsche hat und nicht nur den ganzen Tag teilnahmslos im Bett liegt und die Decke anstarrt! Wer soll das denn übernehmen? Frau Kolber? Das glaubst du doch selbst nicht, Barbara.“

„Dann muss sie eben jemanden bezahlen, der das tut! Mann Ferdi, du reibst dich total auf, aber nicht für Michi, sondern weil du Angst hast, es drauf ankommen zu lassen, da draußen, in der realen Welt!“

„Ach so ein Schwachsinn!“

„Ach ja? Warum hast du die Domspatzen dann damals nach einem Jahr abgebrochen?“

„Weil ich da sowieso schon 4000 Euro Schulden hatte!“

„So ein Schwachsinn, dir ist ein Stipendium angeboten worden, du hättest so gut wie nichts mehr zahlen müssen! Aber ohne Michi hast du dich nicht getraut. Du meinst, dass du es alleine nicht schaffen kannst, aber das kannst du! Glaubst du, die bieten jedem ein Stipendium an?! Glaubst du, die bei DSDMB lassen wahllos Leute unter die besten Zwanzig kommen?! Du schmeißt das nicht hin, das verbiete ich dir!“

„Du kannst mir nichts verbieten!“

„Beruhigt euch mal wieder“, bittet Bernd. „Natürlich können wir dir nichts verbieten, Ferdi. Aber wir können dir Ratschläge geben. Und wir können dir anbieten, uns um Michi zu kümmern, so gut es uns möglich ist. Ich kann ihn am Anfang und am Ende meiner Schichten besuchen und Barbara kann mit den Kindern bei ihm verbeischauen und ich kann auch dafür sorgen, dass er die besten Therapeuten bekommt. Für alles finanzielle müssen die Kolbers aufkommen. Und wenn du willst, rede ich auch mit seiner Mutter und mache ihr begreiflich, wie wichtig der Kontakt zu seiner Familie für Michis Wohlbefinden ist.“

„Aber das alles machen wir nur, wenn du DSDMB noch eine Chance gibst.“

„Das ist Erpressung“, stelle ich nüchtern fest.

„Ja, aber wir meinen es nur gut“, grinst meine Schwester.

Ich werfe einen fragenden Blick zu Schröder.

„Das hört sich alles sehr richtig an“, findet er. „Und außerdem ist DSDMB ohne dich doof.“

„Kann ich drüber nachdenken?“

Statt zu antworten, umarmt Barbara mich stürmisch.

„Ich hab dich lieb.“

„Ich dich auch … meistens …“, seufze ich.

Barbara und Bernd versprechen, bald mit Frau Kolber zu sprechen, ich solle mir darüber keine Gedanken machen. Wir werden genötigt, noch zum Abendessen zu bleiben, danach verabschieden wir uns aber, weil die Kinder müde und quengelig werden und ihre Sendungen im Fernsehen gucken wollen. Und weil ich finde, Schröder hat jetzt genug Zeit im Reihenhaus verbracht. Ich will ja nicht, dass er wieder so einen Anfall von kalten Füßen bekommt, wie gestern Abend.

„Heute ist Samstag“, fällt mir auf dem Weg zum Auto auf.

„Kann ich bestätigen.“

„Samstagabend macht man Party.“

„So? Na du kennst dich aus“, lacht er.

„Ich will heute Abend Party machen!“

„Aha, und wie stellst du dir das vor?“

„Ich?! DU bist doch der Fachmann! Überrasch mich!“

Schröder

Mh, ob ihm die Überraschung gefallen wird? Normalerweise besuche ich am zweiten Weihnachtstag immer ein paar Leute, die noch hier wohnen oder eben auch grad auf Familienurlaub hier sind. Allerdings kann ich nicht abschätzen, wie Ferdi auf die Gestalten reagiert und… wie die Gestalten auf den Fuchseder reagieren.

Ach, was soll’s?! Wenn’s scheiße wird, können wir ja wieder gehen. Und zwar zu Fuß, denn ich fahre nicht betrunken mit dem Auto. Das hat noch nicht mal was mit Spießigkeit zu tun oder so, sondern bloß mit gesundem Menschenverstand.

Nach zwei Telefonaten weiß ich, dass sich dieses Jahr alle bei Fine und Marcel treffen, was mir eigentlich leichte Magenschmerzen bereitet, denn ich habe Fine letztes Jahr an Weihnachten brutal das Herz gebrochen, woraufhin mir Marcel das Genick brechen wollte, weil er halt in Fine verschossen war und offensichtlich sind die beiden jetzt zusammen.

Fine wohnt noch immer souterrain… also in der Kellerwohnung ihrer Eltern. Das Wohnzimmer ist vollgestopft mit Bekannten und Unbekannten. Albert sehe ich sofort, denn Albert ist nie zu übersehen. Ein hundertsechzig-Kilo-Mann mit schwarz gefärbten Haaren bis zum Arsch fällt eben auf. Er trägt wie immer ein T-Shirt seiner Metalband und eine Bierflasche in der Hand. Marcel hockt neben ihm und stiert mich finster an.

„Wer hat den scheiß Punker hier reingelassen?“, grölt der dicke Mann und wirbelt seine Haare nach hinten.

„Albert is a headbanger…“, singe ich grinsend.

„Dein Gesang ist genauso armselig wie deine Frisur, Nepomuk. Echt, ey, eine Schachtel Pommes hat mehr Talent als du“, behauptet er und ich frage mich, ob er wohl heimlich als Sprüche-gegen-Schröder-Schreiber für B! tätig ist.

„Nette Freunde hast du“, wispert Ferdi.

„Und wer ist das?“, will Albert wissen. „Treibst du dich jetzt mit Boybands rum? Bist tief gesunken.“

„Und, was geht bei dir so? Von deiner beschissenen Band hört man ja auch nicht soooo viel, mh?“

„Arschlecken. Wir spielen nächstes Jahr in Wacken.“

„Als Pausenkasper?“

„Höhöhö…“

„Hey, Schröder.“

Ich drehe mich um und muss erst mal kräftig schlucken. Fines Bauch ist gigantisch.

„Heb deine Kinnlade wieder auf und lass das Nachrechnen… es kann nicht von dir sein, das müsste selbst einem Spatzenhirn wie dir klar sein… Marcel ist der Vater.“

Na ja, logisch. Schließlich ist es ungefähr genau zwölf Monate her, dass ich mit ihr… und außerdem hab ich, offenbar im Gegensatz zu Marcel, ein Kondom benutzt. Mann, mit knapp neunzehn Jahren schon ein Kind, ich weiß ja nicht, ob so was sein muss.

„Wann… äh…“

„Anfang Februar.“

„Wisst ihr schon, was es wird?“

„Ein Baby?“, schlägt sie vor. „Ansonsten lassen wir uns überraschen.“

„Cool“, lüge ich.

„Wie ich sehe, hast du deinen diesjährigen Weihnachtsfick schon gefunden“, erklärt sie und deutet auf Ferdi. „Hoffentlich weiß er, was ihm blüht, wenn du mit ihm fertig bist.“

„Fine, das war jetzt echt unnötig.“

„Danke, den Satz wollte ich wahnsinnig gerne noch mal von dir hören, Schröder“, zischt sie und gesellt sich zu ihrem neuen Freund.

Autsch!!

Mein Freund hat inzwischen übrigens seinen Medusa-Blick aufgesetzt und ich fürchte, Party wird’s heute irgendwie nicht mehr so richtig geben.

„Weihnachtsfick, mh? Und seit wann schläfst du mit Mädchen? Und wie viel ist eigentlich gespielt, wenn du mit Yoko…“

Ich unterbreche ihn mit einem Kuss auf den Mund.

„Du fängst jetzt bitte nicht an, eifersüchtig zu werden, Fuchseder.“

Dann setzen wir uns zu den anderen und zum Glück sind da ein paar Leute dabei, mit denen ich keine Konflikte auszutragen habe.

„Also, Nepomuk“, rülpst Albert, „was hast du tatsächlich so in der letzten Zeit getrieben? Neue Band am Start?“

„Ich war in Florida. Bei DSDMB.“

Es ist schlagartig still. Man hört nur Albert, der sein Bier ausprustet.

„Hast du dir Pillen eingeworfen?“

„Nein, ich hab mich da angemeldet, bin zum Casting gegangen, unter die letzten Zwanzig gekommen und…“

„Das glaub ich nicht, dass du dich an so eine Scheiße verkaufst“, schüttelt Albert die lange Mähne. „Willst du echt mit gecasteten Vollidioten irgendeinen Müll singen, den andere für dich schreiben? Wo ist ’n deine Selbstachtung geblieben? Beim Pissen ins Klo abgegangen oder was?“

„Hat einer von euch schon mal mehrere Wochen kostenlos in einer Luxusvilla in Florida verbringen dürfen?“, fragt Ferdi plötzlich.

„Ist das dein Manager? Süß“, lacht sich der Headbanger kaputt.

„Nein, ich bin sein Freund“, erklärt Ferdi höflich.

Fine verzieht das Gesicht. „Träum weiter, Junge.“

„Keine Ahnung, was zwischen euch vorgefallen ist, aber…“, er grinst irgendwie gemein, „ich darf Schröder ficken, wann immer ich Lust dazu habe.“

„Fuchseder, du hast eindeutig genug“, stelle ich fest und nehme ihm die Bierflasche weg.

„Echt“, nickt Albert und fächelt sich Luft zu, „bloß nicht noch mehr schwule Intimitäten, sonst wird’s noch wärmer hier drin. Ach du Scheiße, heißt das etwa, dass man deine blöde Fresse irgendwann mit den ganzen anderen Casting-Spacken in der Glotze sehen kann?“

„Yep. Und Fuchsis blöde Fresse auch.“

„Der B! hat doch keine Ahnung von Musik“, behauptet einer, den ich nur flüchtig kenne.

„Verdient aber ungefähr achthundert Milliarden mal mehr Kohle als du.“

„Ja, mit so’ner Chartscheiße, bei denen vernünftige Menschen Kotzanfälle kriegen. Außerdem ist bei diesen ganzen Casting-Shows doch eh nix echt. Die Pappnasen, die da gezeigt werden, die sind doch alle von den Sendern bezahlt.“

„Fragen wir doch zwei, die es wissen. Habt ihr Geld gekriegt?“

„Bis jetzt noch nicht. Aber wir waren für lau in Florida“, zucke ich die Schultern.

„Ich würde da trotzdem nicht mal so aus Scheiß mitmachen“, bemerkt Albert. „Du wirst doch danach nie wieder ernst genommen.“

Die Diskussion geht noch eine Weile weiter. Ferdi debattiert heftig mit Albert. Darüber, dass kommerzielles Musikmachen nicht unbedingt was Schlechtes ist, weil doch eigentlich jeder Musiker gerne mit seinem Kram auch Erfolg haben und Geld verdienen möchte… ich bin irgendwie ganz zufrieden, dass der Fuchseder anscheinend völlig akzeptiert wird. Jedenfalls schlägt er sich ziemlich gut, so für’s erste Mal. Allerdings, die Leute hier sind auch noch eine Ecke anders als beispielsweise die Hardcore-Punks, die Eddies Kneipe bevölkern.

„Du und die Schwangere… was war da genau?“, fragt Ferdi auf dem Nachhauseweg.

„Wir hatten Sex.“

„Also stehst du…“

„Nee“, unterbreche ich ihn. „Ich… na ja, ich wollt’s wohl mal ausprobieren oder so. Und sie… war irgendwie verfügbar. Ich bin hinterher nicht besonders nett gewesen, deshalb hasst sie mich jetzt.“

„Was heißt nicht besonders nett?“

„Ich hab ihr gesagt, dass es unnötig war. Ein Experiment, auf das ich hätte verzichten können, weil’s mir null gebracht hat. Bis auf die Erkenntnis, dass ich zukünftig doch lieber wieder Kerle ficke. So ungefähr.“

„Schröder…“, schüttelt er den Kopf.

„Und das hab ich ihr dann leider später am Abend noch demonstriert.“

„Haben eigentlich alle Geschichten, die du aus deinem bisherigen Leben erzählen kannst, mit Sex zu tun? Hattest du keine anderen Hobbys?“

„Sei doch froh. Immerhin hab ich mich genug ausgelebt, um jetzt treu sein zu können. Und dafür muss ich mich nicht mal anstrengen“, grinse ich. „Und dank deiner großen Klappe weiß jetzt mein halber Freundeskreis, dass ich im Bett gerne passiv bin. Super, Fuchseder.“

„Du weißt doch, dass ich keinen Alkohol vertrage… Nepomuk, es gibt da noch eine Geschichte, die mich wirklich interessiert.“

„Ich würd’s dir ja erzählen, aber… weißt du noch, du hattest Angst, ich würde dich anders sehen, nachdem ich deine Eltern und den Hof besichtigen durfte… davor hab ich auch Angst, denn du wirst mich mit Sicherheit anders sehen. Genau wie alle, die es wissen.“

„Ich bin aber nicht alle.“

„Mein Vater sitzt im Knast. Seit neun Jahren.“

Ferdi ist stehen geblieben und starrt mich an.

„Das ist lange. Was hat er denn getan?“

„Das möchtest du nicht wissen, vertrau mir.“

„Na ja, er wird doch wohl niemanden umgebra…“, mein Blick verrät mich und Ferdi schlägt sich entsetzt die Hand vor den Mund, „oh mein Gott.“

„Er hat seine Exfreundin erstochen.“

„Oh mein…“

„Und deren damaligen Freund.“

Ferdi

Also unter Party machen hatte ich mir etwas anderes vorgestellt, als mit einer Horde Sprücheklopfer in einem stickigen Keller zu sitzen. Diese ganzen abgebrochenen Gestalten, die in ihrem Leben noch nichts auf die Reihe bekommen haben, außer Kinder zu zeugen und für ihre Garagenband T-Shirts drucken zu lassen. Da braucht man nur ein bisschen obszön daherreden, ab und an so tun als würde man vom Billigbier nippen und schon ist man einer von ihnen. Bah, nein danke. Und die hochschwangere Fine mitten in ihrem verrauchten Wohnzimmer … ich hab echt Angst, dass meine Schwester auch so endet. Und Angst hab ich noch vor einer anderen Sache: Vor Yoko. Denn wenn Schröder es fertig bekommt, mit einer Frau zu schlafen, dann ist das schon mal mehr, als ich bewerkstelligen könnte. Zudem ist nicht nur Yoko in ihn verknallt, sondern er steht auch ziemlich auf sie, so als Person. Wenn ICH die Chance hätte, mich zu entscheiden zwischen einem Kerl und einer Frau … ich würde definitiv die Frau wählen. Um normal zu sein. Ich weiß ja eigentlich, dass Schröder nicht viel drauf gibt, nicht aus dem Rahmen zu fallen, aber … ich mach mir eben trotzdem so meine Gedanken darüber. Zumindest bis er sagt:

„Er hat seine Exfreundin erstochen.“

„Oh mein…“

„Und deren damaligen Freund.“

Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich weiß noch nicht mal, was ich denken soll. Vielleicht ist das ja einer von Schröders dämlichen Scher… nein. Er sieht so verletzlich aus, wie ich ihn noch nie gesehen habe. Ich beobachte mich selbst dabei, wie ich einen Schritt von ihm zurücktrete, ohne das eigentlich zu wollen.

„Ein Mörder?“

„Ja“, antwortet er knapp und in seinem Gesicht verändert sich etwas, es wird wieder härter, defensiver. „Und komm mir jetzt bloß nicht mit deiner Bibelscheiße.“

„Das fünfte Gebot ist wohl seine geringste Sorge, wenn er seit neun Jahren im Knast sitzt. Das kann man sich gar nicht vorstellen, wie das für dich sein muss, einen Vater zu haben, der …“

„Ja. Genau.“

„Nepomuk …“, ich mache einen Schritt auf ihn zu. „Wenn jemand weiß, dass man nicht zwangsläufig werden muss wie die eigenen Eltern, dann ich.“

„Damit stehst du aber ziemlich allein da.“

„Ich weiß nicht so recht, was ich sagen soll“, gebe ich zu. „Aber ich bin froh, dass ich das jetzt weiß.“

„Weil du dich dann von mir fernhalten kannst?“

„Red keinen Müll. Ich meine, ich bin grad wirklich geschockt, aber ich weiß auch, dass du ein guter Mensch bist. Also vielleicht nicht unbedingt im christlichen Sinne, aber … du bist ein guter Freund und du würdest nie jemanden verletzen. Du laberst viel darüber, irgendwen zu verprügeln oder so. Aber ich hab noch nie wirklich Aggression in deinen Augen gesehen. Was dein Vater getan hat, hat nichts mit dir zu tun.“

„Er ist immer noch mein Dad. Ich besuche ihn und so.“

„Ich weiß nicht, ob ich das könnte. Aber das zeigt auch wieder, was für ein Mensch du bist.“

„Du bist total verblendet, Fuchseder. Ich bin eigentlich echt kein guter Kerl …“

„So, warum nicht?“

„Weil ich eben doch Leute verletze. Nicht mit Gewalt … eher weil ich sie enttäusche. Ich bin halt eine ziemliche Nullnummer, frag meine Mutter …“

Ungläubig schüttle ich den Kopf:

„Glaubst du, ich würde mich in ne Nullnummer verlieben?“

„Mann Fuchseder …“

Er will sich abwenden.

„Nein, Schröder, ich mein das ernst. Hör auf, so schlecht von dem Mann zu reden, den ich liebe.“

Das scheint jetzt doch zu ihm durchzudringen.

„Ich glaub, mich hat noch niemand ernsthaft als Mann bezeichnet … das hört sich so … erwachsen an.“

„Schlimm?“, frage ich vorsichtig.

„Nein, nicht wenns von dir kommt.“

„Lass uns nach Hause gehen, hm? Ich hätte nämlich gerne, dass der Mann, den ich liebe, mich heute fickt.“

Schröders Gesichtszüge entgleisen ihm ein klein wenig und dann … dann rennt er los! Und zwar so schnell, wie ich ihn nicht mal bei Corinne am Strand hab rennen sehen! Er ist nicht mehr zu bremsen und kaum einzuholen.

„Woah …“, zittert er eine viertel Stunde später in seinem Bett und sackt in meinen Arm.

„Mmmmh“, antworte ich und reibe meine immer noch etwas kalten Füße an ihm.

„Das war …“

„Jaaaah …“, bestätige ich.

„Bist du …?“

Ich ziehe verheißungsvoll meine Brauen nach oben und er lächelt noch zufriedener.

„Nepomuk?“

„Hm?“

„Deine Zähne … sind heute ganz besonders weiß.“

Er lacht:

„Ich hab vorhin deine Zahncreme benutzt. Nicht übel, das Zeug.“

„Ich hab dich heute Abend auch gar nicht rauchen sehen und …“, ich stecke meine Nase in seine Haare „und ich riech auch gar nicht sooo viel Tabak.“

„Ich wollte schon längst damit aufhören. Bild dir bloß nichts drauf ein.“

„Verstehe. Danke trotzdem.“

„Ich werd dich oft ficken müssen, wenn der Suchtdruck zu hoch wird, Fuchseder.“

„Druckabbau, das bin ich also für dich, hm?“

„Meine Freunde haben dich doch gewarnt“, grinst er schief.

„Sind das echt deine Freunde, ich meine …?“

„Hm?“

„Naja, dieser Albert zum Beispiel. Der war mir echt SEHR unsympathisch. Und ich versteh auch nicht, wie Fine sich einfach so in den verqualmten Raum pflanzen kann, wo ihr Baby den ganzen Scheiß abkriegt.“

„Komisch, ich dachte, du hättest Spaß gehabt heute Abend.“

„Ja, die letzte Viertelstunde. Ansonsten … ich weiß nicht.“

„Oh …“

„Aber hey: Ich muss deine Freunde doch nicht mögen, oder? Ich meine, ich glaub auch nicht, dass du meine besonders gemocht hättest …“

„Stell sie mir halt vor.“

„Eigentlich gibt’s da nur Michi und Martin und meine Geschwister.“

„Oh …“

„Aber ich würde dir Michi gern vorstellen …“

„Was?!“

„Würdest du bitte am Montag mit mir nach München kommen?“

Schröder

Puh, das trifft mich jetzt etwas unerwartet. Michi kennen lernen. Klar, würde ich schon gerne, aber ich hab halt keine Ahnung, wie ich mich verhalten soll und…

„Was ist denn, wenn er was merkt? Also, dass du und ich…?“

„Man kann nie so genau sagen, was Michi merkt oder woran er sich erinnert oder ob überhaupt. Ich bin eigentlich schon froh, wenn er mich erkennt.“

„Wow, das muss echt schlimm für dich sein.“

„Na ja, ich versuche einfach, nicht darüber nachzudenken, sondern für ihn da zu sein. Hilft ihm ja nicht, wenn ich ständig in Tränen ausbreche, oder?“

„Wünschst du dir eigentlich manchmal, dass… dass du mit ihm, anstatt mit mir…“

Er sieht mich an und es fällt mir schwer, seinen Blick zu deuten.

„Vergiss es, Fuchseder, die Frage ist unfair. Natürlich wünschst du’s dir. Schließlich hast du ungefähr dein gesamtes Leben mit Michi verbracht und wenn der Unfall nicht gewesen wäre…“

„Ich hab genug von was wäre wenn“, antwortet er bestimmt. „Michis Zustand ist nicht zu ändern, egal was ich mir wünsche. Und wenn du meinst, dass ich bei jedem Kuss von dir an ihn denke, dann bist du ein Idiot. Wenn wir uns küssen, denke ich überhaupt nicht. Außer vielleicht, dass du wahnsinnig geschickt mit deiner Zunge umgehen kannst“, lächelt er.

„Küssen ist eine seltsame Angelegenheit, oder? Da werden einfach Lippen aufeinander gedrückt und du stocherst mit der Zunge in einem Mund rum, der nicht dein eigener ist.

Eigentlich ein bisschen eklig. Hör mal, ich bin echt nicht stolz drauf, was ich mit Fine abgezogen habe… oder mit irgendwelchen Typen. So was passiert immer nur, wenn ich zugeknallt bin.“

„Vielleicht solltest du dann nicht nur das Rauchen aufgeben“, schlägt er vor.

„Andererseits hab ich natürlich auch viel Spaß gehabt. Ich meine, ich hab mich ja nicht zwanghaft weggeballert, oder vielleicht doch, keine Ahnung. Bei dir brauch ich den ganzen Scheiß nicht. Wenn ich mit dir nach München fahre, darf ich übrigens nicht vergessen, Yoko anzurufen. Die wartet nämlich drauf, dass ich Montag zurückkomme.“

Ah, der bekannte Medusa-Blick.

„Fuchseder, wann siehst du endlich ein, dass Yoko toll ist?“

„Ich finde, es reicht völlig, wenn sie einer von uns beiden anhimmelt“, grummelt er.

„Du bist eifersüchtig. Auf ein Mädchen“, bemerke ich und will ihn schon auslachen, „und weil du jetzt weißt, dass ich mit Fine… ey, das war echt so absolut überhaupt nicht gut, okay? Das war total wie Oliven.“

„Aha.“

„Ja, ich hab die Dinger einmal probiert und festgestellt, dass ich sie nicht mag.“

Am nächsten Morgen, kurz bevor Ferdi und ich zum Frühstück runtergehen wollen, brüllt Rainer, dass ich sofort runterkommen soll. Mann, was hat’n der schon wieder?

Er steht neben Mom an der Treppe und zieht ein Gesicht… unbeschreiblich.

„Das war das letzte Mal, Nepomuk. Das Maß ist voll. Ich hab dir gesagt, dass ich so was nicht in meinem Haus haben will.“ Und mit den Worten knallt er mir Ferdis Sexbuch beinahe in die Fresse. „Pack deine Sachen und verschwinde.“

„Mom?“

„Es ist offensichtlich“, sagt sie, „dass du nichts, aber auch gar nichts gelernt hast.“

„Entschuldigung, Frau Gerlach, das Buch…“, beginnt Ferdi, der plötzlich aufgetaucht ist, aber ich stoppe ihn.

„Hab ich im Auto vergessen.“

„Aber…“, macht er.

„Ferdi, Sie trifft keine Schuld“, behauptete Mom, „ich kenne meinen Sohn nur zu gut. Er redet Ihnen so lange ein, dass Sie… diese Dinge auch wollen, bis Sie es selbst glauben. Und wenn das nicht funktioniert, hilft er auf andere Weise nach. Sie sind ein netter Junge, halten Sie sich fern von ihm. Nepomuk ist kein guter Umgang.“

Ferdi will widersprechen, aber ich gebe ihm ein Zeichen, still zu sein. Denn das Beste kommt sicher gleich noch.

„Wir haben doch wirklich alles für dich getan und du hast immer nur Unruhe gestiftet. Deine ganzen Eskapaden, die Nächte, in denen ich gewartet habe, dass du nach Hause kommst… es tut mir so weh das sagen zu müssen, aber du bist wie dein Vater.“

Ah, da haben wir’s ja schon!

„Der hat auch nie Rücksicht auf andere genommen. Erst recht nicht auf seine Familie. Was der uns angetan hat…“

„Ich weiß, Mom. Tut mir leid, dass ich so eine Enttäuschung für dich bin.“

„Da hast du’s Ulrike“, zischt Rainer, „er macht sich rotzfrech lustig über dich.“

„Genau. Das ist nämlich alles, was der undankbare Scheißer kann. Fuchseder, hol mal bitte unsere Sachen, wir gehen!“

„Nepomuk, ich verstehe dich einfach nicht“, jault Mom.

„Hast du’s denn mal versucht?“

„Du wirst deiner Mutter jetzt nicht einreden, dass es ihre Schuld ist, dass aus dir so ein egoistisches Stück Dreck geworden ist“, keift Rainer und fuchtelt gefährlich mit seinem Finger vor meinem Gesicht rum. „Das wär ja noch schöner!“

„Ich hoffe, du erzählst mir nie wieder, wie toll es war, in Stiefpapas Luxusvilla aufzuwachsen“, lächele ich horrorartig, als Ferdi und ich durch die Kälte laufen. „Und ich hoffe…“, weiter komme ich nicht, weil es mir hochkommt. Ich kotze in die Büsche und stecke mir danach ein Pfefferminzbonbon in den Mund. „Sorry, ohne Alkohol oder Pillen schlagen mir solche Auseinandersetzungen fürchterlich auf den Magen. Meinst du, wir können bis morgen bei deiner Schwester bleiben?“

„Bestimmt. Nepomuk, warum hast du mich nicht… Mann, bei deiner Mutter hat es sich so angehört, als hättest du mich vergewaltigt.“

„Ja, die Dominik-Geschichte hat tiefe Spuren hinterlassen. Dass jemand freiwillig… solche Dinge… macht und eventuell sogar Spaß dabei hat, kann sie sich wahrscheinlich nicht vorstellen. Oder es ist für sie bloß unbegreiflich, dass mich jemand gern hat, keine Ahnung. Ich bin wie mein Vater, hast es doch gehört.“

„Komm mal kurz her!“

Ferdi legt seine Hände an meine Wangen und…

„Ich hab grad gekotzt“, warne ich ihn, „also sollten wir das besser verschieben.“

„Allerdings.“

„Ich ruf mal eben Yoko an“, erkläre ich und krame mein Handy raus.

„Hey, Schatz“, meldet sie sich fröhlich, „wie geht’s dir… äh… euch?“

„Könnte nicht besser sein. Erst hab ich Ferdis Familie kennen gelernt, dann durfte er meine erleben, gestern mussten wir feststellen, dass er meine Freunde unsympathisch findet, Mom und der Stiefvater haben uns grad rausgeschmissen und Ferdi ist eifersüchtig auf dich. Bei dir alles klar?“

„Wow, das klingt nach einem schönen Weihnachtsfest. Wieso ist der Blödmann eifersüchtig? Hast du ihm etwa nicht gesagt, dass du ihn liebst?“

„Doch, ich hab ihm gesagt, dass ich ihn liebe… äh, wart mal… Fuchseder, hab ich dir heute schon gesagt…“

„Schröder!“, stöhnt er, zeitgleich mit Yoko.

„Also, wie läuft’s bei dir?“

„Supi. Meine Familie weiß jetzt, dass ich bei DSDMB mitmache. Die wollen meine Visage auf T-Shirts drucken lassen und zu den Live-Shows anreisen. Kannst du dir das vorstellen? Zwanzig durchgeknallte Asiaten hocken da in Yoko-Shirts und bejubeln mich. Ich schieß mich auf den Mond!“

„Ist doch lustig. Und die unterstützen dich wenigstens. Hey, ich wollt dir eigentlich nur kurz Bescheid geben, dass ich mit dem Fuchseder nach München fahre.“

„Dann ist zwischen euch alles in Ordnung?“

„Na ja, wenn ich noch länger mit dir quatsche vielleicht nicht mehr. Ferdi kriegt wieder den Medusa-Blick“, grinse ich und strecke ihm die Zunge raus.

„Damit soll er bitte den B! zu Stein erstarren lassen.“

„Werd ich ihm ausrichten.“

„Fein. Und richte ihm aus, dass ich nicht mal dann mit dir schlafen würde, wenn du mich drum bitten würdest.“

„Wow. Echt nicht?“

„Nein. Ich finde dich sexuell nicht anregend. Mach’s gut Schatz und meld dich mal wieder.“

„Bis bald, Süße.“

Ferdi

„Sag mal, gibt es eigentlich irgendwelche prekären Details, die du nicht mit deinem Meereskind besprichst?“, will ich leicht angesäuert wissen.

„Ich mag eben keine Geheimnisse. Erstens hab ich keinen Bock, ständig drüber nachdenken zu müssen, was ich wem sage und zweitens kommt eh alles irgendwann raus und beißt einem in den Hintern.“

„Ahja, also hast du Yoko von deinem Vater erzählt?“

„Das ist fies, Fuchseder. Weil das ganz was anderes ist.“

„Ja. Also würde es dir was ausmachen, auch auf genauere Beschreibung meiner Familie Yoko gegenüber zu verzichten?!“

„Klar, wenn du das so willst. Ich hatte jetzt auch nicht vor, den Horrorhof zu erwähnen …“

„Dankeschön“, schnappe ich ob der freundlichen Wortwahl.

Er verdreht nur die Augen und schleppt seinen komischen Seesack weiter, der die ganze Zeit griffbereit in einer Ecke des Zimmers gestanden hat. Schröder ist scheinbar immer zum Aufbruch bereit. Kein Wunder, bei der Mutter …

„Ich finde immer noch, du hättest mich das richtigstellen lassen sollen.“

Ich bleibe bockig stehen, als er nicht auf meinen Einwand reagiert. Erst nach vielen Schritten dreht er sich genervt um:

„Wärst du so freundlich? Es ist arschkalt, ich würd gerne heute noch ankommen.“

„Zu Fuß? Quer durch die ganze Stadt?“

„Wir haben doch Zeit, oder?“

„Ich hab meinen Kulturbeutel vergessen“, fällt mir ein.

„Dann kaufst du dir halt einen neuen ‚Kulturbeutel‘“, äfft er mich nach.

„Das ist mein ganzes Kosmetikzeug drin, auch das Rasierwasser von Michi. Alles. Ich geh das holen.“

„Bist du bescheuert?! Das lässt du schön bleiben.“

„Du kannst ja hier warten“, behaupte ich und stapfe in die andere Richtung davon.

„Fuchseder, verdammte Scheiße!“

Ich höre den Seesack auf den Boden aufschlagen und spüre ein paar Sekunden später Schröders Hand, die mich unsanft an der Schulter herumreißt.

„Du wirst da nicht mehr hingehen!“

Sein Blick ist nicht nur wütend, sondern vor allem verzweifelt und angsterfüllt.

„Nepomuk, ich werde einfach ganz freundlich nach meinem Beutel verlangen. Keine große Sache, okay?“

„Ich kann nicht mitgehen.“

„Das ist schon okay. Setz dich einfach in das Bushäuschen da drüben, hm? Ich bin gleich wieder da. Pass auf meinen Koffer auf, okay?“

„Ferdi …?“

„Ja?“

„Beeil dich.“

Mir ist zugegeben doch etwas mulmig, als ich wieder vor der Haustüre stehe und klingle. Recht unvermittelt reißt Rainer sie auf, ist aber scheinbar sehr überrascht, mich zu sehen.

„Was willst du denn noch hier?!“

„Ich hab meinen Kulturbeutel im Bad oben vergessen. Könnte ich den vielleicht kurz …“

„Du setzt keinen Fuß mehr in dieses Haus. Warte hier.“

Und schon fliegt mir die Türe ins Gesicht. Sehr charmant. Dieser Rainer hat es echt drauf, dass man sich klein fühlt, nur durch seine Worte. Mein Vater hat dafür zumindest einen Gürtel oder ein Holzscheit gebraucht … Die Tür geht fast sofort wieder auf, diesmal zaghafter. Ulrike steht vor mir, mit verweinten Augen und verlaufender Schminke.

„Gib ihm das“, flüstert sie und schiebt mir ein Bündel Zehner zu.

„Aber … Frau Gerlach, ich weiß nicht, ob er das annehmen würde.“

„Würde er nicht. Aber ich bin beruhigt, wenn er es hat. Dann muss er keine Dummheiten machen, um an Geld zu kommen.“

„Er macht keine Dummheiten. Aber er hat ja leider recht. Sie wissen nicht, was in seinem Leben passiert. Jedenfalls sollen Sie nicht denken, dass er mich durch irgendwelche Psychotricks dazu bringt, mit ihm zu schlafen. Ich weiß eh nicht, wie Sie sich das vorstellen …? Dass er mir alle paar Stunden K.O.-Tropfen einflößt? Ich schlafe nicht nur mit ihm, ich bin mit ihm zusammen. Und das, weil ihr Sohn wirklich toll ist. Er ist talentiert und witzig und klug und hübsch natürlich und ich liebe ihn. Und Geld ist nicht das, was er von Ihnen braucht.“

Ich gebe ihr das Bündel zurück. Bevor sie protestieren kann, hören wir stampfende Schritte auf der Treppe.

„Ulrike, was machst du denn?“, will Rainer wissen.

„Ich wollte nur sehen, wer an der Tür war …“

Ganz nebenbei tut sie so, als wolle sie einen prüfenden Blick in meinen Beutel werfen und lässt dabei das Bündel unauffällig hineingleiten, bevor sie ihn mir gibt. Toll. Wenn ich jetzt Aufhebens drum mache, dann tickt Rainer aus. Ich bedanke mich also höflich und ziehe ab.

Nepomuk sitzt rauchend in dem hölzernen Bushäuschen.

„Du bist wieder da“, stellt er fest.

„Ja, war nicht besonders schlimm. Rainer hat mir das Teil geholt. Und … deine Mutter hat das hier drin verschwinden lassen.“

Ich zeige ihm die Scheine.

„Ach Scheiße, Fuchseder, warum hast du das denn angenommen?!“

„Hab ich nicht, sie hat mich ausgetrickst. Und außerdem hat sie geweint.“

„Wirklich?“, fragt er scheinbar ehrlich überrascht.

„Ja … und ich hab ihr gesagt, dass ich dich liebe und dass wir zusammen sind.“

„Was geht die das denn an?!“

„Ich hätte einfach nicht damit leben können, wenn sie denkt, du würdest irgendwas Irres mit mir anstellen oder so, okay? Außerdem hasst du doch Geheimnisse sowieso.“

„Das ist kein Geheimnis. Es geht sie nur einfach nichts an.“

„Hast du dir schon mal überlegt, dass es kein Wunder ist, dass sie schlecht von dir denkt, wenn du ihr doch die ganzen guten Sachen verschweigst?“

„Mir ist egal, was die von mir denken.“

„Ja, das seh ich.“

Ich lasse mich neben ihn auf die stinkende Bank nieder und verstaue meinen Beutel der Einfachheit halber in seinem Seesack. Das Geld stecke ich in seine Jackentasche. Er protestiert nicht mehr.

„Ich ruf mal bei Barbara an. Vielleicht kann sie uns ja abholen.“

Schröder nickt nur irgendwie abwesend und zieht weiter an seiner dämlichen Zigarette.

„Hey Ferdi!“, flötet meine Schwester gut gelaunt ins Handy.

„Hallo. Ich wollte fragen, ob Schröder und ich bis morgen bei euch bleiben können?“

„Sicher … aber wir sind bei Bernds Eltern. Ich schätze, wir werden irgendwann am frühen Abend zurück sein.“

„Oh …“

„Leider liegt auch nirgends ein Ersatzschlüssel rum, den ihr euch holen könntet.“

„Schon okay, uns fällt schon was ein. Grüß alle.“

„Danke, zurück. Bis bald, Kleiner.“

„Das hat sich nicht gut angehört“, findet Schröder.

„Sie sind nicht in der Stadt. Aber warum fahren wir eigentlich nicht gleich nach München? Was hält uns hier?“

„Nichts“, zuckt er die Schultern.

„Eben. Und dieser Bus fährt bestimmt zum Bahnhof. Wir müssen nur zwanzig Minuten warten.“

Eine Stunde später setzt sich schon unser Regionalexpress nach München in Bewegung. Ich konnte Schröder glücklicherweise überzeugen, das Trampen sein zu lassen und stattdessen zu versuchen, Leute aufzutreiben, die sich ein Bayernticket mit uns teilen. Wir haben auch tatsächlich ein Pärchen gefunden, mit dem Schröder sich jetzt munter unterhält, während ich etwas Schlaf nachhole. In Zügen konnte ich schon immer gut schlafen.

Schröder

Der Fuchseder pennt. Ich fasse es nicht. Vielleicht sollte ich ihm ein Schaukelbettchen kaufen, denn offenbar braucht er Bewegung zum Schlummern. Ich kann in Zügen logischerweise nie schlafen, weil mich das Rattern und Poltern bekloppt machen und immer wieder aufwecken würde.

Und warum musste er unbedingt vor meiner Mutter den Helden spielen, hä? Geweint hat sie also. Sicher, weil ich so ein verzogener, verlogener, nichtsnutziger Bengel bin, der immer nur Unruhe stiftet und dafür verantwortlich ist, dass sie sich Sorgen machen muss. Ich weiß, wie sie die Dinge vor anderen Leuten darstellt, damit sie gut dabei wegkommt. Nee, das stimmt nicht ganz. Sie glaubt wirklich, dass sich alles so abgespielt hat. Die Wahrheit hat sie komplett ausgeblendet. Wie Paps, der glaubt, dass Timo ihn liebt. Ey, meine Eltern sind doch total für die Tonne. Der Fuchseder mit seiner Angst, ich könnte irgendwas fieses über ihn erzählen, geht mir auch auf den Sack. Klar, ich hab den ganzen Tag über nix Besseres zu tun, als Yoko den stinkenden, zugemüllten Hof, die schrecklichen Eltern, die komische Schwester und den Betbruder zu beschreiben. Und selbst wenn… Yoko würde das alles nicht eine Sekunde gegen ihn verwenden. Aber sie würde wohl auch meinen Knastvater nicht gegen mich verwenden. Vielleicht sollte ich langsam mal lernen, ein bisschen mehr Vertrauen zu haben.

Vom Münchner Hauptbahnhof aus geht’s mit der Tram weiter und nach gefühlten hundert Stunden sind wir endlich angekommen. Ferdis Wohnung. Schmaler Flur, Bad mit Wanne, hellen Fliesen, Dachfenster… großes Wohnzimmer mit Balkon, angrenzender Küchenzeile, wahnsinnig sauber und aufgeräumt.

„Wo ist’n das Schlafzimmer?“, frage ich.

Er öffnet die Tür neben dem Bad. Groß ist was anderes, aber es gibt ein Bett und das ist die Hauptsache. Ich werfe mich augenblicklich drauf.

„Ähem… wie wäre es mit Schuhe ausziehen?“

Klar, doch. Ich kicke die Schuhe weg und muss mir grad, aus welchen Gründen auch immer, zwanghaft vorstellen, wie der Fuchseder hier mit seinem Michi heftig… im Fegefeuer landet. Bei der Wohnungsbesichtigung sind mir auch ein paar Fotos aufgefallen. Nix kompromittierendes natürlich, mehr so Schnappschüsse wie das Backfoto auf seinem Handy.

Trotzdem, mich macht das alles irgendwie… keine Ahnung… Michi gehört halt zu einem Teil seines Lebens, den ich kaum kenne. Und ich weiß echt nicht, ob mir danach ist, den so genau kennen zu lernen. Vielleicht hab ich aber auch bloß Angst davor, was mir blühen könnte, wenn ich mit Ferdi zusammen bleibe. Geregeltes Leben. Strukturierter Tagesablauf. Immer gleich. Irgendwann muss man erwachsen werden, höre ich Barbara sagen. Wieso hab ich eigentlich solche Schwierigkeiten damit? Andere kriegen das doch auch hin. Andere wissen genau, was sie wollen, während ich völlig orientierungslos umherkrauche. Allerdings weiß ich, dass ich mich nicht in zehn Jahren immer noch mit blöden Hohlköpfen wie Albert abgeben will. Wobei blöd… die haben eben auch einfach noch nix gescheites auf die Kette gekriegt, das ist alles.

„Ich hab Hunger, wollen wir was bestellen?“, frage ich, greife in meine Jackentasche und wedle mit den Geldscheinen herum. „Mom bezahlt.“

Nach dem Essen gehe ich zum Rauchen auf den Balkon und beschließe, dass das jetzt meine letzte Zigarette ist. Ich an Ferdis Stelle hätte vermutlich auch keine Lust, einen Aschenbecher zu küssen. Und überhaupt, ungesunder Scheiß! Könnte auch gleich mit dem Alkohol aufhören und die Drogen weglassen. Haha… ich werd Straight-Edger!

Es fängt an zu schneien und mir ist kalt, also drücke ich die halb aufgerauchte Kippe aus, stecke mir einen Zimtkaugummi in den Mund und setze mich ins Wohnzimmer. Der ganze Tag war irgendwie so voll für’n Arsch. Ferdi mit seinem dämlichen Kulturbeutel… auch wieder so ’n Spießerzeugs… und das Rumgenerve und Michis Rasierwasser und trampen wollte der Fuchseder nicht… Gott, ich würde gerne etwas kaputt schlagen. Ob Paps sich so gefühlt hat, als er serienkillermäßig seine Exfreundin abgestochen hat? Ob der Fuchseder sich so fühlt, weil ich ihn seit geraumer Zeit total ignoriere?

„Ferdi…“

„Ich würd ja sagen halt die Klappe, aber das tust du bereits seit… ich weiß nicht wie lange“, schnauft er. „Was ist los mit dir?“

Schröder ey, reiß dich zusammen, verdammte Scheiße!

„Tut mir leid, die Sache mit meiner Mutter und… ah, ich hab gar keinen Bock, mich davon so runterziehen zu lassen und dich da mitzunehmen. Fuchseder, warum hast du mir nicht einfach in den Hintern getreten?“

„Ich weiß was Besseres“, antwortet er und küsst mich.

Im Bett mit Ferdi, der mich festhält, wird mir endlich warm.

„Hey, Yoko sagt, sie findet mich sexuell nicht anregend, kannst du dir das vorstellen?“

„Willst du was Bestimmtes?“

„Äh… nee. Wieso?“

„Na, du erwartest doch sicher, dass ich dir sage, wie sexuell anregend ich dich finde und dir gleich den Beweis liefere, indem ich dich ficke.“

„Wow… bin ich so leicht zu durchschauen?“

„Was das angeht, ja.“

„Ich hab vorhin mit dem Rauchen aufgehört. Endgültig. Wegen der Gesundheit und ein bisschen wegen dir.“

„Okay, dann willst du mich ficken.“

„Dein neues Lieblingswort, mh? Lass uns das verschieben, ich bin echt müde. Mhhhh… und du bist so warm und kuschelig…“

Am nächsten Nachmittag ist es soweit. Ferdi und ich betreten Michis Zimmer. In einem der Betten schnauft ein Mann vor sich hin, der aussieht, als würde er jeden Moment den Löffel abgeben. Mein Magen kribbelt nervös. Michi sitzt in einem Rollstuhl in der Ecke des Zimmers und hat eine wunderschöne Aussicht auf den Halbtoten. Es wirkt fast so, als hätte ihn irgendwer einfach hier abgestellt.

„Wenigstens ist er angezogen“, grummelt Ferdi. „Hallo, mein Schatz!“

Michi erwacht aus seiner Stumpfsinnigkeit und… lächelt, glaub ich. Dann brabbelt er was Unverständliches, das mit viel Phantasie Ferdifuchs heißen könnte. Ferdi strahlt und lässt sich einen ungeschickten Kuss auf die Wange geben.

„Schau mal Michi, ich hab dir Besuch mitgebracht“, behauptet er und deutet mir an, näher zu kommen. „Also, das da ist Schröder. Magst du ihm Hallo sagen?“

Offenbar nicht.

„Hi, Michi. Cooles Shirt“, grinse ich und zeige auf sein Fort Myers-Shirt. Das scheint ihn zu freuen, denn er lächelt, glaub ich. Vielleicht kann er aber auch bloß den Gesichtsausdruck und würde mich am liebsten verprügeln, weil er genau merkt, dass ich in seinen Ferdifuchs verknallt bin. Ich meine, das gibt’s doch, oder? Dass Leute sich zwar weder bewegen, noch sonst wie verständlich machen können, aber im Kopf völlig klar sind und alles mitkriegen.

Jedenfalls ist es ganz schön krass. Wenn man an das Bild denkt, auf dem Michi mit alberner Schürze Teig nascht, ist es kaum vorstellbar, dass das hier ein und derselbe Mensch ist.

„Der Schröder war auch…“ Das vernehmliche Röcheln des Bettlägerigen stoppt Ferdi.

„Können wir nicht irgendwo mit ihm hingehen, wo nicht grad jemand… ich find das echt unheimlich“, wispere ich ihm zu.

„Den Flur runter gibt’s einen Aufenthaltsraum… wollen wir da mal hin, Schatz?“

Dieses Schatz andauernd irritiert mich total. Na ja.

Als Ferdi auf dem Flur eine Schwester vorbeilaufen sieht, hält er die erst mal an und beschwert sich, dass Michi ein fleckiges Shirt trägt und erklärt ihr, dass er doch wohl vor Weihnachten saubere Klamotten gebracht hätte.

„Versuchen Sie mal, ihm etwas anderes anzuziehen, dann werden Sie sehen, was er für einen Aufstand macht…“, bollert die Schwester und eilt davon.

Wow, die hat die Freundlichkeit aber auch mit Löffeln gefressen.

Ferdi

Schröder heckt was aus, ich spüre das genau. Wobei man dafür noch nicht mal besonders feinfühlig sein muss. Spätestens, als er gestern Abend nicht mit mir schlafen wollte, hat ein riesiges, blinkendes Warnschild in meinem Kopf aufgeleuchtet. Am liebsten hätte ich einen Rückzieher gemacht und ihn doch nicht mit zu Michi genommen. Aber … ich weiß eigentlich auch nicht, warum ich ihm das nicht gesagt habe. Vermutlich brauche ich einfach diesen Härtetest, um zu sehen, wie Schröder klar kommt. Ich weiß wirklich nicht, ob ich ihm mein Leben zumuten kann …

Natürlich beobachte ich, wie er auf Michi reagiert, wie er Kontakt aufzunehmen versucht und wie seine Körpersprache ganz klar so wird, als spräche er mit einem Kind. Das kenne ich schon, kann es auch nachvollziehen, aber … Michi ist nun mal kein Kind. Kinder werden irgendwann erwachsen, Michi nicht.

Aber ich muss vermutlich dankbar sein, denn an Michis Zimmernachbarn sieht man deutlich, dass es uns schlimmer hätte treffen können. Der Mann ist gerade vierzig geworden, hat einen kleinen Sohn und seine Frau ist seit seinem Tauchunfall vor sechs Wochen in der Karibik jetzt ganz auf sich gestellt. Letzte Woche, als sie ihren Mann ausnahmsweise ohne den gemeinsamen Sohn besucht hat, ist sie vor meinen Augen in Tränen ausgebrochen, was mich total unerwartet getroffen hat, denn vor dem Kind hat sie wirklich immer eine überzeugende Fassade aufgebaut …

Sie hat mir erzählt, dass ihr Mann von Freunden diesen Trip zum runden Geburtstag geschenkt bekommen hatte und wie begeistert er gewesen war, da er das Gefühl hatte, in seinem Leben noch nicht genügend Abenteuer erlebt zu haben. Typische Midlife-Crisis eben. Sie hatte ihn, als er ins Flugzeug gestiegen war, gebeten, vorsichtig zu sein. Ich kann mir die Szene lebhaft vorstellen.

Nach einem Kurs hatten die Tauchanfänger dann beschlossen, noch irgendein Riff besichtigen zu wollen, Abenteuer erleben eben, dafür waren sie schließlich dort. Und jetzt? Frau Kassler erklärte mir, sie sei so wütend, wisse aber nicht, wohin mit ihrer Wut. Denn ihr Ehemann war schließlich quasi nicht mehr da. Und das alles wegen seiner egoistischen Abenteuerlust, die sie allein mit Kind und Hypothek und einem Trümmerhaufen zurückließ. Auf wen sie denn jetzt bitteschön wütend sein sollte, wollte sie von mir wissen.

Ich konnte sie verdammt gut verstehen. Ich bin nämlich ebenfalls wütend. Auf den alten Michi, weil er mich einfach alleingelassen hat. Aber auf den neuen Michi kann ich nicht wütend sein. Verliebt kann ich in ihn aber auch nicht sein. In Schröder bin ich verliebt, kann das aber nicht so richtig ohne schlechtes Gewissen sein.

Wir schippern zum Aufenthaltsraum. Dort gibt es Kaffee umsonst, das gefällt Schröder. Ich erzähle, dass ich ihn bei DSDMB kennengelernt habe und so weiter und Michi scheint sogar halbwegs interessiert zuzuhören.

„Und was ist mit deinem Shirt, Schatz? Wollen wir da nachher ein frisches anziehen?“

Er krallt sich sofort in den Stoff und schaut wie Gollum, wenn man ihm den Ring wegnehmen will.

„Super. Hätte ich mir eigentlich denken können. Warum hab ich dir nicht gleich zwei davon mitgenommen? Selbst Schuld.“

Als Schröders Kaffee und Michis Tee in der Schnabeltasse leer sind, wird mein Freund unruhig. Also Schröder, nicht Michi. Er wandert im Raum herum, schaut sich die Fotos und selbstgebastelten Fensterbilder der Patienten an, beäugt den kleinen Christbaum in der Ecke kritisch und spielt nervös mit dem Feuerzeug in seiner Tasche.

„Weißt du, du kannst auch schon mal zurück fahren, wenn du willst?“, biete ich ihm an.

„Meinst du echt?“

„Klar. Ich muss nachher noch versuchen, ihn von seinem S-H-I-R-T zu trennen und so Zeug. Da ist es eh nicht so günstig, wenn du dabei bist …“

Und somit zieht Schröder ab, möglichst langsam, um es nicht wie die Flucht aussehen zu lassen, die es ist.

Ich stelle beim Kampf um das T-Shirt fest, dass Michi sich mal wieder an einigen Stellen wundgelegen hat. Sowas sollte doch eigentlich nicht mehr vorkommen … hoffentlich haben die in Regensburg das mit der Pflege besser drauf …

Als ich mich dann ebenfalls so langsam verabschieden will, flüstert Michi mir zu, dass ich unbedingt Megastar werden soll. Irgendwie bin ich davon total überrascht, denn natürlich hab ich ihm viel von DSDMB erzählt, aber dass er da so richtig eine Meinung dazu hat und nicht bloß nachplappert, was ich ihm mal vorgesagt habe …

„Meinst du echt? Soll ich da wieder mitmachen?“

Er nickt vehement.

„Schröder sagt das auch …“

„Ferdi-Megastar“, giggelt er.

„Du bist süß.“

„Du auch. Kuss!“

Ich will ihm meine Wange hindrehen, aber er patscht mit seinen Händen ungeschickt nach meinem Gesicht, hält es fest und küsst mich auf die Lippen. Das hat er noch nie getan.

„Mein Ferdi-Megastar.“

„Hey, was ist denn heute mit dir los, Schatz? So anhänglich kenn ich dich ja gar nicht mehr.“

Er lächelt, und zwar irgendwie verwegen oder so, jedenfalls anders als normalerweise. Fast so, wie er früher gelächelt hat.

Als ich nach Hause komme, steht Schröders Seesack im Flur. Er selbst steht auf dem Balkon und … raucht. Als er mich kommen sieht, drückt er schnell die Zigarette aus und tritt bibbernd ins Wohnzimmer.

„Schröder?“

„Hm?“

„Du verschwindest, oder?“

„Nein Quatsch, wie kommst’n auf so was? … Ich hab eben halt nur Yoko versprochen, dass ich noch mal ein paar Tage zu ihr komme. Sie wollte mir noch ein paar Leute vorstellen und so Zeug. Dauert bestimmt nicht lange. Silvester in Berlin stell ich mir halt geil vor. Hatte ich noch nie.“

„Du willst Silvester nicht mit mir verbringen?“, frage ich irgendwie wirklich geschockt.

„Doch klar, komm halt einfach mit.“

Er blufft und wir beide wissen es.

„Nein, ich kann Michi nicht schon wieder so lange allein lassen.“

„Schade. Naja, dann werd ich mich mal auf die Socken machen. Bald wird es dunkel, da tut man sich schwerer, wen zu finden, der einen mitnimmt. Ich ruf dich an, wenn ich da bin.“

Er drückt mir, obwohl ich meine Lippen spitze, nur auf die Wange einen Kuss und stapft mit seinen schweren Stiefeln davon.

„Ich werde übrigens doch weitermachen“, sage ich mehr zu mir selbst als zu ihm.

Schröder

Tja, da stehe ich also mit meinem Weltreiserucksack und warte, dass mich irgendjemand mitnimmt. Schröder auf der Flucht. Mal wieder. Aber zum ersten Mal in meinem Leben fühlt es sich nicht nach Spaß und Abenteuer an. Es fühlt sich falsch an. Rücksichtslos und egoistisch. Ferdi hörte sich echt geschockt an, als er fragte, ob ich Silvester nicht mit ihm verbringen will. Und ehrlich gesagt kickt mich die Vorstellung eigentlich überhaupt nicht… aber Michi und dieses Geschatze und so, keine Ahnung, ist eben schwer auszuhalten. Klar, mit etwas Übung könnte ich den Umgang mit Michi wohl besser hinkriegen als heute… aber was geht der mich an? Okay, es ist schlimm, dass er in diesem Zustand ist, allerdings bin ich immer noch der Meinung, dass es seine eigene Schuld ist. Wenn er tatsächlich mit voller Absicht diesen Unfall gebaut hat… dann war es seine Entscheidung und die möglichen Konsequenzen hätten ihm klar sein müssen. Warum ist er nicht von einer Brücke gesprungen oder hat sich vor einen Zug geworfen? Andererseits war das natürlich ein genialer Schachzug, weil er auf die Art den Fuchseder für immer an sich ketten konnte. Ich glaube kaum, dass ihm das durch den Kopf gegangen ist, aber die Tatsache bleibt. Ferdi wird ihn bei allem, was er tut, in seine Pläne mit einbeziehen und das für die nächsten hundert Jahre.

Ich kann Michi nicht so lange allein lassen. Na fein, ich kann nicht lange an einem Ort sein. Und schon gar nicht in einer Wohnung, die wahrscheinlich mal für ihn und Michi gedacht war. Was hab ich da bitte zu suchen?!

Relativ spät abends komme ich bei Yoko an, die sich echt freut, mich zu sehen.

„Dir geht’s nicht gut, mh?“, stellt sie sofort sehr richtig fest und serviert mir eine Tasse heiße Schokolade mit Sprühsahnehäubchen. Das ist auch so eine Sache, die mir nicht ins Hirn will: Was kann der Fuchseder gegen diese tolle Frau haben?

„Schröder?“

„Hm?“, mache ich und puste in meine Tasse.

„Rede mit mir!“

„Sorry, ich bin grad total unsortiert. Weihnachten war eben anstrengend, meine Mutter und der Stecher haben sich von ihrer besten Seite gezeigt und… ich musste Michi kennen lernen… ey, aber Ferdi steigt wieder ein bei DSDMB. Jedenfalls hat er so was zum Abschied vor sich hin gemurmelt.“

„Cool“, grinst sie. „Dann kann ich mich ja auf die nächste Eiszeit gefasst machen.“

Verdammt, mir fällt ein, dass ich mich ja bei ihm melden wollte. Leider bin ich momentan nicht in der Stimmung, mit ihm zu reden, also schreibe ich ihm bloß in einer SMS, dass ich gut angekommen bin und ihn vermisse.

Ferdi schreibt augenblicklich zurück: Danke. Ich dich auch.

Wow… der ist angepisst!!

Komisch, oder? Bei Yoko fühle ich mich nie so rastlos und unruhig. Vielleicht liegt es an ihrer sympathisch unaufgeräumten Behausung. Ich meine, es ist nicht wer weiß wie zugerümpelt, aber man merkt eben, dass hier jemand lebt. Und immer riecht es hier nach Jasmin und Sandelholz.

Ein paar Freunde hat sie mir vorgestellt. Hauptsächlich Kunststudenten und Leute, die Musik machen. Ihre Familie kenne ich jetzt auch, da waren wir nämlich gestern zum Essen eingeladen. Bin ja schließlich so was wie Yokos zukünftiger Ehemann. Die blöde Kuh hat mich da voll reinlaufen lassen, weil ihre Eltern bereits die Hochzeit planen wollten und so. War natürlich alles bloß ein Scherz… wegen DSDMB, weil wir da doch ein Pärchen sind.

Nach dem Essen hat sie mich dann zu einem Orientbasar/Bauchtanzfestival geschleppt, bei dem sie aufgetreten ist. Ich dachte ja, dass sie ganz klassisch orientalisch tanzt. Stimmt aber nicht. Sie macht Tribal-Fusion, das ist irgendwie eine Mischung aus allem möglichen Zeugs. Sieht unglaublich spektakulär aus. Würde Linda bestimmt gefallen, weil Yokos Tanzgruppe eben auch in eine düstere Gothic-Burlesque-Zirkus-Richtung geht. Man kann’s nicht wirklich gut beschreiben, man muss es einfach mal gesehen haben. Jedenfalls, ein bisschen komisch war’s schon, weil da halt eigentlich nur Frauen und Mädchen waren… und ich und ein paar Kinder. Aber eine tolle Atmosphäre, so voll entspannt und friedlich. Wäre ich ein Mädchen, würd ich so was bestimmt auch machen… also Bauchtanz. Jetzt ist mir natürlich auch klar, dass sie Yoga kann. Ey, hat die Frau auf der Bühne eine Körperspannung!! Allerdings war sie eher unzufrieden, weil sie meint, beim Aus-dem-Stand-nach-hinten-biegen würde sie zum Schluss immer wie ein nasser Sack auf den Boden plumpsen. Derartiges ist mir jedoch nicht aufgefallen.

Heute ist Silvester und wir verbringen den Abend zuerst bei ihren Freunden. Die haben zwei so Raclette-Dinger aufgebaut und allerhand Gemüsekleinkram in Schüsselchen drumherum drapiert. Ist mir eigentlich eine Spur zu spießig, aber was soll’s? Hauptsache, man wird satt.

Das Beste sind logischerweise der Schokobrunnen und die passenden Fruchtstücke dazu. Und die Freunde sind halt auch ziemlich nett und lustig.

Danach geht’s reichlich angeschickert zum Brandenburger Tor. Das ist übrigens wesentlich untoller als ich’s mir vorgestellt habe. Hunderttausend feiernde Menschen und wir mittendrin. Na ja.

Als sich um Mitternacht alle in den Armen liegen und es in der Luft bunt knallt, fehlt mir der Fuchseder so dermaßen, dass ich fast anfange zu heulen. Wie peinlich. Alles freut sich und Schröder flennt.

Yoko umarmt mich, drückt mir einen Kuss auf den Mund und wünscht „Frohes neues Jahr“.

Das macht’s leider nur schlimmer!

„Ruf ihn an, Holzkopf“, schlägt sie vor.

Ich krame mein Handy raus, drücke ein paar Tasten und warte.

„Hey, Schröder“, meldet er sich müde.

„Hey… wo bist du gerade?“

„Zu Hause. Und du? Das ist irgendwie total laut…“

„Brandenburger Tor.“

„Ach so.“

„Du fehlst mir.“

„Was? Red lauter, ich versteh dich kaum.“

„DU FEHLST MIR“, brülle ich.

Ferdi murmelt irgendwas. „Hä? Wart mal, ich hör dich nicht, ich muss mal eine ruhige Ecke suchen.“ Mit dem Telefon am Ohr rempele ich durch die Menschenmassen. „So, ich glaub, jetzt geht’s. Also… äh, wieso bist du zu Hause?“

„Wieso nicht?“

„Allein?“

„Ja.“

„Ferdi, du kannst doch an Silvester nicht allein…“

„Ist okay. Ich hatte keine Lust auf Party oder Leute treffen oder so was.“

„Das ist doch scheiße, Fuchseder, warum… Mann, ich bin so ’n Arsch, ich hätte bei dir…“

„Spar dir dein Mitleid, Schröder. Ich wollte heute allein sein. Wie oft denn noch? Man muss doch nicht zwanghaft feiern, bloß weil einem der Kalender das sagt.“

„Trotzdem. Ich vermiss dich total.“

„Was möchtest du jetzt hören, mh? Ich vermiss dich auch… es ist nur leider so, dass du immer irgendwie weg willst, wenn wir zusammen sind. Du hältst es ja nicht mal drei Tage mit mir aus, Schröder.“

„Ich hab’s in Florida wesentlich länger mit dir ausgehalten. Und dass ich weg…“

„Müssen wir das jetzt besprechen?“, unterbricht er mich. „Du wolltest doch unbedingt Silvester bei Yoko in Berlin sein, also geh feiern und hab Spaß. Schöne Grüße an dein Meereskind. Bis dann.“

Wow… ich fühl mich grad so mies wie an dem Tag, als Mom mir gesagt hat, dass Paps nicht mehr nach Hause kommt, weil er jetzt bei seiner neuen Frau wohnt!

Ich hab’s mir selbst versaut. Wäre ich in München geblieben, könnte ich jetzt mit Ferdi im Bett liegen, unglaublich wilde Sachen anstellen und knutschen und schmusen und… wow, was, wenn er mich nicht mehr zurückhaben will? Er klang so… resigniert. Als hätte er sich damit abgefunden, dass man sich auf mich nicht verlassen kann, weil ich eben tatsächlich immer abhaue, wenn’s irgendwie schwierig wird. Fast schon automatisch haue ich mir die Flasche Sekt rein. Das knallt ziemlich gut, weil ich vorher schon ordentlich durcheinander gesoffen habe.

„Schatz, alles in Ordnung?“, fragt Yoko besorgt. „Warum hockst du auf dem kalten Boden?“

„Ich muss nach München“, erkläre ich verzweifelt und rappele mich hoch.

„Äh…?“

„Ferdi will Schluss machen. Ich muss…“

„Hör auf Drama-Queen zu spielen, Nepomuk. Deine Hose ist klatschnass. Hättest du dich nicht neben die Pfütze setzen können? Hoffentlich war das bloß Wasser und nicht Schlimmeres.“

„Hast du mir nicht zugehört, verdammte Scheiße?“, schreie ich ihr ins Gesicht.

„Doch. Aber wie willst du da JETZT hinkommen, du Vollidiot?“

„Ich schaff das schon“, rülpse ich. „Irgendwer fährt da schon hin.“

„So stinkbesoffen nimmt dich kein Schwanz mit. Wir gehen zu mir nach Hause, du pennst deinen Rausch aus und morgen klärst du das mit ihm. Verstanden?!“

„Yoko, ich…“

„Beweg dich, sonst werde ich handgreiflich. Mann, das neue Jahr fängt echt super an.“

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